Die Genese Europas II - Matthias von Hellfeld - E-Book

Die Genese Europas II E-Book

Matthias von Hellfeld

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Beschreibung

Die Genese Europas ist eine Vorlesung am Kölner "Campus für Lernen", die sich über drei Trimester mit der Geschichte unseres Kontinents von den Griechen (600 v. Chr.) bis in unsere Tage beschäftigt. Der zweite Teil beginnt 900 bei der Herrschaft der Sachsen im ostfränkischen Reich, schildert den Spagat der deutschen Kaiser zwischen Deutschland und Italien, widmet sich dem Investiturstreit und den Kreuzzügen, erklärt die "Universitas Christiana" als eine erste "europäische Union", geht dann auf die "Magna Carta" von 1215 und die "Goldene Bulle" von 1356 als erste Formen der politischen Partizipation in Europa ein. Mit Beginn der Neuzeit prägen Renaissance, Humanismus und Reformation seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts das Leben in Europa. Nach einem verheerenden "30jährigen Krieg" gilt die Glaubensfreiheit auf dem Kontinent. Zeitgleich suchen Franzosen mit dem Absolutismus und Engländer mit dem durch die "Glorious Revolution" erkämpften Parlamentarismus einen Ausweg aus den Verheerungen der Jahrhunderte langen Kriege in Europa. Mit der Aufklärung, also dem Versuch die Welt mit dem Wissen und nicht mit dem Glauben zu erfassen, kommt die nächste Zäsur über den Kontinent. Folge der Aufklärung ist die französische Revolution, die den Dreiklang "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" nach Europa gebracht hat. Mit dem "Wiener Kongress" wird Europa einer strengen Restauration unterworfen. Die alten Königshäuser wollen ihren Status behalten, den sie vor der Revolution in Frankreich innehatten. In den Jahren zwischen 900 und 1815 erfährt Europa zahlreiche Prägungen, die bis heute sichtbar sind: Religionsfreiheit, aufgeklärtes Denken, Parlamentarismus oder auch die Trennung von Kirche und Staat. Die in diesen Jahrhunderten errungenen Erfolge haben einen Kontinent herausgebildet, der identisch ist, weil er nach Vorstellungen organisiert ist, die in Europa erdacht und erkämpft worden sind.

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Matthias von Hellfeld

Die Genese Europas II

Der europäische Kontinent

vom antiken Griechenland

bis heute

Teil 2

Vom Ende des Karolingerreichs (900)

bis zum Wiener Kongress (1815)

Inhalt

1.) Vorwort

2.) Das Frühmittelalter

Europa am Ende des Karolingerreichs

Pornokratie

Italienische Verhältnisse

Heinrich I.

Otto I.

Familienherzogtümer und Reichskirchensystem

Die Schlacht auf dem Lechfeld

Konflikte in Italien

Angriff auf das Patrimonium Petri

Kaiserkrönung Ottos I.

 „Renovatio Imperii“

Christliche Herrschaft

Ost- und Westfranken

Polen, Böhmen und Ungarn

Spagat zwischen „Deutschland“ und „Italien“

„Renovatio Imperii Romani“

England

Spanien

Kirchenschisma

Weltliche Macht vs. Geistliche Macht

Gregor VII.

Der Investiturstreit 

Heinrich IV.

Canossa

Die Schlacht von Manzikert

Die Macht der Territorialfürsten 

Europa unter dem Kreuz der Christen

Erster Kreuzzug

Kreuzfahrerstaaten

Saladin I.

„Universitas Christiana“

3.) Das Hochmittelalter

Die Staufer

„Barbarossa“ und der Lombardenbund

Osteuropa im 12. Jahrhundert

Das Kiewer Reich

Spanien und Frankreich 

Wilhelm „der Eroberer“

Ideen wirken

Staufisch-welfischer Dualismus

Der „Knabe aus Apulien“

Magna Carta

Die erste „Europäische Union“

Inquisition

Christliche Judenfeindschaft 

Bürger und Städte im 13. Jahrhundert 

Interregnum

Frankreich und die deutsche Krone

Die „Deutsche Mystik“

Das Osmanische Reich

Die unruhige Mitte des Kontinents

Politische Partizipation in Deutschland 

Die „goldene Bulle“

Das abendländische Schisma 

Die „Reconquista“ 

Renaissance – Perestroika des Mittelalters

Humanismus

Europa am Ende des Mittelalters

Jeanne d’Arc und der „Hundertjährige Krieg“

4.) Die Neuzeit

Maximilian I. – der „letzte Ritter“ und der „erste Kanonier“

Reformation

Der Ablasshandel

95 Thesen, die die Welt verändern

Karl V. 

Bauernaufstände

Türken vor Wien 

Confessio Augustana

Der Augsburger Religionsfriede 

16. Jahrhundert

Spanien

Frankreich

Gegenreformation

30jähriger Krieg

Böhmisch-Pfälzischer Krieg von 1618 – 1624

Dänisch-Niedersächsischer Krieg von 1625 – 1629

Schwedischer Krieg von 1630 – 1635

Schwedisch-französischer Krieg 1635 – 1648

KSZE I – Westfälischer Frieden

Die „Deutsche Frage“ I

Die Folgen des Krieges

Frankreich: Alle Macht dem König! 

Richelieu

Absolutismus

Merkantilismus in Frankreich

England: Alle Macht dem Parlament

Glorious Revolution in England

Russland

Portugal und Spanien

Niederlande

Schweiz

Polen, Litauen und Ungarn

Skandinavien

Deutscher Flickenteppich

Der spanische Erbfolgekrieg

Preußen

Friedrich „der Große“ und Maria Theresia

Globalisierung I

Polnische Teilungen 1772 – 1773 - 1795

Aufklärung: Es lebe die Vernunft!

Die „Deutsche Frage“ II

Die Französische Revolution

Das „Reich der Vernunft“

Amerika wird unabhängig

Die Revolution beginnt

Die Revolution radikalisiert sich

Die Revolution frisst ihre Kinder

Napoleon

Kaiser Napoleon I.

Europäisches Satellitensystem

Der Rheinbund

Die Aufteilung Europas

Widerstand gegen Napoleon

Reformen in Preußen

Die Konvention von Tauroggen

Befreiungskrieg

Einer allein ist nicht stärker als die anderen zusammen

Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa II

Restauration, Solidarität und Legitimität

Der Deutsche Bund

Die „Deutsche Frage“ III

5.) Verwendete und empfohlene Literatur

1.) Vorwort

Der vorliegende Text ist der zweite Teil meiner über drei Trimester gehaltenen Vorlesung über die „Genese Europas“ am Kölner „Campus für Lernen“, die im Januar 2014 begonnen hat. Neben dem grundsätzlichen Verständnis für die Entwicklung des europäischen Kontinents von den Anfängen im antiken Griechenland bis zur Ausgestaltung der Europäischen Union im 21. Jahrhundert geht es in diesem Abschnitt der Vorlesung um die mittelalterliche und neuzeitliche Entwicklung Europas von den Ottonen bis zum Wiener Kongress 1815.

Nach dem Ende des Karolingerreichs entwickeln sich die ost- und die westfränkische Reichshälfte zu eigenständigen und unterschiedlichen König- und Kaiserreichen. Während sich westlich des Rheins ein zentralistisches Königreich herausbildet, haben in der Osthälfte des alten Karlsreiches die Territorialfürsten ein sehr viel größeres Mitspracherecht. Unabhängig davon herrscht über einen langen Zeitraum in Europa Einigkeit darüber, dass die Menschen Teil der Universitas Christiana sind, also eines christlichen Abendlands. Diese erste „Europäische Union“ hat zwar im Inneren Europas Zusammengehörigkeit und Identität gestiftet, ist aber gegen Andersgläubige, Häretiker, Juden oder so genannte „Hexen“ mit kaum nachvollziehbarer Gewalt vorgegangen.

