Inhaltsverzeichnis
Buch
Autor
Danksagung
Einleitung
TEIL 1 - Das Urprinzip der Aggression verstehen
Die wissenschaftliche und gesellschaftliche Sicht
Der Mensch - ein Raubtier?
Instinkte und das so genannte Böse
Der Mensch als Lernwunder und Funktion seiner Umwelt
Die Institutionalisierung der Gewalt
Copyright
Buch
»Aggression als Chance« ist ein Grundlagenwerk zur ganzheitlichen Medizin. Ruediger Dahlke vermittelt eindringlich, dass Aggression unabdingbar zum menschlichen Leben und Überleben dazugehört. Der Körper muss »Krieg führen«, sich energisch verteidigen, wenn er gesund bleiben will. Wenn wir aber Aggression, Wut und Hass aufgrund von gesellschaftlichen Zwängen unterdrücken,kann das zu körperlichen Symptomen der Verdrängung führen. Der Arzt und Psychotherapeut Ruediger Dahlke beschreibt anschaulich die wichtigsten Krankheitsbilder, die durch verdrängte Aggression entstehen. Im Sinne von »Krankheit als Weg« bietet Dahlke reiches Material für Einsicht und Neuanfang. Die Chance liegt darin, sich mit allen Aspekten der Aggression auszusöhnen. Gerade heftige Symptome, die bisher auf schmerzhafte Weise in Erscheinung traten, werden so zu Quellen von Vitalität und Lebensmut.
Autor
Dr. Ruediger Dahlke, geboren 1951, studierte Medizin und absolvierte anschließend eine Ausbildung zum Arzt für Naturheilweisen und zum Psychotherapeuten. Er hat zwölf Jahre mit Thorwald Dethlefsen zusammengearbeitet; mit ihm schrieb er den Longseller »Krankheit als Weg«, eines der wichtigsten Bücher zum ThemaPsychosomatik. Heute arbeitet Ruediger Dahlke als Arzt und Therapeut an dem von ihm und seiner Frau Margit Dahlke gegründeten »Heil-Kunde-Zentrum Johanniskirchen«, leitet Seminare und hält Vorträge.
Von Ruediger Dahlke ist im Goldmann Verlag außerdem erschienen
Krankheit als Weg (mit Thorwald Dethlefsen, 11472) Woran krankt die Welt (15234) Krankheit als Sprache der Seele (12756) Lebenskrisen als Entwicklungschancen (15057) Bewusst fasten (13900) Frauen-Heil-Kunde (mit Margit Dahlke und Volker Zahn, 15204)
Dank
Ich danke meinen Eltern, dass sie meine »Hyperaktivität« ertragen haben. Vor allem meine Mutter unterstützte meine vielen Interessen und schuf ihnen Ventile. Ich danke ihr, dass sie meine mangelnde Aufmerksamkeit für alles, was mich nicht interessierte, tolerierte und mich von der Schule befreite - fast so oft ich wollte.
Meinem Großvater verdanke ich die Bücher, die er hinterließ, besonders ein Yoga- und ein Meditationsbuch. Beide halfen, meine auch mich selbst nervende Impulsivität zu mildern.
Für ihre Mitarbeit und die Durchsicht des Manuskriptes, für ihre vielen Anregungen sowie für Kritik und Korrekturen danke ich meiner Frau Margit.
Korrekturen verdanke ich auch unseren Mitarbeitern im Heil-Kunde-Zentrum Johanniskirchen, Christa Maleri, Freda Jeske, Gundi Kirkovic, Anja Schönfuss, Josef Hien und Gerald Miesera, sowie Professor Dr. med. Volker Zahn. Für die Durchsicht des Zahnkapitels und entsprechende Anregungen gilt mein Dank den Zahnärzten Marianne Braun und Michael Wirthgen. Christine Stecher danke ich für das bewährte Lektorat.
Vor allem aber danke ich unseren Patienten im Heil-Kunde-Zentrum, deren Mitarbeit und eigene Deutungen, deren Selbstbildnisse und couragierte Wortwahl mir oft erst den Mut gaben, das Wagnis auch harter Beschreibungen und Bezeichnungen einzugehen, in der Hoffnung, damit anderen auf diesem Weg Nachfolgenden zu nutzen.
Einleitung
Kaum jemand will heutzutage etwas mit Aggression zu tun haben. Weniges ärgert und stört uns mehr. Dennoch sind wir alle ständig mit Aggression konfrontiert. Irgendwo tobt immer irgendein Krieg, meist sind es sogar mehrere gewaltsame Konflikte, von denen wir in der Zeitung lesen. Täglich müssen wir uns von neuem in Nachrichtensendungen erschütternde Bilder von Krieg und Gewalt anschauen, und denjenigen, die das inzwischen verweigern, schwant doch, dass Wegschauen keine Lösung ist.
Wir sind schon froh, wenn wir von den Kriegen auf dieser Welt nicht hautnah betroffen sind. Doch kaum hatten wir den Versicherungen der Politiker zu glauben begonnen, dass es auf europäischem Boden keinen Krieg mehr geben könne, explodierte der Balkan direkt vor unserer Haustür. Solange es nur amerikanische Schüler waren, die Mitschüler und Lehrer in einem Amoklauf töteten, wendeten wir uns erschüttert ab und konnten derlei vielleicht noch auf die laxen Waffengesetze der USA schieben. Als aber in Erfurt noch Schlimmeres geschah, erstarrten wir im hausgemachten Grauen.
Wie konnte so etwas nur passieren? - das ist nach einem Ausbruch von Gewalt die überall gestellte Frage. Diese Frage aber ist alt, ohne dass bis heute darauf wirklich befriedigende Antworten gefunden werden konnten. Man denke nur an die Gräuel der Nazizeit, an Völkermord und Judenverfolgung: Wie war so etwas nur in Deutschland möglich gewesen?
Doch solange wir nach Lösungen auf der Ebene von Schuldigen suchen, werden wir keine echten Antworten erhalten. Sind etwa - um beim Beispiel Erfurt zu bleiben - die Eltern oder die Pädagogen an dem Drama schuld? Muss man die Schuld auf die Umstände oder doch wieder auf die Politiker schieben, die bestimmte Gesetze erlassen beziehungsweise nicht erlassen haben? Selbst wenn sich Fachleute juristische Antworten auf solche Fragen abringen, kommen wir zu keiner Lösung.
Wir sollten erkennen, dass das Thema Aggression in verschiedener Hinsicht immer aktuell ist und wir ihm nicht entkommen. Die meisten Menschen bedauern das und verkennen damit den urprinzipiellen oder archetypischen Charakter der Aggression. In den modernen Industriegesellschaften hat man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass Aggression nur böse und schlecht ist; man will sie deshalb am liebsten aus der Welt schaffen. Dabei zeigt sich auf den ersten Blick, dass kein anderes Thema das Leben mehr beherrscht. Wenn man sich vom Aggressionsprinzip tatsächlich lösen könnte, wäre es sicher schon längst geschehen.
In der Medizin finden wir eine ähnliche Situation, auch hier will man Aggression nicht wahrhaben; man versucht, sie zu unterdrücken. Seit es die so genannte Schulmedizin gibt, werden die Auswirkungen des Aggressionsprinzips etwa in Gestalt der Infektionen, aber auch der Allergien bis aufs Messer bekämpft. In all diesen Fällen handelt es sich um gleichsam kriegerische Auseinandersetzungen zwischen dem Immunsystem und Angreifern von außen. Die große, vielgestaltige Armada der Erreger - von den Parasiten über Bakterien bis zu Viren - ist ohne weiteres als aggressiv zu erkennen. Bei den Allergenen ist das Aggressionsprinzip schon nicht mehr so einfach wahrzunehmen, und beim körpereigenen Gewebe, das im Rahmen von Autoaggressionserkrankungen attackiert wird, erscheint der Zusammenhang schwer verständlich. Doch im Verlauf dieses Buches wird sich zeigen, wie eng all diese Probleme mit dem Thema Aggression zu tun haben. Es handelt sich bei den Krankheiten sozusagen um innere Gewalt, während die Zeitungsoder TV-Nachrichten die äußere servieren.
