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Hartmut Lange zählt zu den Meistern der deutschen Erzählkunst. Seine Novellen thematisieren den schmalen Grat zwischen der Normalität des Alltags und dem Einbruch des Irrationalen, dem metaphysischen Abgrund, der sich dahinter auftut. Sie zeigen Menschen, die ihre scheinbare existentielle Sicherheit verlieren und die pötzlich die Sehnsucht überkommt, jene Grenze zu überschreiten.
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Seitenzahl: 689
Hartmut Lange
in zwei Bänden
Diogenes
Was für eine schöne Birkenallee‹, dachte Herr Semmering, wußte natürlich, daß es immer der gleiche Anblick war, der ihn beschäftigte, wenn er die mit gestapeltem Holz umstellte Wegkreuzung passierte. Die zum Meter geschlagenen Buchen und Eichen, auch wilde Kirsche war darunter, hatten Schimmel und Nässeschwämme angesetzt. Die Enden der Stapel, mit abgebrochenem Astwerk gesichert, begannen sich zu lösen, so daß einzelne Stämme abrutschten und faulend und wie sinnlos auf dem Waldboden herumlagen.
›Wer kauft heute noch Brennholz‹, dachte Herr Semmering, sah den Waldarbeitern zu, die mit Motorsägen hantierten. Minutenlang stand er da, obwohl sich niemand um ihn kümmerte, und auch seine gelegentlichen Zurufe, die wohl als Gruß gemeint waren, blieben unbeantwortet. Herr Semmering fand dies in Ordnung, wie ihm überhaupt das Gefühl, auf sich selbst verwiesen zu sein, eine gewisse Genugtuung gab. Ihm war wohl dabei, wenn er mit seinem leichten Mantel, ohne Schal und mit Schuhen, deren Ledersohlen feucht waren, wenn er, nahe daran zu frösteln und mutterseelenallein, die ihm allzu bekannten Areale abschritt.
Die Gegend um den Großen Stern war überschaubar, weiter nach Westen zu war die Landschaft aufgeworfen. Überall Vertiefungen, riesige, uralte Eichen erhoben sich inmitten von struppigem Unterholz, das man nirgends weggeräumt hatte, und wo die Vertiefungen Grundwasser faßten, waren flache, kreisrunde Tümpel entstanden. Aber Herr Semmering ging auch hier, wenn er, was selten genug vorkam, mit dem Bus bis zur Havelchaussee fuhr, er ging auch hier, wie am Großen Stern, immer dieselben Wege. Zuerst bog er, wenn er die Saubucht, so hieß ein kleiner Tümpel, erreicht hatte, nach links ab, ging mehrere hundert Meter auf das Teufelsfenn zu, das er nicht erreichen wollte, vielmehr folgte er dem Teltower Weg, und plötzlich war alles unverstellt und frei, es war, als würde man aus der hügeligen Landschaft in ein flach gehaltenes, steppenartiges Rechteck treten. Es war das Jagen 90, drei, vier Hektar groß. Hier blieb Herr Semmering eines Tages stehen und sah, daß in der Parzelle, die man in der Mitte abgetrennt und umzäunt hatte, ein Mann beschäftigt war. Der Fremde stieg über umgehackte Akazien hinweg, verschwand hinter Haselnußsträuchern, um gebückt wieder daraus hervorzukommen, und dieses ständige Bücken und Herumsuchen auf der Erde, als müsse er die Stellen, die er eben erst überprüft hatte, nochmals mit den Händen abtasten, dies geschäftige Auf und Ab und immer im selben Viereck herum und ohne daß Herr Semmering aus der Entfernung, es waren gute hundert Meter, einen Sinn darin hätte entdecken können, dies alles gab ihm das Gefühl, es wäre ratsam, die Parzelle, die er sonst umschritten hatte, zu meiden.
Er kehrte um, ging einen Reitpfad entlang, der auf den Teltower Weg zurückführte, und er mußte, da er die Orientierung verloren hatte, einen der weißangestrichenen Steine studieren, die als Wegweiser aufgestellt worden waren. Kleine schwarze Pfeile machten Ziel und Entfernung kenntlich, aber nirgends sah Herr Semmering einen Hinweis auf die Havelchaussee. Er ahnte die Richtung, und da er sie nicht verlieren wollte, ging er, wo kein Weg war, waldeinwärts durchs Unterholz, mußte mehrmals durch Senken hindurch.
