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Matthias von Hellfeld hat eine "Akte" von Europa angelegt, die mit der Krönung des Frankenkönigs Karl zum Römischen Kaiser durch Papst Leo III. beginnt. Dieser politische Akt und die nun einsetzende Politik des neuen Kaisers macht Karl zu einem der "Väter Europas", an den alljährlich der Aachener Karlspreis erinnert. Der Autor hat die 1200 Jahre bis heute in zehn Epocheschritte unterteilt. Auf leicht verständliche Weise führt er seine Leser in eine gemeinsame Vergangenheit. Denn die meisten Europäer haben Vorfahren, die für das tapfer und aufopferungsvoll gekämpft haben, was heute selbstverständlich ist: Freiheit, Menschenrechte, Religionsfreiheit und Demokratie. Die "Akte Europa" liefert einen Überblick über die Geschichte der Völker des Kontinents, in deren Mitte die Deutschen leben. Das über viele Jahrhunderte existierende geostrategische Machtvakuum in der Mitte des Europas mündete oft genug in Unruhen und Kriegen. Die damit eng verbundene "deutsche Frage" bestand bis in unsere Tage. Deshalb markiert die deutsche Einheit des Jahres 1989 einen Wendepunkt in der Geschichte Europas. Denn zum ersten Mal gibt es weder Anfeindungen noch Rachegefühle: Deutschland ist in Europa eingebettet und die europäischen Völker haben das akzeptiert. Geschichte ist die Tagespolitik der Vergangenheit. In der historischen Rückschau kann man deshalb erkennen, welche Folgen eine Politik hat, die egoistisch motivert ist und die die Belange der europäischen Nachbarn nicht berücksichtigt. Politik von heute muss also "vom Ende" denken und beachten, welche Konsequenzen ihr Tun haben könnte. Um das zu erfahren, nimmt der Autor seine Leser auf eine - mitunter durchaus vergnügliche - Reise in die Vergangenheit mit. Dabei werden nicht nur politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Ereignisse geschildert, sondern auch die Menschen und ihre mitunter schwierigen Lebensverhältnisse.
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Seitenzahl: 616
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Geschichte eines Kontinents
Die Menschen Europas stehen an der Schwelle zu einer neuen Epoche, von der noch niemand weiß, was sie bringen wird. Es gibt mehr Fragen als Antworten: Wo liegen die Grenzen Europas? Welche Länder gehören zu der oft beschworenen „Völkerfamilie“ Europas? Ist es besser die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen oder ihr eine besonders enge Partnerschaft anzubieten? Welches politische Gewicht wird Europa haben und wie wird es sein Verhältnis zu den anderen Ländern der Erde definieren? Wenn die Menschen aus der momentanen Unsicherheit keine Angst sondern Zuversicht ableiten wollen, sollten sie die Entwicklung ihres Kontinents kennen. Denn ohne das Wissen um die Vergangenheit lassen sich die Probleme der komplizierter gewordenen Gegenwart nicht verstehen. Geschichte ist die Tagespolitik der Vergangenheit, also ist die Politik der Gegenwart die Geschichte der Zukunft! Dabei ist die Erinnerung an die europäische Geschichte kein Selbstzweck, denn jeder Europäer hat europäische Vorfahren – sonst könnte er sich nicht seines heutigen Lebens erfreuen. Da jeder Mensch in der Tradition seiner Ahnen steht, ist jeder Europäer auch Teil der Geschichte seines Kontinents. Der Europäer ist Produkt und Teil der europäischen Geschichte, die er zu seinen Lebzeiten auf diesen Erfahrungen beruhend weitertreibt.
Die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte lässt – mehr oder weniger – als eine Abfolge von Kriegen betrachten, bei denen es fast immer um die Beherrschung der Mitte des Kontinents gegangen ist. Seit je her sind die Europäer davon abhängig, wie die geopolitische Mitte des Kontinents organisiert ist. Das ist nicht verwunderlich, denn wer von Nord nach Süd oder Ost nach West will, muss diesen Raum durchqueren. Dessen Beherrschung scheint deshalb seit je her ein lohnenswertes Ziel gewesen zu sein. Eine Vielzahl von Kriegen ist die Folge gewesen, in deren Verlauf Europas Erde an beinahe jeder Stelle mit dem Blut von Soldaten getränkt und von Bomben und Granaten zerpflügt worden ist. Nicht selten sind die Kriege in Europa mit dem Vorsatz „begründet“ gewesen, den Kontinent zu vereinigen. Aber bis 1945 haben diese Versuche unter kriegerischen Vorzeichen gestanden, mit denen der Aggressor die anderen Völker des Kontinents unter seine Vorherrschaft zwingen wollte.
Heute erleben wir den ersten Versuch die Einheit Europas auf friedlichem Wege zu bewerkstelligen. Die „Glasnost und Perestroika“-Politik des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschows hat dem Kontinent das größte denkbare Geschenk beschert: Die Chance auf eine friedliche Vereinigung. Aber dieses Geschenk birgt auch Herausforderungen, denn die bisher durch Mauer und Stacheldraht abgetrennten Osteuropäer sind nun unmittelbare Nachbarn geworden. Neben der Freude über die neu gewonnene Freiheit ruft das Sorgen vor der Bewältigung der daraus resultierenden Probleme hervor. Aber die „neuen“ Mitglieder der Europäischen Union sind keine Fremden, sondern haben über viele Jahrhunderte wie selbstverständlich zu Europa gehört.
Die Reise durch die Geschichte Europas beginnt - ohne wissenschaftlichen Anspruch und mit Mut zur Lücke - bei jenem fränkischen König, den man gerne als „Vater Europas“ bezeichnet. Er ist auf dem Höhepunkt seiner Macht und in seinem fränkischen Reich bereiten sich die Menschen gerade auf das 800. Wiegenfest ihres christlichen Herrn Jesus von Nazareth vor…
… und ahnen natürlich nicht, was sich im fernen Petersdom zu Rom zur gleichen Zeit ereignet. Ihr König, der etwa 50jährige Karl, ist Gast des Papstes in der Basilika des Apostel Petrus. Die beiden wollen aber nicht nur das Weihnachtsfest gemeinsam feiern. Vielmehr gibt es handfeste politische Gründe, die den Frankenkönig veranlasst haben, den beschwerlichen Weg über die Alpen zum heiligen Vater in Rom anzutreten. Das Treffen der beiden Männer wird nicht nur historische Bedeutung erlangen, sondern es hat auch eine Vorgeschichte.
Leo III. wird am 26. Dezember 795 zum Papst gewählt. Als erste Amtshandlung übergibt der frisch gebackene apostolische Oberhirte den Schlüssel zum Grab des Heiligen Petrus als Zeichen seiner Treue dem fränkischen König Karl und das Banner der Stadt Rom, auf dass der Besitzer des Banners „Herr der römischen Miliz“ werde. Das ruft den Zorn einiger römischer Familien hervor, die fortan dem armen Mann das Leben schwer machen. Am Markustag, dem 25. April 799, wird Leo III. während einer feierlichen Bittprozession von Häschern seiner Feinde in vollem Ornat vom Pferd gerissen und in den Staub vor St. Peter gestürzt. Die Angelegenheit wird lebensbedrohlich, als die Täter damit beginnen, die päpstliche Zunge herauszuschneiden und ihn zu blenden. Sie lassen den Gequälten zunächst in seinem Blut liegen, bevor sie ihn in ein nahe gelegenes Kloster verschleppen. Aber die Angreifer sind nicht brutal genug vorgegangen, denn dem apostolischen Oberhirten bleiben sowohl die Sprechfähigkeit als auch das Augenlicht erhalten, was Zeitgenossen und Historikern als Wunder erscheint. Nach dem fehlgeschlagenen Attentat flieht Leo III. im April 799 nach Paderborn, wo er sich mit dem Frankenkönig trifft. Die Annalen berichten von intensiven Gesprächen zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Herrscher, über deren Inhalt aber - offensichtlich erfolgreich - Stillschweigen bewahrt wird, denn bis heute wissen wir nicht genau, worüber die beiden tatsächlich gesprochen haben. Vermutlich diskutieren sie über die politische Lage in Rom und die Vorwürfe, denen sich Leo III. ausgesetzt sieht: Meineid und Ehebruch! Zudem geht es unter vier Augen wohl um die Beziehungen zwischen den beiden, denn Karl, der König der Franken, strebt nach mehr Macht und Einfluss und dabei kann ihm ein wohl gesonnener Papst nur Recht sein.
Zurück in Rom holt der Ärger seiner Widersacher den Papst wieder ein. Jene finsteren Zeitgenossen lauern ihm eines Tages auf, reißen den frommen Mann von seinem Pferd, verprügeln ihn, demolieren das päpstliche Gebiss, blenden seine Augen und bringen den so geschundenen Körper in ein nahe gelegenes Kloster. Ein Überfall mit weltpolitischen Folgen. Die Urheber dieses Frevels spekulieren nämlich darauf, den missliebigen Papst auf diese Weise los zu werden und einen anderen auf den Stuhl Petri zu hieven. Sie haben aber nicht mit der Courage eines Kämmerers des Papstes gerechnet, der unter höchster Gefahr für Leib und Leben einen Boten mit einer entsprechenden Botschaft zum König der Franken schickt. Als Karl von dieser Tat erfährt, beschließt er dem in Not geratenen obersten Christen zu helfen und holt ihn zu sich in ein Heerlager. Dort garantiert Karl dem verängstigten Papst Hilfe und komplimentiert ihn wieder nach Rom zurück – mit dem Versprechen, alsbald vor den Toren des Kirchenstaates zu erscheinen, um die aus dem Lot geratenen politischen Verhältnisse rund um den Petersdom wieder zu ordnen.