Die mittelalterliche Welt ist phasenweise von brutaler Gewalt geprägt gewesen. Gleichzeitig entstehen aber wesentliche Grundlagen der modernen politischen Ordnung des heutigen Europas: In England ebnen die Magna Carta und die Glorious Revolution dem Parlamentarismus und der konstitutionellen Monarchie den Weg; auf dem europäischen Kontinent verhelfen Renaissance, Humanismus und Reformation dem auch heute noch gültigen Grundsatz „Der Mensch ist das Maß der Dinge“ zum Durchbruch; die Aufklärung setzt dem Glauben das Wissen entgegen und betrachtet die Welt mit den Augen der Erkenntnis und nicht des bedingungslosen Gehorsams dem Vatikan gegenüber. Das mündet in die Französische Revolution, die wie keine andere das Leben der Europäer beeinflusst hat: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Das europäische Mittelalter ist durch eine Vielzahl von Kriegen gekennzeichnet, von denen der 30jährige Krieg von 1618 – 1648 der wohl katastrophalste gewesen ist. Am Ende liegen Teile des europäischen Kontinents in Schutt und Asche. Aber nachdem das Morden beendet worden ist, übernehmen beim Westfälischen Frieden die europäischen Großmächte zum ersten Mal gemeinsam die Verantwortung für den Kontinent: Die erste „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Eine weitere KSZE folgt beim Wiener Kongress 1815, nachdem eine europäische Militärallianz den französischen Kaiser Napoleon I. hat schlagen können. Vielleicht lässt sich daraus die Erkenntnis ableiten, dass die europäische Sicherheit nur von allen gemeinsam gewährleistet werden kann.

Köln, im Frühjahr 2014

Matthias von Hellfeld

2.) Das Frühmittelalter

Europa am Ende des Karolingerreichs

Mit Beginn des 10. Jahrhunderts ist das Karolingerreich in zwei große Teile auseinandergefallen. Im Westen herrschen die Kapetinger als französisches Königsgeschlecht. Im ostfränkischen Reich wechseln sich die Dynastien in rascher Folge ab. Während westlich des Rheins ein zentralistischer Staat im Werden ist, entwickeln sich im Osten starke Territorialfürsten, die nicht so sehr das gesamte Reich sondern vor allem auch ihre eigene Territorialmacht im Auge haben. In Europa sind mittlerweile viele Königreiche entstanden, die uns auch noch heute bekannt sind: Die skandinavischen Königreiche, Polen, Ungarn, Bulgarien, Kroatien, Frankeich, England und Schottland. In Spanien herrscht das muslimische Emirat von Cordoba, während der ostfränkische König als „römischer Kaiser“ auch über einige Restgebiete des untergegangenen Imperium Romanum und damit über den größten Teil von Italien gebietet.

Abgesehen vom Emirat von Cordoba ist über ganz Europa das Christentum verbreitet. Seit die christliche Religion durch das Dekret des oströmischen Kaisers Theodosius I. (347 – 395) vom 27. Februar 380 zur Staatsreligion im gesamten damaligen Römischen Reich geworden ist, steht die junge Religion unter Staatsschutz und kann sich dementsprechend schnell ausbreiten. In den kontinentaleuropäischen Ländern ist das Christentum seitdem durch die strengen Vorgaben des Vatikans geprägt. Im östlichen, slawisch geprägten Gebiet ist die Form der Religionsausübung durch dort vorherrschende Traditionen geformt worden.

Am Weihnachtstag 800 ist Karl „der Große“ (747 – 814), der König der Franken, durch Papst Leo III. (750 – 816) zum römischen Kaiser gekrönt worden. Karl glaubt an die Theorie der „Translatio Imperii“ - also an die „Übertragung des Imperium Romanum“ an ihn und seine Nachfolger. Damit – so die Begründung dieser politischen Theorie, die sich auf die Bibel beruft – sei die Welt vor dem Untergang gefeit, der nach dem Ende der vier Reiche der Ägypter, der Perser, der Griechen und eben der Römer drohe. Mit der Übertragung an ihn, ist das römische Reich nicht untergegangen, sondern lebt in ihm und seinem Reich weiter. Da Karl den Cäsaren des Imperium Romanum nachfolgt, übernimmt er auch deren politische Hinterlassenschaften, zu denen das zur Staatsreligion erhobene Christentum gehört. Konsequenter Weise ist das Christentum auch Staatsreligion im Frankenreich. Da der Papst den Frankenkönig zum römischen Kaiser gekrönt hat und die Regentschaft mit göttlichem Segen versehen hat, sind beide eine Symbiose eingegangen: Der Papst versieht die Kaiserkrone mit seinem Segen, der Kaiser stellt den Kirchenstaat und das Christentum unter den Schutz seiner weltlichen Macht.

Das Christentum breitet sich aus und mit dieser Expansion kommt auch der Absolutheitsanspruch der christlichen Kirche über den europäischen Kontinent. Mit der Krönung Karls zum römischen Kaiser steht der Papst unter weltlichem Schutz, seine päpstliche Interpretation der Bibel prägt die gesamte damals bekannte, nichtislamische Welt. Von Rom aus steuern die Päpste fortan das religiöse Leben in Europa und können allmählich auch Einfluss auf die Politik nehmen.

Pornokratie

Aber das Papsttum im frühen Mittelalter ist nicht nur der Mittelpunkt der christlichen Welt, sondern erliegt zeitweise auch weltlichen Verlockungen. Zwischen 904 und 963 verkommen die Papstwahlen zu einer Farce, da sie den politischen Ränkespielen ihrer Zeit geopfert werden. Zudem hat der Vatikan in jenen Jahren offenbar unter dem unguten Einfluss eines Mutter-Tochter-Gespanns gestanden, dem es beinahe gelungen wäre, den Vatikan in ein päpstliches Freudenhaus zu verwandeln. Jedenfalls verwendet der renommierte Kirchenhistoriker Cesare Baronius (1538 – 1607) in seinem 1603 erschienenen Werk für diese Epoche den Begriff „Pornokratie“. Ein weiterer Zeuge der Zustände ist der Historiker und Bischof von Cremona, Liutprand von Cremona (920 – 972). Wie korrekt diese erstaunliche Bezeichnung ist, verrät ein Blick in die Annalen der römischen Kurie. In den Augen der Chronisten wird der Vatikan in dieser Zeit tatsächlich von einem Hurengespann geleitet. Es handelt sich um ein Frauen-Tandem, Theodora (894 – 950) und Marozia (890 – 937), die beide Mätressen diverser Päpste sind.

Die Geschichte des Papsttums gleicht in diesen Jahren einer Räuberpistole. Besonders hemmungslos wird der christliche Kodex unter Sergius III. (850 - 911) mit Füßen getreten. 904 inszeniert er mit dem Ehemann seiner Mätresse Marozia, Herzog Alberich I. von Spoleto (889 – 925) einen Marsch auf Rom und lässt sich anschließend unter dem militärischen Schutz des Herzogs zum Papst weihen. Diesem ziemlich merkwürdigen Machtgebaren folgt ein Blutrausch, dem seine beiden Vorgänger und zwei christliche Mitbrüder zum Opfer fallen. Kommentatoren dieser Zeit bezichtigen den Stellvertreter Christi auf Erden, „ständig grenzenlose Abscheulichkeiten mit leichten Frauen“ zu begehen, womit sie nicht nur Sex mit Minderjährigen gemeint haben. Sergius III. ist offenbar „ein Sklave eines jeden Lasters und ein äußerst gottloser Mensch“, heißt es in den Überlieferungen weiter.

Im Mai 946 wird mit Johannes XII. (939 – 964) ein Sohn Alberichs I. auf dem Heiligen Stuhl platziert. Er trägt den Beinamen „der Schlechte“ und das nicht zu Unrecht. Denn Papst Johannes XII. ist Atheist, hat jede Menge Geliebte beiderlei Geschlechts, mit denen er geradezu unglaubliche Orgien im Vatikan feiert. Der für seine papstkritischen Bemerkungen bekannte zeitgenössische Chronist Liutprand von Cremona berichtet nicht nur von einem Bordell im Vatikan, sondern auch noch von Mordanschlägen, Inzest, Simonie und einer Jagd- und Spielleidenschaft des Papstes, so dass der Vorwurf der permanenten Gotteslästerung nicht weiter ins Gewicht fällt. Sein Verhalten ist derart skandalös, dass ihm der Prozess gemacht werden soll. Die förmliche Anklage liest sich so:

„Wisset denn, nicht wenige, sondern alle, sowohl Weltliche als auch Geistliche, haben Euch angeklagt des Mordes, des Meineids, der Tempelschändung, der Blutschande mit Eurer eigener Verwandten und mit zwei Schwestern. Sie erklären noch anderes, wovor das Ohr sich sträubt, dass Ihr dem Teufel zugetrunken und beim Würfeln Zeus, Venus und andere Dämonen angerufen habt.“

Über den Tod von Johannes XII. gibt es unterschiedliche Berichte. Vermutlich ist der Papst während eines Geschlechtsaktes mit einer verheirateten Römerin von deren Ehemann überrascht und mit mehreren wilden Hammerschlägen aus dem Leben befördert worden. Eine Synode hat ihn 991 zu Recht „ein Ungeheuer ohne jede Tugend“ genannt.

