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Ein geschenktes Königreich. Ein Bund mit dem Teufel. Eine Liebe über alle Grenzen hinweg.
Alizeh, die Königin der unterdrückten Dschinn, ist die Gefangene von König Cyrus. Ihr geliebter Prinz Kamran ist mit seinen Gefährten im nördlichen Königreich eingetroffen, um Alizeh zurückzuholen. Doch Cyrus, der Mörder und Entführer, hat Alizeh einen besonderen Handel angeboten, der ihr die Macht verschaffen wird, ihr eigenes Volk der Dschinn zu befreien. Doch zwischen ihr und der Herrschaft steht nichts weniger als ein teuflischer Pakt. Und die Entscheidung, wem ihr Herz in Wahrheit gehört ...
Die grandiose Fortsetzung der süchtig machenden Bestsellerreihe: voller Magie, großer Gefühle, dramatischer Verwicklungen und mit einer epischen Liebesgeschichte, von der Autorin des TikTok-Sensationserfolg »Shatter Me«.
Die Bände der »This Woven Kingdom«-Reihe:
This Woven Kingdom (Band 1)
These Infinite Threads (Band 2)
All This Twisted Glory (Band 3)
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Seitenzahl: 456
Tahereh Mafi
Aus dem Englischen von Barbara Imgrund
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© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2024 Tahereh Mafi
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel: »All This Twisted Glory« bei HarperCollins Children’s Books einem Imprint der Verlagsgruppe HarperCollins Publishers
Übersetzung: Barbara Imgrund
Lektorat: Julia Przeplaska
Umschlaggestaltung und Einband: Geviert, Grafik & Typografie
unter Verwendung des Originalcovers © Alexis Franklin, Gestaltung: Jenna Stempel-Lobell, und der Innenillustrationen © Shutterstock (Anna Poguliaeva) sowie der Motive von © Shutterstock (Robert B. Miller, Anna Pogulyaeva (2x))
MP · Herstellung: AnG
Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen
ISBN 978-3-641-30242-9V002
www.cbj-verlag.de
Für Ransom
Aber, meine Dame, ich habe dem Mond einen Eid geschworen, die Erde rot zu bemalen mit seinem Blut.
Aus dem Schahnameh von Firdausi
Nenn deinen Namen und sag mir, wer deinen kopflosen Leib beweinen wird!
Du wirst nicht lange genug leben, um Nutzen aus dem Wissen um meinen Namen zu ziehen. Aber wenn du es denn wissen musst: Meine Mutter gab mir den Namen Dein Tod.
Aus dem Schahnameh von Firdausi
DERSAUMSEINESPECHSCHWARZENUmhangs sägte sich durch hohes Gras; sein rasender Schritt verursachte kleine Geräuschgewitter, die bei jedem Schritt zwischen seinen Ohren zu dröhnen schienen. Die Hitze griff wie mit Händen nach ihm, seine schwere Kleidung wollte ihn schier ersticken. Cyrus von Nara konnte sein Herz in der Brust schreien hören, und Angst gebar neue Angst, während er gegen den Impuls ankämpfte davonzulaufen. Er fühlte sich wie Regen auf der Suche nach einem Fluss, während er vergeblich versuchte, sich zu orientieren. Gelegentlich erstarrte er, um den Kopf in scharfen, vogelähnlichen Bewegungen hierhin und dorthin zu wenden, dabei den Atem anhaltend, als hätte ihn ein Geist erschreckt.
Nein. Kein Geist.
Viel schlimmer.
Es brachte gar nichts, in Panik zu verfallen, ermahnte er sich. Es war nicht von Nutzen, den Kopf zu verlieren. Wenn es so gewesen wäre, hätte Cyrus seine Vernunft mit Freuden im Palast verloren, wo sie vielleicht bis in alle Ewigkeit mit seinem Vater, dem König, und jenem Übermaß an Unterdrückung gehaust hätte, das ihm der alte Mann vorgelebt hatte.
Stattdessen hatte der junge Prinz getan, was in einer Krise das Vernünftigere war, und sich in den nächstbesten Blumentopf erbrochen.
Nun holte Cyrus bebend Luft.
Er zwang sich, langsamer zu gehen, seine Gedanken zu sammeln. Überwucherte Erdhörnchenlöcher spickten den Weg; er hatte sich hier schon zu oft den Knöchel verstaucht, und gleichgültig, wie groß seine Verzweiflung jetzt war, er konnte sich keine Verletzung leisten.
Er folgte den blanken Gebeinen einer aufgelassenen Bahntrasse, von der sichtbar nur noch zwei parallele, in die Ferne weisende Stahlstränge vor sich hin rosteten, während um ihn her die lebhafteste blumige Anarchie spross. Es war bekannt, dass neben anderen Kreaturen dicke, bunt leuchtende Schlangen im warmen Gras dösten und dass ihr Appetit leicht zu wecken war. Wie viele Male Cyrus in seiner Kindheit unter Höllenqualen von hier nach Hause gehumpelt war, während Gift in seinem Blut kreiste, konnte er nicht mehr zählen. Als Kind hatte er solche mit Herzklopfen verbundenen Abenteuer spannend gefunden; er hatte mit der Zeit gelernt, wie man eine Schlange aus dem Handgelenk heraus hinter dem Kopf packte, wie man Rauch aus den Fingern schüttelte und ihn kräuselnd in die Weite entließ. Er hatte es früher geliebt, durch diese Wildnis zu stapfen: hatte Bäume zum Duell herausgefordert, nach Schätzen gesucht, die er selbst vergraben hatte. Jede dieser Eskapaden hatte eine neue Herausforderung offenbart, ein neues Tier, eine neue Strapaze, die zu bewältigen war. Aber nun war diese Strecke, die vor ihm lag, nicht mehr als ein notwendiger Weg – und nichts weniger als verheerend.
Sein Leben, fürchtete er, würde nie wieder so sein wie zuvor.
Sein Herz hämmerte lauter, als er sich der Mündung eines alten Eisenbahntunnels näherte, dessen bröckelndes Inneres ein Wandteppich aus Kletterwein im Würgegriff hatte; hier duftete es so betörend nach Leben, dass sich der Verstand daran wundscheuerte. Vögel mit blauen Flügeln und helle Sonnenstrahlen stahlen sich durch Risse in das verfallende Bauwerk, und im Schein des Lichts rollten sich schläfrige Blüten auf, während Staubkörnchen glitzernd in der Luft zu hängen schienen. Der Tunnel war eine Pforte zu einer anderen Welt – einer Welt, in der er sich einst bis in alle Ewigkeit zu leben gewünscht hatte.
Eine grüne Heuschrecke hüpfte auf die Schulter des jungen Mannes, als er den Tunnel betrat. Die Helligkeit hob sich von der Dunkelheit ab wie ein Schrei in der Leere. Cyrus zog im Weitergehen den Umhang enger um sich, während so etwas wie Kummer ein Netz zwischen seinen Rippen spann.
In der Ferne verengte sich der Anblick des üppigen Grüns spiralartig zu blitzendem Weiß. Ein Dickicht aus hüfthohen Wolken wuchs vom Boden empor; er durchquerte diesen Abschnitt vorsichtig, es fühlte sich fast so an, als würde man durch Raureif waten. Gerade als seine Beine zu erstarren begannen, lichtete sich der Wolkenpfad zu seinen Füßen. Cyrus unterdrückte ein Frösteln.
Ein Schleier aus Magie hing spürbar über dem weitläufigen Gelände um die Unterkünfte, in denen die Wahrsager von Tulan lebten. Er hüllte den zentralen Tempel und seine zahlreichen Nebengebäude ein. Es gab tatsächlich wenige, die wussten, dass der alte Eisenbahntunnel geradewegs zu dieser alten Stätte führte, und noch weniger, denen der Zutritt auf diesem Wege gestattet war.
Der tulanische Prinz war drei Jahre alt gewesen, als er zum ersten Mal den Fuß auf diesen geweihten Boden gesetzt hatte. Von Geburt an war er ein missgestimmtes Kind gewesen: Er hatte leicht geweint, laut geschrien, und obwohl er wusste, dass er der Sprache mächtig war, hatte er kein Interesse daran gezeigt, das auch unter Beweis zu stellen. An dem Tag, als seine Kinderfrau ihm liebevoll über den Kopf gestrichen und gesagt hatte, er sei ziemlich schön für einen Schwachkopf, hatte er ihr einen Holzklotz ins Gesicht geworfen. Erst als die Frau mit Zorn reagiert hatte, war Cyrus wieder eingefallen, dass Gewalt nicht gebilligt wurde. Sie wollte sich auf ihn stürzen, deshalb rannte er zu einem offenen Fenster und hörte ihr entsetztes Kreischen erst, als er wie eine Kartoffel auf der anderen Seite herunterfiel. Er prallte dreimal auf dem Grat des gefährlich steilen Dachs ab, bevor er endlich auf dem Erdboden landete.