Zur Einlösung dieses Versprechens kommt es im Herbst 800. Leo III. sendet erneut ein Hilfeersuchen an den fränkischen König Karl, der sich - wie versprochen - Ende November 800 nach Italien aufmacht. Der Papst eilt ihm entgegen und begrüßt ihn eine knappe Tagesreise von Rom entfernt mit „höchster Verehrung“, wie überliefert ist. Nach einem guten Essen reist Leo III. wieder zurück in die „ewige“ Stadt, wo er am nächsten Tag seinen Retter mit den Bischöfen und dem gesamten Klerus auf den Stufen der Basilika des Apostel Petrus empfängt. Nach Beendigung der Formalitäten macht sich Karl daran, die Vorwürfe gegen den Papst zu prüfen. Seine Gegner halten dem Papst Meineid und – wie es noch häufiger auch bei anderen Päpsten geschehen wird – sexuelle Ausschweifungen vor. Diese Vorwürfe werden durch einen selbstreinigenden Eidesschwur des Beklagten aus der Welt geschafft und dem großen Ereignis am nächsten Tag steht nichts mehr im Wege.
In den „Reichsannalen“ des fränkischen Herrschers ist festgehalten, was sich an jenem denk-würdigen und für die Geschichte Europas folgenschweren Weihnachtstag des Jahres 800 vor dem Altar der Peterskirche in Rom abgespielt hat:
„Als er (Karl) am hochheiligen Weihnachtstag die Basilika des heiligen Apostels Petrus zur Messefeier betreten hatte und vor dem Altar geneigt stand, setzte ihm Papst Leo unter Beifallsrufen des gesamten römischen Volkes eine Krone aufs Haupt.“
Nachdem Leo III. dem betenden Karl, wie zur Überraschung, von hinten die Krone des römischen Kaisers aufs Haupt gesetzt hat, wirft er sich auf die Knie und huldigt dem neuen Kaiser. Während Karl mit scheinbar erstauntem Gesichtsausdruck Mittelpunkt dieses Spektakels ist, beginnen im gleichen Moment die Geistlichen mit der Krönungslitanei, die anwesenden Bürger Roms mit heftigem Applaus und der Papst mit der rituellen Fußsalbung. Mit dieser Zeremonie ist aus dem König der Franken ein römischer Kaiser geworden, dessen Machtbereich sich über ganz Europa ausbreitet! Dieser wahrhaft historische Moment wird von Karls Hofschreiber Einhart für die Nachwelt festgehalten. Einhart ist eine schillernde Figur, dessen Texte in den nachfolgenden Jahrhunderten mehrfach gefälscht werden. Zu Lebzeiten des Frankenkönigs bastelt der Hofschreiber jedenfalls an einem Image seines Herrn, das aus Karl einen mittelalterlichen Superstar macht. In seiner Biographie über den großen Franken liest sich der Vorgang im Petersdom so:
„Zuerst war er (Karl) sehr dagegen, er versicherte, hätte er die Absicht des Papstes gekannt, so hätte er an diesem Tage die Kirche überhaupt nicht betreten.“
Vorgeblich ist Karl von dem Plan des Papstes überrascht. An dieser Darstellung sind aber Zweifel angebracht, auch wenn Kaiser Karl nicht müde wird über Einhart verbreiten zu lassen, der Papst habe ihn überrumpelt und er sei – quasi gegen seinen Willen – mit diesem hohen Amt betraut worden.
Zutreffender ist wohl, dass Karl sehr wohl mit der Kaiserkrone spekuliert und bei seinen diversen Treffen mit dem Papst darüber gesprochen hat, wie der Coup erst eingefädelt und dann durchgezogen werden könnte. Zudem werden in den Tagen zuvor kunstvolle Lobgesänge eingeübt, die einen erheblichen Lärm verursachen. Es ist kaum vorstellbar, dass nicht irgendein Franke von den musikalischen Bemühungen etwas mitbekommt und seinem König davon berichtet. Nutznießer dieser Aktion sind jedenfalls beide: Der römische Kaiser an seiner Seite, so hofft Leo III., würde seine eigene Position – und die seiner Nachfolger - in Rom stärken. Mit dem Krönungscoup hat der Papst die weltliche und militärische Gewalt an die geistliche Macht zum Schutz des Kirchenstaats gebunden. Und für Karl beginnt am heiligen Abend 800 ein neuer Abschnitt seiner Herrschaft: Als fränkischer König hat er die Basilika betreten, als römischer Kaiser, der nicht mehr „patricius“, sondern „augustus“ genannt wird, verlässt er sie wieder. In dem Moment, in dem der Papst dem König der Franken die Kaiserkrone aufs Haupt setzt, tritt der europäische Kontinent aus dem Schlagschatten des Römischen Reichs heraus. Das vom antiken Rom hinterlassene Machtvakuum ist beendet und es beginnt eine historische Epoche, die eine wechselvolle Geschichte für die Deutschen mit sich bringen wird. Für das neue Jahrhundert scheint sich die Krönung in Rom zunächst einmal segensreich auszuwirken: Geistliche und weltliche Macht sind vereint und für einige Jahre kehrt Ruhe ein – sowohl im Frankenland als auch in Oberitalien. Karl der Große ist mit der Kaiserkrone auf dem Haupt Herrscher über einen Flächenstaat von bis dahin ungekannten Ausmaßen.
Über das Geburtsjahr Karls sind sich die Historiker nicht ganz einig; fest steht, dass er zwischen 740 und 750 geboren wird. Seinen jüngeren Bruder Karlmann kann er nicht ausstehen und als beide Brüder nach dem Tod ihres Vaters Pippin III. Könige werden, halten sie möglichst großen Abstand zwischen sich. Der frühe Tod seines Bruders Karlmann nährt seit je her die Spekulation, Karl habe ihn ermorden lassen. Wie auch immer: Karl sichert sich nach dem Tod seines Bruders die Alleinherrschaft und schiebt – eine damals gern gewählte Methode - dessen Familie in ein möglichst weit entfernt gelegenes Kloster ab. Karl spricht den althochdeutschen, fränkischen Dialekt, der schon zu seiner Zeit als „lingua theodisca“ („Sprache des Volkes“) oder „deutsch“ bezeichnet wird. Zudem spricht er fließend Latein und etwas weniger flüssig auch Griechisch. Lesen und Schreiben gehören nicht zu seinen Stärken, dafür hat er seine Leute – zum Schreiben und zum Vorlesen.
Der Frankenkönig ist um die Jahrhundertwende zweifellos der mächtigste Mann in Europa. Kaum ein Stammesherzogtum kann seinem Ansturm widerstehen. In vielen, grausamen Schlachten unterwirft der Franke alles, was um sein eigenes Stammland versammelt ist: Die Langobarden, die Bayern, die Awaren, auch Friesland werden nach brutalen Kämpfen gegen sie in das fränkische Herrschaftsgebiet eingegliedert. Einzig die Sachsen machen ihm Schwierigkeiten: Die Kriege mit ihnen dauern bis 804. Die Sachsen werden von ihrem Herzog Widukind angeführt, der dem Frankenkönig an der Ostgrenze seines Reiches schwere Verluste zufügt. Der blutige Höhepunkt der fränkisch-sächsischen Kriege findet im Jahr 782 statt, nachdem sächsische Heere im fränkischen Grenzgebiet schwere Verwüstungen angerichtet haben. Als Revanche lässt Karl in Verden an der Aller nahezu 5.000 sächsische Krieger hinrichten. Diese wahnsinnige Bluttat bringt ihm später den Namen „Sachsenschlächter“ ein. Nachdem ihr Widerstand 804 endgültig gebrochen ist, werden auch die Sachsen Teil des fränkischen Reiches von Karl dem Großen.
Karl ist der Enkel von Karl Martell, der später mit dem schmückenden Beinamen „der Hammer“ versehen wird, weil jener Karl Martell in einer opfervollen Schlacht bei Tours und Poitiers im Jahr 732 arabische Heerscharen geschlagen und so das Frankenreich vor einer muslimischen Eroberung bewahrt hat. Zum ersten Mal verwendet 732 ein unbekannter Chronist dieser Schlacht den Begriff Europäer für die Streitmacht Karl Martells. Die „europenses“, so berichtet er, hätten die muslimischen Invasoren, die sich von Spanien nach Aquitanien und in die Provence vorgekämpft hatten, in die Flucht geschlagen und seien anschließend wieder in ihre verschiedenen „patriae“, also Heimatländer, zurückgegangen. Auch wenn Franken, Sachsen und Bayern oder Alemannen, Burgunder und Aquitanier sonst nicht viele Gemeinsamkeiten haben und sich kaum kennen, identifizieren sich die Bedrohten als Angehörige einer Gruppe – als Europäer. Der Chronist hat festgehalten, was die Menschen in der Mitte des europäischen Kontinents noch viele Jahrhunderte kennzeichnen wird: Sie verstehen sich als Thüringer, Sachsen oder Franken und nicht als „Deutsche“.
Wahrscheinlich gehört die Schlacht bei Tours und Poitiers im Jahr 732 zu den bedeutendsten des Jahrhunderts, weil sie das weitere Vordringen der Erben Mohammeds ins Frankenreich verhindert. Muslimische Heere haben sich im 7. und 8. Jahrhundert im Mittelmeerraum, in Syrien, in Ägypten, in Spanien und Teilen Afrikas festgesetzt. Ihr Einbruch in die christliche Welt Europas und in den von der mächtigen Stadt Konstantinopel beherrschten asiatischen Raum hat zu einer neuen Mächtekonstellation geführt, in der die Kalifate von Bagdad und Kairo zu einer Bedrohung für die christliche Welt geworden sind. 732 jedenfalls gilt Karl Martell als „Retter des Abendlandes“ offensichtlich in der Annahme, dass ein muslimisches Europa die schlechtere Alternative ist. Er ist nicht der letzte europäische Feldherr, der gegen die „Ungläubigen“ – wie es die christliche Lehre verkündet – zu Felde zieht. Seine Heldentaten machen ihn zum unumstrittenen Anführer der Franken. Karl der Hammer verleibt seinem Reich anschließend noch diverse rechtsrheinische Stammesgebiete ein, sodass er seinem Sohn Pippin III. ein ziemlich machtvolles, aber noch nicht so großes Reich vererben kann. Groß wird das Reich erst, als jener Pippin III. einen in seinen Augen unfähigen Merowinger vom Königsthron stürzt und so das Frankenreich vereinigt.