Das Thema Aggression ist gut geeignet, die Aussage von Paracelsus über die Parallelität von Mensch und Welt nachzuvollziehen: Mikrokosmos ist gleich Makrokosmos. Neben internationalen Konflikten, die militärisch ausgetragen werden, ereignen sich in jedem einzelnen Land ständig viele kleine Kriege und Auseinandersetzungen, wenn man etwa an die Übernahmeschlachten in der Wirtschaft oder die unzähligen Gerichtsprozesse denkt. Und selbst bis in viele Familien hinein herrscht Aggression in Form von Streit und alltäglichem Kleinkrieg bis hin zu Tätlichkeiten. In jedem menschlichen Körper schließlich liefern sich Abwehrsystem und eine Unzahl von Erregern permanent Schlachten.
So gesehen ist kaum ein Thema wichtiger für uns. Mit kaum einem anderen tun wir uns aber so schwer. Wir wollen eigentlich gar nichts von der Aggression wissen, nichts mit ihr zu tun haben und erst recht nichts davon abbekommen. So haben wir aber keinerlei Chance, mit ihr zurecht zu kommen oder gar mir ihr fertig zu werden. Sie ist einer großen Mehrheit so verhasst, dass jeder, der auch nur versucht, ihr gerecht zu werden, sich schon verdächtig macht.
Als der österreichische Nobelpreisträger Konrad Lorenz vom Standpunkt des Biologen darauf hinwies, dass Aggression zur Natur gehöre und dort auch eine wichtige Funktion erfülle, wurde ihm faschistoides Denken unterstellt. Dabei lässt die Tatsache, dass der Faschismus wie kein anderes System Grausamkeiten hervorgebracht hat, keinesfalls den Umkehrschluss zu, dass alle Grausamkeiten faschistisch sind. Noch viel weniger wird jemand, der sich mit der Herkunft der Grausamkeiten beschäftigt und dabei das Aggressionsprinzip entdeckt, zum Faschisten, selbst wenn er erkennt, welch große Rolle dieses Prinzip im Zusammenleben der Menschen und Tiere spielt. Im Gegenteil könnte jeder Versuch, das Aggressionsprinzip zu verstehen und zu erklären, neuerliche faschistische Tendenzen schon im Keim erkennbar und besser durchschaubar machen.
Dieses Beispiel zeigt allerdings deutlich, wie groß die Angst vor Aggression ist und wie schnell diejenigen, die sich mit ihr beschäftigen, zusammen mit dem ganzen Prinzip bekämpft werden. Trotz dieser Gefahr bleibt es wichtig, sich mit Aggression auseinander zu setzen, gerade um weitere und immer unkontrollierbarere Eskalationen zerstörerischer Aggression zu verhindern.
Ein Hauptproblem im Umgang mit Aggression ist unser unverhältnismäßig großer Widerstand. Dadurch erkennen wir gar nicht mehr, dass auch dieses Urprinzip wie alle anderen Urprinzipien zwei Seiten hat. Neben der Seite der Zerstörung gibt es auch die des Mutes und der Lebensenergie. Dieses Buch widmet sich beiden Seiten der Aggression und kann damit Zugang zu deren lebensfördernden Aspekten vermitteln. So werden auch die Chancen deutlich, die in den entsprechenden Krankheitsbildern - zum Beispiel Rheuma oder Kopfschmerzen - liegen.
TEIL 1
Das Urprinzip der Aggression verstehen
Die wissenschaftliche und gesellschaftliche Sicht
Woher kommt die Aggression und besonders deren negative Seite, die Gewalt? Diese Frage hat Wissenschaftler zu allen Zeiten beschäftigt. Nachdem wir in letzter Zeit ganz neue Facetten des Terrors in so erschreckender Weise kennen lernen, tauchen immer wieder Vermutungen auf, die modernen Möglichkeiten der Technik hätten mit der Zunahme von Aggression zu tun. Tragen wirklich Videospiele und die Abenteuer im Cyberspace oder die immer noch wachsende Macht der Massenmedien zur Gewaltbereitschaft bei? Herbert Marcuse, der Vordenker der Studentenrevolte von 1968, wäre sicher dieser Meinung. Er glaubte, dass Gewalt überhaupt die geheime Botschaft der Massenmedien sei. In ihren Konfliktlösungsmodellen werde sogar der präventive Gebrauch von Gewalt ermutigt. Die Helden der Massenmedien würden öfter, schneller und erfolgreicher zu brutalen Mitteln greifen.
Dass der Mensch brutal sein kann, bestreitet niemand. Aber ist er im Laufe seiner Geschichte brutaler geworden, wie es - statistisch gesehen - den Anschein hat? Ist er eher ein Homo brutalis als ein Homo sapiens sapiens? Es scheint so, als ob diese Wiederholung des Attributs »weise« (sapiens) mehr Beschwörung als Beschreibung darstellt. Zwar müssen wir davon ausgehen, dass in dem halben Jahrhundert von 1920 bis 1970, in dessen Verlauf sich die Lebenserwartung verdreifacht hat, der zeitliche Abstand zwischen zwei Morden auf ein Drittel geschrumpft ist. Aber gab es nicht im Mittelalter noch viel mehr unkontrollierte Gewalt?
Man könnte die Bevölkerungsexplosion und die damit verbundene Vermassung der Menschheit für die Gewaltzunahme verantwortlich machen. Immerhin reagieren Ratten im Experiment ebenfalls deutlich aggressiver, wenn es in ihrem Territorium enger wird.
Auch wird die Schuld bei Erbfaktoren - im Sinne angeborenen aggressiven Verhaltens - gesucht; aber mindestens so vehement wird Aggression als gelernt hingestellt und der Erziehung angelastet. In diese Richtung zielen auch diejenigen, die die Gesellschaft als Quelle der Aggression entlarvt haben wollen. Doch auch Hormone und Strukturen des Zentralnervensystems kommen als Auslöser für aggressives Verhalten in die engere Wahl.
Diese wenigen, beliebig ausgewählten Ansätze und Argumente haben sicher etwas für sich, ohne jedoch das Ganze erklären zu können. Das allerdings ist auch gar nicht zu erwarten, wenn man bedenkt, welche und wie viele Erklärungsebenen infrage kommen. Es gibt eine solche Fülle von Fächern und Forschungsrichtungen, die sich zur Lösung des Problems aufgerufen fühlen, dass es nicht weiter erstaunt, wenn die Zahl von einschlägigen Büchern und Erklärungsmodellen in die Tausende geht.
Neben den Genetikern bieten Biologen, und hier besonders Ethologen wie Konrad Lorenz, ihre Deutungen an. Natürlich steuern auch Mediziner, und unter ihnen besonders Psychiater, Argumente bei; darüber hinaus lassen sich die Stimmen von Pharmakologen und Psychologen, Anthropologen und Soziologen vernehmen. Theologen und Philosophen, Kommunikationswissenschaftler und Historiker beschäftigen sich ebenfalls mit dem großen Thema Aggression. Kaum jemand, der nicht irgendetwas dazu zu sagen hätte. Da aber jede Disziplin für sich arbeitet und selbst an Universitäten längst die Versität, die Verschiedenheit, im Mittelpunkt steht und die Einheit des Ganzen (Uni) aus den Augen verloren wurde, ergibt sich kein überzeugendes Konzept, das alle Phänomene im Zusammenhang mit der Aggression abdecken könnte. Das Fehlen des alten Ideals von Humboldt, der noch von einer Uni-versität im wörtlichen Sinne ausging, macht sich nun unangenehm bemerkbar.
Im Folgenden kann es nur darum gehen, die wichtigsten der Theorien kurz zu skizzieren1, um dann später ihre Anteile zum Gesamtbild auf der Basis des umfassenderen Urprinzipien-Verständnisses einordnen zu können.