Herr Semmering war Richter am Berliner Landgericht, und die vier Treppen zu seiner Wohnung machten ihm allmählich Mühe. Nach dem dritten Stock, auf dem Treppenabsatz, der ohne Türen war, stand er regelmäßig da und versuchte durchzuatmen. Auch die Regellosigkeit seiner Herzschläge machte ihm zu schaffen, obwohl die Ärzte versichert hatten, daß dies harmlos und in seinem Alter normal sei.
›Normal‹, dachte Herr Semmering. ›Ja, was erwartet mich, wenn ich diese Treppen hier nicht mehr überwinden kann.‹
In seiner Wohnung fühlte er sich immer noch wohl. Er hatte einige Erbstücke untergebracht: eine Truhe, die mit Eisenbändern beschlagen war, eine Vitrine aus dem Biedermeier, und das ansehnlichste Stück war ein barocker Eßtisch, den er in seinem Arbeitszimmer aufgestellt hatte. Nebenan, durch den Flur getrennt, lag die Küche, deren eiserne Tür zur Dienstbotentreppe weiß übermalt worden war. Der Flur war schmal und mit Linoleum belegt, in dem sich Tag und Nacht das Licht einer schwachen Lampe spiegelte. Er führte ins Berliner Zimmer, halb Eßraum, halb Bibliothek, und von hier aus betrat man den Raum mit der Loggia. Vierundneunzig Quadratmeter oder mehr, Herr Semmering wußte es nicht genau, vierundneunzig Quadratmeter hinter gesicherten Wänden, dies war die Wohnung, die er vor achtundzwanzig Jahren bezogen hatte.
›Es riecht irgendwie‹, dachte Herr Semmering eines Tages, nachdem er sich rasiert hatte. Er ging in die Küche. ›Vielleicht ist es der Thymian‹, dachte er, nahm die Töpfe vom Fensterbrett, warf sie in den Mülleimer.
Da er die Haushälterin nicht erreichen konnte, beschloß er, die Wohnung zu wischen, begann mit dem Flur, zögerte. Mehrmals ging er in die Knie, er schien etwas zu überprüfen. Es dauerte eine Weile, und irgendwann krempelte er die Ärmel hoch und fing an, das Linoleum von einer Ecke her aufzureißen. Der Holzboden wurde sichtbar. Er wirkte schimmelig und klebrig, auch war in der Mitte, wohl durch die starke Abnutzung, so etwas wie eine Spur entstanden.
›Kein Wunder, daß es riecht‹, dachte Herr Semmering, schob das Linoleum in die alte Lage zurück, versuchte, mit den Schuhspitzen die Bruchstellen, die entstanden waren, zu glätten.
Zwei Tage später hatte man das Linoleum entfernt, ein Dekorateur war damit beschäftigt, den Flur mit einem Teppich auszulegen. Herr Semmering hatte ihn in einem Kaufhaus selber ausgesucht, und er hatte, um das Düstere des Flurs zu mildern, eine zweite Lampe gekauft. Geduldig wartete er, bis der Teppich zurechtgeschnitten und eingepaßt war. Er bestand darauf, daß die Kanten sorgfältig verklebt wurden, und nachdem er den Dekorateur bezahlt und verabschiedet hatte, stieg er auf einen Küchenstuhl, um die neue Lampe anzubringen. Am Abend war alles erledigt. Der Flur bekam ausreichend Licht, wirkte durch den Teppich breiter.
Dies geschah wenige Wochen vor seiner Pensionierung, dann war Herr Semmering mit anderen Dingen beschäftigt. Er hatte nun genügend Zeit, studierte Prospekte, die er sich stapelweise aus mehreren Reisebüros zusammengetragen hatte, und es war klar, daß er den Flug nach Ostindien oder China immer noch wünschte. Er wußte nur nicht, ob er vorher das Angebot zu einer Studienreise nach Südamerika zu den Ausgrabungen der Maya wahrnehmen sollte. Zuletzt entschied er sich, es kam ihm vernünftiger vor, erst einmal für einen längeren Urlaub auf einer griechischen Insel.
›Urlaub‹, dachte er. ›Ja, warum nicht. So etwas habe ich mir früher nie gegönnt.‹
Er ließ sich beraten, wollte wissen, ob er für den Herbst oder für das Frühjahr buchen sollte. Die Augusthitze, das wußte er, würde er schlecht vertragen. Er hatte immer mehr Mühe mit dem Kreislauf, bedauerte, daß die Hausverwaltung sich weigerte, einen Fahrstuhl bis in den obersten Stock einzurichten.