In der mittelalterlichen Gedankenwelt ist es für die weltliche Herrschaft unabdingbar, den geistlichen Segen zu erlangen – und dafür ist der Papst in Rom zuständig. So trifft es sich für Papst Stefan II. prächtig, dass Pippin III. die apostolische Legitimation durch das Oberhaupt der römischen Kirche wünscht und er sich deshalb an den fränkischen König mit einem Kuhhandel wenden kann. Er, der Papst, würde Pippin III. (und seine Söhne gleich mit) salben und ihm den Titel „patricius romanorum“ verleihen, wenn er, Pippin III., ihm Schutz gegen den Langobardenfürsten Aistulf gewährt. Angesichts der wilden Entschlossenheit der Langobarden, sich des Nordens der italienischen Halbinsel zu bemächtigen, sind die Sorgen des Papstes zu Recht groß, schließlich ist er verantwortlich für den Fortbestand einer angemessenen Repräsentanz seines Herrn auf Erden. Würde die Stadt Rom eingenommen und vielleicht noch einmal – wie bei den Vandalen im Jahr 455 – geplündert werden, könnte das Ende der religiösen Oberhoheit über das christliche Abendland eingeläutet sein.
Die apostolische Angst ist berechtigt, denn die Langobarden, die 741 Ravenna schon eingenommen haben, liegen nun – im Jahr 754 – mit ihren Truppen in bedrohlicher Nähe vor den Toren Roms. Der Verlockung des geistlichen Segens kann Pippin III. nicht widerstehen, sodass er dem besorgten Papst einen Feldzug gegen den langobardischen Fiesling Aistulf garantiert, den er in den folgenden Jahren auch erfolgreich durchführt. Diese Schutzvereinbarung, die 754 zwischen Pippin III. und Papst Stefan II. geschlossen wird, ist die „Pippinische Schenkung“. Nach erfolgreichen Schlachten gegen die Langobarden übereignet der fränkische König nämlich dem Papst die Städte Rom und Ravenna, sowie die so genannte Pentapolis, ein Gebiet in Mittelitalien zwischen Rimini und Ancona. Dieses bildet fortan den Kirchenstaat, der - immer wieder umkämpft – in seinen Restbeständen noch heute besteht. Ab 754 ist der fränkische König also de facto der Schutzherr des Papstes und erhält als Gegenleistung die Unterstützung des obersten Christen. Auf den ersten Blick ist das ein gelungener Coup für beide Seiten: Der Papst kann sich in Sicherheit wiegen und der König hat die Macht der Kirche für sich gewonnen.
Karl der Große – Gotteskrieger und Lebemann
Karl ist ein religiöser Mensch und akzeptiert die Vorstellung einer Einheit zwischen geistlicher und weltlicher Macht. Das entspricht der Denktradition seiner Zeit, die die Welt von Gott geleitet sieht. Karls Kriege dienen dementsprechend einerseits seiner Machterweiterung, andererseits aber auch der Ausbreitung des Christentums. Zu diesem Zweck lässt er seine Gegner nach jeder gewonnenen Schlacht zwangsweise taufen. Karl ist ein regelrechter Gotteskrieger und strahlt auf die schlichten Gemüter seiner Zeitgenossen den Nimbus des Unbesiegbaren aus. Während er einerseits den religiösen Geboten gehorcht, lebt er privat durchaus weltlich. Karl ist verheiratet mit Hilmitrud und ehelicht gleichzeitig auf Betreiben seiner Mutter die langobardische Prinzessin Desiderata. Darüber hinaus erfreut er sich der Aufmerksamkeit vieler anderer so genannter „Friedelfrauen“. Solche Konkubinen sind in dieser Zeit des Mittelalters nicht ungewöhnlich. Derartige Verbindungen lassen sich unproblematisch auflösen, wobei die Partner wieder in den Schoß ihrer Familien zurückkehren. Der Mann hat lediglich für die Kinder einer solchen Nebenehe zu sorgen. Offensichtlich macht Karl von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch, denn nachdem er sowohl Hilmitrud als auch Desiderata verstoßen hat, werden noch drei weitere Ehen überliefert, die bedauerlicherweise alle mit dem Ableben der Frauen enden. Karl ist kein Kind von Traurigkeit und Politik ist nicht alles in seinem Leben. Das Leben wird für Karl auch zudem gewisse Freuden bereitgehalten haben, weil er die uneingeschränkte Macht im Frankenreich hat und weil er diese für sich durchaus zu nutzen weiß.
Wenn man davon absieht, dass der Papst sich als oberster Christ und Stellvertreter des Herrn auf Erden fühlen darf, lebt Karls Gastgeber am 1. Weihnachtstag 800 eher spartanisch. Er sitzt in seinem Kirchenstaat wie ein Gefangener, ist abhängig von den jeweils herrschenden politischen Gegebenheiten in Oberitalien und sieht seinen Einfluss auf den europäischen Kontinent auf Grund dieser misslichen Lage zunehmend schwinden. Diesen Zustand haben auch schon seine Vorgänger beklagt, die nach dem Untergang des römischen Reiches – rund 350 Jahre zuvor - zwar die geistliche Vorherrschaft über den Kontinent beansprucht haben, aber niemanden um sich hatten, der diesem Anspruch auch die entsprechende weltliche Durchsetzungskraft zur Seite stellte. Als die Römer in der Antike noch weite Teile des europäischen Kontinents beherrschen, ist der Sitz des apostolischen Stuhls in Rom im Zentrum der weltlichen Macht angesiedelt und somit sicher. Seit sich aber der politische Schwerpunkt der Welt über die Alpen in nördliche Richtung verlagert hat, sitzen die Päpste abseits und beklagen dies lautstark. Mit dem Krönungscoup des Weihnachtsabends 800 hat sich diese missliche Lage schlagartig verbessert: Papst und Kaiser sitzen in einem Boot und stellen eine in der mittelalterlichen Welt unangreifbare Einheit dar. Der Papst wiegt sich in Sicherheit und der Kaiser herrscht über ein riesiges Reich, das zu regieren, ihn aber vor große Probleme stellt.
Nach der Krönung zum römischen Kaiser umfasst das Reich Karls des Großen das heutige Deutschland, Frankreich, die nördlichen Teile Spaniens, mehr als die Hälfte Italiens, Holland, Belgien und Luxemburg, weite Teile Österreichs, Kroatiens und der tschechischen Republik. Der politische und militärische Einfluss dürfte besonders im Nordosten sogar noch etwas weiter gegangen sein. Karl besitzt in diesem Riesenreich keine feste Residenz, eine Hauptstadt hat in der Gedankenwelt des mittelalterlichen Kaisertums keinen Platz. Mit seinem Gefolge zieht er von Ort zu Ort und regiert von verschiedenen Stellen. Grundlage seiner Macht sind die Pfalzen - große bäuerliche Güter, die den Kaiser mit seinem gesamten Gefolge während eines Aufenthaltes mit allem versorgen, was das kaiserliche Herz begehrt. Diese Anwesen sind groß genug, um von hier aus angemessen regieren zu können. Festlichkeiten und Versammlungen mit weltlichen und kirchlichen Würdenträgern finden hier ebenso statt wie Gerichtstage. Hier stellt der Kaiser Urkunden aus und empfängt Gesandte fremder Mächte. Die wichtigsten Pfalzen stehen in Ingelheim, Nimwegen und Aachen, wo er sich wegen der warmen Wasserquellen am liebsten aufhält. Aachen wird mit prachtvollen Bauten ausgestattet und zur Kaiserpfalz erklärt. Nach dem Vorbild byzantinischer Großbauten entsteht die achteckige Pfalzkapelle mit einem aus Marmor geschlagenen Kaiserthron, der heute noch den Mittelpunkt des altehrwürdigen Aachener Münsters bildet. Das in unmittelbarer Nachbarschaft liegende Rathaus steht auf dem Fundament der alten fränkischen Königshalle.
Das Frankenreich ist kein Willkürstaat; es gibt eine klare und gesetzlich verbriefte Ordnung, die in so genannten „Kapitularien“ festgehalten ist. Mit dieser Gesetzessammlung ist das Reich Karls des Großen in sämtlichen administrativen, rechtlichen, politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Fragen einheitlich geregelt. Zumindest auf dem Papier besteht also ein einheitlicher Staat mit gültigen Regeln für alle seine Mitglieder. Karl, der selbst wie die meisten seiner Untertanen nicht schreiben kann, setzt dennoch auf ein hohes Maß an Schriftlichkeit bei der Organisation des Reiches. Angesichts der wenig verbreiteten Fertigkeit des Lesens und Schreibens mag man Zweifel an der Wirksamkeit der „Kapitularien“ haben. Ein anderes Problem ist der Umgang mit den Stämmen, die er in vielen Kriegen unterworfen und dem Reich einverleibt hat. De facto hat Karl der Große in Zentraleuropa einen Vielvölkerstaat geschaffen, der auf die Belange seiner Mitglieder eingehen muss, wenn die staatliche Einheit nicht unentwegt durch innere Konflikte gefährdet werden soll. Karl lässt die Stammesrechte aufschreiben, macht sie dadurch überprüfbar und schützt sie vor missbräuchlicher oder willkürlicher Auslegung. So respektiert er die alten Rechtsordnungen und Eigenarten der Salier, der Alemannen, der Bayern, der Sachsen, der Thüringer und der Friesen und kann sie dennoch als Teil des Frankenreiches halten, das durch allgemein gültige Gesetze geordnet ist, die den Stammesrechten durchaus widersprechen konnten. Aber besonders im östlichen Teil des fränkischen Reiches – der Bundesrepublik von heute – haben sich solche Eigenarten erhalten. Bald kann man darin eine der frühen Wurzeln des deutschen Föderalismus erkennen, den es in dieser Form in Europa kein zweites Mal gibt.
