7,99 €
Müller-Lengsfeldt, Kunsterzieher aus Berlin, möchte im Dunstkreis von Johann Joachim Winckelmann das Alte Rom entdecken. Doch unbegreifliche Ereignisse stören den reinen Kunstgenuß. Und das Vorbild selbst, Winckelmann, entpuppt sich als widerspruchsvolle Gestalt mit einem rätselhaften Doppelleben. Was als beschauliche Bildungsreise begann, entwickelt zunehmend die Qualität eines metaphysischen Thrillers.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 113
Hartmut Lange
Novelle
Diogenes
Ich bedanke mich für die Mitarbeit meiner Frau
Müller-Lengsfeldt saß am Rande des Palatins und sah auf das Forum Romanum zu seinen Füßen. Es war ein Platz, der abschüssig wirkte. Ein provisorischer Lattenzaun, kaum kniehoch, sollte den Touristen daran hindern, sich einer Wand aus gemauerten Ziegelsteinen allzusehr zu nähern. Hier hätte man abstürzen können, um in einem Wirrwarr von Trümmern zu verschwinden. Müller-Lengsfeldt hatte sich einen leichten Klappstuhl mitgebracht. Es war ein Aluminiumgestell mit einer Sitzfläche aus Segeltuch, und so saß er beinahe zu ebener Erde, die Füße auf den Lattenzaun gestützt, und zeichnete auf einem großen Block das Atrium der Vestalinnen nach. Das heißt, was er vor Augen hatte, war nicht mehr als ein von verbranntem Rasen überwuchertes Rechteck, in dem Strukturen aus Mauerwerk und hier und dort ein Säulenstumpf zu erkennen waren. An der hinteren Längsseite erhoben sich Marmorsockel mit beschädigten Figuren. Es war ein spärliches Einerlei, das Müller-Lengsfeldt mit einem grauen Stift auf das Papier malte, und man hatte Mühe zu erkennen, worauf er eigentlich hinauswollte, denn auch die Sträucher, die am Rande eines mit Wasser gefüllten Beckens wucherten, zeichnete er detailgetreu nach. Zuletzt, als er zufrieden war und mit dem Stift, den er in Augenhöhe hielt, nochmals die Maßstäbe überprüfte, zuletzt erhob er sich, legte den Block auf den Klappstuhl und winkte einer Gruppe Touristen zu, die sich weiter links in unmittelbarer Nähe des Titusbogens versammelt hatten.
Es war heiß, ein leichter Wind stieg vom Forum Romanum auf, und Müller-Lengsfeldt war versucht, sich weiter auf den Hügel zurückzuziehen, dorthin, wo riesige Pinien das Licht der Sonne abschwächten und wo es in den Ecken der Ruinen kühler war. Keine dreihundert Schritt in seinem Rücken gab es Quellwasser, das ständig über eine Marmorwand lief und irgendwo im hüfthohen Unkraut versickerte, und hier, so hatte Müller-Lengsfeldt gelesen, sollte sich auch Winckelmann des öfteren, um sich zu erfrischen, aufgehalten haben.
Winckelmann? Ja, Johann Joachim Winckelmann, um dessentwillen Müller-Lengsfeldt diese Reise gebucht hatte. Er hatte sich einer Touristengruppe angeschlossen, die, so stand es jedenfalls in dem Prospekt, zehn Tage lang, und zwar für zweitausendneunhundert Mark, auf den Spuren des Wiederentdeckers der Antike unterwegs sein sollte.
»Lernen Sie das Alte Rom aus erster Hand kennen!« stand da in fettgedruckten Buchstaben, und Müller-Lengsfeldt hatte dieser Gelegenheit ohne Zögern zugestimmt.
Jetzt hielt er sich eine Weile in den Farnesischen Gärten auf, bestaunte die Lorbeerbäume, deren Stämme vor Alter zu splittern begannen. In der Domus Tiberiana versuchte er sich zu orientieren, indem er den Grundriß, der auf einer Tafel angebracht war, studierte, dann hörte er Stimmen, die ihm vertraut waren, und als er zu seinem Klappstuhl zurückkehrte, hatte man schon seinen Zeichenblock in der Hand, um, was er dort in den letzten beiden Tagen zu Papier gebracht hatte, zu begutachten.
»Jetzt müssen Sie«, sagte Herr Schmeer, »um sozusagen auf den Spuren Winckelmanns zu bleiben, alles mit bunter Tusche ausfüllen. Etwa so«, fügte er hinzu und hielt Müller-Lengsfeldt eine kleine rechteckige Mappe hin.