Der Junge hatte sich Hände und Knie übel aufgeschürft; ein Bluterguss erblühte auf der Rückseite eines Arms und auf seiner Wange. Dennoch weinte er nicht. Wie ein Farnwedel, der sich entrollt, stand Cyrus langsam und überrascht auf, wobei er sich die kupferfarbenen Locken mit kleinen, schmutzigen Händchen aus dem Gesicht strich, nur um zu entdecken, dass er sich in der Mitte eines hellen Lichtkreises befand.
Noch nie zuvor hatte er Wahrsager aus der Nähe gesehen.
Sie hatten auf ihn hinuntergestarrt, die Gesichter verdunkelt und die Umhänge so schwarz, dass sie Löcher in der Welt zu hinterlassen schienen.
Da bist du ja, Kleiner, hatte er jemanden sagen gehört.
Das Kind hatte sich verwundert den Kopf gerieben und sich staunend gefragt, wie es ihnen gelungen war, diese Stimme in seinen Kopf zu bringen. Erst da hatte Cyrus gelacht, erst da hatte er voller Freude seine ersten Wörter gesprochen.
»Das war Magie«, hatte er gesagt.
Die Kinderfrau schrie noch immer, als sie nach draußen in den Garten rannte, die Hälfte des Palastpersonals auf den Fersen, alle vor Hysterie ganz außer sich. Später sollte sie herausfinden, dass man ihrer Dienste nicht länger bedurfte.
An diesem schicksalhaften Tag hatte Cyrus beschlossen, wer er werden wollte, und jedes Jahr hatte sich diese Überzeugung tiefer in ihm verankert. Der König und die Königin hatten dies als zufällige Entdeckung empfunden, denn der Junge war nicht dazu geboren, den Thron zu besteigen, und würde eine geringere und dennoch würdige Aufgabe im Leben benötigen.
Cyrus von Nara war der Zweitgeborene, natürlich; niemals der Erbe.
Sein älterer Bruder war von Kindesbeinen an der Schatten ihres Vaters gewesen. Sein älterer Bruder hatte sich auf ein Leben voller Dekadenz und Machtentfaltung vorbereitet.
Cyrus hingegen hatte jede freie Stunde seiner Kindheit damit verbracht, unbekümmert und mit Blumen im Haar durch den geheimen Eisenbahntunnel zu laufen, durch die Wolken zu hasten und sich in die Arme der Wahrsager zu werfen. Im Lauf der Jahre hatte er sich dem Studium der Wahrsagerei gewidmet und dem schönen Schein der materiellen Welt zugunsten der nebulösen Wunder des Himmlischen entsagt – wofür er von der königlichen Familie endlos bespöttelt wurde. Sie verstanden, dass er sich mit den Grundlagen der Magie vertraut machen wollte, doch keiner von ihnen glaubte, dass ein Prinz freiwillig auf einen Titel verzichten und ein reiches Erbe ausschlagen würde, nur um sich unter namenlosen Wahrsagern einzureihen.
Es war Cyrus gleichgültig gewesen.
Er hatte sein Gold und seine Juwelen weggesperrt, sein Haar geschnitten und seine Kleider gegen eine schlichte schwarze Tracht eingetauscht. Er legte die vorläufigen Gelübde an seinem achtzehnten Geburtstag ab und verbrachte die nächsten anderthalb Jahre ausschließlich im Tempel; selten verließ er das Gelände, während er sich auf die endgültige Zeremonie vorbereitete. Er war unter den jüngsten Schülern, denen es erlaubt war, die erste Stufe der Priesterschaft zu erklimmen, und nun, da er sich seinem zwanzigsten Jahr näherte, waren es nur noch Wochen, bis man ihn förmlich einkleiden und seine Lippen mit einer Magie versiegeln würde, die ihn auf ewig band …
Bleib stehen.
Cyrus hielt den Atem an und erstarrte. Der eisige Wolkenpfad hatte ihn am Ende auf das Dach einer Steinhütte geführt, einer von mehreren, die zu den sichelförmig angeordneten Außengebäuden auf dem Gelände der Wahrsager gehörten. Der junge Prinz stand nun oben auf einem dieser Gebäude, einen schwammigen Teppich aus Moos unter seinen Stiefeln. Seine Ängste wuchsen, als er den Kopf hob; noch niemals war Cyrus der Zutritt zu diesem Gelände verwehrt worden.
Langsam sah er seinem älteren Lehrer in die Augen.
Der Mann schien vorwärtszuschweben; seine dunklen, wallenden Gewänder wirkten hypnotisierend. Die Wahrsager von Tulan erkannte man an ihren schwarzen Umhängen, deren sonderbares Material wie flüssiges Metall schimmerte und schwer von Geheimnissen war. Der Ältere schob seine Kapuze ein kleines Stück nach hinten, eine Andeutung seines Gesichts in dem kalten Licht offenbarend. Was von seiner braunen Haut zu sehen war, wirkte glatt trotz seines vorgerückten Alters und obwohl Eintrübungen seine Augen milchig färbten. Dennoch gab es an seiner Energie nichts zu tadeln; im Gegenteil, der Mann verströmte Mitgefühl tief aus sich heraus, selbst jetzt. Cyrus begriff sofort.
Ihr wisst es bereits, sagte er wortlos.
Der Wahrsager legte den Kopf zur Seite. Wir haben es immer gewusst. Aber es stand uns nicht zu einzugreifen.
Der junge Prinz spürte, wie es ihm das Herz bei dieser Enthüllung zerriss; die Worte trafen ihn wie Verrat, auch wenn sein Verstand es besser wusste. Ein Wahrsager zu sein, hieß, mit Wissen belastet und an grausame Einschränkungen gebunden zu sein; egal wie mächtig die Priester und Priesterinnen waren, es war ihnen nicht gestattet, den freien Willen anderer zu behindern, ebenso wenig, ihnen ungebeten Ratschläge zu erteilen. Cyrus verstand das besser als die meisten anderen.
Und doch blitzten seine Augen hitzig auf, als er nun dastand, denn jetzt wusste er mit klarer Gewissheit, dass seine Träume gestorben waren; dass sich seine Rolle für alle Zeit geändert hatte. Er würde niemals ein Wahrsager werden. Alles, was er je gewollt hatte, alles, wofür er je gearbeitet hatte. Sein Leben, seine Zukunft …
Der Lehrer neigte einmal mehr den Kopf, und diesmal schleuderte diese winzige Bewegung Cyrus zu Boden. Von dort aus ragten die violetten Wände des Tempels hinter ihm in atemberaubende Höhen auf. Voll frischem Kummer bemerkte der Prinz, dass sich eine Schranke zwischen ihrer beider Leiber geschoben hatte und dass Magie ihn zurückhielt.
Diese geweihte Stätte würde niemals sein Zuhause sein.
Bitte, sagte er verzweifelt. Ich bin gekommen, euren Rat zu suchen.
Langsam schüttelte der Wahrsager den Kopf. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, dich zu entscheiden, Kleiner.
Cyrus machte Anstalten zu sprechen, während sich eine zerbrechliche Hoffnung in seiner Brust sammelte, doch sein alter Lehrmeister hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. Mit unverkennbarer Betrübnis sah ihm der Mann in die Augen und sagte:
Wenige können sterben. Oder viele.
»WASMACHTIHRDA?Esst Ihr etwa eine Orange?«
Kamran drehte sich beim Sprechen mit entgeisterter Miene zu der jungen Frau um, die neben ihm flog. Schon seit Stunden schossen sie über den Nachthimmel, und während er vor Unruhe erstarrt war, lag Fräulein Huda halb auf ihrem magischen Vogel, sah zu den Sternen hinauf und aß Obst, als wäre sie die Heldin in irgendeinem Liebesroman.
»Ja, warum?« Sie war gerade dabei gewesen, eine Orangenspalte in ihren Mund zu befördern, und hatte innegehalten. Plötzlich zuckte sie zusammen. »Oh! Verzeiht mir, Eure Hoheit – möchtet Ihr auch?« Sie hielt ihm ihre klebrige Handfläche mit der ebenso klebrigen Orangenspalte hin, und Kamran fuhr zurück.
Sie bot ihm genau das Stück Obst an, das sie sich eben selbst hatte einverleiben wollen. Es war, als hätte das Mädchen keinerlei Manieren.
»Nein«, antwortete er kurz angebunden.
