Am Osloer Fjord oder der Fremde - Hartmut Lange - E-Book

Am Osloer Fjord oder der Fremde E-Book

Hartmut Lange

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Virenseuche, die die Menschheit vernichten könnte: Doch droht dieser nicht ein viel schlimmerer Feind? Was bewundert ein Publikum bei der Darstellung einer Schwindsüchtigen auf der Opernbühne oder einer Absinth-Trinkerin in einem Museum? Wie die Natur ein Denkmal attackiert, das sich die Menschheit gesetzt hat. Über Trennungen und Erfahrungen von Wunden, die nicht heilen wollen. Und über Stolpersteine unserer Befindlichkeit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 61

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hartmut Lange

Am Osloer Fjord oder der Fremde

Novellen

Diogenes

Ich danke Ulrike für ihre Mitarbeit

Am Osloer Fjord oder der Fremde

Es war wieder einmal so weit: Die Welt war, wie man so sagt, aus den Fugen. Seit Jahren beherrschte ein Virus, das sogenannte COVID-19, das zivilisierte Leben, und außerdem bestand die Möglichkeit, dass ein Asteroid sich der Erde näherte, um sie zu zerstören. Einer solchen Stimmung konnte man sich, wie ich meinte, nicht entziehen, und so kam es, dass ich, obwohl meine Vorliebe vor allem der Gegend um Rom galt, dass ich eines Tages am Osloer Fjord stand und aufs offene Meer hinaussah.

Hier war alles karg, irgendwie unbewohnt, und wenn das Wetter wechselte, wirkte der Himmel nicht frei, sondern er schob sich als schnurgerade Wolkenwand wenige Meter, so schien es mir, über die Erde wie ein Vorhang, den man zu drei Vierteln geschlossen hatte.

Auf der Insel, auf der ich mich befand und von der aus man Oslo unmittelbar im Rücken hatte, begann die Dämmerung, die rasch fortschritt, und doch war ich in der Lage, wenn auch nur schemenhaft, den Umriss einer Person zu erkennen. Sie hielt sich leicht gebeugt, der Mantel war geöffnet, und da ein Wind ging, war jener, der auf mich zukam, gezwungen, die Enden, die herumflatterten, festzuhalten, und als wir auf gleicher Höhe waren und uns fast berührten, machte er keinerlei Anstalten, stehen zu bleiben oder mich zu grüßen. Er ging weiter, bis er in der Dämmerung verschwand. Ich sah noch, dass er keinen Mantel, sondern einen Gehrock trug und dass sein Äußeres überhaupt den Eindruck vermittelte, er wäre aus einer anderen Zeit.

In die Pension zurückgekehrt, zog ich mein Handy aus der Jackentasche, rief ein paar Freunde an, erzählte ihnen, wie angenehm und abwechslungsreich die Tage und Nächte hier im Norden waren, aber meine Begegnung mit jenem, der in der Dämmerung aufgetaucht und wieder verschwunden war, erwähnte ich mit keinem Wort. Und nun wäre es wahrscheinlich vernünftiger gewesen, in der Pension zu bleiben oder die Gegend auf kürzestem Wege zu verlassen. Stattdessen stand ich am nächsten Tag wieder am Fjord und sah aufs Wasser hinaus.

›Im Süden ist die Welt lebendiger‹, dachte ich, und während ich dies dachte, hörte ich ein Geräusch in meinem Rücken. Es war der Fremde.

»Entschuldigung«, sagte er, der bewegungslos dastand. »Entschuldigung«, wiederholte er, »ich will nicht, dass Sie sich meinetwegen Gedanken machen, aber wäre es unhöflich zu fragen, was Sie veranlasst hat, in diese Gegend zu kommen?«

Ich hatte keinerlei Mühe zu antworten. Im Gegenteil: Ich war froh, dass ich meinen Aufenthalt am Osloer Fjord jemandem verständlich machen konnte.

»Das Überleben der Menschheit steht wieder einmal auf dem Spiel«, sagte ich. »Entweder wir erliegen einer Virenseuche oder dem Einschlag eines Asteroiden, und es ist offenkundig, dass man dergleichen in der klaren Luft des Nordens besser als im diesigen Süden beobachten und ertragen kann.«

»Verstehe«, sagte der andere, »aber der Untergang, den Sie so sehr fürchten, ist längst im Gange, und es gibt genügend Mittel, dies auch noch und besonders grausam in Szene zu setzen, als da wären … Erhängen, Erschießen, Vergasen. Auf das kosmische Gestein oder ein paar wild gewordene Viren ist keinerlei Verlass. Da waren wir, und mit der gleichen Absicht, erfolgreicher. Kennen Sie die Guillotine? Zugegeben, sie ist ineffektiv und altmodisch, aber immer noch eine poetische Form, dem Untergang Geltung zu verschaffen.«

›Die Guillotine! Warum sagt er mir das?‹, dachte ich.