Es war ein Souvenir, wie es überall angeboten wurde. Der Umschlag eine Leinenimitation mit der Aufschrift: »Illustrierter Führer. Rom, wie es war und wie es ist.« Es enthielt Fotografien von den wichtigsten antiken Überresten, und wenn man eine buntbeschichtete Folie darüberlegte, erhielt man eine Art Rekonstruktion.
»So«, sagte Herr Schmeer und demonstrierte, wie der Führer zu handhaben war. »So«, sagte er, »muß man sich das Haus der Vestalinnen vorstellen, dessen Trümmer Sie skizziert haben.«
Müller-Lengsfeldt war unangenehm berührt, als er die bunte Imitation sah. Sie schien ihm billig und aufdringlich, aber irgendwie stellte sich doch so etwas wie eine Illusion ein, als hätte sich, was er eben noch akribisch auf dem Block festgehalten hatte, vor seinen Augen verwandelt. Mehrmals klappte er die Folie, die diese Verwandlung bewirkte, zurück, und bevor er das Gefühl gelten ließ, daß es unerlaubt sei, an diesem Trümmerfeld, dessen Zauber die Vergänglichkeit war, auf diese Weise zu rühren, gab er die Mappe wieder aus der Hand, hörte sich an, was Herr Schmeer über die Rechte und Pflichten der Vestalinnen zu sagen hatte.
Dann ging man Frau Ziegler, der Reiseleiterin, nach, die vorgeschlagen hatte, den Palatin in Richtung Südwesten zu überqueren, um einen Blick auf das Gelände des Circus Maximus zu werfen.
Frau Ziegler, die hin und wieder ein Fähnchen hob, wenn es darauf ankam, die Gruppe um sich zu versammeln, Frau Ziegler, deren Alter schwer einzuschätzen war, hatte ein schmales Gesicht, das Haar war kurzgeschnitten, so daß man die Ohren und den Nacken sah, und wenn die anderen danach verlangten, in einer Trattoria oder einer Bar zu sitzen, um auszuruhen, blieb sie zielstrebig auf den Beinen. Sie, die immerhin fünfzehn Personen durch die Innenstadt Roms führte, vom Palazzo Zuccari zum Forum Romanum, von der Via Sistina zum Vatikan, zeigte keine Spur von Müdigkeit. Und auch jetzt, als sie mit der Gruppe am anderen Ende des Palatins über die Via dei Cerchi hinweg auf das langgestreckte Feld wies, das wie eine Galopprennbahn wirkte, konnte man ihren Erklärungen, da sie schnell sprach, nur folgen, wenn man über Stunden hinweg ebenso frisch und aufmerksam blieb wie eben Frau Ziegler. Alle sahen auf das von Unkraut freigehaltene Areal, und in der Mitte, auf jener Erhöhung, die mit Gras überwachsen war, erhob sich, als hätte man ihn aufgescheucht, ein großer Vogel. Träge ruderte er mit den Flügeln, um sich einige Meter weiter auf dem sandigen Boden erneut niederzulassen. Aber er blieb unruhig und flog, während Frau Ziegler einen Augenblick innehielt, auch sie schien das Tier bemerkt zu haben, in einem Halbkreis auf den Palatin zu, um hinter den Baumkronen zu verschwinden.
»Ein Wanderfalke«, sagte jemand.
Keiner ging darauf ein, und nun erklärte Frau Ziegler die Technik der Wagenrennen im Alten Rom und wie gefährlich dies alles gewesen sei.
Müller-Lengsfeldt spürte, daß er Hunger hatte. Auch war die Mittagssonne unerträglich, besonders wenn man, wie er, ohne Kopfbedeckung war, und wieder hielt ihm Herr Schmeer, der gegen die Hitze bestens gerüstet war, er trug Leinenhosen und eine Baseballkappe, wieder hielt ihm der andere, der nicht von seiner Seite wich, die kleine rechteckige Mappe hin. Er hatte die bunte Folie über die Fotografie des Circus Maximus gelegt, aber diesmal weigerte sich Müller-Lengsfeldt, einen Blick darauf zu werfen.
»Geschmacklos«, murmelte er lediglich, und die Bemerkung des Herrn Schmeer, daß es, geschmacklos oder nicht, ausschließlich darauf ankäme, die Antike im Anblick ihrer Trümmer wieder lebendig zu machen, diese Bemerkung ließ Müller-Lengsfeldt unerwidert.
Jeden Morgen nach dem Frühstück bat Frau Ziegler die Gruppe, die ihr anvertraut war, in die Vorhalle des Hotels Nordland. Sie hatte die Angewohnheit, einen kurzen Vortrag zu halten, um den jeweiligen Tagesplan zu erörtern, und diesmal sprach sie über die Villa Albani und daß es unmöglich sei, diese Wirkungsstätte Winckelmanns ganz unmittelbar zu betreten.