Das Reich Karls des Großen
Das Reich Karls erstreckt sich von Zaragossa und Pamplona im Norden des heutigen Spaniens, über Korsika und einer Linie rund 100 Kilometer südlich von Rom, nach Kärnten und weiter in Teile des heutigen Ungarn, über Gebiete der Slowaken, von Böhmen und Mähren im nord-östlichen Teil des Reiches, weiter bis Magdeburg und ganz im Norden zu dem kleinen jütländischen Handelsplatz namens Haithabu. Im Jahr 800 leben Franzosen, Italiener, Holländer, Belgier, Luxemburger, Böhmen, Österreicher und Deutsche in einem Reich vereinigt, dessen Ausmaße damalige Vorstellungen bei weitem überschritten haben dürfte. Das Frankenreich unter Karl dem Großen dominiert den europäischen Kontinent und sorgt für die Ausbreitung des Christentums in allen seinen Landesteilen. Damit wird eine der wesentlichen Charaktereigenschaften Europas festgeschrieben: Europa ist ein christlicher Kontinent. Das Frankenreich hat zudem eine politische und militärische Bedeutung, die den Kaiser auf eine Stufe mit dem damals mächtigen Kaiser von Konstantinopel und den Kalifen von Bagdad und Kairo stellt.
Das Reich ist für damalige Verhältnisse gut organisiert. Hätte es damals schon Urlaubsorte an der französischen Atlantikküste gegeben, die Urlauber aus fast ganz Europa hätten dort mit dem gleichen Geld bezahlen können wie in ihrer Heimat. Sie hätten sich in vielen Fällen auf die gleichen Gesetze berufen können, die sie zu Hause ebenfalls anwandten. Es gibt Pfalzgerichte, die überall im Lande Recht sprechen. Sie sorgen für eine Gleichbehandlung aller Bewohner des fränkischen Reiches vor dem Gesetz. Dennoch bleiben kulturelle Eigenheiten und die Gesetze der unterworfenen Stämme erhalten. Der Grundstein für den „typisch deutschen“ Föderalismus ist damit gelegt.
Dieses fränkische Reich ist nahezu identisch mit dem Kerngebiet der Europäischen Gemeinschaft. Die EG wird durch die römischen Verträge am 25. März 1957 aus der Taufe gehoben. Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Deutschland sind die Teilnehmer dieses Vorläufers der heutigen Europäischen Union. Ist das Zufall oder spielen hier uralte, durch Kriege und gegenseitige Zerstörungen verschüttete Gemeinsamkeiten eine Rolle? Zeigt sich am Reich Karls des Großen, dass europäische Einigungsbemühungen auf eine lange Tradition zurückblicken können?
Und noch etwas prägt das Reich Karls des Großen: Seit geraumer Zeit sind die zu Fuß kämpfenden Heere von Ritterkontingenten abgelöst worden. Durch diese militärtaktische Neuerung werden die traditionellen, nur für eine begrenzte Zeit benötigten, Fußtruppen in den Hintergrund gedrängt. An ihre Stelle treten die Ritter und mit ihnen ein neuer Typ des Berufskriegers. Der aber braucht im Gegensatz zum einfachen Soldaten eine angemessene Ausstattung und vor allem ein gesichertes Dienstverhältnis, das ihn und seine Familie auch in Friedenszeiten ernährt. Die Antwort auf diese Neuerung heißt Lehenswesen und begründet für viele Jahrhunderte den Feudalismus in Europa.
Das Lehnswesen kommt sowohl dem Interesse des Kaisers nach langfristig verfügbaren Gefolgsleuten entgegen als auch dem Streben der Ritter nach entsprechender materieller Ausstattung für ihren aufwendigen ritterlichen Lebensstil, der für ihren Berufsstand nach und nach ebenso obligatorisch wie legendär wird. Das Lehensverhältnis wird mit einem feierlichen Symbolakt geschlossen und begründet zwischen den Partnern ein Gefüge wechselseitiger Rechte und Pflichten. Der Lehensmann - oder auch „Vasall“ - verpflichtet sich zu Gehorsam und Dienst, insbesondere zur Leistung von Ritterdiensten, während der Lehnsherr seinem Vasallen ein Stück Land oder ein Amt als Lehen zur dauernden Nutzung überlässt. Dieses Rechtsverhältnis steht unter einer gegenseitigen Treuepflicht, die den Vasallen genauso wie den Herrn bindet. Es endet erst mit dem Tod oder der Untreue eines der Partner.
Alltag im Frankenreich
Die Menschen des frühen Mittelalters leben in Familienverbänden, die ausschließlich das Überleben ihrer Mitglieder sichern sollen. Eine Heirat hat nichts mit einer Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau zu tun - sie wird vom Grundherrn arrangiert. Diese Zweckgemeinschaften umfassen mehrere Generationen, die in einem Raum in Pfahlbauten leben. Das sind kleine Stroh gedeckte Holzhütten, die teilweise auf Pfosten stehen, um gegen Hochwasser und wilde Tiere Schutz zu bieten. Als Stühle dienen Holzblöcke, der Boden ist gestampfter Lehm, auf pritschenähnlichen Gestellen wird geschlafen. Meist stehen bis zu zehn solcher Pfahlbauten zusammen - sie bilden die ersten kleinen Siedlungen, in denen bis zu 150 Personen leben. Trotz aller Anstrengungen und trotz der Einführung der Dreifelderbewirtschaftung gibt es nie genug zu essen. Sind die Winter zu streng, erfrieren die Menschen, sind sie zu mild, nimmt das Ungeziefer überhand und sie müssen deshalb hungern. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen liegt bei 44, die von Männern bei 47 Jahren. 40 Prozent der Kinder sterben bei der Geburt. Die Bevölkerungsdichte beträgt 8 Menschen pro Quadratkilometer, in Deutschland sind es heute 231 Menschen pro Quadratkilometer. Die Bauern sind „Freie“, leben aber in einem Abhängigkeitsverhältnis von ihrem Herren, der ihnen das zu bewirtschaftende Land gibt. Als Gegenleistung müssen sie einen bestimmten Anteil ihrer Ernte abgeben. Falls ihr Land überschwemmt wird oder sich als unfruchtbar herausstellt, weist ihnen der Landesherr eine neue Stelle zu, an der sie sich niederlassen dürfen. Kleine Siedlungen finden sich entlang der Handelsstraßen ebenso wie an Flussläufen oder in der Nähe von ersten größeren Dörfern, die durch eine Befestigungsanlage gesichert sind.
Der Genuss Fleisch zu essen ist ein Privileg der Wohlhabenden. 80 Prozent der freien Bevölkerung des Frankenreichs sind Bauern, die von dem leben, was sie anbauen: Getreide (vor allem Hirse und Gerste) und Gemüse (vor allem Kohl, Mohrrüben, Erbsen, Linsen und Mohn). Im Wald finden sie verschiedene Sorten wild wachsender Beeren, Hagebutten, Eicheln und Haselnüsse. Wer in der Nähe eines Flusses wohnt, kann mit einer Tuchkonstruktion nach Fischen angeln. Dabei wird das an Stöcken befestigte Tuch entweder durch das Wasser gezogen oder auf den Grund gelegt und dann hochgezogen. Was vom Fischen und von der Ernte übrig bleibt, tragen die Bauern auf den Markt, um es gegen andere Lebensmittel oder landwirtschaftliche Geräte zu tauschen. Märkte sind im 9. Jahrhundert nicht nur Tauschbörsen, sondern auch der Platz, an dem Nachrichten und Legenden verbreitet werden.
An Markttagen, die ein oder zweimal im Jahr stattfinden, kommen auch Prediger und Pilger oder Händler aus fernen Ecken des Frankenreichs, die Lebensmittel zum Tausch oder Kauf anbieten. Verboten ist der Handel mit Waffen, dennoch gibt es illegale Waffenhändler. Obwohl der Sklavenhandel offiziell abgeschafft worden ist, werden auch Sklaven zum Kauf angeboten. Der Handel auf den Märkten ist durch die gemeinsame Währung transparent. Es gelten feste Preise und mit dem Frankendenar existiert eine feste Tauscheinheit.
Karl packt auch das Problem einer gemeinsamen Währung für seinen Vielvölkerstaat an und legt fest, in welchem Münzfuß die Währungseinheiten zueinander stehen. Fortan gilt überall im Reich, dass aus einem Pfund Silber 240 Franken-Denare geschlagen werden müssen, ein Denar also ein Gewicht von 1,6 Gramm hat. Auf der Vorderseite ist ein Königsportrait zu sehen, auf der Rückseite prangt ein Kreuz. Diese erste europäische Währungsunion fördert den Handel, macht Preise transparent, schafft einen großen Raum, in dem man mit einer einzigen Währung wirtschaften kann und bringt den Bewohnern Europas ähnliche Vorteile wie der Euro heute.