Der Mensch - ein Raubtier?
Einseitig der Biologie verpflichtete Forscher versuchen nachzuweisen, dass der Mensch von fleischfressenden Raubtieren abstammt, worauf etwa noch seine Eck- oder Hundszähne hinweisen würden, und er aus diesem Grund immer gewaltsam und aggressiv bleiben müsse. Im Gegensatz zum Tier sei er aber durch den Mangel an aggressionshemmenden Instinkten zu einer Art außer Kontrolle geratener Bestie verkommen. Gewalt ist damit sein ererbtes Wesen, das immer wieder hinter der Fassade aus Kultur und Zivilisationsanstrengungen hervorlugt. Niko Tinbergen, der finnische Vater der vergleichenden Verhaltensforschung, soll den Menschen einen »aus den Fugen geratenen Mörder« genannt haben. Die Großhirnentwicklung habe den Menschen zu dem gemacht, was er heute sei: sein eigener größter Feind. Die Tatsache, dass der Mensch als einziges Wesen aufgrund seines hoch entwickelten Intellekts in der Lage ist, sowohl als Individuum als auch kollektiv Selbstmord zu verüben, könnte als Beleg dienen.
Diese Betrachtungsweise ist besonders pessimistisch, weil die menschliche Gewaltnatur als etwas Unveränderliches erscheint. Aus derselben Ecke kommen Stimmen, die das Recht des Stärkeren predigen und im Sozialdarwinismus ihre krasse Ausformung finden. Demnach ist das Gesetz des Dschungels das einzig beherrschende und Aggression so alt wie der Mensch - selbst wenn Letzteres stimmt, muss Ersteres deswegen jedoch noch lange nicht zutreffen. Vielfach wird hervorgehoben, dass die menschliche Aggression nur kurzzeitig zu befrieden sei und umso sicherer wieder hervorbreche, wenn sie vorher gehindert werde.
Das Recht auf sein Territorium werde von jedem Menschen genauso natürlich verteidigt wie vom Hund, heißt es. Wie für jeden anderen Ansatz lassen sich auch für diese aus der Tierbeobachtung stammende Theorie Argumente finden, man braucht nur Menschen in einem Zugabteil zu beobachten, die »ihr« Abteil sogleich gegen jeden neu hereindrängenden Reisenden zu verteidigen suchen. Allerdings lässt sich auch diese Theorie mit ihren eigenen Argumenten leicht erschüttern, wenn nicht sogar widerlegen. Denn was als Territorium gilt, ist auch bei Tieren sehr beliebig definiert. Als Baguira, der große Hund meiner Mutter, der jahrelang ihren Garten als sein Revier betrachtet hatte, in eine kleine Wohnung nach München umgesiedelt wurde, erkannte er plötzlich den viele Hektar großen Englischen Garten als sein Territorium, das zu verteidigen er sich sogleich anschickte. Der territoriale Anspruch mag ja angeboren sein, aber er ist mit Sicherheit stark von den jeweiligen Umständen abhängig. Das wird auf der menschlichen Ebene noch deutlicher, wenn man bedenkt, wie die Engländer und Franzosen ihre Kolonien in Übersee, die Deutschen einst ihren »Lebensraum« im Osten, die Sowjets ihr Reich in Ungarn und der Tschechoslowakei, aber auch in Afghanistan verteidigten und die USA heute fast die ganze Welt als ihre Interessensphäre erkannt haben.
Als biologisch argumentierende Forscher das so genannte Aggressions-Gen als zweites Y-Chromosom bei einigen Gewaltverbrechern identifiziert zu haben glaubten, witterten gewisse Politiker bereits die Chance zur Früherkennung und Ausschaltung aller Verbrecher gleich bei der Geburt. Inzwischen gibt es Untersuchungen2, die einen angeblichen Zusammenhang zwischen einem zweiten Y-Chromosom und Gewaltverbrechen ein für alle Mal widerlegt haben dürften.
Andererseits ist unbestritten, dass zum Beispiel Schmerzen Aggressionen bei Tieren und Menschen auslösen. Die Schmerzintensität bestimmt dabei das Ausmaß der Aggression. Das Marsprinzip, mit dem wir uns noch ausführlich beschäftigen werden, macht sich dabei auf verschiedenen Ebenen bemerkbar. Sogar der warme Südwind Föhn ist in der Lage, zerstörerischen Aggressionen Vorschub zu leisten. Von Alkohol und Drogen wie den Amphetaminen ist das ebenso bekannt.
Der bekannte Biologe Desmond Morris geht ebenfalls in diese Richtung, wenn er annimmt, dass in der dekadenten, gelangweilten modernen Gesellschaft das biologisch verankerte Bedürfnis nach Gewalt gleichsam automatisch wachse und sich irgendwann zu seinem Recht verhelfe.
Solche Ansätze finden wir auch in den verschiedensten Gesellschaftstheorien. Der Ahnherr des Sozialismus, Karl Marx, glorifizierte die Gewalt, indem er sie als Hebamme der neuen Gesellschaft und als unvermeidbare Entwicklungsstufe auf dem Weg zum großen Ziel ansah. Viele Revolutionäre dachten ähnlich, wobei wenige so ungeniert mit den Widersprüchen lebten wie die Anarchisten, die die absolute Freiheit von Herrschaft anstrebten, weil diese immer unmenschlich sei. Ebenso radikal, wie sie Gewalt ablehnten, wandten sie sie aber an. Bakunin, einer ihrer bekanntesten Vertreter, hielt die Lust an der Zerstörung für eine positive Tendenz. So mag es auch kein Zufall sein, dass Anarchisten kaum je etwas aufbauen konnten, aber vieles zerstörten.
Instinkte und das so genannte Böse
Anhänger der Instinkttheorie haben bis zu sieben verschiedene Arten von Aggression identifiziert, die irgendwann auch entsprechenden Arealen im limbischen System des Gehirns zuzuordnen sein sollen. Zu unterscheiden wären neben der bereits erwähnten territorialen die Rivalenaggression, die Beute-, Reizbarkeits-, Furcht-, instrumentale und mütterliche Aggression.
Für Konrad Lorenz3, den bekanntesten Vertreter der Theorie angeborener Aggression, war Aggression ein Instinkt. Die zerstörerische Aggression, das heißt Gewalt, sei eine Fehlfunktion dieses Instinkts. Lorenz spricht von der Aggression als dem so genannten Bösen, das eben auch viele gute Seiten habe, zum Beispiel die Verteidigung der eigenen Jungen und die Errichtung einer Rangordnung. Für Lorenz entspringen sogar Liebe und alle persönlichen Beziehungen der Ritualisierung von Angriffs- oder Drohverhalten.
Auf diese Weise ergibt sich bei ihm auch ein wichtiger Lösungsansatz. Er richtet seine Hoffnung darauf, dass es gelingen könnte, mittels weiterer Ritualisierung menschliche Konflikte so weit zu entschärfen, dass sie auf erlöste Art und Weise zu bewältigen sind. Sportliche olympische Wettkämpfe, der friedliche Wettlauf der Wissenschaft oder der Technik wie etwa bei der Raumfahrt, aber auch Humor und Spiel könnten ritualisierbare Ventile für unsere instinktiven Aggressionen schaffen.
Der Mensch als Lernwunder und Funktion seiner Umwelt
Ein weiterer Ansatz geht davon aus, dass alles Verhalten erlernt wird und praktisch jedes menschliche Reaktionsmuster durch frühe prägende Erfahrungen und durch »Dressur« erreichbar ist. Die beiden auslösenden Ursachen für Aggression sind demnach Frustration und Bedrohung durch Gefahren. Zu Gewalt kommt es aus dieser lerntheoretischen Perspektive immer dann, wenn erstens kein anderer Ausweg mehr offen steht, und zweitens, wenn der Einsatz von Gewalt schon früher einmal Erfolg gehabt hat.