Drei Wochen später, es war Anfang Mai, holte er sich das Ticket ab. Was er einzupacken hatte, war rasch erledigt: Ein paar Hemden, Unterwäsche, der Bademantel, der Beutel mit den Waschutensilien, dazu ein paar Zeitschriften und Bücher, dies alles verstaute er in einem handlichen Koffer, den er mit seinem Namen und seiner Adresse versehen hatte.
Er schrieb einen Zettel an die Haushälterin, bat sie, die Bonsai im Fenster nicht zu vergessen. Er legte ein paar Geldscheine hin, dazu den Schlüssel für den Briefkasten. Sie solle sich keine Sorgen machen, schrieb er, er wäre in fünf Wochen braungebrannt wieder zurück.
In der Nacht vor der Abreise hatte Herr Semmering einen guten Schlaf, und nach dem Frühstück überprüfte er noch, indem er auf die Loggia hinaustrat, ob es nötig sein würde, den Übergangsmantel mitzunehmen. Während er rauchte, sah er auf die Uhr. In zehn Minuten würde er ein Taxi rufen müssen, denn für den Bus oder die U-Bahn zum Flughafen war es zu spät. Nach der zweiten Zigarette ging er endlich zum Koffer, bückte sich, aber statt nach dem Griff zu fassen, zog er in dem Schreibtisch, vor dem der Koffer stand, das unterste Schubfach auf und durchwühlte eilig und als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen, einen Packen mit Papieren. Er fand zunächst nicht, was er suchte, zog schließlich einen Prospekt hervor, in dem auf bunten Bildern für ein Seniorenheim geworben wurde.
Für ein Seniorenheim? Ja, was wollte Herr Semmering, der auf dem Weg in den Urlaub war und der Mühe haben würde, noch rechtzeitig seinen Flug nach Athen zu erreichen, was wollte Herr Semmering mit solch einem Prospekt anfangen.
Er warf die Papiere in die Schublade zurück, und am Nachmittag sah man ihn, wie er die Handjerystraße im Bezirk Friedenau entlangging. Er betrachtete die hohen Kastanien, die den Bürgersteig beinahe unpassierbar machten, und es gefiel ihm, mit den Fingern die schmiedeeisernen Stäbe eines Zauns zu berühren. »Haus Wernicke e.V.«, las er auf einem Messingschild. Er überprüfte, wie um sich zu beruhigen, die Quittung, die man ihm im Reisebüro ausgehändigt hatte, jene Quittung mit dem Vermerk »Storniert«. Sicher, die Absage hatte ihn einiges gekostet, aber es war erledigt. Er ging zum Hauseingang, drückte mehrmals auf den Klingelknopf, und als man ihm, es dauerte Minuten, endlich öffnete, hörte er Akkordeonmusik. Es war eine rasche, fast klirrende Tonfolge, die wohl einen Walzer andeuten sollte, sie kam aus einem der hinteren Zimmer, und jener, der ihm die Tür geöffnet hatte, wiegte sich in den Hüften, so kam es Herrn Semmering jedenfalls vor.
»Kommen Sie näher«, sagte er gut gelaunt, und obwohl Herr Semmering nicht angemeldet war, wies er mit der rechten Hand, bevor er wieder verschwand, auf eine Glasveranda.
Herr Semmering betrachtete die großen Zimmerpflanzen, die allzudicht gegen das Glas gerückt waren, und er überlegte, ob dieser Raum, der eher wie ein Gewächshaus wirkte, in dem es aber einen Schreibtisch und einen Aktenschrank gab, ob dieser feuchtwarme, mit grauen Fliesen ausgelegte Vorbau als Büro hätte gelten können. Eine Viertelstunde später saß er dem Direktor gegenüber.
»Sie wollen sich einen Alterssitz reservieren lassen«, sagte der überaus verbindlich wirkende Mann. »Leider sind wir überfüllt. Es wäre aber vernünftig, sich jetzt schon, sagen wir fünf Jahre im voraus, einzukaufen.«
Herr Semmering nahm ein Formular entgegen, in dem er sich zu einer Anzahlung verpflichten sollte, und der Direktor bat ihn, mit in die hinteren Räume zu kommen, um sich zu überzeugen, wie angenehm, ja ausgelassen man sich hier, obwohl im fortgeschrittenen Alter, amüsierte.