Woher Fräulein Huda die Frucht hatte oder warum sie daran gedacht hatte, sie inmitten von so viel Chaos einzustecken, würde er wohl nie erfahren, denn er hatte nicht die Absicht …
»Ich habe ein paar Orangen von einem Tablett gemopst, bevor wir den Palast verlassen haben«, erklärte sie. Sie verstummte kurz, um zu kauen und zu schlucken. Ein Sternenregen beleuchtete ihre vollkommen ungekünstelten Bewegungen; ihre Augen wirkten glasig, während sie ihn mit kaum verhohlener Bewunderung betrachtete. »Ich hoffe, das ist in Ordnung. Mir wird ein wenig schwindelig, wenn ich zu lange nichts esse.«
Kamran stieß einen unverbindlichen Laut aus und wandte sich ab.
Es war sicher nicht seine Absicht gewesen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Die ganze Zeit hatte die kleine, bunt zusammengewürfelte Schar wenig Gelegenheit zu Gesprächen gehabt – der fortwährende, lärmende Zug beim Fliegen machte längere Wortwechsel unmöglich. Doch der Gegenwind hatte sich endlich gelegt, und bei den fünf Reisenden war die Erleichterung darüber fast mit Händen zu greifen. Die atemberaubenden geflügelten Kreaturen, die sie auf ihrem Rücken trugen, fanden sich nun eng nebeneinander in Formation zusammen, als sie einen langsamen Sinkflug gegen Tulan einleiteten. Bald schon würden sie landen.
Unterdessen war in Kamrans Kopf nur noch Platz für Angst und Erschöpfung. Obschon er dankbar für die außergewöhnlichen Umstände seiner Flucht war, hatte sich unter der steten Geißel seiner Gedanken der Glanz ihrer Reise doch eingetrübt. Er hatte kein Interesse daran, sich mit jemandem zu unterhalten.
»Oh – kann ich etwas haben?«, drang Omids begieriges Feshtoon an sein Ohr. »Ich habe solchen Hunger.«
Der Junge hatte erst kürzlich beschlossen, nur noch Feshtoon zu sprechen, während die anderen auf Ardanz antworteten. Diese neue Form des Austauschs verlieh ihren Gesprächen seither eine interessante Qualität; sie hatte sich entwickelt, nachdem Omid zu seiner übergroßen Freude entdeckt hatte, dass alle Anwesenden fließend Feshtoon verstanden.
Offenbar sogar Fräulein Huda.
Kamran hatte überrascht festgestellt, dass das uneheliche Fräulein standesgemäß erzogen worden war. Er wusste, dass es kein gutes Licht auf ihn warf, das zu denken, aber er konnte es sich auch nicht verübeln – es war offen gestanden alles andere als alltäglich, dass jemand in ihrer unsicheren Position von einer Gouvernante erzogen wurde. Andererseits war ihr Vater bekanntermaßen etwas exzentrisch.
»Ich hätte auch gern etwas ab, wenn noch genug da ist«, meldete sich Deen, der Apotheker, zu Wort. »Es riecht himmlisch.«
Das stimmte immerhin.
Die Luft um sie her duftete nach Orangenöl, und während Fräulein Huda ihren Vorrat an Früchten mit den anderen teilte, dienten die aufgeregten Stimmen und Gespräche nur dazu, den Prinzen zu reizen. Selbst bestens gelaunt hatte er die meisten Mitglieder dieser merkwürdigen Truppe kaum ertragen, und jetzt war er angeschlagen und verunsichert und mit seiner Geduld am Ende.
»Lass sie in Frieden«, hörte er Hazans vertraute Stimme im Flüsterton schimpfen. »Sie will dich nicht nerven.«
»Wer?«
»Fräulein Huda.«
Kamran vernahm es mit Überraschung und wandte sich seinem alten Freund zu, als hätte er ihn soeben geohrfeigt. »Fräulein Huda? Du glaubst, ich verschwende meine Zeit damit, an Fräulein Huda zu denken?«
Hazan lächelte nicht, auch wenn seine Augen eine gewisse Erheiterung verrieten. »Tust du das denn nicht?«
»Wenn ich überhaupt über sie nachdenke, dann nur, um mich über die vielen uneleganten Wendungen ihres Geistes zu wundern.«
Nun runzelte Hazan die Stirn. »Mir scheint, dass ihr das nicht ganz gerecht wird.«
»Vorhin hat sie versucht, sich durch eine Wolke durchzuessen.« Kamrans Stimme war nur noch ein Zischen. »Ihr Kiefer, kannst du’s dir vorstellen?« Er ahmte mit der Hand eine Beißbewegung nach. »Sie hat den Kopf herumgerissen und mit einer lächerlichen Stimme gesprochen, nur um den Jungen zu unterhalten. Sie scheint keinerlei Sinn für angemessenes Verhalten zu haben.«
»Ich glaube, sie hat es das hungrige Wolkenmonster genannt.« Hazans Gesicht blieb unbewegt, als er das sagte.
»Oh, und du findest das gut, oder?«
»Nicht jeder hier nimmt sich so ernst wie du, Majestät. Sie haben weder die Energie dazu noch ein Interesse daran.«
»Willst du damit andeuten, dass ich eitel bin?«
»Ich will es nicht andeuten, Kamran. Ich sage es dir direkt ins Gesicht.«
»Du bist ein Arsch.«
»Dann ist es eine Gnade, dass ich nicht zu lange in den Spiegel schaue, um mich selbst zu betrachten.«
Ganz gegen seinen Willen entschlüpfte Kamran ein Lächeln.
»Es war dir nie gestattet, die erdrückenden Erwartungen des Reichs an dich abzulegen«, sagte Hazan leise, während er in die Ferne starrte. »Andere sind nicht so belastet wie du. Aber das macht sie nicht minderwertig.«
Kamran schüttelte leicht den Kopf und beobachtete einmal mehr Fräulein Huda. Als er sich zwang, dieses ungeheuerliche Verbrechen von einem Kleid auszublenden, war er in der Lage, die Feinheit ihrer Gesichtszüge zu erkennen. Sie war kein unansehnliches Mädchen; er fand nur, dass ihr eine gewisse Vornehmheit fehlte. Sie war laut und taktlos und kindisch, und wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt, flößte ihm dieser Umstand ein Gefühl der Rastlosigkeit ein, als wären ihm seine Kleider zwei Nummern zu klein.
Nun lachte sie, lachte, bis ihr Körper bebte, und er wandte sich abrupt ab, weil diese Fröhlichkeit an seinen Nerven kratzte. »Wenn ich nur das Privileg hätte, so unbelastet zu sein«, murmelte er. »Das wäre ein kalter Tag in der Hölle.«
Hazan warf ihm einen grimmigen, aber verständnisvollen Blick zu. Kamran beschloss, dass er sich eine Erleichterung seiner geistigen Bestrafung verdient hatte, und lümmelte sich ein wenig in seinen Sitz.
Er saß rittlings auf Simorgh – jenem legendären Vogel, der ihm in Kamrans verzweifeltster Stunde eine Fluchtmöglichkeit geboten hatte –, während die anderen sich auf Simorghs vier Kindern niedergelassen hatten. Der ardunische Prinz hatte gewusst, was ihn erwartete, als er auf das prachtvolle, hoch gewachsene Geschöpf geklettert war, dessen Flügelspannweite einen ganzen Raum eingenommen hätte. Er war von Ehrfurcht und Dankbarkeit für dieses Privileg so überwältigt gewesen, dass es ihm gar nicht in den Sinn gekommen war, sich zu fragen, ob die lange Reise von Ardunia nach Tulan leicht werden würde. Es war schlimm genug, dass er mit diesen Seelen – die allesamt in sein Leben getreten waren, weil sie dieselbe rätselhafte junge Frau kannten – zusammengewürfelt worden war, doch als sich Erschöpfung, Hunger, Angst und unverarbeiteter Kummer hinzugesellten, geriet sein Körper an die Grenzen der Strapazierfähigkeit.
Kamran hatte Alizeh gewollt – Alizeh und sonst nichts –, und stattdessen war er gezwungen gewesen, die Waise, den Bastard und den Menschenfeind mitzunehmen; als ob sein Leben ein Abenteuer für Kinder wäre, und als ob er eine andere Wahl hätte, als die Hand voll Karten auszuspielen, die ihm ausgeteilt worden war. In Anbetracht dessen, dass Alizeh selten jemandem einen Einblick in ihr Leben zu gewähren schien, waren diese Personen tatsächlich wertvoll – doch wäre er nicht so verblendet gewesen von der Suche nach dieser jungen Frau, so hätte er das Glück eines Lebens fern dieser Leute zu schätzen gewusst.