Dieses Modell macht den Menschen zu einem Objekt unbegrenzter Manipulation. Der Einzelne wird zu einer Marionette des jeweiligen Umfeldes, dem damit riesengroße Bedeutung und alle Verantwortung zukommt. Auch wenn der Einfluss der Umwelt als alleiniger Erklärungsansatz zu kurz greift, gibt es doch eine Reihe von Belegen dafür, wie er den Menschen prägen kann.
Der Psychoanalytiker und Aggressionsforscher Friedrich Hacker erwähnt in diesem Zusammenhang ein berühmt gewordenes Experiment von J. B. Calhoun.4 Dieser konnte nachweisen, dass die Populationsdichte bei Ratten einen erheblichen Einfluss auf deren Aggressionsverhalten hat. Im überfüllten Zentrum eines großen Geheges verhielten sich die Ratten ausgesprochen bösartig. Sie verletzten, vergewaltigten und töteten, während in den geringer bevölkerten Randgebieten durchaus Recht und Ordnung im Sinne funktionierender Rangordnungen herrschten. Ähnlich steht es bei der menschlichen Kriminalität im Vergleich von engen Großstädten und wenig bevölkerten ländlichen Gebieten.
Interessanterweise übte das gefährliche Dschungelleben des überfüllten Gehegezentrums eine große Anziehungskraft auf die »friedlichen« Ratten der ruhigen Randgebiete aus. Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch beim Menschen vermuten. Die Faszination der brodelnden Metropolen ist noch immer so groß, dass sie Menschen aus vergleichsweise friedlichen ländlichen Gebieten scharenweise anlockt - selbst angesichts der Wahrscheinlichkeit, in erbärmlichen Slums zu landen.
Experimente mit Affen zeigten außerdem, dass nicht nur Überfüllung, sondern auch verschiedene Formen von sozialer Desorganisation zu zerstörerischer Aggression führen. Daneben konnte nachgewiesen werden, dass Angst, Provokationen, die Bedrohung der Stellung in der Rangordnung, die Unterbrechung eines Handlungsablaufs, enttäuschte Hoffnungen und andere Frustrationen Aggressionen auslösen.
Das Entweder-oder zwischen Biologie einerseits und sozialem Umfeld andererseits bei der Erklärung für die Entstehungsursachen muss sicher einem Sowohl-als-auch weichen, wenn wir der Aggression gerecht werden wollen.
Faktor Erziehung
Die Erziehung zur Aggression folgt nach Friedrich Hacker5 wesentlich anderen Wegen, als wir gemeinhin annehmen. In der Regel werden Kinder mit aggressiven Methoden dazu erzogen, nur ja nicht aggressiv zu sein. Gewaltsame Erziehung zur Gewaltlosigkeit gewöhnt aber an die Erziehungsmethode und lehrt nicht das Erziehungsziel; sie gibt die Gewalt eher weiter, als sie zu verhindern. Man erreicht das Gegenteil der ursprünglichen Absicht. Kinder, die geschlagen werden, damit sie nicht mehr schlagen, werden oft zu Schlägern. Die Tendenz zum Prügeln lässt sich offenbar nicht aus einem Kind herausprügeln. Was immer man einbläuen oder verleiden will, hinterlässt neben den blauen Flecken auf Körper und Seele vor allem die Botschaft, dass das Schlagen die vorzuziehende Reaktionsmöglichkeit ist. Das Erziehungsmittel wird damit viel wichtiger als das eigentliche Erziehungsziel.
Das Kind will vor allem so werden wie die Eltern, und wenn diese auch nur ausnahmsweise einmal zum Mittel der Gewalt greifen, macht das stärksten Eindruck und reizt wie wenig anderes zur Nachahmung. Diese Ausnahmen vom Gewaltverbot stellen ein erhebliches Problem dar. Jedes Kind erlebt eher früher als später Gewalt. Allerspätestens beim Militär erfahren junge Männer sogar, dass sie dazu verpflichtet werden, Ausnahmen von der Gewaltabstinenz zu machen. Nach Friedrich Hacker spricht alles dafür, dass diese Ausnahmen des Gewaltverbotes sich zu Regeln der Gewaltanwendung wandeln. Die generelle Gewalteinschränkung wird so eher zu einer Gewaltanweisung nach dem Motto »Ausnahmen bestätigen die Regel«: Man darf nie töten, außer wenn der Staat es verlangt, oder man darf niemals schlagen, außer wenn Papa die Hand ausrutscht. Gerechtfertigte Gewalt, also zum Beispiel durch staatliche Gesetze legitimierte Akte von Gewaltanwendung, verführen jedoch zur Kopie sowohl der Rechtfertigung als auch der Gewalt.
Nach Hackers Erfahrungen ist Erziehung ganz ohne Aggression andererseits undenkbar. Aggression als böse zu bezeichnen und gänzlich aus dem Spiel zu halten, wäre demnach unrealistisch und zum Scheitern verurteilt. Auch komplette Frustrationsvermeidung ist eine Illusion. Das Paradies der Kindheit muss allmählich geradezu entzaubert werden, und zwar durch die Erkenntnis, dass alle späteren Rechte durch vorherige Pflichten zu verdienen sind und das Leben letztlich Kampf bedeutet.
Prügel, Misshandlungen und die Folgen
In einer Großstadt wie New York führten im Jahr 1970 von den etwa 2500 registrierten Fällen von Kindesmisshandlung zwanzig Prozent direkt zum Tod. Drei Viertel der Misshandelten waren unter vier; ein Viertel der Kinder erlebte Misshandlungen im ersten Lebensjahr; in zehn Prozent der Fälle begann das Martyrium schon in der ersten Lebenswoche.
Das soziologische Profil der Kindesmisshandler ist ebenfalls überraschend. Unter ihnen sind überdurchschnittlich viele Personen mit Universitätsbildung. Bei zehn Prozent lag das Einkommen über dem Durchschnitt. Weniger als ein Prozent waren als Psychotiker und nur 1,5 Prozent als Sadisten zu bezeichnen. Väter neigten häufiger zu Kindesmisshandlung, taten dies jedoch meist unter dem Kommando ihrer Frau. Mütter misshandelten zwar seltener, aber dafür noch extremer als die Väter. Etwa neunzig Prozent der misshandelnden Personen gaben das nicht enden wollende Schreien und Weinen ihres Kindes als Grund für die Gewalttaten an. Nachdem sie den Einsatz von Gewalt, der von Würgen über massives Schlagen bis zu Verbrühen und Verbrennen reichte, einmal begonnen hatten, konnten sie in der Regel erst wieder aufhören, wenn das Kind verstummte.
Eine Studie aus Los Angeles ergab ebenso überraschend, dass es sich bei den geprügelten und gebrannten Kindern besonders häufig um ersehnte, ja herbeigewünschte und gegenüber den anderen Kindern der Familie bevorzugte Wunschkinder handelte. Sie wurden ursprünglich am meisten geliebt, hatten die Eltern aber enttäuscht und wurden so zu deren Zielscheibe für Aggression, was deutlich für die Frustrationstheorie bei der Gewaltentstehung spricht.
Weniger überraschend war, dass alle prügelnden Eltern in ihrer Kindheit ebenfalls geprügelt worden waren. Sie kamen aus Kleinfamilien, in denen man sehr auf sich selbst bezogen lebte. Freunde und Geselligkeit, andere Interessen neben Arbeit und Fernsehen spielten für diese Menschen kaum eine Rolle. Sie misstrauten allem Fremden und erachteten Ordnung und Sauberkeit als höchste Errungenschaften in ihrem gut behüteten Heim.
Gruppen, die auffallend wenig zu Kindesmisshandlungen neigen, sind - nach Hacker6 - die der herumziehenden Landarbeiter, der Hippies und der halbwüchsigen Mütter, die in größeren Gruppen zusammenleben. Sie haben den Vorteil, bei der Kinderbetreuung und -erziehung auf Helfer zurückgreifen zu können, und die Nähe in der Gruppe scheint Übergriffe zu verhindern.