Italienische Verhältnisse

Zweifellos sind diese knapp 60 Jahre des Papsttums kaum mehr als die Geschichte einer kriminellen Vereinigung gewesen. Der christliche Kodex ist mit Füßen getreten worden und nicht wenige Päpste in dieser Zeit haben ihren weltlichen Lastern ausgiebiger gefrönt als sie sich mit der Verbreitung der christlichen Lehre beschäftigt haben. Mit der Absetzung von Papst Johannes XII. hat diese beschämende Periode ein Ende gefunden.

Gleichzeitig wird in diesen Jahren auch ein anderer Konflikt deutlich. Denn die Päpste stehen unter zunehmendem Druck einiger mächtiger oberitalienischer Familien, die mehr Einfluss fordern, Gebietsansprüche stellen und mit dem Papstamt liebäugeln. Eine dieser Familien wird von Berengar II. von Ivrea (900 – 966) angeführt, der den Kirchenstaat dauerhaften Attacken aussetzt. Berengar II. will sich den Kirchenstaat einverleiben und – wenn es geht - auch noch den Rest von Italien. Berengar II. ist Nachfahre Karls „des Großen“ und Markgraf von Ivrea, dessen Hausmacht im Norden Italiens in der Nähe von Mailand und Turin liegt. Neben dem Papst hat Berengar II. mit dem italienischen König Hugo I. von Arles (887 – 947) noch einen weiteren Gegner.

Für den Papst ist das eine schwierige Lage, denn er hat weder eigene militärische Möglichkeiten, noch kann er auf Nachbarn hoffen, die ihm zu Hilfe eilen. Deshalb entsinnt sich Johannes XII. wie sein Vorgänger Leo III. vor 150 Jahren eines starken weltlichen Herrschers, der ihm in dieser bedrohlichen Situation helfen könnte. Damals sind es die kampferprobten Langobarden gewesen, die Leo III. das Leben schwer gemacht haben, nun sind es norditalienische Territorialherren, die Johannes XII. in Angst und Schrecken versetzen. Damals ist der Frankenkönig Karl zu Hilfe gekommen – nun soll es ein Sachse sein, der hilft, die italienischen Verhältnisse zu klären.

Heinrich I.

Mit Heinrich I. (876 – 936) sitzt im Jahr 919 der erste Sachse auf dem ostfränkischen Königsthron. Nachdem er 921 den Gegenkönig Arnulf von Bayern (ca. 870 – 937) unterworfen hat, ist seine Machtposition unumstritten. Heinrich I. steht vor schweren Problemen, als er sein Amt antritt, denn die Ungarn sind Anfang des neuen Jahrhunderts von den Petschenegen aus ihrer ursprünglichen Heimat an den nordwestlichen Ufern des Schwarzen Meeres vertrieben worden und haben sich bei der Suche nach neuen Siedlungsräumen in Richtung Kontinentaleuropa aufgemacht. Dabei stellen sie sich nicht zimperlich an. Die Beschreibungen ihrer Überfälle lassen jedenfalls an Grausamkeit nichts zu wünschen übrig. Raub- und Plünderungszüge führen die ungarischen Heere nach Mähren, Kärnten, Sachsen, Thüringen und schließlich nach Bayern bis zur Lech, deren Ufer mehrfach mit dem Blut erschlagener Soldaten getränkt werden.

Mit Heinrich I. tritt den Hunnen aber ein Kriegsherr entgegen, der ihnen in nichts nachsteht und mit gleicher Brutalität gegen seine Gegner vorgeht. Die Kriege, die dieser Heinrich in seinem Leben geführt hat, sind kaum zu zählen, einige hat der sächsische Geschichtsschreiber Widukind von Corvey (925 – 973) notiert:

„er überfiel 928 plötzlich die Heveller. Er zermürbte sie in zahlreichen Gefechten (…) und nahm schließlich deren Hauptort Brandenburg durch Hunger, Schwert und Kälte. Nun wandte er sich gegen die Daleminzen. (…) Er belagerte ihre Stadt Gana und nahm sie nach 20 Tagen. Er überließ sie seinen Kriegern zur Plünderung; alle Männer wurden getötet, die Knaben und Mädchen als Sklaven weggeführt. Hierauf zog er mit seiner ganzen Streitmacht nach Prag, der Hauptstadt der Böhmen …“

929 erreicht Heinrich I. einen neunjährigen Waffenstillstand mit den Ungarn, in dem er sich bereit erklärt, Tributzahlungen an sie zu entrichten. Gleichzeitig lässt er das Land mit Schutz- und Trutzburgen überziehen, er bewaffnet einen Teil der Bauernschaft und stellt überall im Land gepanzerte Reiterheere zusammen. Vier Jahre später kündigt er die Tributzahlungen auf, woraufhin eine ungarische Streitmacht an den Grenzen zu Sachsen und Thüringen auftaucht.

Am 15. März 933 kommt es zwischen Heinrichs Heer und den Ungarn zur Schlacht an der Unstrut, einem Nebenfluss der Saale im heutigen Sachsen – Anhalt. An der Schlacht haben offenbar alle Völker des ostfränkischen Reiches teilgenommen - also Bayern und Schwaben genauso wie Franken, Lothringer, Sachsen oder Thüringer. Genau wie nach der Schlacht von Tours und Poitier, als 732 Karl Martell, der Großvater von Karl „dem Großen“, die von Spanien nach Mitteleuropa vorrückenden Mauren geschlagen hat, ist nun Heinrich I. so etwas wie der von Gott bestätigte „Beschützer der Christenheit“.

Der sächsische Geschichtsschreiber Widukind von Corvey, der in drei Büchern die Geschichte der Sachsen bis etwa 970 niedergeschrieben hat, nennt den ostfränkischen König „Vater des Vaterlandes und Imperator“. Die Regentschaft des Sachsen Heinrichs I. ist aber nicht nur wegen der erfolgreichen Bekämpfung der ungarischen Heere und wegen der Unterwerfung der Heveller im heutigen Brandenburg von Bedeutung. Mit seiner Krönung sitzt zum ersten Mal ein Herzog auf dem Königsstuhl, der weder Karolinger noch Franke – also Angehöriger der „Gründungsfamilien“ des fränkischen Reichs - ist. Heinrich I. ist vielmehr Herzog der Sachsen, um deren Unterwerfung Karl „der Große“ bis 804 hart hat kämpfen müssen. Etwas mehr als 100 Jahre nach dieser besonders brutalen Unterwerfungsaktion Karls, die ihm zeitweise den Namen „Sachsenschlächter“ eingebracht hat, bekommt der Sachse Heinrich die Zustimmung zu seiner Wahl zum ostfränkischen König von Franken, Bayern, Thüringern, Westfalen und Schwaben. Zwei Jahre später – 921 – scheint diese Gemeinsamkeit aber wieder zu zerbrechen, denn Bayern und Sachsen wählen mit Arnulf von Bayern einen Gegenkönig, der aber gegen Heinrich I. unterliegt.

Zum ersten und wahrlich nicht zum letzten Mal tritt die Uneinigkeit im ostfränkischen Reich zu Tage. Zwar sind es erst wenige Stämme, die das Land in der Mitte Europas besiedeln, aber auch diese wenigen können sich nicht auf eine gemeinsame Zentralgewalt einigen. Im westfränkischen Reich tritt dieses Auseinanderdriften von zentralen und partikularen Interessen nicht so sehr in den Vordergrund wie in Ostfranken. Eine Markierung, die bis weit ins 19. Jahrhundert so bleiben sollte.