Die Menschen im Reich Karls des Großen können sich frei bewegen, Handel treiben und sich – mit gewissen Einschränkungen - dort niederlassen, wo es ihnen gefällt. Die persönliche Niederlassungsfreiheit ist lediglich an die uneingeschränkte Zustimmung der dort wohnenden Zeitgenossen gebunden. Die Gesetze der Salier bieten die Rechtsgrundlage dieses Prinzips:
„Will jemand in ein fremdes Dorf zuziehen, so darf er dies nicht, wenn nur einer dagegen Einspruch erhebt, mögen ihn auch mehrere andere von jenem Dorf bei sich aufnehmen wollen.“
Wie man sieht, sind Migration und Niederlassungsfreiheit schon damals Probleme, mit denen sich die Europäer herumschlagen müssen. Eine Reise zu unternehmen, nimmt viel Zeit in Anspruch und stößt nicht selten auf Widrigkeiten, die bis zur Bedrohung von Leib und Leben reichen können. Wer beispielsweise von Aachen nach Rom pilgern will, muss nicht nur mehrere Monate einkalkulieren und viele Entbehrungen auf sich nehmen, sondern auch die Alpen überqueren – zu Fuß, allenfalls auf dem Rücken eines Pferdes und das bei jedem Wetter. Die Reisenden können sich aber schon auf kleinen Wegen, Pfaden und Straßen fortbewegen, denn das Land der Franken ist durchzogen von Handelsrouten und Pilgerwegen. Manche Wanderer lassen sich nieder, gründen bäuerliche Gemeinden oder kleine Handelsplätze. Von Ost nach West, von Nord nach Süd schlängelt sich ein erstes Verkehrsnetz über den Kontinent, das nicht nur einen regen Warenaustausch ermöglicht. Da nur wenige Menschen lesen und schreiben können, ist das gesprochene Wort der – wie wir heute sagen würden – „Transmissionsriemen“ zwischen den Volksgruppen des fränkischen Reiches. Mit den Händlern kommen auch Informationen vom anderen Ende des Kontinents unter die Leute. Kulturelle Traditionen, Sitten und Bräuche, Lieder und Geschichten, politische Informationen und christliche Erbauungen werden in der mittelalterlichen Welt der Franken ausgetauscht und weitergegeben.
Mit der Gründung des großen Frankenreiches rückt die Mitte des Kontinents zum ersten Mal ins Zentrum der Macht. In dieser geographischen Mitte leben Stämme und Völker, aus denen später die „Deutschen“ hervorgehen. Ein „deutsches“ Bewusstsein gibt es am Beginn des 9. Jahrhunderts noch nicht, dafür sind die unterworfenen Stämme und Völker noch zu sehr ihren eigenen Traditionen verhaftet. Das Frankenreich ist für sie allenfalls ein entferntes, abstraktes Gebilde, über dessen Sinn oder Unsinn sie nicht nachdenken. Die Mühen des Alltags, der eigene überschaubare Lebensraum und – immer wieder – kriegerische Auseinandersetzungen bestimmen den Rhythmus ihres Lebens. Ihr Siedlungsgebiet grenzt an allen seinen Seiten an fremde Völker und deren Kulturen. Die „Deutschen“ werden – zwangsläufig - auf Grund der geographischen Lage ihres Landes zu einem Mittler zwischen der slawischen und der romanischen Welt. Ihr Land liegt im Schnittpunkt aller Verbindungslinien zwischen den Polen des Kontinents und wird – ob seine Bewohner es wollen oder nicht - zum wichtigsten Durchgangsland für Handel, Wirtschaft und Verkehr. Die Beherrschung dieses Raums sichert eine bedeutende Position in Europa – ein Umstand, der in den kommenden Jahrhunderten prägend für die Entwicklung Deutschlands ist.
Das christliche Weltbild spielt - in Ermangelung einer Alternative - die entscheidende Rolle. Dieses Weltbild sieht nicht nur die Erde als unbewegliche Scheibe in der Mitte eines ansonsten beweglichen Universums, sondern hält den Papst ausschließlich dazu auserkoren, die Regeln des menschlichen Zusammenlebens im Abendland zu bestimmen. Die Sonne geht am Abend im Westen unter, um am Morgen vom Osten kommend wieder aufzugehen. Aus dieser Betrachtung entsteht für Europa der Begriff „Abendland“. Der Orient im Osten heißt folglich „Morgenland“. Das apostolische Definitionsmonopol drückt dem Abendland, das aus eben diesem Grund das „christliche Abendland“ genannt wird, seinen bis heute spürbaren Stempel auf. Dabei entwickeln der christliche Glaube und sein von starker Frömmigkeit gekennzeichnetes Weltbild soziale Bindekräfte. Die Menschen bekommen eine überirdische Erklärung des Sinns ihres manchmal leidvollen Lebens angeboten, die aus damaliger Sicht logisch und nachvollziehbar ist. Solange dies niemand in Frage stellt, ist die christliche Glaubenslehre der rote Faden, an dem sich alles andere ausrichtet. Das geht einige Jahrhunderte gut, bis die ersten Zweifel aufkommen und die Kirche mit ganz und gar unchristlicher Härte auf jene einschlägt, die es wagen, ihre Zweifel in Worte zu fassen. Zunächst aber gilt, dass der Mensch den Platz, den er durch göttliche Bestimmung zugewiesen bekommt, nicht verlassen darf. Erst im Himmel könne man auf Erlösung von irdischen Einschränkungen hoffen. Freiheit im Jenseits heißt das apostolische Credo und dafür soll der Mensch leben.
Karl der Große ist für seine Zeit ein außergewöhnlicher Herrscher. Er krempelt die innere Struktur seines Riesenreiches um und schafft die Grundlage des abendländischen Europas. Die Poeten am Hofe Karls preisen den Herrscher als „pater europae“ – und daran hat sich bis heute wenig geändert. An das erste unter Karl dem Großen „Vereinigte Europa“ erinnert die Stadt Aachen mit dem alljährlich verliehenen Karlspreis. Diese Würdigung bezieht sich nicht nur auf den Politiker und Feldherrn Karl, sondern auch auf den „Vater Europas“, der dafür gesorgt hat, dass antikes Erbe, christliche Religion und germanische Gedankenwelt miteinander in Verbindung kamen und der Nachwelt erhalten blieben.
Nach dem Tod zwei seiner Kinder, krönt Karl am 11. September 813 – wie es das karolingische Erbfolgegesetz vorsieht - den noch verbliebenen Sohn Ludwig zum kaiserlichen Mitregenten. Jener Ludwig wird mit dem trefflichen Beinamen „der Fromme“ in die Geschichte eingehen. Am 28. Januar 814 vertauscht Karl der Große seinen kaiserlichen Marmorthron mit himmlischen Gefilden. Möglicherweise hat er zu seinen Lebzeiten die Schwierigkeiten schon kommen sehen, an denen Ludwig der Fromme schließlich scheitern wird. Eine Alternative zur Regelung seiner Nachfolge besitzt er aber nicht, denn das fränkische Erbfolgerecht sieht vor, dass der Sohn dem Vater folgt und niemand anders. Er hat nur noch einen Sohn und so muss dieser sein Nachfolger werden. Mit der Übertragung der alleinigen Regentschaft an seinen Sohn Ludwig den Frommen ist zwar die Einheit des Frankenreiches gesichert, aber die Existenz seiner drei mehr oder weniger missratenen Enkel dürften Karls Erwartungen an die Zukunft der karolingischen Dynastie ziemlich reduziert haben. Das Reich, so hat er es vorgemacht, muss mit starker Hand auf der Grundlage des Lehnswesens und einer gut organisierten Verwaltung regiert werden. Seinem Sohn Ludwig aber wird nachgesagt, sich eher um geistliche Belange und den Bestand der zahlreichen Klöster zu kümmern, als sich um den Erhalt des fränkischen Reiches zu sorgen. So gesehen beginnt mit dem Tod Karls des Großen der Zerfall des Frankenreichs.
Um den inneren Frieden des Frankenreichs ist es von nun an schlecht bestellt. Ludwig der Fromme ist zwar zunächst einmal unangefochten Kaiser. 817 krönt er nach väterlichem Vorbild seinen Sohn Lothar I. zum Mitkaiser und macht seine beiden anderen Nachkömmlinge, Ludwig „der Deutsche“ und Pippin I., in Bayern und Aquitanien, der Südhälfte des westfränkischen Reichs, zu Königen. Dieses Thronfolgegesetz von 817 – die so genannte „ordinatio imperii“ – soll die Einheit des Frankenreichs gewährleisten: Einer der Erben wird Kaiser mit einer „außenpolitischen“ Hoheit über das Gesamtreich, die anderen üben untergeordnete Funktionen aus. Aber der 817 geschaffene Frieden in der Familie hält nicht lange. 15 Jahre nach dem Tod Karls des Großen bricht der Streit unter den Karolingern aus. Im Jahr 829 beginnt der Kampf um die Macht. Innerfamiliäre Konflikte um die Kaiserkrone führen Heerscharen gegeneinander ins Feld und tränken die Erde mit dem Blut der Ritter. Zerfall und Niedergang sind die unvermeidlichen Folgen, …
… die Ludwig der Fromme im Jahr 829 wohl nicht im Auge hat, als er einen vierten Sohn, namens Karl, aus seiner zweiten Ehe mit Judith, ins Spiel bringt und das Thronfolgegesetz des Jahres 817 zu Gunsten des damals Sechsjährigen ändert. In einer folgenschweren Entscheidung bekommt sein vierter Sohn Karl, der zur besseren Unterscheidung schlicht „der Kahle“ heißt, das schweizerisch-italienische Alamannien und Rätien, sowie das Elsass und einen Teil Burgunds. Diese Neuordnung der Machtverhältnisse geht natürlich zu Lasten der wenig erfreuten Stiefbrüder Karls des Kahlen. Außerdem entzieht Ludwig der Fromme seinem mitregierenden Sohn Lothar I. am gleichen Tag den Anspruch auf den Kaiserthron nach seinem eigenen Ableben. Vieles spricht dafür, dass hinter dieser Entscheidung der Machthunger Judiths, der Tochter des schwäbischen Grafen Welf, steht. Überhaupt sorgt Judith, der besondere Schönheit nachgesagt wird, in ihrer 25jährigen Ehe mit Ludwig dem Frommen für jede Menge Ärger und Zwistigkeiten, die zeitweise sogar zu ihrer Verbannung vom kaiserlichen Hofe führen. Wegen der unerwünschten Konkurrenz durch Karl den Kahlen erheben nun die Kinder aus erster Ehe die frevelnde Hand gegen den eigenen Vater. Sie inszenieren für die nächsten Jahre ein europaweites Macht- und Intrigenspektakel in unterschiedlichsten Konstellationen. Mal agieren sie gemeinsam gegen den Kaiser, ein anderes Mal bekämpfen sie sich gegenseitig.