Die Kindesmisshandler sind vor allem auf den guten Eindruck nach außen, auf ihre Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit bedacht und neigen zur Isolation. Sie haben kaum Alternativen zur Gewalt, weil sie durch ihre eigenen frühkindlichen Erfahrungen geprägt sind und sich auf die Billigung der Tradition verlassen (können). Wenig erstaunlich ist eine Häufung der Kindesmisshandlungen in der Weihnachtszeit, weil nun der Druck auf die »heile Familie« besonders hoch ist und der Schatten, dem wir uns später gesondert zuwenden, noch leichteres Spiel hat.
Die misshandelten Kinder hängen auffällig stark an ihren gewalttätigen Eltern und schreiben ihnen nicht selten rührende Briefe ins Gefängnis. In der Mehrzahl akzeptieren sie ihre »Bestrafungen« durch die Eltern und deuten sie noch als Liebesbeweise, die nur irrtümlich über den üblichen Rahmen hinausgegangen seien. Sie empfinden sich als »böses Kind« und haben sogar noch ein schlechtes Gewissen wegen ihrer eigenen »Missetaten« und der daraus für die geliebten Eltern erwachsenen Scherereien. Die Schuldgefühle, die ihnen die Eltern eingebläut haben, werden zu deren Entlastung verwendet.
Diese Tatsachen dürften die geringe Einsicht der Eltern noch befördern. Sie sehen sich in der Regel als Opfer und flüchten in Rationalisierungen wie: »Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne.« Keineswegs sind sie verunsichert oder ratlos, verzweifelt oder hilflos. Im Gegenteil glauben sie fest daran, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, und wissen sich auf der richtigen, das heißt guten Seite. Sie bedauern lediglich die extreme Form ihrer Maßnahmen und die Tatsache, dass sie erwischt worden sind, nicht aber die prügelnde »Erziehung« an sich. Kindesmisshandler zweifeln in der Regel nicht an ihrem moralischen Recht, ihre Kinder so zu malträtieren, wie auch sie malträtiert worden sind.
Durch den psychologischen Mechanismus der Identifikation mit dem Angreifer, mit den eigenen Eltern, wird diese Tendenz noch entscheidend gefördert. Außerdem stellen die Eltern naturgemäß die höchste Autorität für Kinder dar, an der - mit einer kurzen Unterbrechung in der Pubertät - kaum gezweifelt wird. Hacker geht davon aus, dass Kindesmisshandler stets grundsätzlich gestörte Menschen sind, weil ihnen die Störung der heimischen Situation so unerträglich erscheint. Sie leiden an schwersten Persönlichkeitsstörungen beziehungsweise lassen ihre Kinder darunter leiden.
Wie enorm stark die Fixierung auf Autoritäten und die anschließende Abhängigkeit von ihnen ist, zeigt das 1961 durchgeführte Experiment zum Thema Gehorsamkeit von Stanley Milgram. Wenn man Versuchspersonen unter Vorspiegelung wissenschaftlicher Autorität dazu animiert, andere Versuchspersonen mit elektrischen Stromschlägen zu quälen, zeigt sich eine erschreckende menschliche Autoritätshörigkeit.
In dem Milgram-Experiment bestimmte ein Versuchsleiter die eigentlichen Versuchspersonen allesamt zu »Lehrern«, die das Gedächtnis einer anderen Versuchsperson, die in Wirklichkeit ein in den Test eingeweihter Schauspieler war, mittels Bestrafung zu trainieren habe. Immer wenn der angebliche »Schüler« etwas falsch beantwortete, sollte ihm der »Lehrer« einen Stromschlag geben, wobei die Möglichkeiten von 15 bis 450 Volt reichten. Damit sich der »Lehrer« einen Eindruck verschaffen konnte, wurde ihm ein echter Stromschlag von 45 Volt verpasst. Anschließend musste er seinen »Schüler« trainieren. Dieser begann sogleich mit der Schauspielerei, denn er bekam ja keine echten Stromstöße. Anfangs protestierte er zaghaft, dann heftiger. Ab »75 Volt« fing er an zu stöhnen; ab »180 Volt« flehte er um Gnade. Stöße über »300 Volt« ließen dann all seine Verzweiflungsschreie verstummen. Wenn einer der »Lehrer« aufhören wollte, mahnte der Versuchsleiter mit seiner ganzen Autorität an, dass jeder »Lehrer« weitermachen müsse; er habe keine andere Wahl. Von den Versuchspersonen machten tatsächlich bis zu 65 Prozent auf die Anweisungen eines ihnen bis dahin unbekannten Wissenschaftlers bis zur höchsten Dosis von »450 Volt« weiter, obwohl sie offensichtlich unter den markerschütternden Schreien vom Tonband litten. Manche schauten auch weg, aber hörten trotzdem nicht auf, den »Schüler« zu foltern.
Die schockierenden Ergebnisse hingen offenbar weniger vom Charakter der Versuchspersonen ab als vom Umfeld. Sobald man die Versuche in einem Bürohaus durchführte, war nur noch knapp die Hälfte der »Lehrer« bereit, bis zum Letzten gehen; wechselte man dagegen in die Räume der renommierten Yale-Universität, folgten zwei Drittel der »Lehrer« den Aufforderungen, den »Schüler« weiter durch Stromschläge zu bestrafen.
Die Versuche wurden auch in anderen Ländern durchgeführt. Wissenschaftler in Deutschland gingen davon aus, dass man nach den Gräueltaten von Auschwitz höchstens noch mit einem Anteil von 30 Prozent rechnen könne, die den Kadavergehorsam bis zum Äußersten treiben würden. Das Ergebnis war jedoch erschütternd: 85 Prozent der Getesteten erwiesen sich als zu allem bereite, gehorsame Untertanen und gingen bis zum Letzten. Das Bayerische Fernsehen veröffentlichte das monströse Ergebnis und strahlte Szenen der Versuchsreihe aus. Die Betroffenheit hielt sich in Grenzen, weil man das Thema insgesamt lieber meidet.
Die Ausreden der später befragten Versuchspersonen in der Lehrerrolle liefen fast immer auf dieselbe schon bekannte Leier hinaus: Man war davon ausgegangen, dass die Wissenschaftler, die Autoritäten, schon wüssten, was sie täten, man selbst habe kaum eigene Verantwortung gespürt.
Stanley Milgram folgerte aus seinem Experiment, dass es in unserer Kultur offensichtlich zu wenig nachahmenswerte Ungehorsamsmodelle gebe. Was er nicht sagte, liegt genauso nahe: dass es viel zu viele Gehorsams- und damit Anpassungsmodelle gibt. Es mag an dieser Stelle unvermittelt und verfrüht erscheinen, aber es sei darauf hingewiesen, dass genau auf diese gehorsame Anpassung die heute zu beobachtende Flut von Krebserkrankungen zurückzuführen ist.
Wenn sie den tieferen Gründen hinter den Misshandlungen nachgehen, gelangen Psychoanalytiker wie Hacker zu der Vermutung, dass neben der gesellschaftlich verordneten und von sich und allen anderen erwarteten Liebe zu den Kindern bei den Eltern noch ein manchmal bis zu tödlichen Konsequenzen reichender Gegenimpuls hineinspielt. Möglicherweise neiden diese Eltern ihren Kindern unbewusst das ganze noch vor ihnen liegende Leben, das sie selbst schon verspielt zu haben glauben. Solche unbewussten Bestrebungen werden sogar für Kriege verantwortlich gemacht, wenn gealterte Politiker beschließen, die Jugend ihres Landes zur Schlachtbank, das heißt auf eines der Schlachtfelder dieser Erde, zu schicken. Der Name Infanterie soll sogar von infant (engl.: Kind) kommen. Hier werden also die Kinder der Nation zum sprichwörtlichen Kanonenfutter. Jedenfalls ist für den Infanteristen, die niedrigste Stufe des Soldatseins, vor allem Gehorsam wichtig; selbstständiges Denken wird ihm dagegen schon bei seiner Grundausbildung ausgetrieben. Darin ließe sich immerhin eine Parallele zu manchen Formen der »Erziehung« erkennen.