Aus dem alten Reich Karls „des Großen“ entsteht im Osten also ein Reich, in dem der König zwar einerseits „König der Franken“ genannt wird. Andererseits aber entfernt sich das ostfränkische Reich in seiner politischen Tradition immer mehr vom alten gesamtfränkischen Reich. Parallel zu dieser Distanzierung vom Ursprung des fränkischen Großreichs läuft auch die zunehmende Entfremdung zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des ehemaligen Karlsreichs. Das, was viele Jahrhunderte später sich als Deutschland und Frankreich gegenübersteht, nimmt von nun an einen eigenständigen nicht selten entgegengesetzten Weg. Aus den Brüder und Schwestern im Frankenreich Karls werden Konkurrenten um die Macht in Europa – bevor sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder einander näher kommen werden. Dazwischen liegen viele unheilvolle Entwicklungen, die in der so genannten „Erbfeindschaft“ und vielen Kriegen ihren Ausdruck finden.

Otto I.

Als Heinrich I. stirbt, folgt ihm 936 sein Sohn Otto I. (912 – 973), den er schon vorher zum Mitregenten erhoben hat. Otto I. wird ohne großen Widerspruch der übrigen Stammesherzöge gewählt. Der neue König überragt seine Mitmenschen um Haupteslänge; ein gesunder Menschenverstand und vor allem seine praktische Schläue sind überliefert. Von Anfang an steht er aber vor nicht unerheblichen innenpolitischen Schwierigkeiten, die ihm vor allem die Verwandtschaft bereitet. Denn schon kurz nach seiner Krönung fordert Otto I. die Unterwerfung der Herzöge und Landesfürsten unter seine Königsmacht. Die aber haben andere Pläne und machen damit ein weiteres Dilemma offenkundig, dem sich fortan alle Könige und Kaiser im Osten des alten Karlsreiches zu stellen haben.

Denn die Landesfürsten wollen ebenfalls einen Teil der Macht der Zentralgewalt. Wünscht der König die Unterwerfung verbunden mit dem Treueschwur, dann ist eine entsprechende Gegenleistung fällig – Geld zum Beispiel oder eigene Steuern und Zölle oder andere Privilegien. Ist der König stark, hat er eine eigene Hausmacht, dann kann er den Fürsten gegenüber Stärke zeigen und überhöhte Ansprüche abweisen. Andernfalls muss er nachgeben.

König Otto I. macht sich zu Beginn seiner Regentschaft daran, seine Macht abzusichern. 936 erzwingt er an der Spitze eines starken Heeres vom dänischen König und von den Slawenstämmen zwischen Elbe und Oder die Anerkennung seiner Königswürde. Auch gegenüber seinen Brüdern Thankmar (900 – 938) und Heinrich (919 – 955), die sich 939 gegen ihn erheben, reagiert er mit militärischer Härte. Thankmar stirbt während eines Aufstands gegen Otto I. beim Versuch, seinen Halbbruder zu befreien. Heinrich unterwirft sich 941, nachdem ein weiterer Versuch gescheitert ist, Otto I. aus dem Amt zu verdrängen. Auch die Herzöge Giselher von Lothringen (890 – 939) und Eberhard von Franken (855 – 939) scheitern mit ihren Aufständen gegen Otto I.

Familienherzogtümer und Reichskirchensystem

Den partikularen Bestrebungen der Landesfürsten setzt König Otto I. ab 944 eine wachsende Zahl so genannter „Familienherzogtümer“ entgegen. Lothringen geht an seinen Schwiegersohn Konrad „den Roten“ (922 – 955), Bayern an seinen Bruder Heinrich und Schwaben an seinen Sohn Liudolf (930 – 957). Das stellt einen massiven Eingriff in die bisherige Ordnung dar und ruft die entsprechenden Reaktionen hervor. Die Herzöge planen Pfingsten 941 einen Mordkomplott. Aber der Plan fliegt auf, die Rebellion bleibt ohne Folgen. Der Streit aber wird Europa über viele Jahrhunderte in Atem halten, denn die Mitte des Kontinents bleibt lange instabil, weil die Verteilung der Macht in diesem geostrategisch höchst interessanten Gebiet umstritten ist. Während westlich des Rheins die Macht der Fürsten gebrochen und damit alsbald der Weg frei sein sollte für eine „vornationale“ Staatlichkeit, geht es im Osten des alten Karlsreiches um die Frage, ob dieser Teil des alten fränkischen Großreichs in viele kleine, kaum überlebensfähige Territorien auseinander brechen würde.

Auf Grund der Erfahrungen mit seiner aufmüpfigen Familie zieht Otto I. die Mitglieder des hohen Klerus auch für weltliche Aufgaben heran, indem er ihnen bedeutende Staatsämter überträgt und sich damit eine eigene Machtbasis aufbaut. Meist stammen die Kirchenmänner aus wichtigen Familien, sind gut ausgebildet und können deshalb Verwaltungsaufgaben besser erledigen als die Kriegsherren des hohen Adels. Otto I. gewährt den Kirchen Königsschutz und Immunität und nimmt sie als „Reichskirchen“ in den Schoß der weltlichen Macht auf. Neben den wichtigen Staatsämtern bekommen die Kirchenmänner auch noch Reichs- und Kirchengut als Lehen. Für Otto ist das relativ ungefährlich, denn die geistlichen Würdenträger sterben – normalerweise jedenfalls – kinderlos und unverheiratet, so dass ihre Ämter und Lehen nach fränkischem Lehnsrecht wieder an den König zurück fallen, der sie dann immer wieder an vertrauenswürdige Männer weitergeben kann. Diese Verfahrensweise greift aber in die Vollmacht des obersten aller Christen ein, denn eigentlich ist nur der Papst berechtigt, Bischöfe oder Äbte in ein Amt einzusetzen. Bei Otto I. ist das kein Problem, da er ein ausgezeichnetes Verhältnis zum Primas der christlich-römischen Kirche hat. Später entzündet sich über dieses Recht der „Investitur“ eine heftige Auseinandersetzung – der „Investiturstreit“, der 1077 mit dem „Gang nach Canossa“ enden wird. Zunächst aber hilft dieses „Reichskirchensystem“ das Reich zu stabilisieren.

Stabilisierend wirkt auch das Grenzsicherungssystem der so genannten „Marken“. Vor allem im Süden des Reiches wird die „Ostmark“ als Abwehr-Bollwerk gegen die Ungarn große Bedeutung bekommen. 996 ist „Ostarrichi“ entlang der Donau gelegen; im Laufe der Zeit verschiebt sich „Ostarrichi“ immer weiter nach Süden. Später entstehen daraus Österreich, die Steiermark und Krain. Rund 1000 Jahre später wird Adolf Hitler (1889 – 1945) beim so genannten „Anschluss Österreichs“ am 15. März 1938 verkünden, „die älteste Ostmark des deutschen Volkes zum jüngsten Bollwerk des Deutschen Reichs“ zu machen:

„Ich proklamiere für dieses Land seine neue Mission. Sie entspricht dem Gebot, das einst die deutschen Siedler aus allen Gauen des Altreichs hierher gerufen hat. Die älteste Ostmark des deutschen Volkes soll von jetzt an das jüngste Bollwerk der deutschen Nation und damit des deutschen Reiches sein!“

Dabei hat er sich auf die politischen Verhältnisse des Mittelalters der Jahrtausendwende bezogen, als die Bewohner „Ostarrichis“ zweifellos Mitglieder des ottonischen Reiches gewesen sind! Ein makabres Beispiel wie Geschichte willfährigen Interpretationen anheimfallen kann.