Was seine üble Laune noch verschlimmerte: Ihm wollte nicht warm werden. Trotz des erhitzten Vogelkörpers unter ihm waren seine Gliedmaßen taub vor Kälte, der Bogen und der Köcher mit Pfeilen, die er auf dem Rücken trug, schnitten langsam in sein Fleisch ein, und auch wenn er es niemals laut zugegeben hätte, verspürte er seit fast einer Stunde ein sehr dringendes menschliches Bedürfnis.
Dennoch hatte sich Simorgh als unerschütterliches und verblüffend weiches Reittier erwiesen; ihre seidigen, schillernden Federn waren ein willkommenes Kissen für seinen müden Körper. Er hatte seit Tagen kaum geschlafen, so aus den Fugen geraten war sein Leben. Wenn Kamran sich nur hätte sicher sein können, dass er nicht von Simorgh herunterfiel, hätte er vielleicht an ihren Hals gelehnt ein Nickerchen gemacht. Nun, als die regelmäßigen, sanften Bewegungen des Fluges mehr denn je drohten, ihn in den Schlaf zu wiegen, musste er kämpfen, um die Augen offenzuhalten. Im Stillen war er dankbar für die gelegentliche belebende Ohrfeige, die ihm die Kälte verpasste.
»Hast du immer noch Hunger?«
Kamran blickte auf, wobei ein sanfter Wind sein Haar zerzauste, nur um festzustellen, dass die Frage nicht an ihn gerichtet war. Fräulein Huda hatte eine Banane aus irgendeiner geheimen Tasche in den gebauschten Falten ihres entsetzlichen Kleides zutage gefördert und versuchte gerade angestrengt, die Frucht über die dunklen Tiefen des Universums hinweg Omid zu reichen, dessen Augen aufleuchteten, obwohl sein Mund noch voll war. Er streckte sich eifrig, um die Banane entgegenzunehmen, und dabei stießen die beiden in einem Augenblick, der Kamran alarmiert erstarren ließ, mit den Köpfen zusammen und wären fast vom Himmel gefallen.
Omid und Fräulein Huda brachen umstandslos in Gelächter aus, amüsiert darüber, dass sie sich beinahe mit ihrer Dummheit umgebracht hätten. Selbst Deen, der griesgrämigste der vier Gefährten, rang sich ein Lächeln ab.
Es machte Kamran unfassbar zornig.
Er begriff nicht, dass das, was er fühlte, während er sie beobachtete, nicht wirklich Wut war, sondern eine Mischung aus Sehnsucht und Groll. Omid, Huda und Deen waren auf diese Reise nur um eines kleinen Abenteuers willen mitgekommen, für einen Hauch Magie. Sie waren nicht aus demselben Grund hier wie er, der verzweifelt um sein Leben, seinen Thron und sein Erbe kämpfen musste. Dass sie so unbeschwert lachten, sich freizügig zurücklehnten, aßen und plauderten, machte ihn rasend vor Empörung. Im Geheimen hätte er ihre Fröhlichkeit zu gern geteilt; doch stattdessen köchelte er frustriert vor sich hin, weil er sich seine Gefühle nicht einmal selbst eingestehen konnte, und ließ zu, dass die vertrauten Arme des Zorns ihm den Rücken stärkten, während er dasaß und langsam von Fremden in den Wahnsinn getrieben wurde.
Doch die meisten seiner Gedanken galten natürlich Alizeh.
ALIZEHBERÜHRTEDENBODENmit dem Finger und zeichnete Formen in den rauen Untergrund, dessen Beschaffenheit ihre Haut sanft abrieb. Sie saß allein und ungeschützt in der eisigen Dunkelheit, im Auge einer gewaltigen Salzpfanne, die sich in alle Richtungen bis in die Unendlichkeit auszudehnen schien. Die weißen Kristalle waren krustenartig mit dem Erdboden verbacken und glitzerten im Mondschein wie zerriebene Diamanten.
Abwesend leckte sie ein wenig Salz von ihrem Daumen und verzog das Gesicht bei dem Geschmack, während eine dumpfe Hitze über ihre Zunge loderte. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, während sie in die Schwärze hinaufblickte, dorthin, wo die tiefe Nacht mit Sternen übersät war. Alizeh wusste, dass es auch in der Atmosphäre von Tulan Glühwürmchen gab, und heute Abend war das Schimmern so dicht, dass es da und dort verschwamm. Es war, als hätte ein Kind seine Hand auf den Himmel gedrückt und das Geglitzer verschmiert.
Doch diese Wunder konnten sie nicht ablenken.
Szenen aus den letzten Stunden suchten sie fortwährend heim, Geräusche erschütterten unablässig ihre Knochen, die Erinnerung an Empfindungen zuckte über ihre Haut. Auch jetzt, umringt von Stille, konnte sie nicht zur Ruhe finden.
Vor wenigen Stunden hatte sie das Undenkbare getan.
Nach achtzehn Jahren, die sie versteckt gelebt hatte, war Alizeh endlich aus dem Schatten getreten. Sich als die verlorene Königin von Arya zu erkennen zu geben, war aus mehreren Gründen ein gefährlicher Schritt gewesen – vor allem deshalb, weil sie für diese Rolle schlecht gerüstet war. Sie besaß keinen Thron, keine Armee, keinen Plan und kein Fünkchen jener mächtigen Magie, die ihr für ihr Königtum versprochen worden war. An dieser Kreuzung ihres Weges würde man sie wahrscheinlich eher ermorden statt bewundern, weil sie den Kopf aus der Deckung gestreckt hatte, doch es hatte sich angefühlt, als hätte sie keine andere Wahl gehabt, als so unfertig, wie sie war, ins Licht der Öffentlichkeit zu treten. Nachdem Gerüchte von ihrer Ankunft in Tulan die Königsstadt in Atem gehalten hatten, hatten Tausende Dschinns auf der Suche nach ihr das Schloss gestürmt und einen Beweis dafür gefordert, dass sie am Leben war. Die Menge war wild und wie rasend gewesen, hatte ein Geschrei erhoben, man wolle einen Blick auf die legendäre Königin werfen; man hatte mit Gewalt gedroht, falls sie zu Schaden gekommen sei. Wie gut, dass die Schnittwunde an ihrem Hals aus der Ferne nicht zu erkennen gewesen war.
Leider hatte sie Sarras Aufmerksamkeit sofort auf sich gezogen.
Die Königinmutter hatte Schreck und Entsetzen durchlebt, als Alizeh, bevor sie sich den Menschen gezeigt hatte, mit so viel Würde, wie ihr zu Gebote stand, in einem kurzen, blutbesudelten Kleid und mit einer blutenden Wunde am Hals aus Cyrus’ Schlafzimmer gekommen war.
Sarra hatte erst Alizeh in ihrem zerrütteten Zustand und mit hochrotem Gesicht wahrgenommen, dann den wilden Blick und nackten Oberkörper ihres Sohnes, und ihr Gesicht hatte sich in fast mörderischer Abscheu verfinstert. Nervös hatte Alizeh die Raffung ihres schmutzigen Kleides gelöst, sodass es in voller Länge zu Boden fiel, bevor sie sich hastig anschickte, die Situation zu erklären – doch Cyrus hatte ihr einen so strengen Blick zugeworfen, dass die Nosta, die in ihrem Mieder steckte, aufleuchtete und Alizeh unvermittelt verstummte. Sarra hatte bei diesem Blickwechsel verächtlich aufgelacht, wenngleich sie es am Ende doch nicht zur Sprache brachte. Die Frau schien zu aufgewühlt von der versammelten Menge zu sein – noch immer wüteten Tausende Dschinns vor den Palastmauern –, um Zeit mit reden zu vergeuden. Ihre einzige Nachsicht hatte darin bestanden, vier glotzenden jungen Snodas, die am anderen Ende der Halle in einem fast schon komischen Zustand des Entsetzens ineinander gelaufen waren, einen scharfen Blick zuzuwerfen, bevor sie sich mit grimmigem Lächeln wieder Alizeh gewidmet hatte.
»Schärft Euren Verstand, Mädchen«, hatte sie mit bedrohlicher Sanftheit gesagt. »Wenn der Pöbel euch heute Nacht nicht umbringt, könnte es der Klatsch tun.«
Alizeh kniff die Augen zusammen, ihre Haut wurde jetzt noch heiß bei der Erinnerung an diese Kränkung. Natürlich war in Wirklichkeit ganz und gar nichts Skandalöses passiert; tatsächlich hätte es Sarra gefreut zu hören, dass Alizeh und Cyrus nur versucht hatten, einander umzubringen.
Es war ein verwirrender Abend für sie beide gewesen.