Je früher und gewaltsamer den Kindern Qualen bereitet werden, desto mehr machen sie sie abhängig, desto kompletter wird der kindliche Wille gebrochen, die Seele vergewaltigt, und desto bereitwilliger interpretieren die Gequälten ihre Qual als eine Form von Zuwendung, die sie zum Teil nicht einmal missen wollen - und desto sicherer werden sie später anderen Ähnliches antun. Die Gebrochenen werden andere brechen wollen, egal ob es sich um Kinder oder Soldaten oder kindliche Soldaten handelt. Auf diese Weise werden alle zu Opfern: die Gequälten, aber auch die Peiniger, die früher Gequälte waren und selbst nichts anderes kennen gelernt haben. Sie geben auf harte Weise weiter, was ihnen eingebläut wurde und sich reflexhaft in ihrer Seele verankert hat.
Auch die Erfahrung, dass Gewalt ansteckend wie eine Infektionskrankheit ist, findet hier Erklärung und Bestätigung. Wahrscheinlich verdankt sie ihre beeindruckende Virulenz ihrer Scheinrechtfertigung und wird so manchmal rasend schnell epidemisch.
Dieses System, das sich selbst verstärkt, weil weder die Peiniger noch die Gepeinigten direkt dagegen aufbegehren, sondern sich geradezu willig fügen, macht alle staatlichen Eingriffe äußerst problematisch, denn oft wird dadurch auch für die Kinder alles zuerst einmal noch viel schlimmer. Die Therapie für solche Familien ist ähnlich schwierig wie die für entsprechende totalitäre Staaten, die ihre Bürger quälen und foltern und das angeblich noch zu deren Besten tun. Beide Institutionen verbieten sich entschieden jede Einmischung von außen. Diesbezüglich haben sie auch leichtes Spiel, denn alle in der Umgebung schauen lieber weg, als das Elend an sich heranzulassen. Der seelische Abwehrmechanismus der Verdrängung kommt hier voll zum Tragen.
Die Nachbarn hören natürlich das verzweifelte Schreien und Weinen der geschundenen Kinder, oft auch das Geräusch der Schläge und dann das Verstummen, aber sie wollen es in der Regel nicht glauben - weil nicht wahr sein darf, was nicht wahr sein kann, und weil man so etwas nicht einmal denken darf, weil niemand so etwas einem wehrlosen Kind antun kann. So wird - nach Hacker - das groteske Ausmaß der Grausamkeit ihr wirksamster Schutz.7
Diese Verdrängungsmechanismen gelten für viele prinzipiell ähnliche Situationen. Die klerikalen Folterknechte der Inquisition, die Sadisten der Konzentrationslager, die Kriegsverbrecher auf dem Balkan, die Kindesmisshandler überall - gibt es das überhaupt wirklich, oder sind es Übertreibungen, erfundene Gräueltaten und böse Märchen zum Angstmachen? Das fragt sich der gute Bürger und will eigentlich keine Antwort darauf, sondern seine Ruhe.
Zusätzlich aber hat er auch noch die Möglichkeit, in den Gegenpol zu flüchten. Solche Gräuel möge es vielleicht geben, meint er dann, aber es seien ja Einzelfälle, begangen von Kranken, Sadisten und Irren. Normale Menschen könnten so etwas nicht tun, ja nicht einmal denken. Da er selbst zweifelsfrei normal ist, hat er also gar nichts damit zu tun, und nur so konnte er es auch so lange übersehen und überhören - oft jahrelang in der Nachbarwohnung oder im ganzen Land wie in der Nazizeit. Und schließlich heißt es: Ein Glück, dass heute so etwas nicht mehr möglich ist! Dieses falsche schlagende Argument beendet dann auch jede Auseinandersetzung bereits im Keim.
Gegen die Verdrängung und das daraus fließende Gift gibt es nur ein Mittel: die radikale und rückhaltlose Bewusstmachung und Aufklärung der eigenen Aggressionsproblematik. Die angeführten Verdrängungsargumente sind leicht zu widerlegen. Das Verschwinden von Millionen Juden, das Entstehen so vieler KZs, die ständigen blauen Flecken an den Gliedern des Nachbarkindes oder der Nachbarsfrau sind gar nicht zu übersehen. Im Übrigen sind auch die Abermillionen Allergien und Infektionskrankheiten nicht so einfach vom Tisch zu wischen. Sie werden zu einer unserer besten Chancen, unsere eigenen Aggressionsbezüge zu durchlichten.
Die Institutionalisierung der Gewalt
Selbst wenn es tatsächlich genug Hinweise darauf gibt, dass Kinder besonders zu Beginn des Lebens mehr dressiert als erzogen werden - sogar in Familien, in denen niemals geschlagen wird -, und selbst wenn man auch später noch zum Beispiel im partnerschaftlichen Bereich sehr viele Verhaltensmuster durch Dressur heraufbeschwören kann, ist der lerntheoretische Ansatz allein doch noch immer zu einseitig und beschränkt, um Aggression zu erklären.
Nach Sigmund Freud, dem Stammvater aller Psychotherapie und der Psychoanalyse im Speziellen, ist Aggression ein Trieb. Ein Trieb wiederum ist ein dem Organismus innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes. Freud ging davon aus, dass Triebe die Verbindung zwischen Körper und Seele darstellen. Die Aggression ordnete er dem Todestrieb zu, der von ganz entscheidender Bedeutung für ihn war, weil das Anorganische vor dem Organischen und der Tod folglich vor dem Leben gewesen sei. Ohne Zweifel strebt alles organische Leben dem Tod zu, aber selbst seine Analytikerkollegen konnten Freud in seiner strengen Sicht des Todestriebes nicht geschlossen folgen. Bei Alfred Adler etwa ist der Aggressionstrieb ein eigenständiger, auf Macht und Prestige gerichteter Drang, der sich zur Kompensation einer inneren Minderwertigkeit nach außen wendet.8
Der Psychoanalytiker Friedrich Hacker sieht Aggression »als jene dem Menschen innewohnende Disposition und Energie, die sich ursprünglich in Aktivität und später in den verschiedensten individuellen und kollektiven, sozial gelernten und sozial vermittelten Formen von Selbstbehauptung bis zur Grausamkeit ausdrückt«9. Damit kommt er zu einer Definition, die auch anderen Ansatzpunkten Raum gibt.
Gewalt ist nach Hackers Einschätzung nicht mit Aggression identisch, sondern lediglich eine nackte, meist physische Ausdrucksform derselben. Er formuliert: »Alle Gewalt ist Aggression, aber nicht jede Aggression ist Gewalt. Aggression und Gewalt sind grundsätzlich voneinander zu unterscheiden...« Und er führt aus: »Alle Aggressionsformen können schließlich zur Gewalt führen und sind von der Gefahr der Primitivisierung und der Regression auf Gewalt bedroht. Der Grad und die Intensität der Erkenntnis vermindern die Gefahr.«10 Nach Hacker ist Gewaltanwendung »auf lange Sicht eine elende Strategie, da sie durch ihre Anfangserfolge der aufrüttelnden Aufmerksamkeitserregung und der Schaffung von Öffentlichkeit zur Wiederholung verführt, abstumpft und Gegengewalt, Gewalteskalation sowie allgemeine Brutalisierung hervorruft. (…) Die Behauptung, dass Gewalt die Wunden heile, die sie schlägt, ist blanker Unsinn. Das Gegenteil ist richtig. Gewalt kann nicht im ewigen Wiederholungszwang durch Gewalt bezwungen werden, sondern nur durch Erkenntnis und Kenntnis der gewalthervorbringenden Umstände und Bedingungen - und deren Verhinderung.«11
Da Hackers Ableitung sehr umfassend ist - und obendrein den Teufelskreis der Gewalt anspricht, der im nächsten Kapitel noch ausführlich behandelt wird -, sei hier näher darauf eingegangen. Danach drückt schon das kleine Kind aggressive Äußerungen über seine Skelettmuskeln aus, und zwar aus purer Lust. Das Kind hat einfach Spaß daran, durch aggressives Bewegen seine Welt zu erkunden. Es ist in dieser frühen Zeit polymorph aggressiv, das heißt, seine Aggressionsäußerungen sind vielfältig und noch völlig ungelenkt.