Anfang des Jahres 830 beschließt Ludwig der Fromme eine kriegerische Eroberungs-Expedition in die Bretagne, dem einzigen Zipfel Kontinentaleuropas, der nicht zum Frankenreich gehört – trotz eines heftigen Anfalls von Gicht im kaiserlichen Fuße, wie die fränkischen „Reichsannalen“ dieses Jahres mitteilen. Aber die Feldzugsidee des Kaisers trifft auf wenig Verständnis bei seinen Vasallen. Diese Verstimmung nutzen einige Abtrünnige dazu, Lothar I. und Pippin I., zu einem Aufruhr gegen den Vater anzustiften. Das geschieht dann auch mit dem Ergebnis, dass Judith ins Kloster geschickt und Ludwig der Fromme von seinen Söhnen entmachtet werden. Aber so leicht ist der fromme Ludwig nicht vom Thron zu stürzen. Er gewinnt die Hoheit über das kaiserliche Zepter zurück und hält einige Reichstage ab, auf denen der Aufstand zwar aufgeklärt, aber nicht bestraft wird. Ludwig ist eben ein frommer und offensichtlich auch nachsichtiger Vater. Das nützt ihm in der Folgezeit aber wenig, denn schon drei Jahre später – 833 – empören sich die Herren Söhne ein weiteres Mal.
Eine nicht unerhebliche Rolle bei dieser Auseinandersetzung um die Macht im Reich spielt Papst Gregor IV., der von Lothar I. zum Schiedsrichter im Familienstreit berufen worden ist. Der heilige Vater macht sich auf den Weg, um auf die Einhaltung des fränkischen Thronfolgerechts von 817 zu drängen, nach der sein Auftragsgeber Lothar I. zum Nachfolger seines Vaters bestimmt werden muss. Gregor IV. lässt sich vom lebhaften Protest einiger Bischöfe nicht abhalten und beginnt mit Ludwig dem Frommen zu verhandeln. Während es dem Papst allmählich gelingt, das Vertrauen des Kaisers zu gewinnen, ergreifen die kaiserlichen Söhne auf dem „Lügenfeld“ bei Colmar die Initiative. Es beginnt eine Schlacht zwischen den Heerscharen des Kaisers und denen seiner Kinder, in deren Verlauf aber weniger das Schwert die entscheidende Rolle spielt, sondern vielmehr die angeblich „lügnerischen“ Überredungskünste der Kinder.
So dauert es nicht lange, bis das kaiserliche Heer sich überzeugen lässt und zu den aufständischen Söhnen überläuft. Der Kaiser gerät daraufhin in Gefangenschaft seiner Kinder und die Mission des Papstes endet in einem grandiosen Fehlschlag. Ludwig der Fromme wird obendrein durch ein erzwungenes Sündenbekenntnis öffentlich gedemütigt. Judith tritt unmittelbar nach den Ereignissen den Gang ins italienische Exil an, während Lothar I. die Entsorgung seines Vaters übernimmt. Er steckt ihn dorthin, wo er nach Meinung vieler ohnehin hingehört: Ins Kloster des heiligen Medard bei Soissons in der Nähe von Reims, wo der fromme Ludwig bald darauf trübsinnig wird. Der Familienzwist, den die Enkel Karls des Großen um die Herrschaft im Frankenreich angezettelt haben, nimmt ein Jahr darauf, 834, eine neuerliche Wendung. Die beiden jüngeren Söhne aus der ersten Ehe erheben sich nun gegen ihren Bruder Lothar I. und setzten den gemeinsamen Vater wieder auf den Thron, den der eigentlich schon entmachtete Ludwig der Fromme bis zu seinem Tod Ende Juni 840 auch behält.
Unter dem Einfluss seiner Frau Judith wird Ludwig der Fromme vom Verfechter der Reichseinheit zum Vorkämpfer der Reichsteilung. Judith ist die Urahnin des fränkischen Adelsgeschlechts der Welfen, aus deren heute lebender Generation uns Prinz Ernst-August von Hannover, Ehemann der Prinzessin Caroline von Monaco, eindrücklich bekannt ist. Seine Ahnin Judith jedenfalls muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die Reichseinheit ihres Schwiegervaters Karl aufs Spiel gesetzt zu haben, um ihrem gleichnamigen, aber kahlen Sohn ein lohnenswertes Stück vom Kuchen abzuschneiden. In letzter Konsequenz führt das zur Spaltung des Frankenreiches in einen östlichen, einen mittleren und einen westlichen Teil und somit zur Begründung eines „französischen“ und eines „deutschen“ Staatswesens. Ein Jahr nach dem Ableben des Kaisers tobt unter den Karolingern noch immer heftiger Streit um die Macht im Reich. Lothar I. akzeptiert die von seinem Vater verfügte Dreiteilung des Reiches nicht und gibt sich mit dem ihm zugewiesenen Mittelreich „Lotharingen“ nicht zufrieden. Er beansprucht die Oberhoheit über das gesamte Frankenreich und ruft damit den Zorn seiner Brüder hervor.
Den Bürgern Straßburgs ist es in diesem eisigen 14. Februar 842 bange ums Herz als sie aus zwei Richtungen schwer bewaffnete Heere auf ihre schöne Stadt zukommen sehen. Das eine Heer wird angeführt von dem 37-jährigen König Ludwig. Jener Ludwig, der im Nachhinein „der Deutsche“ genannt wird, herrscht über den östlichen Teil des Frankenreichs. Das andere Heer steht unter dem Kommando seines erst 18-jährigen Stiefbruders Karl II., der „der Kahle“ genannt wird. Karl der Kahle ist Judiths Sohn und König von Westfranken. Die beiden Heere treffen sich auf einem Platz im Zentrum der Stadt. Zur Überraschung der Straßburger Bürger aber beginnt keine Schlacht sondern eine erstaunliche Zeremonie. Etwas langatmig und umständlich erklärt erst Ludwig den anwesenden Heerscharen, dass sein Bruder Lothar I. für das hohe Amt des Kaisers gänzlich ungeeignet sei. Seine angeblich unbezähmbare Streitsucht treibe die Teile des großen Frankenreiches auseinander und dieser Zustand sei nicht hinnehmbar. Deshalb wolle er hier und jetzt mit seinem Stiefbruder einen Eid ablegen, der beide untrennbar miteinander gegen das gemeinsame Bruderherz Lothar I. verbindet. Ludwig der Deutsche verwendet dabei „romana lingua“, aus der sich später die französische Sprache entwickelt. Karl II. schließt sich in der „teudisca lingua“, der Grundlage der deutschen Sprache, an. Beide leisten also in dem Dialekt des jeweils anderen den so genannten Straßburger Eid. Diesem Eid schließen sich die beiden Heere an, ohne den jeweils anderen Dialekt zu verstehen. Ein anwesender Geschichtsschreiber notiert, dass dies „der Eid der Völker“ gewesen sei. Und tatsächlich: Dieser 14. Februar 842 kann als die Geburtsstunde Deutschlands und Frankreichs gelten. Aus den beiden Teilen eines Reiches (von Karl dem Großen) werden im Laufe der nächsten Jahrhunderte die beiden Bruderstaaten Deutschland und Frankreich. Die heute so oft beschworene deutsch – französische Partnerschaft, die als Motor für die europäische Entwicklung unverzichtbar sei, hat ihre Wurzeln im frühen 9. Jahrhundert, als aus einem Reich zwei Teilreiche werden, die sich im Laufe der kommenden Jahrhunderte eigenständig entwickeln.
Die Straßburger Eide sind logische Konsequenz der politischen Umstände jener Jahre. Keiner der Nachfolger Karls des Großen hat das Format, ein derart großes Reich zu regieren. Die Erhaltung des Frankenreiches als eine politische und ökonomische Einheit, wie zur Zeit des großen Karl, stellt für seinen Sohn und vor allem für seine Enkel keinen erstrebenswerten Zustand dar. Sie sind eher an der eigenen Macht interessiert und sind - so betrachtet - Kinder ihrer Zeit. Die Erhaltung der fränkischen Einheit hätte vermutlich alsbald gezeigt, dass die bei Karl dem Großen noch integrierten Einzelinteressen der unterworfenen Stämme sehr schnell wieder an die Oberfläche gekommen und nach Eigenständigkeit gestrebt hätten. Die rasche Herausbildung unterschiedlicher Sprachen und der stabile Fortbestand der östlichen Herzogtümer (Sachsen, Thüringen, Kärnten, Bayern, Schwaben und Franken), die sich zum Teil in ihren damaligen Stammesgrenzen bis heute erhalten haben, sprechen ebenfalls gegen ein Gesamtreich.