»Wir haben einen kleinen Tanztee organisiert«, sagte er, und Herr Semmering wunderte sich, daß er, während sie einen langgestreckten Korridor passierten, immer nur die schleppenden Bässe des Akkordeons hörte. ›Wenn da jemand tanzt‹, dachte er, ›müßte es noch andere Geräusche geben‹, und als der Direktor einen schweren Vorhang, den sie erreicht hatten, zur Seite schob, bot sich ihm ein merkwürdiger Anblick.
Mehrere Räume, die aneinandergrenzten und deren Türen man ausgehängt hatte, waren in ein gleißendes Licht getaucht. Herr Semmering sah den Akkordeonspieler, der in dem mittleren Raum auf der Tanzfläche, die man frei gemacht hatte, neben einem Hocker stand. Um ihn herum, so daß er halb verdeckt wurde, bewegten sich ältere Paare, darunter Gebrechliche, die offenbar den Rhythmus nicht mehr halten konnten. Aber dies war es nicht, was Herrn Semmering berührte. Es waren die aufmunternden, beinahe heftigen Bewegungen, mit denen der Akkordeonspieler das Instrument regelmäßig nach oben riß, wobei er mit den Knien wippte, und daß die anderen, die durch sein Temperament und durch seine gute Laune offenbar animiert waren, sich trotzdem still verhielten. Und wie bemüht, aber im letzten ohne Ehrgeiz sie ihre Schritte setzten! Und wie unerlöst jene Spannung zwischen dem aufreizenden Spiel und ihrem zustimmenden Lächeln, wenn jener, der neben dem Hocker stand, wieder einmal mit dem Daumen über die Tastatur hinwegfuhr.
Soll man es glauben? Ein Rottweiler hatte die Kinder der jungen Frau Förster angefallen, jene schmalgesichtigen, semmelblonden Kinder, die immer Hand in Hand unterwegs waren, und sie hatten, wie die Mutter, mit aufgerissenen Augen, den Kopf erhoben, den Rücken gegen die Wand gepreßt, wie zu Tode erschrocken dagestanden. Herr Semmering, der zufällig auf der Treppe war, hatte es gesehen. Sicher, angefallen war übertrieben. Der Hund war, die Leine hinter sich herschleifend und auf der Suche nach seinem Herrn und weil ihn dies verwirrt hatte, an den Kindern bellend hochgesprungen, wobei er den Kleinsten um Kopfeslänge überragte.
Der Vorfall war rasch überwunden. Irgend jemand pfiff das Tier an seine Seite, Herr Semmering nahm der Frau Förster die Einkaufsnetze ab, so daß sie sich um die Kinder kümmern konnte, und er war auch bereit, da sie ihm die Schlüssel hinhielt, die Tür zu ihrer Wohnung aufzuschließen. Minuten später saß sie am Küchentisch, und die Haare fielen ihr, obwohl sie mit dem Handrücken darüber hinfuhr, in ungeordneten Strähnen in die Stirn zurück. Die Kinder waren abseits, sahen über die Stuhllehne hinweg auf den fremden Nachbarn. Sie waren überaus blaß. ›Beinahe anämisch‹, dachte Herr Semmering, und er versuchte sich zu erinnern, ob er den Vater schon einmal gegrüßt hatte und ob es jener bärtige Mann war, dem das Fahrrad auf dem Hof gehörte. Die Küche, das übersah Herr Semmering sofort, war auf sympathische Weise vollgestellt: überall Kisten mit Spielzeug, dazwischen ein Schaukelstuhl und irgendwelche Steifftierchen, die Fenster waren mit Abziehbildern beklebt, und auf dem Tisch standen große rote Henkeltassen.
›Sie hat ihren Schrecken überwunden‹, dachte Herr Semmering, ließ das Schweigen auf sich einwirken, und da sie nun lächelte und er verhindern wollte, daß sie sich, ja wofür, nochmals bedankte, ging er, ohne ein Wort der Erklärung, ins Treppenhaus zurück. Er bemerkte, wie behutsam sie die Wohnungstür, die er einen Spaltbreit offengelassen hatte, in seinem Rücken schloß, und er bedauerte, daß die Begegnung damit zu Ende war.