Die Schlacht auf dem Lechfeld

Ottos I. Regentschaft ist von unzähligen Schlachten gekennzeichnet, die für den Bestand des ostfränkischen Reiches von großer Bedeutung gewesen sind. Denn zur Mitte des 10. Jahrhunderts sind die brandschatzenden ungarischen Truppen zu einer echten Plage geworden. Kein Dorf, kein Hof und kein Kloster ist mehr sicher gewesen vor den Plünderern, die im wahren Sinne des Wortes „über Leichen“ gegangen sind. Die Angst der Menschen vor den marodierenden Banden ist inzwischen so groß geworden, dass Otto I. sich zum Handeln gezwungen sieht. Also zieht er in die Schlacht und besiegt die Hunnen 955 auf dem Lechfeld in der Nähe von Augsburg vernichtend. Bei dieser legendären Schlacht, nach der die Ungarn endgültig aus dem ostfränkischen Reich vertrieben sein werden, führt Otto I. ein Heer an, dessen Soldaten aus fünf Herzogtümern stammen. Er ist zwar der König des gesamten ostfränkischen Reichs, er befehligt aber nur „seine“ sächsischen Ritter. Die anderen kommen aus Thüringen, Böhmen, Franken oder Schwaben – und als Angehörige dieser Stämme fühlen sie sich auch! Die Angehörigen der verschiedenen Stämme haben gemeinsam in einem Heer gekämpft, weil die Bedrohung in diesem Fall durch die Übergriffe der Hunnen weit schwerer gewogen hat, als der Wunsch nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von einem ostfränkischen König. Den Territorialherren geht es vor allem um die Erhaltung ihrer Stämme und Herzogtümer. Sie begeistern sich zwar an der Kriegskunst und der Tapferkeit des Königs und sie folgen ihm scheinbar bedingungslos. Herz und Seele aber hängen an ihren Schollen, ihren Wäldern und Seen, ihren Klöstern und Dörfern, den kleinen Städten und an dem von ihnen mühsam bewirtschafteten Grund und Boden. Das alles muss verteidigt werden – nicht der „Staat“ oder das „Reich“ – und gegen die anstürmenden Hunnen geht das in diesem Moment eben nur mit einem gemeinsamen Heer. Manche Historiker sehen in dieser gemeinsamen Schlacht der „deutschen“ Stämme dennoch den Beginn oder die Keimzelle eines deutschen Staates.

Zudem bildet sich trotz aller Partikularinteressen um die Jahrtausendwende eine Art von Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das die „deutsch Sprechenden“ immer dann unter einem Dach vereint, wenn eine bedrohliche Situation von außen den Bestand des Reiches gefährdet. Trotzdem ist im östlichen Teil des alten Frankenreiches die Bindung der Menschen an die unmittelbare Umgebung, an das eigene Herzogtum oder den Stamm sehr viel stärker ausgeprägt als die Hinwendung zu einem gesamtstaatlichen Gebilde, das von einem König oder Kaiser angeführt wird. Die Einzelinteressen der Landes- und Provinzfürsten sind stärker als das Interesse am gemeinsamen Staat. In dem ausgeprägten föderalen Charakter der Bundesrepublik Deutschland, in der die Bundesländer gesetzlich verbriefte Mitspracherechte haben, sind heute noch die Ausläufer dieser frühmittelalterlichen Überzeugung zu entdecken.

Im Westen wie im Osten des alten Frankenreichs kristallisieren sich also eigenständige Gebilde heraus. Im Westen herrschen seit 888, als Odo von Paris (ca. 866 – 898) zum König gekrönt worden ist, die Robertiner. Die sächsischen Ottonen haben sich im Osten durchgesetzt. Etwas anders war die Lage im Süden, also im heutigen Italien. Dort ist Sizilien von den Arabern erobert worden und wird die nächsten 250 Jahre unter muslimischer Herrschaft stehen. Die unmittelbare Nähe von muslimischen Truppen zum Kirchenstaat sorgt immer wieder für Unruhe und eine latente Gefahrenlage auf der italienischen Halbinsel, in deren Mitte sich der unbewaffnete Kirchenstaat befindet. Die Päpste empfinden ihre geopolitische Lage zwischen Sizilien im Süden und diversen rivalisierenden Familienclans auf dem Festland als zunehmend ungemütlich. Der italienische König Hugo von Arles (887 – 947) steht in einer Dauerfehde um die Macht in Italien mit Berengar II. von Ivrea seinem mächtigsten Widersacher.

Konflikte in Italien

Der Streit zwischen König Hugo und Berengar II. eskaliert zu Beginn der 40er Jahre des 10. Jahrhunderts. Hugo will Berengar stürzen, um ihn als Konkurrenten auszuschalten. Diese Aussicht treibt den Fürsten von Ivrea zur Flucht über die Alpen an den Königshof von Otto I., der ihm 941 Unterschlupf gewährt. Mit der Duldung Ottos I. erobert Berengar II. vier Jahre später Teile Norditaliens zurück, wird als Befreier begrüßt und übt fortan in diesem Teil des Landes die Macht aus. 946 dankt Hugo von Italien ab, die Regierungsgewalt geht zwar formell auf Lothar II. (928 – 950), den 18jährigen Sohn von Berengar II. über. Tatsächlich aber regiert der immer mächtiger gewordenen Berengar II. von Ivrea selbst. Vier Jahre später stirbt Lothar II. überraschend - wie es heißt. Vermutlich hat Berengar II. ihn vergiften lassen. Als Berengar II. sich zum italienischen König nun auch offiziell ausrufen lässt, hat er aber den nächsten Coup schon im Auge.

Denn Berengar von Ivrea plant nun die durch den Tod seines Sohnes Lothar II. eben zur Witwe gewordene Adelheid von Burgund (932 – 999) mit einem weiteren seiner Söhne zu verheiraten. Adelheid würde als italienische Königin einen Nachkommen als Erben einsetzen und damit eine Dynastie auf dem italienischen Königsthron begründen. Deshalb will Berengar einen seiner Söhne mit ihr verheiraten und so die Dynastie Ivrea begründen. Aber er hat nicht mit der Widerspenstigkeit der jungen Witwe gerechnet, denn die lehnt sein Ansinnen entschieden ab. Daraufhin beraubt und misshandelt er sie, um sie anschließend in Garda gefangen zu setzen. Die Überlieferung berichtet dann von einem Priester namens Martin. Martin hat Erbarmen, befreit 951 Adelheid nebst Tochter Emma und sorgt für ihr weiteres Überleben.

Adelheid hat offenbar gute Verbindungen im Land und lanciert einen Hilferuf an Otto I., der sie daraufhin befreit. Aber es bleibt nicht nur bei einer schnöden Befreiungsaktion. Otto I. heiratet ein Jahr später die als tugendhafte und vorbildliche Christin beleumundete Adelheid von Burgund. Das Pikante an dieser Hochzeit ist die Tatsache, dass Otto I. wegen der Herkunft seiner Frau nun auch der rechtmäßige König in Italien sein könnte. Er nimmt die Krone aber nicht selber an, sondern lässt Berengar II., der ja seit dem Tod seines Sohnes Lothar als italienischer König fungiert, im Amt. Berengar muss lediglich am 7. August 952 einen Treueeid gegenüber Otto I. leisten, der damit de facto die Macht in Italien ausübt.

Otto kommt angesichts seiner Familie nur schwer zur Ruhe, denn die Ehe Ottos mit der schönen Adelheit macht mehr Schwierigkeiten als gedacht. Ottos Sohn Liudolf aus der ersten Ehe mit Editha (910 – 946), der Halbschwester des englischen Königs, fürchtet um die Thronfolge, falls der zweiten Ehe seines Vaters ein Stammhalter beschert sein sollte. Der offene Zwist, der das Land in eine schwere Krise stürzt, beginnt Weihnachten 951 als Liudolf in Saalfeld eine Zusammenkunft mit den Fürsten nutzt, um ein Komplott gegen Otto zu schmieden. Liudolf gelingt es, mit seinem Schwager Konrad „dem Roten“ weitere Fürsten zu gewinnen, aber der Plan, Otto zu entmachten, schlägt fehl. Adelheid bringt 952 mit Heinrich (952 – 954) einen ersten Sohn zur Welt, er soll Ottos Nachfolger werden. Aber der Junge stirbt schon zwei Jahre später. Doch in den folgenden Jahren bringt Adelheid mit Bruno (953 – ca. 980) und Otto (955 - 983) zwei weitere Jungen und Mathilde (954 – 999), die spätere Äbtissin von Quedlinburg, zur Welt.