Nachdem sie sich stundenlang um Cyrus gekümmert hatte, der vom Teufel brutal misshandelt worden war, hatte der noch immer halb benommene König sie beide auf magischem Weg in sein Schlafzimmer zurückbefördert, wo sie kurze Zeit später aufeinander losgegangen waren. Sie und Cyrus hatten die Klingen gekreuzt und Hiebe und hitzige Worte ausgetauscht, bis er sie am Ende nicht mit der Waffe, sondern mit einer Reihe leidenschaftlicher Geständnisse besiegt hatte, die sie wie vernichtet zurückließen.
Abwesend betastete sie ihre Wange und zuckte zusammen, als das Salz auf ihren Fingern mit der offenen Wunde in Berührung kam. Alizeh zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum, während sie sich von innen auf die Wange biss, um nicht vor Kälte mit den Zähnen zu klappern.
Wie sollte es ihr jemals gelingen, ihre Gedanken zu ordnen, wenn es so viele Gefühle zu erfassen und sortieren gab? So viele Wünsche zu verwalten und auszulöschen?
Sie hatte nicht gewusst, was sie erwartete, als sie endlich ihr Recht auf den alten Dschinnthron geltend gemacht hatte – auch wenn sie früher schon davon ausgegangen war, dass sie mit Argwohn und Wut würde rechnen müssen, sobald sie ihre Ansprüche geltend machte. Sie hatte sich darauf vorbereitet, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, eine Hochstaplerin zu sein; sie hatte geglaubt, dass man sie zwingen würde, irgendwie zu beweisen, dass sie die rechtmäßige Thronerbin war.
Stattdessen war die Menge in dem Augenblick, als sie auf die Balustrade getreten war, anscheinend zurückgewichen, als wären sie alle zeitgleich von einer unsichtbaren Macht getroffen worden. Das ohrenbetäubende Gebrüll verklang zu einer vollkommenen Stille, sodass Alizeh ihre eigenen flachen Atemzüge hatte hören können. Die ersten Momente waren mehr als erschreckend gewesen; die Sekunden vergingen, als würde die Zeit langsamer verstreichen, während ihr Herz gegen die Rippen hämmerte und die Panik in ihr wuchs.
Sie hatte es nicht bis zum Ende durchdacht – dafür war nicht genug Zeit gewesen – und hatte Sorge, etwas Beeindruckendes oder anderweitig Inspirierendes sagen zu müssen. Ihre ersten öffentlich geäußerten Worte würden zweifellos in Erinnerung bleiben und auf den Straßen wiederholt werden. Zuerst hatte sie daran gedacht, alle hinter sich zu vereinen.
Dann hatte sie genauer hingeschaut.
Was sie gesehen hatte, war ein Meer von Dschinns gewesen, die erschöpft vom stundenlangen Stehen und Rufen waren. Nun war nur noch das gedämpfte Schreien von Säuglingen zu vernehmen; müde Eltern trugen sie auf dem Arm, die älteren Kinder schliefen zu ihren Füßen. Die alten Leute stützten sich auf Gehstöcke oder saßen unter Schmerzen auf dem blanken Boden, während die Jungen und Gesunden mit fiebrigen Augen zu ihr aufblickten. Jedes Gesicht, in das sie sah, war verzerrt vor Anstrengung und bebender Hoffnung – und einfach vor Durst.
Und so sagte sie freundlich: »Mein liebes Volk, lasst mich euch zu trinken geben.«
Das Ergebnis war ein atemberaubendes Chaos.
Wie sie sich ihrer Identität so sicher hatten sein können, wusste Alizeh nicht; es war eine Frage, die sie nicht stellen konnte, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu beschädigen. Doch aus ihren Worten schienen sie den notwendigen Beweis herausgelesen zu haben und wurden einmal mehr hysterisch; einige schluchzten unkontrolliert, andere fielen ohnmächtig in die Arme von Fremden und Angehörigen.
Alizeh hatte sich schon zu ihnen aufmachen wollen, entschlossen, einen Weg zu finden, die Tausendschaften mit Wasser zu versorgen, als Cyrus plötzlich aus dem Schatten trat und ihr mit einem vertrauten grollenden Blick Einhalt geboten.
»Du wirst dich nicht in Gefahr bringen«, hatte er gesagt.
Kaum hatte sie ihre Verärgerung bemerkt, den Mund geöffnet, um zu protestieren, da hatte er schon einem Diener in der Nähe Befehle erteilt, die sie nicht hören konnte. Der König von Tulan war nicht mehr halbnackt, sondern trug jetzt einen schlichten Pullover und einen Mantel; sein einziger Luxus war eine dicke Fellmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, sodass sie sein kupferfarbenes Haar fast vollständig verbarg.
Alles, alles schwarz.
Sie war unfähig gewesen, den Blick von ihm zu wenden, so fasziniert war sie von seiner unerschütterlichen Haltung. Noch vor wenigen Stunden war er vom Teufel fast zu Tode gequält worden, nur um dann weitere Hiebe von Alizeh und von seiner Mutter sowie eine drohende gewaltsame Erstürmung seines Palastes aushalten zu müssen. All das war auf ihn niedergeprasselt, ohne Unterbrechung, und dennoch war er beherrscht. Ein kleines Lächeln umspielte seinen Mund, während er mit dem Diener sprach. Sein Auftreten war ungezwungen, aber bestimmt.
Er war nicht zusammengebrochen.
Als er seine Anordnungen erteilt hatte, hatte Cyrus aufgesehen, in Beschlag genommen von der Wucht ihres Blicks. Auch sie hatte sich umgezogen, bevor sie zu der Menge da draußen gesprochen hatte. Sie trug nun einen von Cyrus’ Umhängen, der, wie er beharrlich behauptet hatte, sie sowohl vor der Kälte schützen als auch ihr besudeltes Kleid verbergen würde. Bald spürte sie die Hitze seines forschenden Blicks anderswo, zunächst auf ihrem Hals verweilend, dann die versteckten Konturen ihres Kleides nach unten nachfahrend. Er betrachtete die gebauschten Stoffbahnen, die überlangen Ärmel, den überschüssigen Saum, der sich wie eine Pfütze zu ihren Füßen sammelte.
In seinen Augen war all die Unbeständigkeit einer Sonnenfinsternis enthalten: sein Zorn, der fast sein Verlangen übermannte.
Alizeh war schwindelig unter seinem wachsamen Blick geworden, während ihre Haut ganz bewusst dort kribbelte, wo seine Augen sie berührt hatten. Sie wusste nicht, wie sie dieses Gefühl beschreiben sollte, diese atemlose Apathie. Niemand hatte sie bisher so angesehen, wie er es tat, als könnte ihr Anblick den Tod bringen. Unter dem Gewicht seines stummen Begehrens hatten sich ihre Lippen geteilt, ihr Mund wurde schwer vom Klang seines Namens und einem verzweifelten, dummen Impuls, dieses Wort nah an seiner Haut zu flüstern.
Glücklicherweise durchbrachen scharfes Keuchen und Rufe der Verwunderung die Verwirrung, und die Trance war dahin. Alizeh fuhr hochschreckend herum, um zu sehen, wie Palastdiener sich durch die vielköpfige Menge der Dschinns schlängelten, vergoldete Tabletts balancierend, von denen jedes sich unter Tassen und Wasserkrügen bog.
In der Salzpfanne schniefte Alizeh gegen die Kälte an, die ihre Nase taub werden ließ, kniff die Augen zusammen gegen den schwindelerregenden Nachthimmel. Die Kulisse, die sie umgab, war schön, zweifellos – doch weder ihr Kopf noch ihr Herz konnte den gegenwärtigen Moment angemessen würdigen.
Außerdem wusste sie nicht, wo sie sich befand.
Sie war nur an diesen Ort gelangt, weil sie Cyrus durch die mitternächtlichen Straßen der Königsstadt verfolgt hatte. Die Menge hatte sich sehr langsam aufgelöst, nachdem sie sich beruhigt hatte – nachdem die Leute verstanden hatten, dass es ihr gut ging, dass sie eben erst in Tulan angekommen war, dass sie noch keine Entscheidung im Hinblick auf eine Heirat getroffen hatte und dass sie hochoffiziell zu ihnen sprechen würde, sobald sie sich ein wenig ausgeruht hatte. Als sich ihre kleine Schar ins Schloss zurückgezogen hatte – Sarras Gesicht war verzerrt gewesen, als würde sie gleich losschreien, und Alizeh dachte nur noch ans Schlafen –, da hatte der junge König fünf wirkungsvolle Worte zur Wand gesprochen:
»Ich fürchte, ich muss gehen.«
Und ohne weitere Erklärung hatte Cyrus Alizeh in der Obhut seiner entsetzten Mutter zurückgelassen.