›Eine Schande‹, dachte er, ›daß wir nicht wissen, mit wem wir Tür an Tür wohnen.‹
»Es ist gut so«, murmelte Herr Semmering, während er das Formular, das man ihm in Friedenau ausgehändigt hatte, unterschrieb. Er füllte die Bankanweisung aus, damit auch die Anzahlung erledigt war. »Es ist gut so«, wiederholte er, als er die Briefumschläge in den Postkasten warf. Er hatte sich nun mit einem Teil seiner Ersparnisse, wie er glaubte, die Zukunft gesichert. ›Die Zukunft‹, dachte Herr Semmering und schlug, als könne er damit seinem Entschluß Nachdruck verleihen, mit der flachen Hand gegen den gelben Stahlkasten.
Er wollte etwas unternehmen, wollte sein Leben nicht dem täglichen Einerlei überlassen, und so sah man ihn, wie er, gegen das schlechte Wetter abgesichert, mit einem Dampfer auf der Havel unterwegs war, oder man sah ihn in der Bibliothek, wo er sich Stapel von Folianten bestellte, um irgendwelche Rechtsfragen, die ihn früher einmal beschäftigt hatten, nochmals zu überprüfen.
Es ist keineswegs so, meinte er, daß wir in der Eile immer das Richtige herausgefunden haben, und er notierte, was er jetzt darüber dachte, was aber längst erledigt und ohne Belang war, auf irgendwelche Zettel, die er zu Hause sorgfältig abheftete.
An der Ecke zur Fasanenstraße gab es eine Druckerei. Eine uralte, angerostete Boston war im Schaufenster ausgestellt, dazu Kärtchen als Muster in verschiedenen Größen. Es waren Heiratsanzeigen, irgendwelche Glückwünsche, und dazwischen, dies war Herrn Semmering sofort aufgefallen, hatte man Fotos mit Berliner Ansichten aus der Jahrhundertwende auf eine Papptafel geklebt. Die Ränder der Fotos waren verstaubt, und die Sonne, die für ein, zwei Stunden am Tag darauf schien, hatte die Pappe leicht gewellt, und jenes Foto halb rechts, das hochformatig und größer als alle anderen war, wirkte, wenn man länger und genauer hinsah, auf merkwürdige Weise gegenwärtig. Man sah das Berliner Schloß, die Brücke über die Spree mit den Schadowschen Figuren auf dem Geländer, im Vordergrund zwei Pferdedroschken. Ein Junge mit einem Strohhut hielt die rechte Hand erhoben, und Herr Semmering sah immer nur auf ebendiesen Hut und auf die Knie des Jungen, die in der Bewegung seines Schrittes ungleich angewinkelt waren: Das vordere Knie war im Begriff, sich stärker zu beugen, das hintere war noch nicht ganz gestreckt.
Die Fotos waren seit Jahren unberührt geblieben, was Herr Semmering eigenartig fand, wußte er doch, daß der Optiker in seinem Haus, daß überhaupt jeder Laden, der etwas auf sich hielt, alle vierzehn Tage die Dekoration auswechselte. Minuten später sah man, wie Herr Semmering mit einem jungen Mann diskutierte, der es offenbar ablehnte, in dem Schaufenster etwas zu verändern. Immer wieder schüttelte er, wenn Herr Semmering auf das Foto wies, den Kopf. Dies überfallartige, irgendwie peinliche Insistieren dauerte eine Weile, dann hatte Herr Semmering erreicht, was er wollte. Er legte einen Zwanzigmarkschein auf den Tresen, schob das Foto, nachdem er den Staub entfernt hatte, in die Manteltasche.
Im Treppenhaus kam ihm Frau Förster entgegen.
»Sehen Sie«, sagte er und hatte das Foto wieder in der Hand. »Eine wunderbare Aufnahme von einer Gegend, die es nicht mehr gibt. Ich sammle solche Bilder. Mache gelegentlich selbst welche. Wenn Sie Lust haben, fotografiere ich Sie mit Ihren Kindern.« Dann, nach einem flüchtigen Blick, den Frau Förster ihm zuwarf, und nachdem er vermuten durfte, daß sie sich für sein Angebot nicht sonderlich interessierte, lächelte er liebenswürdig, und er sah ihr nach, wie sie, zwei leere Einkaufstaschen am linken Arm, zögernd die Stufen hinunterging.