Im März 953 bricht der Aufstand des frustrierten Sohnes Liudolf aus. Zunächst scheint es so, als könnte die Rebellion klappen. Als Otto hört, dass Mainz in die Hände seiner Feinde gefallen ist, beginnt er im Sommer 953 mit der Belagerung der Stadt. Aber der Konflikt ist militärisch nicht zu lösen gewesen, sodass der Streit auf dem Verhandlungswege beigelegt werden muss. Nicht nur der Aufstand seines Sohnes und die Bedrohung durch die Hunnen schwächt zeitweise die Herrschaft Ottos. Innerhalb von zwei Jahren sterben eine Reihe wichtiger politischer Akteure, so dass Otto I. ständig gezwungen ist, die Machtbalance im ostfränkischen Reich neu zu justieren. An neuerlichen Turbulenzen in Italien dürfte er in diesen Jahren sicher kein Interesse gehabt haben, aber sie bleiben nicht aus.

Angriff auf das „Patrimonium Petri“

Denn ein weiterer Sohn Berengars II. – namens Wido (949 – 965) – hat mittlerweile auch Gefallen an der Macht gefunden und 959 das Herzogtum Spoleto erobert. Das ist nicht irgendein Herzogtum gewesen: Spoleto grenzt im Süden an den Kirchenstaat und eignet sich bestens zum Angriff auf das „patrimonium petri“. Angesichts des kriegslüsternen Wido und des nicht minder entschlossenen Berengar II. fühlt sich Papst Johannes XII. in Rom in seiner Haut nicht mehr wohl. Die Lage wird immer prekärer, als Berengar II. von Ivrea eine schwere Krankheit Ottos und die Reichskrise durch den Aufstand seines Sohnes Liudolf ausnutzt, um seine Macht in Oberitalien weiter auszubauen. Im September 957 stirbt Liudolf während einer Mission im Auftrag seines Vaters in Oberitalien, was Berengar weiter in Richtung Kirchenstaat vordringen lässt. In dieser heiklen Situation ersucht Johannes XII. den ostfränkischen König um Hilfe. Genau wie rund 160 Jahre zuvor Karl „der Große“ leistet nun Otto I. dieser Bitte im Herbst 960 Folge.

Der Zug nach Rom wird akribisch vorbereitet. Für den Fall seines Todes lässt er auf einem Hoftag zu Worms seinen noch minderjährigen Sohn Otto II. zum Mitregenten krönen. Pfingsten 961 huldigen ihm die höchsten kirchlichen Würdenträgern des Landes. Aber all das kann über das Risiko eines Italienzuges nicht hinwegtäuschen, denn die praktische Herrschaft ist an seine Anwesenheit geknüpft. Er hat alle wesentlichen Funktionen des Landes auf sich und seine Verwandten bezogen. Das hat gut funktioniert, so lange er selber im Lande gewesen ist. Jetzt muss sich erweisen, ob Netz der Verwandten, Freunde und Getreuen, mit dem er das Land überzogen hat, halten wird.

Der Feldzug nach Italien beginnt im August 961 mit der beschwerlichen Überquerung der Alpen über den Brenner. Weihnachten ist das Heer bei Pavia. Als Berengars Gefolgsleute die Übermacht Ottos erkennen, weigern sie sich zu kämpfen. Otto erklärt den geflohenen Berengar für abgesetzt. Der entmachtete Berengar verschanzt sich auf einer seiner Festungen, wo er sich zwei Jahre später ergeben muss. In einer für ihn demütigenden Zeremonie unterwirft er sich Otto I., in dem er vor ihm kniend sein Schwert übergibt. Anschließend wird er in Bamberg ins Gefängnis gesteckt, wo er bis zu seinem Tod 966 auch bleibt. Otto hingegen zieht weiter nach Rom.

Kaiserkrönung Ottos I.

Am 1. Februar 962 empfängt ihn Johannes XII. freudig vor den Toren der Stadt und krönt ihn am nächsten Tag als Dank für die rasche Hilfe zum Kaiser des „Römischen Reichs“. Auch seine Frau Adelheid wird gesalbt und gekrönt und erhält so den gleichen Rang wie Otto. Das ist etwas Neues, denn bis dahin ist noch keine Frau eines Königs oder Kaisers mit gesalbt und gleichsam inthronisiert worden. Für das kaiserliche Paar bedeutet die gemeinsame Krönung auch ein gemeinsamer Besitz – nämlich Italien, zumindest der von Arabern nicht besetzte Teil Italiens.

Nach Karl „dem Großen“ ist nun der Sachse Otto I. der zweite Kaiser des Heiligen Römischen Reichs nach dem Untergang des Imperium Romanum 476. Am Tag nach der Krönung erfolgt die Gegenleistung des frisch gekürten römisch-deutschen Kaisers: In einer Prunkurkunde in Goldschrift auf purpurgefärbtem Pergament erneuert Otto den Pakt, mit dem schon Karl „der Große“ den Stellvertretern Christi auf Erden die Besitzungen des „Patrimonium Petri“ bestätigt hat.

Aber sein „Privilegium Ottonianum“ spricht dem Papst weitere Gebiete zu, die bis dahin zum Königreich Italien gehört haben. Da Otto I. aber seit der Heirat mit Adelheid König eben dieses italienischen Reichs ist, kann er leichten Herzens die Gebietsabtretungen beurkunden. Ferner hält die Urkunde fest, dass es in Zukunft keine Papstwahl geben werde, ohne dass der Kandidat Otto oder einem seiner Nachfolger vorgestellt worden ist. Man könnte also sagen, ein Pakt auf Gegenseitigkeit oder eine win-win-Situation: Otto ist römisch-deutscher Kaiser geworden, der Papst hat die Erneuerung der karolingischen Schenkung und noch ein bisschen mehr sowie den Schutz der weltlichen Macht bekommen.

„Renovatio Imperii“

Otto „der Große“ ist der erste in der langen Liste der „römisch-deutschen Kaiser“. Karl „der Große“ ist zwar auch Kaiser gewesen - aber ein fränkischer. Karl hat bei seiner Kaiserkrönung das fränkische Gesamtreich repräsentiert, Otto I. „nur“ den östlichen, später deutschen Teil. Die Bezeichnung „römisch-deutsch“ hat sich in der Forschung etabliert, um eine Unterscheidung zwischen den Kaisern der römischen Antike einerseits und den deutschen Kaisern der späteren Jahrhunderte andererseits zu haben. Kurze Zeit nach Otto wird aus dem „Ostfrankenreich“ ein „Regnum teutonicum“ oder ein „Regnum Teutonicorum“ – also ein „Königreich der Deutschen“.

Wie bei der Kaiserkrönung Karls „des Großen“ rund 160 Jahre zuvor spielt auch bei Otto I. die politische Theorie jener Jahre eine große Rolle. Nach dem oströmischen Kaiser Justinian I., der 534 versucht hat, das Römische Reich zurückzuerobern („Restauratio Imperii“ – also „Wiederherstellung des Reiches“), und Karl „dem Großen“, der 800 zum Römischen Kaiser gekrönt worden ist („Translatio Imperii“ – also „Übertragung des Reiches“), geht es nun ein drittes Mal um die Nachfolge des Imperium Romanum. Grundlage ist wieder die Theorie der vier Reiche (Babylonisches, Persisches, Griechisches und Römisches Reich) und die Vorstellung, dass mit dem Untergang des vierten Reiches das Ende der Welt gekommen sei. Mit der Krönung Karls „des Großen“ durch Papst Leo III. im Jahr 800 sei auch die Kaiserwürde des alten römischen Reiches auf den Franken übertragen worden. Otto I. führt nun eine „Renovatio Imperii“, also eine „Wiederbelebung des Imperiums“ durch.