Das Kind beginnt demnach bereits in so früher Zeit, lustvolle Reize als Teil seines Selbst zu empfinden, unlustvolle aber im Sinne der Projektion nach außen abzuschieben. Bald entwickelt es die Tendenz, aggressiv zu werden, wenn es etwas nicht bekommen kann; es antwortet mit Aggressivität auf seine nach außen projizierten Ängste und Spannungen. Am liebsten würde es die Quelle der Unlust ausschalten. Allerdings wird es frühzeitig durch Androhung von Strafe und Liebesentzug daran gehindert, seinen Aggressionen freien Lauf zu lassen. Diese Kontrolle läuft über so genannte Aggressionsbindungen, die die Aggression in bestimmten Situationen tabuisieren und an andere knüpfen. Das Kind verinnerlicht die Forderungen der Umwelt, indem es sich mit den ersten Bezugspersonen völlig identifiziert, wodurch sich zusätzlich zu seinem Ich bald ein Über-Ich, ein Gewissen, entwickelt. Auf diese Weise übernimmt es die Überwachungs- und Straffunktion der Umwelt in Eigenregie, wodurch aus äußeren Zwängen allmählich innere werden.
Indem sich das Kind in die vorgegebenen Umstände fügt, kann nach Hacker ein guter Teil der freien Aggression in den diese Umstände garantierenden Institutionen wie der Familie gebunden werden. Das Kind genießt anschließend den daraus entstehenden Vorteil der Mitgliedschaft und der Angstfreiheit. Wir Menschen stehen nach Hacker ständig unter dem Zwang, uns solche Institutionen wie Familien, Clans, Gruppen und so weiter zu schaffen, weil wir nur einen geringen Teil freier Aggression ertragen können, ohne unser Leben zu gefährden.
Die Institutionen lenken nun aber ihrerseits die Aggressionsenergie in bestimmte Bahnen. So stehen alle Institutionen - auch die »guten« - von Anfang an mit der Aggression im Bunde, selbst wenn sie sie noch gar nicht nach außen lenken. Erst diese freiwillige oder erzwungene Aggressionskontrolle durch die Gemeinschaft macht nach Ansicht von Hacker menschliches Zusammenleben überhaupt erträglich. Die beim Tier durch Instinkte und entsprechende Hemmungsmechanismen geregelte Aggressionskontrolle muss beim Menschen von den selbstgeschaffenen Institutionen gewährleistet werden.
Das einfache Beispiel der Uno mag das verdeutlichen. Die Weltgemeinschaft aller Staaten sieht ihre Aufgabe darin, den Frieden unter den Völkern zu wahren. Sie kann dies nur dadurch erreichen, dass die Völker übereinkommen, ihr Aggressionsenergie zukommen zu lassen. Idealerweise könnte ein Gewaltmonopol der Uno theoretisch alle Kriege sofort beenden. Nur scheitert es im Augenblick daran, dass die Nationen so viel Gewaltverzicht, das heißt die Delegation von Aggressionsenergie an die Weltorganisation, scheuen. Die USA als die im Hinblick auf Aggressionsenergie aktivste und freizügigste Nation dieser Erde wollen der Uno nicht einmal juristische Macht über US-Soldaten einräumen. Dass sie selbst bei Gerichtsverhandlungen gegen Kriegsverbrecher bisher weltweit federführend waren, ändert nichts daran. Wie alle, die Konflikte nach außen und auf andere projizieren, sind die USA der Meinung, dass Kriegsverbrecher zwar sehr wohl abgeurteilt gehören, aber aus den eigenen Reihen eben nicht.
Dass diese Haltung nicht nur auf eine verbohrte Führung oder Obrigkeit zurückzuführen ist, sondern auch in der Bevölkerung verankert ist - und sicher nicht nur in der amerikanischen -, kann der von Hacker zitierte Prozess um das Massaker von My Lai deutlich machen. Als der US-Leutnant William Calley von einem Kriegsgericht des Mordes an über fünfhundert vietnamesischen Kindern, Frauen und Männern, die er zum Teil aus nächster Nähe eigenhändig erschossen hatte, überführt und für schuldig befunden worden war, ging ein Wutschrei durch die Nation. Neun von zehn Amerikanern hielten das Urteil für einen Skandal und eine Schande. Senatoren protestierten öffentlich, besuchten den Massenmörder im Gefängnis, solidarisierten sich mit ihm und erklärten ihn zum Volkshelden. Der Präsident erließ ihm sogleich die Haftstrafe und schickte ihn nach Hause zum Arrest.
Die Offiziere des Militärgerichts waren erschüttert, hatte doch die Armee sich lange genug geweigert, den in ihrem Namen begangenen Massenmord zuzugeben, und alles nach Kräften verschleiert. Als sie - gezwungen durch öffentlichen Druck - das Verfahren eröffneten, machten sie es mit der ihnen eigenen militärischen Präzision korrekt nach Vorschrift, und die Beweislage gegen Calley war erschütternd und erdrückend. Als die Proteste gegen ihr Urteil (lebenslange Haft) landesweit losgingen, verstanden sie die Welt nicht mehr. Während sie jetzt nicht nur beschimpft, sondern sogar mit dem Tod bedroht wurden, stieg der überführte Mörder Calley zum Volkshelden auf und bekam Tausende von anerkennenden Briefen. Die Fanpost stapelte sich.
Für andere Nationen dürfte Ähnliches gelten. Die USA haben lediglich den Vorteil, dass sie als weitgehend funktionierende Demokratie überhaupt zu solchen Prozessen fähig sind. Die Exzesse von Armeen weniger demokratischer Staaten kommen kaum je an die Öffentlichkeit, und wenn es geschieht, dann sicher nicht vor ein Gericht des eigenen Landes. Undenkbar, dass die unvergleichlichen Gräuel der SS-Einheiten vor Gerichten Nazideutschlands geahndet worden wären.
Wie die US-Militärrichter und die Geschworenen in Uniform verstehen aber auch wir die Welt oft nicht mehr, und wahrscheinlich haben wir sie überhaupt nie verstanden, wenn es um das Thema Aggression und Gewalt ging.
Die von den Individuen an das Kollektiv abgetretene Aggression - von klein auf eingeübt - wird von der Institution verwaltet und kann beliebig auf äußere Ziele gelenkt werden. Die Gewalt des Einzelnen, als Delikt streng verboten, wird nun plötzlich zum Gesetz erklärt und wichtig und wertvoll. Sie wird umbenannt und mit höheren (Kriegs-)Zielen gerechtfertigt. Leutnant Calley war befohlen worden, gegen ein mit dem kommunistischen Feind kollaborierendes vietnamesisches Dorf vorzugehen. Für ihn war Krieg und nun (endlich?) erlaubt, was vorher Tabus unterlag. Ähnlich ist es wohl den SS-Leuten ergangen, die nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich als Vergeltung alle Männer des Dorfes Lidice ermorden mussten.
Die im Krieg übliche Legitimierung von Gewalt bedient sich eines einfachen und überall anzutreffenden Etikettenschwindels. Die eigene Gewalt wird von der Institution als Notwendigkeit dargestellt, als natürliches Recht sogar, ja als Pflichterfüllung für das Vaterland: Sie diene lediglich der Selbstverteidigung und sei ein Dienst an höheren Zielen. Wenn ein Soldat wie ein Kind die Ziele seiner Institution verinnerlicht hat, wird er diese Sicht der Dinge problemlos annehmen und meinen, dass sie mit seinen eigenen Zielen übereinstimmt. Hacker macht eindeutig klar, dass auch das Gewalt ist, was als Gegengewalt gerechtfertigt erscheint.