»Wir werden uns in dem Park aufhalten«, sagte sie, »der immerhin dreizehn Hektar groß ist.« Und nun erklärte sie, daß die ehemalige Besitzung des Kardinals heute Villa Torlonia heißen würde und daß die Familie der Albani ausgestorben sei. Aber man könne in der Villa, gesetzt den Fall, sie würde wieder einmal für die Öffentlichkeit zugänglich sein, Gemälde von Raffael und Perugino bewundern.
Das Hotel Nordland lag unweit des Vatikans am linken Tiberufer, und man mußte, um zur Villa Torlonia zu gelangen, zuerst zum Hauptbahnhof und von dort aus mit einem der Busse in Richtung Via Nomentana fahren. Und es war rührend zu erleben, wie Frau Ziegler jede Minute nutzte, um Einzelheiten in den Beziehungen zwischen Winckelmann und dem Kardinal zu erörtern. Zuerst in der Metropolitana, dann in dem Bus der Linie 136 sprach sie davon, wie froh Winckelmann gewesen sei, diesen einflußreichen Kardinal gleich nach seiner Ankunft in Rom kennengelernt zu haben.
»Er wurde sein Privatsekretär«, sagte sie, wobei sie sich, um die anderen besser im Blick zu haben, über die Lehne ihres Sitzplatzes hinweg nach hinten beugte. »Er bekam eine Wohnung und ein bescheidenes Gehalt, und er hatte, was besonders wichtig war, Zutritt zu den Salons der damaligen Zeit«, sagte Frau Ziegler.
Sie erwähnte noch, daß Albani halb blind gewesen sei, so daß Winckelmann ihn hätte führen müssen, dann war man in der Via Nomentana angelangt und mußte die kurze Strecke von der Haltestelle zur Villa Alessandro Torlonia, wo sich der Eingang zum Park der Villa befand, zu Fuß gehen.
Als sie in die kurze Allee, die von Zedern umstanden war, einbogen, sagte jemand:
»Komfortable Unterkunft. Hier ist Mussolini jeden Tag vorgefahren.«
»Um die Sarkophage in der Villa zu besichtigen«, sagte Herr Schmeer.
Alle lachten. Frau Ziegler war vorausgeeilt, um die Gruppe am Portikus, der mitten im Park stand, zu versammeln, und wieder sprach sie über den glücklichen Zufall, durch den Winckelmann die Gunst, ja, die Freundschaft des um fünfundzwanzig Jahre älteren Kirchenfürsten erlangt hatte. Man hatte einen Halbkreis um sie gebildet, hörte ihr aufmerksam zu. Sie stand auf der untersten Stufe der Treppe, und Müller-Lengsfeldt wollte ihr, da sie immer noch zu klein war, um über alle Köpfe hinwegsehen zu können, Müller-Lengsfeldt wollte ihr zurufen, sie möge doch, um sich besser Gehör zu verschaffen, zwei, drei Stufen höher hinaufsteigen.
Er staunte darüber, wie gebildet Frau Ziegler war und daß der Reiseveranstalter tatsächlich hielt, was er in dem Prospekt versprochen hatte: ein Bildungserlebnis ohne Wenn und Aber und offenbar, so schätzte er Frau Ziegler inzwischen ein, mit einer Betreuerin, die Leben und Werk Winckelmanns eingehend studiert hatte.
»Aha, das hat Ihnen gefallen!« rief Müller-Lengsfeldt und lachte, als Frau Ziegler erzählte, wie Winckelmann als Student, völlig betrunken und mit vier umgeschnallten Schwertern, durch das nächtliche Leipzig getorkelt war, um Straßenlaternen zu zerschmettern.
Sein Ton war etwas zu anzüglich geraten. Frau Ziegler schien irritiert, aber da er nichts hinzufügte und immer nur auf ihre Hände sah, ja, auf die Hände, mit denen sie, während sie redete, auf anmutige Weise gestikulierte, und da auch sonst niemand auf diesen Ausruf, obwohl ihn alle gehört hatten, reagierte, zog sie ein Notizbuch aus ihrer Handtasche, um den weiteren Tagesplan bekanntzugeben.