Nach der so genannten „Translatio“, also „Übertragung“ an Karl „den Großen“, wird bei der Kaiserkrönung des Jahres 962 dieser Vorgang wiederholt, erneuert und ergänzt, denn Kaiser Otto will das Imperium „wiederbeleben“. „Übertragung“ und „Wiederbelebung“ sind die beiden ideologischen Begriffe, mit denen Otto I. sein hohes Amt begründet. Seine Kaiserwürde liegt in der direkten Tradition des römischen Kaisertums und als römischer Kaiser steht Otto I. an der weltlichen Spitze der „christianitas“ – der Christenheit. Otto I. ist der Bewahrer und Beschützer eines mittelalterlichen Imperiums, das innerhalb von etwas mehr als 400 Jahren dreimal in einem symbolischen Akt mit der römischen Antike verbunden worden ist: 534 durch Justinian I. mit der „Restauratio“, 800 mit der „Translatio“ und eben jetzt 962 mit der „Renovatio“ des Imperium Romanum.

Christliche Herrschaft

Otto ist ein durch und durch christlicher Herrscher. Er ist vollkommen verwoben mit der Vorstellung, dass seine weltliche Macht von Gott gegeben sei und dass er dessen Reich auf Erden zu verteidigen habe. Das durch die zweite Kaiserkrönung erneuerte Verhältnis zwischen Papst und Kaiser passt zudem in das Weltbild des 10. Jahrhunderts. Darin ist der Papst der alleinige Interpret der göttlichen Vorstellungen, der durch die Auslegung der Heiligen Schrift den göttlichen Willen vermittelt. Der Kaiser herrscht von Gottes Gnaden und mit päpstlichem Segen, um in einer gewalttätigen Welt für Ordnung zu sorgen. Der Papst, als Vertreter der geistlichen Welt und sein weltliches Pendant, der Kaiser, stellen eine Symbiose dar. Beide sind im Verständnis der Zeitgenossen Figuren einer von Gott gewollten Weltordnung, der niemand entfliehen kann. Papst und Kaiser sind die Basis des „christlichen Abendlandes“. Für beide stehen Amt und Ansehen auf dem Spiel, falls sie diese „göttliche Ordnung“ zerstören würden.

Aber in der Basilika des Apostel Paulus ist an jenem 2. Februar 962 noch etwas Entscheidendes geschehen: Denn mit der Kaiserkrönung Ottos I. bekommt das Oberhaupt der weltlichen Macht – der Kaiser – die Aufgabe übertragen, die römische Kirche und das Papsttum gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen und die Christianisierung Europas voranzutreiben. Fortan ist der Kaiser zum Schutz des „Patrimonium Petri“ und zur Christianisierung des Kontinents verpflichtet. Dementsprechend hat Otto I. das Ziel eines geeinten Europas unter dem Banner des Kreuzes verfolgt. Er gilt als Motor der Christianisierung vor allem im Osten Europas.

Aus den zahlreichen Beispielen seiner christlichen Mission sei auf Magdeburg verwiesen. Lange vor seiner Kaiserkrönung, möglicherweise schon vor der Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Hunnen, hat Otto I. das Versprechen abgegeben und die entsprechende Urkunde persönlich signiert, das schon seit 937 existierende Kloster Magdeburg in ein Bistum zu erheben. Anlässlich einer Synode in Ravenna erhält er 967 für seinen Plan den päpstlichen Segen und Magdeburg wird Erzbistum. Der Magdeburger Dom, dessen Grundsteine in der Regierungszeit Ottos „des Großen“ gelegt worden sind, ist bis heute Zeugnis dieses Christianisierers eines Teils Osteuropas. Die Kirche aus der Zeit Ottos ist beim „Großen Brand“ in Magdeburg 1207 fast vollständig zerstört worden. An gleicher Stelle, an der der ursprüngliche ottonische Dom gestanden hat, steht die heutige Kirche, die ab 1209 erbaut worden ist.

Ost- und Westfranken

Mit der Kaiserkrönung Ottos I. ist auch eine andere Entscheidung gefallen, denn der Bruderkampf zwischen dem West- und dem Ostteil des alten Frankenreichs um die Herrschaft im Süden ist nun beendet. Der östliche, später „deutsche“ Teil des alten Frankenreichs hat mit der römischen Kaiserkrone die Hoheit über Norditalien und die Verantwortung für den Kirchenstaat bekommen. Fortan herrscht der deutsche Kaiser in Personalunion auch über den nördlichen Teil Italiens. Für das ostfränkische Reich hat das weitreichende Folgen, denn im Grunde ist es nahezu in zwei Teile aufgeteilt: In einen nördlichen Teil mit vielen selbstbewussten Herzögen in Böhmen, in Schwaben oder in Bayern und in einen südlichen Teil mit Rom als Mittelpunkt und Sitz des apostolischen Stuhls. Der Süden der italienischen Halbinsel ist mehrheitlich muslimisch besiedelt. Diese – fast kann man sagen – Spaltung des alten ostfränkischen Reichs macht das Regieren komplizierter als im Westen des alten Karlsreichs. Der Osten ist heterogener, muss viele unterschiedliche Interessen berücksichtigen und ist für die Sicherheit des Kirchenstaats verantwortlich.

Der westfränkische König Lothar (941 – 986) mag sich zwar geärgert haben, langfristig aber legt diese Weichenstellung den ostfränkischen Kaisern zunehmend mehr Lasten auf die Schultern. Die ostfränkischen Herrscher sind von nun an römische Kaiser, sie stehen an der Spitze des „Römischen Reiches“, dem seit dem 13. Jahrhundert der Zusatz „heilig“ und ab dem 15. Jahrhundert der Zusatz „deutscher Nation“ angehängt wird. Der letzte, der diesen ehrenvollen Titel trägt, ist der Habsburger Franz II. (1768 – 1835) - von 1792 bis 1806! Was mit der Kaiserkrönung Karls „des Großen“ in Rom am 1.Weihnachtstag 800 begonnen hat und mit der erneuten Übertragung der Kaiserwürde an Otto „den Großen“ im Jahr 962 fortgesetzt worden ist, endet erst mit den Wirren der napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts!

Ausgestattet mit der Machtfülle eines Kaisers ist es Ottos Ziel gewesen, ein geeintes Europas unter dem Zeichen des Christenkreuzes zu schaffen – Kolonisation und Mission gehen bei ihm Hand in Hand. Dazu gehört auch der Versuch, den Süden Italiens – die Fürstentümer Benevent, Capua und Salerno – zu erobern. Diese Mission ist zwar nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Immerhin aber kann er erreichen, dass ihm die Langobarden huldigen. Vorrübergehend kann er sogar die byzantinischen Besitzungen in Süditalien annektieren. Schließlich aber muss er sich zurückziehen, nachdem er die Anerkennung seiner Herrschaft durch das ehemalige oströmische Reich erreicht hat – im Gegenzug muss er die Eroberungen zurückgeben. Bald darauf kehrt der mittlerweile 60Jährige zurück und betreibt die Errichtung eines Bistums in Prag, um die Ostexpansion des christlichen Europas voranzutreiben. Das ist seine letzte Tat gewesen, denn Otto „der Große“ stirbt am Abend des 7. Mai 973 an den Folgen einer fiebrigen Erkältung. In sein Grab hat er die Vorstellung mitgenommen, dass die Verbindung der deutschen mit der römischen Kaiserwürde segensreich für alle Beteiligten sein würde. Doch schon die Regentschaft seines Enkels Ottos III. (980 – 1002) zeigt, dass der Spagat zwischen einer deutschen und einer römischen Kaiserschaft nicht beiden Seiten gerecht werden kann.

Polen, Böhmen und Ungarn

Die Christianisierung des von slawischen Stämmen besiedelten europäischen Ostens hat dort natürlich enorme Folgewirkungen gehabt. Polen, dessen Name sich vom westslawischen Stamm der Palonen ableitet, ist wenige Jahre zuvor aus den Herzogtümern Posen und Gnesen gegründet worden. Zwischen 960 und 992 regiert Herzog Mieszko I. (922 – 992) aus der Dynastie der Piasten. Jener Mieszko ist kein Kind von Traurigkeit gewesen, hat andere Herzogtümer unterworfen und das polnische Staatsgebiet nach und nach erweitert, so dass es seinen heutigen Ausmaßen schon relativ nahe gekommen ist. Die polnische Geschichtsschreibung markiert mit der Regentschaft von Mieszko den Eintritt Polens als „organisiertes Staatswesen“ in die europäische Geschichte. Man kann sicher im Jahr 960 noch nicht von Staatswesen in unserem heutigen Verständnis sprechen, gemeint ist wohl ehr der Beginn eines polnischen Königreichs, das sich nach und nach zu einem modernen Staat entwickelt hat.