Leutnant Calley stellt aber nur die eine Seite desjenigen dar, der voll in der Identifikation mit seiner Untat bleibt. Er verteidigte sich - genau wie praktisch alle Nazischergen - damit, dass er lediglich Befehlen gehorcht und seinem Land gedient habe. Er nahm also Befehlsnotstand für sich in Anspruch. Immer wieder kommt es aber auch vor, dass sich in Individuen Widerstand gegen solche unmenschlichen Befehle regt. Sie erkennen plötzlich den Missbrauch der Aggressionsenergie, die sie seinerzeit an die Institution delegiert hatten, und entwickeln sich zu (oft erbitterten) Feinden derselben Institution. Häufig kämpfen sie nun auf verlorenem Posten und gehen nicht selten vor der Macht der früher von ihnen unterstützten Institution schließlich doch in die Knie.
Erst kürzlich konnte ich erleben, wie ein engagierter Arzt und Klinikchef, der sich geweigert hatte, einen gravierenden Kunstfehler seines Oberarztes zu decken, des Postens enthoben wurde. Er musste gehen - nicht etwa der Oberarzt, wie es (naive) an Recht und Gerechtigkeit glaubende Menschen erwarten würden. Jetzt muss er gegen die Institution ankämpfen, der er sich zuvor zugehörig fühlte. In einem demokratischen Land mit Gewaltenteilung wie Österreich hat er dabei immerhin Chancen.
Wenn nun ein Aussteiger aus dem System seine ursprünglich abgegebene, delegierte Aggressionsenergie zu sich zurückholt und gegen die Institution einsetzt, um sie als Hort der Ungerechtigkeit oder Unmenschlichkeit niederzukämpfen, wird er manchmal auch siegen. Das kann jedoch nur gelingen, wenn schon auf dem Weg zu diesem Sieg wiederum Aggressionsenergie an eine andere, nun subjektiv natürlich ungleich bessere Institution abgegeben wird - also an einen Anwalt, eine Partei oder auch an einen militärischen Oberbefehlshaber.
Kaum ist aber der Sieg im »gerechten Krieg« errungen, muss wieder eine Institution geschaffen werden - mit all den Gefahren des Missbrauchs von Macht und Aggressionsenergie, die diesem Prozess innewohnt. So kam es beispielsweise dazu, dass Freiheitskämpfer wie Emiliano Zapata oder Pancho Villa in Mexiko zu Dauerrevolutionären wurden. Kaum hatten sie eine Regierung mittels Revolution von unten gestürzt, unterschied sich die neue Regierung nicht wesentlich von der alten und musste durch einen neuerlichen Umsturz beseitigt werden. Der chinesische Revolutionsführer Mao Tse-tung schien das Dilemma frühzeitig erkannt zu haben und empfahl daher die permanente Revolution als eine Art Institution. Die Kulturrevolution brachte jedoch so viel Gewalt und Elend, dass sich das Volk sehr schnell gegen diese Idee stellte und man sie bald zu Grabe trug.
Die scheinbar immer wieder notwendige Revolution macht das Dilemma deutlich, dass man Gewalt stets an übergeordnete Institutionen delegieren muss, um ein friedliches Zusammenleben zu erreichen. Will man dem Teufelskreis je entkommen, ist es am besten, von vornherein um diese Notwendigkeit zu wissen.
Gegenüber Unterdrückung durch mächtige Institutionen hat Aggression sogar in Form ihrer schrecklichen Variante der Gewalt immer auch eine befreiende Funktion und den Charakter eines Ventils. Es liegt somit nahe, gewaltsam gegen Gewalt vorzugehen. Umso kostbarer sind jene wenigen Momente, in denen es gelingt, die berechtige Aggression auf einem anspruchsvolleren Niveau zu halten.
Natürlich brauchten die Bürgerrechtler der DDR ein gerüttelt Maß an Mut, Kraft und Kampfeswillen - alles Aspekte des Aggressionsprinzips -, als sie sich gegen das verkrustete und bis dahin äußerst gewaltbereite System aus Stasi und Militär auf die Straße wagten. Ihren Protest artikulierten sie in durchaus aggressiv gemeinten Parolen. »Wir sind das Volk!« - das mag heute harmlos klingen; es sollte und konnte jedoch die Frage der eigenen Legitimation und die der Illegalität der anderen Seite ausdrücken. Selten gelingt es Organisatoren zivilen Ungehorsams und Anführern von Aufständen, der Versuchung zur Gewalt in so beeindruckender Weise zu widerstehen.
Wären die Menschen auf den Straßen der DDR zur Gewalt übergegangen, hätte das den Betonköpfen in der DDR-Führung vielleicht noch einmal zum Vorwand gereicht, die erste echte Volksbewegung seit Gründung der DDR blutig niederzuschlagen. Insofern sind die Krawallmacher, die sich zum Beispiel ständig in an sich friedlich gedachte Demonstrationen mischen, die besten Kämpfer für die Gegenseite, denn sie liefern ihr Vorwände zum Gegenschlag in beliebiger Art und Weise. Ganz konsequent hatten die Ordnungstruppen von Silvio Berlusconi, dem italienischen Ministerpräsidenten und Medienunternehmer, beim Gipfel in Genua ein geheimes Bündnis mit rechten Schlägern, wie Fernsehbilder später enthüllten. Damit war es leicht, die mehrheitlich friedlich engagierten und agierenden Protestierer von Attac und andere Globalisierungsgegner zu kriminalisieren. Ähnlich wirken die so genannten Autonomen bei Demonstrationen in Deutschland unter dem Strich als unbeabsichtigte Helfer jener staatlichen Gewalt, die sie angeblich bekämpfen und der sie doch ständig zuarbeiten.
In Situationen, in denen sich der Volkszorn gegen sie aufbaut, haben die jeweils Herrschenden noch eine andere Chance, nämlich die im Willen zum Aufbegehren gebundene Energie nach außen auf einen neuen Feind zu richten. Denn die Befriedigung, die durch ein möglichst einfaches und drastisches Feindbild entsteht, ist für sie ausgesprochen stabilisierend. Sofort wächst wieder ein Verbundenheitsgefühl mit der bedrohten Institution. Gewalt ist immer einfach, all ihre Alternativen sind dagegen komplex und anspruchsvoll.
Man kann diesen Mechanismus sogar ausnutzen, um die Macht in einer Institution für sich zu erringen. Als ein Meister dieser Strategie muss der israelische Politiker Scharon gelten. Er löste den palästinensischen Aufstand, die Intifada, durch seinen provokanten Besuch auf dem Tempelberg aus, um sich dann anschließend als Retter aus der von ihm selbst inszenierten Misere auf den Schild der Macht heben zu lassen. Dass Letzteres immer sein Ziel war, ist ihm als Politiker nicht vorzuwerfen, der Weg aber, den er dorthin gewählt hat, ist mit Gewalt gepflastert und hat später auch nur Gewalt hervorgebracht. Diesen Mechanismus zu durchschauen ist für Deutsche offenbar problematisch, weil Scharon Jude ist. Leider ist er durchaus nicht der Einzige, der mit solchen Methoden arbeitet oder gearbeitet hat. Sie sind unabhängig von Herkunft und Nationalität des jeweiligen Politikers höchst problematisch, weil sie die Eskalation von Gewalt nach sich ziehen. Auch wenn das Beispiel für uns aus historischem Grund schwierig ist, läge trotzdem die einzige Chance darin, solches in Zukunft von Anfang an zu bemerken und nicht auch noch zu unterstützen. Erst wenn es gelingt, die Spielarten der Aggression auf den verschiedenen Ebenen und in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen zu durchschauen, können wir hoffen, sie im Keim zu verhindern und nicht auf alle Zeiten im Kreislauf aus Aggression und Projektion gefangen zu bleiben.
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