Sarra hatte einen erstickten Laut von sich gegeben, bevor sie Alizeh mit großen, blinzelnden Augen anstarrte. Einen Moment lang hatte die Frau Alizeh leidgetan. In einer erschreckenden charakterlichen Umkehrung hatte Sarra, zuvor eine durchtriebene, komplizierte Gegnerin, die Nerven verloren. Nachdem sie Alizehs ruhigem, kraftvollen Auftritt vor der ungebärdigen Menge beigewohnt hatte, schien die Frau nun Angst davor zu haben, auch nur dieselbe Luft wie das Mädchen zu atmen. Es sah so aus, als hätte die Königinmutter Sorge, sie könnte einen gefährlichen Fehler gemacht haben, indem sie Alizeh gebeten hatte, ihren Sohn zu töten.
Wäre es Alizeh zu Gebote gestanden, so hätte sie über diesen Wahnwitz gelacht.
Stattdessen hatte sie der bebenden Sarra Gute Nacht gesagt und sich unsichtbar gemacht, sobald sie allein auf dem Korridor gewesen war, um mit übermenschlicher Geschwindigkeit Cyrus’ Verfolgung aufzunehmen. Sie war tunlichst darauf bedacht, allen Blicken auszuweichen, aus Angst, von Dschinndienern entdeckt zu werden. Nicht lange, und sie hatte das Palastgelände hinter Cyrus verlassen, und während eine fremde Umgebung mit der Schwärze verschmolz, liefen sie beide durch die kalte Nacht.
Nun seufzte Alizeh.
Es gab eigentümliche Wälder hier mit Bäumen, deren Äste so weiß wie Knochen waren und von innen leuchteten. Ein kleines Gehölz glühte sanft am Rande der Salzpfanne. Hier war sie am Ende ihrer Suche angelangt, denn Cyrus hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst, als er sich dem schimmernden Wäldchen genähert hatte, und hier – allein und jenseits von allem – war sie gestrandet, sich selbst für ihre Dummheit verfluchend.
Sie zog den geliehenen Umhang fester um die Schultern, während sie gegen den Drang ankämpfte, daran zu schnuppern, um den vertrauten Geruch seines Besitzers einzuatmen. Sie kannte sein Duftwasser inzwischen gut, die blumigen Rosennoten, die sich mit der maskulinen Würze seiner Haut mischten – auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, woher. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass der bewusstlose Cyrus stundenlang in ihrem Schoß gelegen und sie ihn gerochen hatte, selbst als sie weinte. Sie konnte noch immer sein seidiges Haar spüren, das durch ihre Finger glitt, den Flaum seiner Wange unter ihrer Hand. Für all ihr Bemühen um ihn war sie mit diesem erbarmungslosen Brennen in ihrem Brustkorb belohnt worden, einer Gefühlsaufwallung, die so mächtig war, dass sie sich in unaufhörlichen Zuckungen erging und sich auch dann nicht legte, als sie ihre Gedanken auf alles und jeden anderen richtete. Ihr Körper hatte sich noch nie so lebendig angefühlt, so voller Energie.
Wann hatte sie Cyrus erlaubt, so viele Räume in ihr zu besetzen?
Es war ja nicht einmal etwas zwischen ihnen passiert.
Das Durcheinander von Gefühlen, die sie jetzt durchlitt, den emotionalen Schiffbruch, den sie nach etwas erlebte, was nach allgemeinen Maßstäben nicht einmal ein Ereignis gewesen war …
Es ergab keinen Sinn.
Schlimmer noch: Cyrus stand unter dem Befehl des Teufels.
Schon allein diese Feststellung hätte beweiskräftig genug sein müssen, um ihn zu verurteilen, doch der Himmel mochte ihr helfen, sie hatte auch andere Gründe dafür. Neben anderen erschreckenden Vergehen hatte er ihr wertvolles Buch von Arya gestohlen und sich geweigert, es ihr zurückzugeben. Jetzt hielt er es unter magischem Verschluss. Er hatte die Wahrsager von Ardunia niedergemetzelt, König Zaal ermordet, seinen eigenen Vater getötet und sie sich zum Feind gemacht, ob es ihr passte oder nicht. Als er aus dem Palast geflohen war, um sich auf eine rätselhafte – und wahrscheinlich schändliche – Suche zu begeben, hatte sie sich genötigt gesehen, ihm zu folgen.
Zu dumm, dass sie eine Närrin gewesen war.
NATÜRLICHWUSSTECYRUS, DASSer verfolgt wurde.
Sie besaß die Raffinesse eines schlafenden Drachen. Als könnte sie sich ihm ohne sein Wissen nähern – als könnte er nicht den schleifenden Saum seines geborgten Umhangs an ihrem Körper hören. Es war Folter genug, sich vorzustellen, wie sie sein Kleidungsstück trug, doch es war noch eine ganz andere Marter, sich ihren zielstrebigen Schritt auszumalen, ihre gerunzelte Stirn, den leichten Schmollmund, den sie nur machte, wenn sie zu viel nachdachte. Die Entschlossenheit, mit der sie ihm jetzt folgte – als hätte sie eine Ahnung, was sie da tat – war so liebenswert, dass es ihn ärgerte. Denn solange er lebte, fürchtete er, würde er sich an ihren Duft erinnern, an die Geräusche, mit denen sie auf ihn zukam. Sie war eine Närrin, wenn sie etwas anderes dachte.
Er war ein Narr, weil er überhaupt an sie dachte.
Cyrus seufzte und ging weiter, während der eisige Abend frostige Wölkchen von seinen Lippen wehte. Hoch aufragende immergrüne Bäume, durch deren Äste geisterhafte Finger aus Mondlicht nach ihm griffen, glitzerten am Wegesrand. Nachtvögel höhnten, Vergessenheit drohte, der reine Duft von Kiefern erfüllte seinen Kopf. Es war spät und ungewöhnlich kalt.
Wenn sie ihn nur in Ruhe lassen würde.
Eine entsetzliche Reise lag vor ihm, und nach allem, was er in dieser Nacht durchgemacht hatte, hatte Cyrus auf eine einzige Gnade gehofft: Einsamkeit. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln – um sich zu fangen, bevor die nächste Stufe der Folter anstand. Ihr Schatten, der an ihm klebte, machte diesen Traum unerreichbar.
Er hatte bereits mehrere Male ihr leises »Uff« gehört, wenn sie wieder über den Saum seines Umhangs gestolpert war, und er hatte sich selbst mühsam davon abhalten müssen, sich umzudrehen, um ihr zu Hilfe zu eilen.
Der junge König hatte diese lange, eisige Odyssee nicht nötig; Cyrus hatte die Absicht, sein Ziel mittels Magie zu erreichen. Er hatte Alizeh absichtlich auf eine planlose Wanderung geführt, in der Hoffnung, sie würde am Ende der Kälte überdrüssig werden oder ihrer Erschöpfung nachgeben und ins Schloss zurückkehren.
Sie konnte nichts von seinem Dilemma wissen: dass ihre ungeschickte Beschattung ebenso seinen Zorn erregte, wie sie ihn besänftigte, dass er sich in Luft auflösen wollte, während er gleichzeitig den Gedanken nicht ertragen konnte, sie hier in der frostigen Dunkelheit allein zu lassen. Er wollte sie näher bei sich haben, als er mit Worten ausdrücken konnte, wollte sie entblößt und zitternd in seinen Armen halten, wollte sich diese Empfindungen von der Haut scheuern. Er wollte sich am liebsten den eigenen Kopf abschlagen und ihn in den Fluss werfen.
Er wollte sie anschreien.
Eine plötzliche Windbö fuhr heran, sodann lautes Laubgeraschel. Cyrus zog den Kopf gegen die Kälte ein und hörte ein kaum wahrnehmbares Schniefen, das seine Wut nur noch mehr befeuerte.
Er wusste, dass sein Zorn wider jede Vernunft war, doch er fühlte sich dennoch veranlasst, herumzufahren und ihr ihre sinnlose Sturheit vorzuwerfen; sie erfror beinahe, vollkommen ohne jeden Grund, und quälte ihn weit über das hinaus, was menschlich war. Zuerst war er erstaunt darüber gewesen, dass sie ihm folgte, unbewaffnet, in eine unbekannte Dunkelheit – und sein erster Gedanke war natürlich gewesen, sie davon abzubringen. Er hätte es fast getan, wäre fast zu ihr herumgewirbelt und hätte verlangt, dass sie umkehrte.
Als ob sie auf ihn gehört hätte.