Eines Morgens, Herr Semmering war spät aufgestanden, hatte gerade das Frühstück beendet, wollte Teller und Tasse in die Küche bringen, eines Morgens klingelte es an der Tür, und als Herr Semmering öffnete, stand Frau Förster, die Kinder an der Hand, mit einem Ausdruck von Verlegenheit vor ihm. Sie sprach kein Wort, tat aber, als wären sie verabredet, und es dauerte eine Weile, ehe Herrn Semmering einfiel, daß er sie, es war vierzehn Tage her, aufgefordert hatte, zu ihm zu kommen.
»Schön, daß Sie da sind«, sagte er, bat sie, auf dem Sofa Platz zu nehmen, ging rasch, als müsse er ein Versäumnis nachholen, in den Flur, schleppte eine Leiter herbei, die bis zum Hängeboden reichte. Man hörte ihn hantieren, bis er schließlich, eine Kamera und ein Stativ unterm Arm, wieder ins Zimmer trat.
»Am besten, Sie rücken mehr nach links, in Richtung auf das Fenster hin«, sagte er, »und nehmen Sie die Kinder auf die andere Seite.«
Er stellte das Stativ auf, öffnete die Kamera, suchte, das Ganze wirkte überaus sachlich, nach einem Film, den er aus einer Schublade nahm, und nachdem er ihn ausgewickelt und eingespannt hatte, setzte er die Kamera aufs Stativ.
»So«, sagte er, drückte auf den Auslöser. »Jetzt seid ihr für alle Ewigkeit eingefangen. Wie Fliegen in einem Bernstein.« Und er lachte.
Frau Förster und die Kinder, die nicht recht verstanden, was er mit seiner Bemerkung meinte, hielten sich, indem sie in die Kamera sahen, weiterhin unbeweglich. Zwei-, dreimal noch hörte man es klicken, dann war die Sache erledigt, und Herr Semmering versicherte, daß man die Abzüge, falls alles gelungen war, in einer Woche würde sehen können.
Er räumte das Stativ weg, Frau Förster blieb auf dem Sofa sitzen, die Kinder hatten sich entfernt. Man hörte, wie sie in der offenen Wohnungstür mit der Klappe am Briefschlitz spielten. Auch schienen sie sich im Treppenhaus zu entfernen, um nach kurzer Zeit zurückzukommen, aber nie tauchten sie in der Nähe der Mutter auf. Herr Semmering bereute, daß er so unverbindlich, ja beschäftigt gewesen war und daß er bis jetzt kein persönliches Wort an sie gerichtet hatte. Und woher wußte er, daß sie nur gekommen war, um sich fotografieren zu lassen? Er sah, daß sie kleine, perlenartige Ohrringe trug, die von den Haaren halb verdeckt wurden, und sie wirkte unruhig, vielleicht, weil sie auf die Kinder achtete und wünschte, sie würden sich endlich zeigen. Ob sie nach den paar Worten, die er mit ihr gewechselt hatte, ob sie, nachdem sie sich für seine Mühe bedankt und er ihr versichert hatte, daß alles gern geschehen sei, ob sie aufstehen wollte, um sich zu verabschieden, dies war durchaus nicht sicher, denn nun hatte er schon den Karton in der Hand, jenen Schuhkarton, den er hinter dem Bücherregal hervorgezogen hatte.
Als die Kinder, die vom Toben im Treppenhaus müde geworden waren, ins Wohnzimmer des Herrn Semmering zurückkehrten, sahen sie, wie die Mutter mit dem Nachbarn am Tisch saß, vor ihnen der offene Schuhkarton und daneben ein Haufen in Passepartouts eingefügte Fotografien. Herr Semmering legte sie sorgfältig nebeneinander auf die Tischplatte, die Mutter, die alles genau betrachtete, ließ sich etwas erklären, aber was Herr Semmering ihr zu sagen hatte, war den Kindern gleichgültig. Kichernd und miteinander flüsternd, blieben sie auf der Schwelle stehen, dies ging eine Weile, und als die Wohnungstür mit einem Knall, offenbar weil es von irgendwoher zog, ins Schloß fiel, saßen die beiden immer noch da. Aber Herr Semmering redete nicht mehr. Es war eine merkwürdige Stille, vielleicht waren beide erschrocken über das unerwartete Geräusch, und als die Kinder näher kamen und quengelnd darauf bestanden, daß man nun endlich gehen müsse, machte die Mutter eine abwehrende Bewegung mit der Hand.