Mieszko I. lässt sich 966 taufen und tritt damit zum Christentum über. Zugleich schließt er ein Bündnis mit dem ebenfalls christlichen Herrscher von Böhmen Boleslav II. (ca. 930 – 999), der den wohl treffenden Beinamen „der Fromme“ getragen hat. Für die Polen ist die Christianisierung keine Glaubens-, sondern eine politische Entscheidung gewesen. Die andauernden Übergriffe jener Herzöge und Grafen, die im deutsch-polnischen Grenzgebiet Jagd auf angebliche Heiden machen, stellen eine ernsthafte Gefahr für den Bestand der polnischen Herzogtümer dar. Denn die Heidenbekämpfer missionieren gleichzeitig und bringen Unruhe unter die Bevölkerung. Um das zu beenden und gleichzeitig in den erlauchten Kreis der christlichen Herrscher des Abendlandes aufgenommen zu werden, entscheidet sich Mieszko I. für das Christentum.

Auch die Ungarn haben inzwischen einen Siedlungsraum gefunden, nachdem sie weite Teile des Kontinents durch ihren scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch in der ersten Hälfte des 10. Jahrhundert gehörig durcheinander gebracht haben. Zuerst angeführt vom legendären Arpad (ca. 845 – 907) wird ihr Vormarsch unter einem seiner Nachfolger durch die Niederlage gegen Otto I. 955 am Lechfeld bei Augsburg gestoppt. Anschließend haben sich die Ungarn südlich von Polen und Böhmen niedergelassen. Am 20. August 1000 wird das Königreich Ungarn durch Stefan I. (969 – 1038) gegründet, dessen Konterfei noch heute den ungarischen 10.000-Forintschein ziert.

Spagat zwischen „Deutschland“ und „Italien“

Nach Ottos Tod im Mai 973 übernimmt sein vorher schon zum Mitregenten gekrönter Sohn Otto II. (955 – 983) das kaiserliche Zepter. Aber die Regentschaft des gerade erst 18Jährigen steht unter keinem guten Stern. Seine Bemühungen, den Süden Italiens seinem Herrschaftsgebiet einzuverleiben, scheitern 982 mit einer katastrophalen Niederlage. Nach der Schlacht bei Cotrone und einer weiteren Auseinandersetzung im Süden der Halbinsel ein Jahr später ist der Ruf des Kaisers ruiniert, das Ansehen des Amtes schwer beschädigt. Die Wirkung der Niederlage ist verheerend, denn der Kaiser hat die Schlacht gegen die muslimischen Kalbiten verloren, obwohl er das stärkere Heer gehabt hat. Zahlreiche Grafen und Fürsten sind gefallen. Keiner seiner Vorgänger hat je eine solche Schmach ertragen und so schmählich fliehen müssen, um einer Entführung an den Hof des Kaisers von Byzanz zu entkommen. Seine Herrschaftslegitimation ist nach der Niederlage angekratzt. Denn es hat zu den unumstößlichen Überzeugungen jener Zeit gehört, dass dem Kaiser, der durch den Stellvertreter Christi gekrönt worden ist, die Gnade und die Hilfe Gottes sicher sei. Die kaiserlichen Propagandisten haben unermüdlich verkündet, dass es Gott sein werde, der dem Kaiser den Sieg schenkt. Auf diesem Paradigma hat nahezu die gesamte Herrschaft beruht.

Nun aber hat Gott den Kaiser mit seinem gewaltigen Heer ausgerechnet in einer Schlacht gegen die Feinde der Christenheit im Stich gelassen. Aber warum ist der Kaiser von Gott verlassen worden? Keine einzige zeitnahe Quelle hat sich getraut, das Ausbleiben der göttlichen Hilfe in der Schlacht von Cotrone zu thematisieren. Dafür hat sich ein vielsagendes, vielleicht sogar entsetztes Schweigen ausgebreitet. Die Herzöge in Ostfranken sind erschüttert darüber, dass sich Otto II. nach den beiden Niederlagen nicht etwa nach Hause begibt, sondern mehrere Monate in Rom bleibt, wo er nach einer Malariainfektion mit nur 28 Jahren verstirbt.

Diese Nachricht hat nicht nur Trauer in der Verwandtschaft ausgelöst, sondern auch Angriffslust bei den slawischen Stämmen östlich der Elbe. Der Aufstand des Lutizenbundes umfasst die zwischen Elbe, Oder und Ostsee lebenden westslawischen Stämme der Obodriten und Liutizen, die nun eine gute Chance sehen, sich von den sächsischen Eroberern zu befreien. Das Bistum Oldenburg, die Stadt Hamburg geraten in Mitleidenschaft, auch Brandenburg wird überfallen. Das alles hat langfristige Folgen, denn erst zwei Jahrhunderte später können die von den Slawen ruinierten Bistümer wieder aufgesucht werden. Die frommen Christenmenschen registrieren die Auflehnung östlich der Elbe und die Dimension des Aufstands, sie beklagen die hohen Verluste an Menschenleben und die Brutalität, mit der die Slawen gekämpft haben. Damit ist der Erfolg der christlichen Missionspolitik, wie sie seit Otto „dem Großen“ praktiziert worden ist, zunichtegemacht. In kürzester Zeit, so lautet die Klage, ist das Missions- und Ordnungswerk Ottos I. vernichtet. Mit wenigen Ausnahmen ist das Gebiet der Slawen für lange Zeit jeglicher Christianisierung verschlossen geblieben.

Aber der Misserfolg Ottos II. und die entsprechenden Konsequenzen bei den ostfränkischen Herzögen und Fürsten macht auf ein Problem aufmerksam, das in den kommenden Jahrhunderten immer wieder sichtbar wird. Je länger und je häufiger der Kaiser des Römischen Reichs in Italien sein muss, desto heftiger treten - mitunter jedenfalls - die Probleme im ostfränkischen Kerngebiet seiner Herrschaft hervor. Das gilt auch für Otto III., der 996 in Rom von Papst Gregor V. (972 – 999) zum Kaiser gekrönt wird. Aber das geistlich – weltliche Gespann wird keine 12 Monate später auseinandergerissen, als Gregor V. einer Intrige zum Opfer fällt und von einem Gegenpapst gestürzt wird. Daraufhin muss Otto III. in Rom einmarschieren, um den in seinen Augen legitimen Papst erst auf die Beine und dann auch wieder auf den Heiligen Stuhl zu helfen. Offenbar ist er bei dieser Gelegenheit so angetan von Rom und seiner prunkvollen Schönheit, dass er der Idee verfällt, dort eine Kaiserpfalz zu errichten.

„Renovatio Imperii Romani“

Für Otto III. wird Rom zum Mittelpunkt seines Weltbildes. Von Rom aus will er das Reich regieren. Hier soll das künftige Zentrum der von ihm vereinigten geistlichen und der weltlichen Macht errichtet werden. Die „renovatio imperii Romani“ („Wiederherstellung des Römischen Reiches“) soll durch ihn ins Werk gesetzt werden, so jedenfalls hat es sich der Kaiser fernab der Heimat gedacht.

Otto III. hat aber noch weitergehende Ambitionen und will – ebenso wie der Papst – als irdischer Vertreter des Apostelfürsten gelten und sich als „servus apostolorum“ („Diener der Apostel“) ansprechen lassen. Damit beansprucht er das oberste Verfügungsrecht über den Kirchenstaat und macht deutlich, dass er sich als Nachfolger eines römischen Kaisers aus der Blütezeit des untergegangenen Römischen Reiches sieht. Ein solcher römischer Kaiser hat tatsächlich die gesamte Macht über das „Imperium Romanum“ gehabt, das sich – etwa zur Zeit Caesars - von Spanien und Frankreich über die Alpen nach Italien erstreckt und sowohl Griechenland, Kleinasien bis Byzanz und Damaskus als auch weite Teile der afrikanischen Küste umfasst hat.