Wenn er sich einer solchen Fantasie hingab, da war er sich sicher, würde sie seinen Unmut in vollem Umfang erwidern. Sie würde schreien und aufstampfen wie ein trotziges Kind, wütend, weil sie entdeckt worden war. Sie würde sich weigern zu gehen und ihn beschuldigen, Magie gegen sie verwendet zu haben – denn wie sonst hätte er die Anwesenheit einer solchen Meisterspionin feststellen sollen? –, und wenn er sie dann gezwungenermaßen zurückließ, würde sie ihm Beleidigungen nachrufen und verlangen, dass er ihr Buch zurückgab, und ihn dann einen liederlichen Bastard und einen Trottel schimpfen.
Nein, kleine Korrektur: Sie würde derart vulgäre Ausdrücke nicht in den Mund nehmen.
Wahrscheinlicher würde sie ihn einen Halunken nennen, einen Scharlatan, einen gemeinen Schurken. Der Gedanke entlockte ihm fast ein Schmunzeln, bevor er ihn niederschmetterte.
Der Damm brach.
Der Schmerz fiel ihn brutal an, verströmte sich aus seinem Innersten, bis Cyrus gezwungen war, sich dem Angriff der Erinnerung geschlagen zu geben. Ihn bestürmten Ereignisse der letzten paar Stunden, Ereignisse, die er nur zu gern in alle Ewigkeit aus seiner Geschichte verbannt hätte, aber umsonst: Cyrus konnte an nichts anderes mehr denken als an ihre kleine Hand auf seiner Stirne, die Heimstatt ihrer Arme, als sie ihn gehalten hatte, die wunderbare Pein ihrer Haut an seinem Gesicht. Er musste schlucken, als ihm einfiel, wie sie sich anfühlte, wie er sie in seinem Fieberwahn berührt hatte, wie er ihren berauschenden Geruch in seinem Kopf abgelegt hatte, wo er für immer fortdauern würde, zusammen mit dem Flüstern ihrer Stimme, während sie weinte. Ihre Tränen waren über seine Wangen gelaufen, während sie ständig seinen Namen wiederholt, ihn angefleht hatte aufzuwachen. Er ballte die Fäuste.
Er konnte nicht glauben, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte.
Er konnte noch immer nicht fassen, ihr gestanden zu haben, dass er Nacht für Nacht von ihr träumte; dass er acht quälende Monate lang ihren Geschmack, ihre Hitze, ihre seidenglatte Haut im Schlaf gekannt hatte. Nichts weniger als ein Anfall von Wahnsinn musste ihn dazu getrieben haben. Er war so schrecklich erschöpft gewesen, hatte noch immer unter dem langsam schwindenden Einfluss dunkler Magie gestanden, Körper und Geist hatten sich noch nicht wieder vollständig erholt von der letzten Attacke des Teufels. Es war die einzige Entschuldigung, die er hatte, dass er gebrochen gewesen war – sein Widerstand ausgehebelt durch all diese Schrecken, sein geschwächter Körper von ihrer Zärtlichkeit über die Klippe gestoßen. In jeder anderen Stunde seines Lebens wäre er stärker gewesen. Er wäre weggegangen, mit versiegelten Lippen – er wäre lieber gestorben, als sich selbst durch die erbärmliche Enthüllung seines Begehrens zu blamieren.
Zur Hölle, er hätte es besser wissen müssen.
Vor acht Monaten hatte Iblees Alizeh mit voller Absicht in Cyrus’ Kopf eingepflanzt, hatte Cyrus eine Geschichte eingeimpft, die ihn in ihrer Gegenwart fast ohnmächtig machte. Zweifellos hatte der Teufel gehofft, sie zu benutzen, um Cyrus zu brechen – und Cyrus war in diese offensichtliche und vermeidbare Falle getappt.
Er rang mühsam um Atem.
Etwas hatte sich heute Nacht unwiderruflich in ihm verändert, und er fürchtete sich vor dem, der er nun werden würde. Fort war seine Maske, seine Fassade der Gleichgültigkeit, seine nachlassende Fähigkeit, ihre Nähe mit scharfem Verstand und jeder Menge Verachtung auszuhalten. Vom Augenblick ihres ersten Zusammentreffens an hatte Cyrus die unzähligen Öffnungen in seiner Brust mit eingebildeten Beweisen ihrer Bösartigkeit geflickt; immerhin war sie die erwählte Braut des Teufels – natürlich war das Grund genug zu glauben, dass sie verderbt und ehrlos war. Er vermutete, dass sie den Teufel einen Freund nannte, dass sie eingeweiht in dessen Plan war, sie Cyrus’ Königreich aufzuzwingen. Er hatte diese seine Überzeugung für sich behalten, auch als seine Zweifel an ihr rasch widerlegt waren, und jede Enthüllung ihrer Unschuld verursachte einen neuen Riss in seinem Panzer. Dass sie ohne Fehl und Tadel war, dass sie keinen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, dass sie von Iblees ebenso heimgesucht wurde wie Cyrus …
Das war schlimmer, unendlich schlimmer.
Dass sie ihm letztlich Barmherzigkeit erwiesen hatte, war ihm zum Verhängnis geworden, denn es hatte ihm – zu allem Überfluss – gezeigt, dass sie Zoll für Zoll jener Engel war, den er in seinen Träumen so sehr geliebt hatte. Er hatte sich nicht nur fürchterlich in ihr geirrt, er war ihr auch mit Grausamkeit begegnet. Er wusste jetzt: Sie stand so weit über ihm, dass er nicht einmal würdig war, in ihren Schatten zu treten. Und ganz gewiss hatte er kein Recht, sich etwas von ihr zu wünschen.
Da blieb er unvermittelt stehen, während sein Herz gegen die Rippen hämmerte.
Die ganze Zeit über war er in der Lage gewesen, die Qual ihrer Gegenwart auszuhalten, nur weil er sich mit Hass gewappnet hatte. Wie hätte er es nun, da er das Ausmaß seines Irrtums kannte, ertragen können, ihr wieder nahe zu sein? Wie hätte er auch nur in ihr Gesicht blicken können, da der Schutzwall fort war, der notwendig war, um sein jämmerliches Herz abzuschirmen?
Er fuhr sich mit den eiskalten Händen übers Gesicht, während er sich ermahnte, sich zusammenzureißen – sie konnte ihn immer noch sehen. Er hatte das Gefühl, womöglich verbrennen zu müssen, wenn er nicht selbst den Druck herausnahm, und doch: Wie sollte er mit dem Aufruhr in seinem Kopf umgehen, während sie ihn beobachtete?
Er hatte in den letzten Minuten kaum auf seine Umgebung geachtet und bemerkte erst jetzt, als er aufsah, dass er vor einem leuchtenden Gehölz am Rand der größten Salzpfanne Tulans stand. Es war gespenstisch in dieser weiten Einöde, und es war ihm bewusster denn je, dass Alizeh und er allein unter dieser Kuppel aus Schwärze standen und nur die Sterne ihren Bewegungen folgten. Ein fiebriger Teil von ihm wagte es, sich vorzustellen, wie sie ihn dort drüben im Dunkeln beobachtete.
Gott, er hatte sie gewollt.
Er hatte sie mit einem überwältigenden Hunger gewollt, mit der Verzweiflung eines Mannes, der sterben wollte. Ohne Zweifel hatte es dem Teufel Freude bereitet, ihn so würdelos zu sehen. Dieser ernüchternde Gedanke trieb Cyrus die Hitze aus, und er fühlte sich nur noch vor Kälte erstarrt und dumm.
Betäubt.
Wenn er sie nur wieder hassen könnte, ihr misstrauen – alles wäre sicherer. Wenn er stattdessen zuließ, dass er auf diese Weise weitermachte, dann würde das Buch von Arya sein kleinstes Problem sein. Vielleicht würde er sich zu einem Mord hinreißen lassen, nur damit sie einen besseren Ausblick aus einem Fenster hätte. Vielleicht würde er die gesamte Vereinbarung aufkündigen, genau wie es der Teufel wollte.
Oh, wie er das bereuen würde.
Cyrus lief Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Alizeh hatte ihm eine Gnade erwiesen, indem sie fortgegangen war, indem sie dem Beginn dessen, was ihn hätte zerstören können, ein Ende gesetzt hatte. Er durfte nie wieder zulassen, dass er ihr so nahekam. Allein die Vorstellung, dass sie Gefühle für ihn haben könnte, war lachhaft. Auch jetzt folgte sie ihm nur, weil sie ihm nicht traute; sie hatte keine Ahnung, dass sie gerade dabei war, ihn auf eine Reise in die Hölle zu begleiten, wo ein dunkler Meister seiner schon ungeduldig harrte.
Nein. Wie verderbt seine Seele war.