In den folgenden Jahren jedenfalls werden Verträge geschlossen, die die Aufteilung Europas besiegeln und dem Kontinent ein bis heute erkennbares Gesicht geben. Im Vertrag von Verdun 843 erhält Ludwig der Deutsche das ostfränkische Reich, das an seiner westlichen Seite ungefähr durch den Lauf des Rheins, im Süden entlang einer Linie von Genf nach Chur und im Osten bei Regensburg, Magdeburg und Hamburg begrenzt ist. Die Mitte Europas wird Lothar I. zugeschlagen und reicht von Friesland über Lothringen, Burgund und die Lombardei nach Italien. Der Westen schließlich unter Karl dem Kahlen wird das westfränkische Reich, das in seinen Grenzen im Wesentlichen dem heutigen Frankreich entspricht. Aber dabei bleibt es nicht lange. 870 im Vertrag von Meersen wird der mittlere Teil, also die heutigen Benelux-Staaten, aufgelöst und in fast gleichen Teilen dem ost- bzw. westfränkischen Reich zugeschlagen.
Für einen kurzen Moment wird das Reich Karl des Großen unter der Regentschaft eines weiteren Karls, der wegen seiner Leibesfülle mit dem Beinamen „der Dicke“ prämiert wird, noch einmal auferstehen. Als sein Vater Ludwig der Deutsche 876 stirbt, folgt er ihm als König im Ostteil des Frankenreiches. Er beteiligt sich an der Unterwerfung mittelitalienischer Provinzfürsten, die mit Unterstützung der Sarazenen Papst Johannes VIII. an den Kragen wollen. Dieser revanchiert sich prompt mit der Kaiserkrone für den Verteidiger des „patrimonium petri“. Über Erbschaften und andere glückliche Umstände bekommt Karl III., der Dicke, ein paar Jahre später auch noch die Königswürde des westfränkischen Teils. Weil der dicke Karl an der Bekämpfung der Normannen scheitert, die unbarmherzig den Flussläufen folgend ins Landesinnere vorstoßen, brandschatzen und plündern, muss er 887 abdanken. Er wird seines Lebens nicht mehr froh und stirbt bald darauf. Die Todesursache ist allerdings umstritten. Während die einen auf Grund seiner Epilepsie von einem natürlichen Tod sprechen, halten es andere für einen glatten Mord. Einig ist man sich allein im Datum: 13. Januar 888.
Aus der Feder des Geschichtsschreibers Regino von Prüm, der die Zeit Karls des Dicken als Zeitgenosse und Schriftgelehrter miterlebt, stammt die rund 10 Jahre nach dem Tod des korpulenten Kaisers verfasste „Chronica“, eine Schriftensammlung, die sich vor allem mit der Chronologie und der Geschichte der fränkischen Herrscher beschäftigt. Sein Urteil:
„Nach dem Tod des Kaisers löste sich der feste Verband der Reiche, die ihm untertan waren; sie warteten nicht auf den ihnen von der Natur bestimmten Herrn, sondern jedes erkor sich aus sich selbst heraus einen König. Das führte zu schweren Kriegswirren (…) weil eben ihre gleiche edle Abstammung, Würde und Macht die Zwietracht mehrte und keiner so über alle anderen hervorragte, dass diese sich ihm freiwillig unterworfen hätten. Denn zahlreiche zur Herrschaft geeignete Fürsten hätte das Frankenreich geboren, wenn ihnen nicht das Schicksal zu gegenseitigem Wettstreit und Verderben die Waffe in die Hand gedrückt hätte.“
Reginos Analyse ist nicht viel hinzuzufügen, er hat das Problem und den Weg erkannt, den die Ostfranken am Beginn des 10. Jahrhunderts einschlagen werden. Das Ende der Herrschaft des dicken Karls, der das Reich seines großen Namensvetters auf Grund dynastischer Zufälle noch einmal zusammenbringt, stellt eine Zäsur dar. Denn von nun an entwickeln sich die Reichsteile zu selbständigen Gebilden, aus denen später jene Nationen hervorgehen, die heute noch den europäischen Kontinent besiedeln. Der westfränkische Teil – heute Frankreich – hat kaum noch geographische Veränderungen erfahren, die Grenzen verschieben sich im Nordosten und Südosten des Landes nur noch um einige Kilometer. Die Mitte des Kontinents, wo wir heute Luxemburg, Belgien und Holland finden, gehört noch für lange Zeit zu den beiden anderen fränkischen Ländern im Westen und Osten Europas. Das ostfränkische Reich wird in der Folgezeit von Kaisern aus unterschiedlichen Herzogtümern regiert und nimmt– im Gegensatz zum westfränkischen – alsbald die Gestalt eines geopolitischen Flickenteppichs an. Im Osten des alten Karlsreiches sind die Bestrebungen der Stämme und Herzogtümer nach Eigenständigkeit viel deutlicher zu verspüren als im Westen. Der „deutsche“ Kaiser, wie der ostfränkische Kaiser später heißt, herrscht nicht nur über unterschiedliche deutsche Stämme und Völker sondern eben auch über Österreicher, Italiener, Niederländer, Belgier, Luxemburger, Böhmen und Tschechen. Und das wird in den folgenden Jahrhunderten den Weg der „Deutschen“ bestimmen.
In Frankreich und Italien werden nach dem Tod Karls III. erstmals nicht-karolingische Könige gewählt, in Burgund entstehen zwei weitgehend eigenständige Teilreiche mit jeweils anderen Dynastien. Unter Odo, einem Grafen aus Paris, der bis 898 auf dem westfränkischen Königsstuhl sitzt, gibt es auch im Westen des alten Frankenreiches mächtige Provinzfürsten, die einer zentralen Macht entgegen stehen: In Aquitanien, in Katalonien, in der Bretagne oder in Flandern. Die politische Ordnung nach den Karolingern ist in „Frankreich“ nicht einfacher als in „Deutschland“. Hier wie dort streitet die zentrale Macht mit den nach Autonomie und eigener Herrschaft strebenden Provinzmächten. Einzig bei äußeren Gefahren, wie sie etwa die Einfälle der Normannen oder Ungarn darstellen, stehen sie zusammen – darin unterscheiden sich die beiden Nachbarn nicht.
Im Westen des alten Karlsreiches kommt es genau wie im Osten zu unangenehmen Auseinandersetzungen zwischen streitlustigen Familienmitgliedern, die in jeweils wechselnden Koalitionen gegeneinander kämpfen. 987 stirbt mit Ludwig V. der letzte karolingische König. Das Ende der Kämpfe zwischen dem König und den Herzögen wird durch die anschließende Wahl von Hugo Capet eingeläutet. Hugo Capet ist der erste in einer langen Reihe von Kapetingern auf dem französischen Thron. Bis 1328 wird diese Familie den jeweiligen König stellen und so verhindern, dass ständige Dynastiewechsel und von Intrigen begleitete Königswahlen die zentrale Macht schwächen. Der Weg, den Frankreich von nun an gehen wird, ist vorgezeichnet.
Der wohl unabwendbare Zerfall des fränkischen Großreiches ist eine Wegmarke der europäischen Geschichte. Aber was wäre geschehen, wenn die fränkische Einheit gehalten und den Wirren, die da noch kommen sollten, standgehalten hätte? Würden die Europäer dann eine gemeinsame Sprache sprechen? Wären die Kriege, die zwischen dem 10. und 21. Jahrhundert die Mitte des Kontinents mehrfach verwüstet haben, den Menschen erspart geblieben? Gäbe es dann schon lange eine „Europäische Union“, wie sie jetzt entstanden ist? Unabhängig von derartigen Spekulationen beginnt für die Deutschen mit der Teilung des fränkischen Reiches eine wechselvolle und selten glückliche Geschichte. Die deutschen Stämme und Herzöge machen es den jeweiligen Kaisern nahezu unmöglich, eine „Einheit der Deutschen“ herzustellen und zu bewahren. Ganz im Gegenteil: Die partikularen Interessen der Territorialherren stehen den Belangen des „deutschen Reiches“ fast immer diametral entgegen. Mitunter sind die Kaiser Sklaven ihrer Untertanen, weil sie von deren Stimmen bei der Wahl zum Kaiser abhängig sind. Nicht selten wird die Teilnahme an einem Feldzug mit Zugeständnissen an die Großmachtsphantasien irgendwelcher Provinzfürsten erkauft. Das deutsche Reich wird von keiner zentralen Stelle regiert, ein Gemeinschaftsgefühl durch die Zugehörigkeit zum Reich entwickelt sich unter den Bewohnern nicht.
Im Gegenteil: Bei den Deutschen herrschen Uneinigkeit und Missgunst, ihre innere Entwicklung ist überlagert von Kämpfen um den Machterhalt. Die Menschen sind eng verbunden mit ihren lokalen oder regionalen Fürsten und Herzögen, deren Land es zu bewahren gilt. Der staatliche „Überbau“ - das „deutsche Reich“ – kommt erst an zweiter Stelle. Die äußere Bedrohung schweißt die Menschen im deutschen Reich zusammen, zu deren Abwehr wird alles Trennende für kurze Zeit vergessen. Am Beginn des 10. Jahrhunderts stellen die ungarischen Reiterheere eine solche Bedrohung dar, die Gegenwehr organisiert der erste von vielen deutschen Königen mit dem Vornamen Heinrich …
… der im Jahr 919 die sächsische Dynastie auf dem Königsstuhl etabliert. Heinrich I. hat es nicht einfach, denn wie keiner vor ihm muss er sich gegen die Hunnen – einem wilden Volksstamm aus Ungarn - zur Wehr setzen. Die Ungarn werden Anfang des neuen Jahrhunderts von den Petschenegen aus ihrer ursprünglichen Heimat an den nordwestlichen Ufern des Schwarzen Meeres vertrieben und sind fortan auf der Suche nach neuen Siedlungsräumen. Dabei gehen sie sich nicht gerade zimperlich vor, die Beschreibungen ihrer Überfälle lassen jedenfalls an Grausamkeit nicht zu wünschen übrig. Raub- und Plünderungszüge führen die ungarischen Heere nach Mähren, Kärnten, Sachsen, Thüringen und schließlich nach Bayern bis zum Lech, dessen Ufer mehrfach mit dem Blut erschlagener Soldaten getränkt werden.