Nochmals bedauerte Frau Ziegler, daß man nur den Park besichtigen könne und daß auch das Kaffeehaus, der sogenannte Portikus, vor dem man stand, der Öffentlichkeit leider nicht zugänglich sei. Es folgte eine halbe Stunde Müßiggang, das heißt, Frau Ziegler hatte allen für die Aufmerksamkeit gedankt und sich abgewandt. Sie setzte sich, während die anderen den Park inspizierten, auf einen Mauervorsprung, begann in ihrem Notizbuch zu blättern. In der linken Hand hielt sie eine Tüte mit Bonbons, aus der sie sich regelmäßig bediente, und Müller-Lengsfeldt, der mit Herrn Schmeer über den Kiesweg schlenderte, ließ sie nicht aus den Augen. Immer wieder, und je weiter sie sich entfernten, desto öfter drehte er sich nach Frau Ziegler um. Zuletzt ließ er den anderen, indem er eine Entschuldigung murmelte, stehen. Ohne Umstände und ohne Herrn Schmeer zu sagen, was ihn dazu veranlaßt hatte, ging er, um den Weg abzukürzen, quer über den Rasen und setzte sich neben die Reiseleiterin.
Am Tag darauf saß Müller-Lengsfeldt wieder auf seinem Klappstuhl am Rande des Palatins. Diesmal hatte er einen Malkasten bei sich, dazu ein Fläschchen mit Wasser, und er begann die Skizze, die er Tage vorher angefertigt hatte, zu ergänzen. Dabei erinnerte er sich an das Souvenir, das ihm Herr Schmeer gezeigt hatte, an jene kleine rechteckige Mappe, in der die Rekonstruktion des Tempels der Vestalinnen zu sehen gewesen war. Aber er wollte es weniger bunt haben, also ging er mit den Farben sparsam um, achtete darauf, daß alles zurückhaltend geriet. Er wunderte sich darüber, daß auch Frau Ziegler mit den anderen wieder vor dem Titusbogen stand.
›Das war schon einmal so‹, dachte Müller-Lengsfeldt und winkte zu ihnen hinüber.
Herr Schmeer hatte Frau Ziegler am Morgen darum gebeten, nochmals in die Kurie und danach zum Titusbogen zu gehen. Und Frau Ziegler war, obwohl sie dies anders geplant hatte, bereitwillig darauf eingegangen. Minuten zuvor hatte sie davon gesprochen, daß es an der Zeit sei, die Museen des Vatikans zu besuchen. ›Es wäre vernünftiger gewesen‹, dachte Müller-Lengsfeldt, schließlich war Winckelmann päpstlicher Antiquars und er ertappte sich dabei, wie er darauf achtete, ob es Herr Schmeer war, der Frau Ziegler nicht mehr von der Seite wich, nachdem sie den Titusbogen verlassen hatten und auf den Palatin zuschlenderten.
Müller-Lengsfeldt war jetzt, was die anderen der Gruppe betraf, aufmerksamer geworden, hatte sehr wohl bemerkt, daß es hier und dort zu Vertraulichkeiten gekommen war.
»Frau Ziegler geht, das möchte ich schwören, auf die Vierzig zu«, hatte Herr Schmeer ihm, als sie sich vor dem Café Greco versammelt hatten, zugeflüstert, und Müller-Lengsfeldt hatte abgewinkt, um zu zeigen, daß ihm dies gleichgültig war.
›Und jetzt gehen sie zusammen die Treppe hinauf‹, dachte Müller-Lengsfeldt und begann nochmals kräftig mit dem Pinsel zu hantieren, wohl in der Absicht, mit seiner Arbeit, ehe die Gruppe bei ihm eintraf, zu einem Ergebnis zu kommen.
Nachdem die anderen das Plateau erreicht hatten, blieb Frau Ziegler stehen, um Müller-Lengsfeldt mit dem himmelblauen Fähnchen ein Zeichen zu geben, und Herr Schmeer, dies war etwas, das Müller-Lengsfeldt befürchtet hatte, Herr Schmeer kam geradewegs auf ihn zu, nahm ihm den Zeichenblock aus der Hand, und er ließ es sich nicht nehmen, das noch farbfrische Aquarell herumzureichen.
»Das haben Sie gut gemacht!« rief er über die dreißig Schritte Abstand, die Müller-Lengsfeldt von der Gruppe trennten, hinweg. Dieser war damit beschäftigt, den Klappstuhl zusammenzulegen, die Malutensilien steckte er in die Hosentasche. »Das haben Sie gut gemacht!« wiederholte Herr Schmeer, und niemand konnte verhindern, daß er das Papier mit dem flüchtig hingetuschten Atrium der Vestalinnen zuletzt auch Frau Ziegler in die Hand drückte. Sie war sehr angetan.
»Regina will uns nochmals zum Circus Maximus führen«, sagte Herr Schmeer, und für Frau Ziegler, dies bemerkte Müller-Lengsfeldt sofort, schien das vertrauliche Du kein Problem zu sein.