Es hatte ihm den letzten Schlag versetzt zuzusehen, wie sie zu einer hoffnungslosen, treu ergebenen, vieltausendköpfigen Menge sprach, jeder Einzelne bereit und willig, für sie zu sterben.
Er würde immer der Böse in ihrer Geschichte sein.
Vor vielen Monaten hatte er Frieden mit dem Opfer geschlossen, das seinem Leben auferlegt war, denn es war der einzige Weg, die ihm gestellten Aufgaben zu erfüllen. Für Cyrus war es ein tückisches Unterfangen, auf mehr als den Tod zu hoffen, und es konnte nur in einer Tragödie enden. Er hatte keine Wahl: Er musste seine unerfüllbaren Träume in den verstaubten Truhen seiner Kindheit wegschließen.
Außerdem wartete der Teufel auf ihn.
Und mit diesem letzten, bitteren Gedanken löste er sich in Luft auf.
SCHMILZDASEISINSALZ
BRINGEDIETHRONEAUFSEEINVEREIN
INDIESEMVERWOBENENKÖNIGREICH
SOLLENLEHMUNDFEUERSEIN
Wieder und wieder hallten diese Worte durch Kamrans Kopf. Er dachte an das rätselhafte Buch, das er in Alizehs Reisetasche gefunden hatte und dessen kryptische Inschrift sich seither in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Es waren die letzten beiden Verse, die ihm keine Ruhe ließen.
Verwobenes Königreich, Lehm und Feuer –
Trotz allem war es Hazan gelungen, Kamran die Saat einer gefährlichen Idee einzupflanzen: dass es Alizeh vielleicht dennoch bestimmt war, ihn zu heiraten. Kamran wurde von Unschlüssigkeit geplagt, was Alizeh betraf, denn da war so vieles, was er immer noch nicht verstand, während all die Vertrauensbrüche, die zu entwirren sie ihm überlassen hatte, sein Herz und seinen Verstand hoffnungslos verwirrten. Und doch – seine Erinnerungen an sie blieben so leidenschaftlich, dass er Mühe hatte, vernünftig zu denken, wenn es um sie ging. Seinen Zweifeln zum Trotz war es so verlockend, sie sich als seine Königin vorzustellen, dass er nicht anders konnte, als sich in dieser Fantasie zu ergehen. Er hatte nie eine andere junge Frau getroffen, die ihr das Wasser reichen konnte, weder in Schönheit noch Haltung, Eleganz oder Schärfe des Verstandes. Es war für Kamran nicht völlig überraschend gekommen, dass sich die bezaubernde, unscheinbare Snoda als die lange verschollene Erbin eines alten Königsreichs entpuppt hatte. Es war immer etwas Königliches an ihr gewesen, ein würdevolles Auftreten …
Prustendes Gelächter platzte in seine Gedanken, und Kamran wandte sich gereizt der Quelle des Geräuschs zu; seine Laune verfinsterte sich noch mehr, als er sah, dass Fräulein Huda offenbar nicht in der Lage war, sich wieder zu fassen. Die junge Dame schlug sich glucksend mit der Hand auf die Brust. Ihr Mund war noch halb voll, als sie keuchend hervorstieß: »Du meine Güte, ich bin so müde, dass ich auf der Stelle sterben könnte.«
Es war unmöglich, die beiden Frauen nicht im Geiste miteinander zu vergleichen. Fräulein Huda war der wandelnde Gegenpol von Alizeh, ungeschliffen und zügellos. Die eine war dazu erzogen worden, Königin zu sein, die andere, ertragen zu werden; und doch war Alizeh in relativer Armut aufgewachsen und Fräulein Huda in einem adeligen Haus. Die Unterschiede zwischen ihnen waren mannigfaltig, und obwohl die eine wie die andere junge Frau unter Vernachlässigung zu leiden gehabt hatte, war nur eine mit Selbstbeherrschung und Anmut daraus hervorgegangen. Kamran zuckte zusammen, als ein weiterer Lachanfall die Stille durchbrach, und seine Miene wurde noch verdrießlicher.
»Oh, ich wage zu behaupten, dass Tulan ein schrecklicher Ort ist«, sagte sie gerade. »Ich bezweifle, dass eine andere Gegend auf der Welt es mit der Schönheit von Ardunia aufnehmen könnte …«
Etwas am Klang ihrer Stimme störte ihn, ging ihm unter die Haut. Er schüttelte entschieden den Kopf, als könne er sie so aus seinen Gedanken werfen. Er wollte sich nicht mit Fräulein Hudas zahlreichen Ärgernissen befassen.
Stattdessen versenkte er seine Hände in die weiche, dichte Seide von Simorghs Federkleid, um sich von ihrer Nähe trösten zu lassen. Der legendäre Vogel war Kamran zu Hilfe gekommen aus Respekt vor Zaal, der seinem Enkel in seinem Testament eine einzelne verzauberte Feder vermacht hatte. Nur in einem Augenblick höchster, verzehrender Not durfte das magische Geschöpf mittels dieser Feder herbeigerufen werden, und Kamran war tatsächlich in ernster Bedrängnis gewesen, nachdem ihm beinahe die Krone von Zahhak, dem Verteidigungsminister, entrissen worden war und ihn die Wahrsager in den Gefängnisturm gesperrt hatten. Doch er kannte die Rahmenbedingungen der Vereinbarung nicht. Würde ihm Simorgh für eine unbegrenzte Zeitspanne zur Verfügung stehen? Oder würde sie ihn nur bei dieser einen Reise unterstützen und davonfliegen, sobald sie gelandet war und ihn abgesetzt hatte?
Einmal mehr endeten seine Gedanken in Ungewissheit.
Kamran sollte sich mit dieser Reise als würdiger Erbe seines eigenen Throns beweisen – das waren die Worte der Wahrsager gewesen. Doch sie hatten ihm keine klaren Anweisungen gegeben, wie diese Aufgabe zu erledigen wäre. Er fragte sich, ob Zahhak herausgefunden hatte, wohin Kamran aufgebrochen war; er fragte sich, was die Wahrsager in seiner Abwesenheit taten und sagten. Wenn die Priester und Priesterinnen nicht vorhatten, den Verteidigungsminister davon abzuhalten, sich selbst zum König zu krönen, blieb nur wenig Zeit, bevor Zahhak die Kontrolle über Ardunia an sich reißen würde.
»Tatsächlich habe ich gehört, dass Tulan ziemlich schön sein soll«, kam nun Deens ruhiger Widerspruch. »Einige meiner Lieferanten haben ihren Sitz dort, und sie haben nie anders als lobend von …«
»Na, das ist doch klar«, fiel ihm Fräulein Huda ins Wort. »Sie haben wahrscheinlich Angst, etwas Schlechtes über ihr eigenes Land zu sagen, und wer wollte es ihnen zum Vorwurf machen, da sie doch von so einem garstigen König regiert werden …«
Kamran erstarrte, und die einzelnen Splitter seines Zorns fügten sich zu einer einzigen Klinge des Hasses zusammen.
Trotz all der Unordnung in seinem Kopf war eines absolut klar: Er würde Cyrus töten.
Während Kamran eine ungewisse Angst davor packte, Alizeh wiederzusehen, berauschte ihn der Gedanke geradezu, erneut auf den abscheulichen südlichen König zu treffen. Ganz weit oben unter den vielen Schrecken, die sich endlos in Kamrans Kopf wiederholten, rangierten die grausigen Bilder von König Zaals Tod, denn sie hatten sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. Wieder und wieder kehrte er zu dem ekelerregenden Geräusch zurück, mit dem das Schwert das Herz seines Großvaters durchbohrt hatte. Kamran würde niemals den Schock, das Entsetzen, das darauffolgende Chaos vergessen.
Den Mörder.
Der ardunische Prinz hatte jetzt vor allem anderen eine Mission, um die Waage wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Er würde Vergeltung für den Tod seines Großvaters üben oder selbst dabei umkommen. Der brutale König von Tulan würde endlich der Gerechtigkeit zugeführt werden, vorzugsweise indem Kamran ihn in Stücke hieb, um anschließend seine Eingeweide den Geiern zum Fraß vorzuwerfen.
»Kamran.«
Beim Klang seines Namens fuhr der Prinz beinahe zusammen. Er mühte sich, sein blutdurstiges Herz zu besänftigen, während er sich seinem einstigen Minister zuwandte.
»Ich wollte dich nicht stören, da ich sehe, dass du beschäftigt bist«, sagte Hazan leise. »Aber die Sonne scheint dem Horizont zuzustreben, und ich höre, wie das ferne Rauschen von Wasser lauter wird, was nur bedeuten kann …«
»Ja.«