Mit Heinrich I. tritt den Hunnen aber ein Kriegsherr entgegen, der ihnen in nichts nachsteht und mit gleicher Brutalität gegen seine Gegner vorgeht. Die Kriege, die dieser Heinrich in seinem Leben geführt hat, sind kaum zu zählen. Die Regentschaft des Sachsen Heinrichs I. ist aber nicht nur wegen seiner harten Abwehrhaltung gegen die ungarischen Heere von Bedeutung. Mit seiner Krönung sitzt zum ersten Mal ein Herzog auf dem Königsstuhl, der weder Karolinger noch Franke – also Angehöriger der „Gründungsfamilien“ des fränkischen Reichs - ist. Heinrich I. ist vielmehr Führer des Stammes der Sachsen, um deren Unterwerfung Karl der Große hart hatte kämpfen müssen. Nur etwas mehr als 100 Jahre nach dieser Unterwerfung gelingt es ihm, die Zustimmung zu seiner Wahl von jenen Stämmen zu erhalten, die bis weit ins Mittelalter hinein das Kernland des deutschen Reiches bilden: Sachsen, Franken, Bayern und Schwaben. Aus dem alten Reich Karls des Großen entsteht im Osten ein Reich, in dem der König zwar „König der Franken“ genannt wird, das sich in seiner politischen Tradition aber vom fränkischen Reich entfernt hat.
Als Heinrich I. stirbt, folgt ihm 936 sein Sohn Otto I., den er schon vorher zum Mitregenten erhoben hatte. Otto I. wird ohne großen Widerspruch der Stammesherzöge gewählt. Der neue König überragt seine Mitmenschen um Haupteslänge, ein gesunder Menschenverstand und vor allem seine praktische Schläue sind überliefert. Von Anfang an steht er aber vor nicht unerheblichen innenpolitischen Schwierigkeiten, die ihm die liebe Verwandtschaft beschert. Denn frisch gekürt besteht er auf der Unterwerfung der Herzöge unter seine Königsmacht. Die aber denken gar nicht daran, sich diesem Ansinnen zu beugen, denn in ihren Augen ist die Bindung an den König ein Treueverhältnis, das immer dann aufgekündigt werden kann, wenn eine der beteiligten Seiten diese Treue missbraucht. Daraus ergeben sich in der Folgezeit immer wieder Missverständnisse, die Otto I. ohne Umschweife mit militärischen Mitteln ausräumt: An der Spitze eines starken Heeres erzwingt er vom dänischen König und von den Slawenstämmen zwischen Elbe und Oder die Anerkennung seiner Oberhoheit. Diese Anerkennung lässt er sich noch dadurch versüßen, dass die Unterworfenen zukünftig nicht unerhebliche Tribute an ihn zu zahlen haben.
Seine Brüder, Thankmar und Heinrich, erheben sich gegen ihn und werden ebenso unterworfen wie die Herzöge Giselher von Lothringen und Eberhard von Franken und später auch Rudolf von Schwaben. Die übrigen Herzöge verstehen das als Kampfansage und planen ein Mordkomplott gegen den König. Pfingsten 941 soll er aus dem Leben befördert werden. Doch der Plan fliegt auf und der Anschlag wird verhindert. Den Streit um die Macht im Lande kann Otto I. allerdings nicht aus der Welt schaffen. Der Konflikt zwischen der Zentralmacht und den partikularen Fürsten wird ihn ebenso beschäftigen wie fast alle seine Nachfolger. Während westlich des Rheins die Macht der Fürsten gebrochen und damit alsbald der Weg frei sein wird für eine „vornationale“ Staatlichkeit, steht im Osten des alten Karlsreiches die „deutsche Einheit“ oder die Einheit deutscher Stämme und Länder auf dem Spiel. Würde sich die Macht der Herzöge gegen die des Königs durchsetzen, könnte der östliche Teil des alten fränkischen Großreichs in viele kleine, kaum überlebensfähige Territorien auseinander brechen.
Aufgrund der Erfahrungen mit seiner aufmüpfigen Familie zieht Otto I. die Mitglieder des hohen Klerus auch für weltliche Aufgaben heran, indem er ihnen bedeutende Staatsämter überträgt und seine Macht auf ihre Loyalität aufbaut. Meist stammen die Kirchenmänner aus wichtigen Familien, sind gut ausgebildet und können deshalb Verwaltungsaufgaben besser erledigen als die Kriegsherren des hohen Adels. Otto I. gewährt den Kirchen Königsschutz und Immunität und nimmt sie als „Reichskirchen“ in den Schoß der weltlichen Macht. Da geistliche Würdenträger - normalerweise - nicht heiraten dürfen, fällt das Amt nach ihrem Tod an den König zurück und der kann es immer wieder an vertrauenswürdige Männer weitergeben. Diese Verfahrensweise greift aber in die Vollmacht des obersten aller Christen ein, denn eigentlich kann nur der Papst Bischöfe oder Äbte in ein Amt einsetzen. Bei Otto I. ist das kein Problem, da er ein ausgezeichnetes Verhältnis zum Primas der christlich-römischen Kirche hat. Später entzündet sich über dieses Recht der „Investitur“ eine heftige Auseinandersetzung – der „Investiturstreit“. Zunächst aber hilft dieses „Reichskirchensystem“ das Reich zu stabilisieren.
Stabilisierend wirkt auch das Grenzsicherungssystem der so genannten „Marken“. Vor allem im Süden des Reiches ist die „Ostmark“ als Abwehr-Bollwerk gegen die Ungarn von großer Bedeutung. 996 wird sie „Ostarrichi“ genannt werden und sich entlang der Donau immer weiter nach Süden verschieben. Aus dieser Mark entstehen bald Österreich, Steiermark und Krain. Rund 1000 Jahre später wird Adolf Hitler beim so genannten „Anschluss Österreichs“ am 14. März 1938 verkünden, „die Ostmark heim ins Reich“ geholt zu haben. Dabei wird er sich auf die politischen Verhältnisse des Mittelalters der Jahrtausendwende beziehen, als die Bewohner „Ostarrichis“ zweifellos Mitglieder des ottonischen Reiches waren. Ein makabres Beispiel wie Geschichte willfährigen Interpretationen anheim fallen kann.
Ottos I. Regentschaft ist von unzähligen Schlachten gekennzeichnet, die er mit großem Kampfesmut und einigem Geschick für sich entscheiden kann. Das ist für den Bestand des Reiches auch von überragender Bedeutung, denn mittlerweile sind die brandschatzenden ungarischen Truppen zu einer echten Plage geworden. Kein Dorf, kein Hof und kein Kloster ist mehr sicher vor den im wahren Sinne des Wortes „über Leichen gehenden“ Plünderern. Die Gefahr für Land und Leute durch die marodierenden Banden hat inzwischen Ausmaße angenommen, die den König zum Handeln veranlassen, will er nicht innere Unruhen und Aufstände riskieren. Also zieht Otto der Große, wie er schon zu Lebzeiten genannt wird, in die Schlacht und schlägt die Hunnen 955 auf dem Lechfeld in der Nähe von Augsburg vernichtend. Bei dieser legendären Schlacht, nach der die Ungarn endgültig aus dem ostfränkischen Reich vertrieben sein werden, führt Otto I. ein Heer an, dessen Soldaten aus fünf Herzogtümern stammen. Er ist zwar der König des gesamten ostfränkischen Reichs, er befehligt aber nur „seine“ sächsischen Ritter. Die anderen kommen aus Thüringen, Böhmen, Franken oder Schwaben – und als Angehörige dieser Stämme fühlen sie sich auch!
Anders als im Osten und Westen kristallisiert sich im Süden des alten Frankenreiches kein halbwegs einheitliches Gebilde heraus. Ganz im Gegenteil: Sizilien wird von den Arabern erobert, spaltet sich vom restlichen Teil der Halbinsel nahezu ab und stellt bis weit ins 10. Jahrhundert hinein eine latente Gefahr für den italienischen Norden dar. Der Kirchenstaat gerät immer mehr in die Gewalt des oberitalienischen Adels. Zwischen 904 und 951 beherrscht die Familie des Herzogs Alberich II. von Spoleto den Kirchenstaat und damit auch die Papstwahlen, die nun zur lächerlichen Farce werden. In der später verfassten Geschichte der Päpste wird diese Zeit verächtlich als „Pornokratie“ bezeichnet. Wie korrekt diese erstaunliche Bezeichnung ist, verrät ein Blick in die Annalen der römischen Kurie. In den Augen der Chronisten wird der Vatikan in dieser Zeit von einem Hurengespann geleitet. Es handelt sich um ein Mutter-Tochter-Tandem, Theodora und Marozia, die beide Mätressen diverser Päpste sind. Die Geschichte des Papsttums verkommt in diesen Jahren zur Räuberpistole. Besonders hemmungslos wird der christliche Kodex unter Sergius III. mit Füßen getreten, der 904 mit Unterstützung des Herzogs Alberich II. von Spoleto einen Marsch auf Rom inszeniert und sich anschließend unter dem militärischen Schutz des Herzogs zum Papst weihen lässt. Diesem abstoßenden Machtgebaren folgt ein Blutrausch, dem seine beiden Vorgänger zum Opfer fallen. Sergius III. lässt in einem Anfall von wahnsinniger Verfolgungswut zwei seiner Brüder im Herrn umbringen. Kommentatoren dieser Zeit bezichtigen den Stellvertreter Christi auf Erden, „ständig grenzenlose Abscheulichkeiten mit leichten Frauen“ zu begehen.