Ich wandte mich ab, spürte, wie unmöglich es war, mich weiter in der Nähe dieses Mannes aufzuhalten. Die Gegend am Osloer Fjord war, das wusste ich jetzt, was die Erfahrungen des Unmöglichen betraf, durchaus beunruhigend. Und konnte es sein, dass der Fremde mit jener berüchtigten Tötungsmaschine, die 1792 während der Französischen Revolution eingeführt wurde, etwas zu tun hatte? Immerhin stammte er aus einer anderen Zeit und war ähnlich gekleidet wie die Männer, die das Fallbeil umstanden. Da war die gleiche Weste, der enge Gehrock, der geschlossene Hemdkragen.

›Er sieht aus wie einer von ihnen‹, dachte ich, ›und sollte es so sein, dann wäre ich tatsächlich einem Henkersknecht begegnet.‹

Ich kehrte in die Pension zurück, telefonierte wieder mit meinen Freunden, sprach davon, dass ich versuchen würde, ein bequemeres Hotel zu finden.

»Dann mache ich Urlaub und gehe schwimmen, nichts weiter als schwimmen«, sagte ich.

Und die Möglichkeit, dass mir jemand irgendwann, sowie ich im Freien war, wieder im Rücken stehen könnte, erwähnte ich mit keinem Wort.

Das Hotel, das ich mir schließlich ausgesucht hatte, befand sich einige Kilometer weiter landeinwärts, wo inmitten einer Hügellandschaft Straßen und Einfamilienhäuser zu sehen waren und wo sich der Eindruck von urbaner Kargheit wiederholte. Aber als ich mit meinem Koffer an der Rezeption stand, teilte man mir mit, dass man auf Anordnung höheren Orts leider gezwungen sei, vorzeitig die Zimmer abzuschließen. Auch hatte man das Wasser in dem Becken, in dem ich schwimmen wollte, abgelassen, und die Dämmerung, die jeden Tag einige Minuten früher begann, machte mir immer mehr zu schaffen.

Als ich das letzte Mal, ich war auf dem Weg zum Flughafen, das Handy hervorzog, um meine Freunde zu informieren, dass ich noch am selben Tag den Osloer Fjord verlassen würde, als ich den Taxistand erreichte, hier begann ein kleiner Park, entdeckte ich plötzlich, dass jemand mit baumelnden Beinen auf dem untersten Ast einer Linde saß. Es war der Fremde, und auch er hatte ein Gepäckstück in der Hand. Offenbar hatte er auf mich gewartet. Ich wich ihm aus, dies wollte er nicht gelten lassen, also sprang er auf die Straße, wobei ihm das Gepäckstück aus der Hand rutschte. Und nun blieb mir nichts anderes übrig, als ihm beim Aufsammeln der Gegenstände, die herausgefallen waren, behilflich zu sein.

»Ich danke Ihnen«, sagte jener, den ich im Verdacht hatte, dass er an einer Guillotine beschäftigt gewesen war. »Wie ich sehe, wollen Sie die Gegend am Fjord verlassen, das könnten wir gemeinsam tun.«

Für Augenblicke standen wir uns gegenüber.

»Tja«, sagte der Fremde schließlich, »es ist an der Zeit zu gehen.«

Ich winkte ein Taxi herbei, hoffte darauf, dass ich, sobald ich die Tür neben meinem Sitz geschlossen hätte, nicht mehr gezwungen sein würde, mir sein Gerede anzuhören. Aber der andere war schneller als ich. Kaum hatte ich meinen Koffer abgestellt, saß er bereits neben mir. Doch wo wollte er, der nicht mehr unserer Zeit angehörte, hin! Vielleicht wollte er sich, da er meinen Unwillen bemerkt hatte, nochmals erklären.

»Sehen Sie«, sagte er, als wir die Schnellstraße erreicht hatten, »die Guillotine habe ich nur erwähnt, um Ihnen zu beweisen, dass das gegenseitige Quälen und Töten des Menschen allerüblichste Gewohnheit sind. Überhaupt ist das Töten kein Verbrechen, sondern eine Art Wille zur Kultur.«

»Sie hatten also Spaß am Töten?«

»Ja, warum nicht? Wir hatten viele Zuschauer«, sagte der Fremde, wobei er, als würde er etwas suchen, an seinem Gepäckstück herumhantierte.

Draußen begann es zu regnen, und da war sie wieder, die schnurgerade Wolkenwand, die sich wenige Meter, als wäre sie ein Vorhang, über die Erde schob, und die suchenden Blicke nach dem Asteroiden erschienen mir, bei allem, was ich erfahren hatte, beinahe sinnlos. Auch der Taxifahrer hatte offenbar Mühe, sich zu orientieren. Jedenfalls sah man, dass er, sowie wir den Fjord erreicht hatten, nach Süden statt nach Norden in Richtung Gardermoen abbog und also gezwungen war, mehrere Male im Kreis zu fahren. Zuletzt saß ich aber doch mit meinem Koffer am Flughafen in einer Ecke der Empfangshalle.