Es war, wie Herr Semmering es vermutet hatte: Der Mann der Frau Förster war jener Radfahrer, der sein Rad jeden Abend an die Hauswand im Hof lehnte, und da stand es ungesichert, und wenn es regnete, glänzte der Sattel, und von den Chromteilen perlte das Wasser ab. Ihm selbst, dem Herrn Förster, war Herr Semmering ein- oder zweimal begegnet, und ganz gegenwärtig war ihm der Eindruck, den der Sturzhelm auf ihn gemacht hatte, jener Sturzhelm, den der andere, der an ihm vorbeigegangen war, trug. Eigentlich ein mit Lederstreifen überzogener Plastikhelm, blau oder rot, jedenfalls auffallend genug, daß sich Herr Semmering daran erinnerte. Daß ihm dies jetzt einfiel, und zwar beinahe schlagartig, hatte einen Grund. Herr Semmering hatte bemerkt, daß die Wohnungstür der Frau Förster offenstand, und er hatte es, als er daran vorbeiging, nicht unterlassen können, einen Blick hineinzuwerfen, und was er sah, es war nur für Sekunden, dann wurde die Tür wieder geschlossen, was er sah, schien ihm allerdings bedrohlich. Wie bei dem Mißverständnis mit dem Rottweiler stand Frau Förster, die Augen aufgerissen, den Rücken gegen die Wand gepreßt, beinahe zu Tode erschrocken da, und jener, der seinen Sturzhelm trug, hatte die rechte Faust, so kam es Herrn Semmering jedenfalls vor, gegen sie erhoben.
›Was soll das‹, dachte er, während er die Treppe rascher als sonst hinter sich brachte, und bevor er auf die Straße hinausging, drehte er den Kopf zur Seite, lauschte, ob etwas zu hören war.
Zwei Querstraßen weiter betrat er einen Supermarkt, zog, was er an Lebensmitteln nötig hatte, aus den Regalen. An der Kasse ließ er sich einen Karton geben, um alles zu sortieren, aber er blieb unkonzentriert, dachte an die junge Frau Förster, ja ihn überkam so etwas wie Unruhe darüber, daß man sie geschlagen haben könnte. Auch fiel ihm ein, daß er, während der Vater so unerbittlich vor ihr stand, die Kinder nicht gesehen hatte. Warum waren sie nicht, wie sonst, in der Nähe der Mutter gewesen. Daran dachte Herr Semmering, und es war ihm unmöglich, das Gedränge in der Halle zu ertragen. Er zahlte, was er schuldig war, nahm den vollen Karton unter den Arm, und als er den Hausflur wieder betreten hatte, zögerte er, die Treppe hinaufzugehen. Es dauerte eine Weile, ehe er den zweiten Stock erreichte, wo er das Namensschild über der Klingel betrachtete. Er hielt das Ohr gegen den Türrahmen, aber die Stille, die er nicht erwartet hatte, da waren weder Schritte noch ein Kinderlachen, veranlaßte ihn, mit einem Anflug von schlechtem Gewissen weiterzugehen.
In der gleichen Nacht hatte Herr Semmering einen Traum. Er sah sich in einem Café, das überfüllt war, und am Nebentisch saß jemand, der seine Aufmerksamkeit erregte. Er führte die Tasse wie jedermann gegen die Lippen, saß aber doch aufrechter als alle anderen, so daß die Hand, mit der er die Tasse hielt, eine umständliche Bewegung machen mußte. Herr Semmering sah alles sehr genau, sah die Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit, mit der der andere die Tasse und alle Gegenstände, die er benutzte, zur Hand nahm. Er trug ein weißes Hemd, dazu eine graue Krawatte, die sorgfältig und in einer Art, die Herr Semmering nicht kannte, geknotet war, darüber eine bunte Weste, deren Knopfreihe übermäßig lang erschien.
Der Ober kam, der Mann am Nebentisch zahlte. Dabei sah Herr Semmering, mit welch unwirklicher Gelassenheit er seine Hände bewegte, als wäre das Geld, das er ausgab, nebensächlich oder eine Sache der Höflichkeit und als käme es ausschließlich darauf an, dem Ober, der seine Hast nicht verbergen konnte, freundlich zu begegnen. Herr Semmering wollte sich nach der Zeit erkundigen und fragte den anderen, der, offenbar in der Absicht, das Café zu verlassen, an seinem Tisch vorbeiging, ob er wüßte, wie spät es sei. Er bekam keine Antwort. Als er seine Frage wiederholte, blieb der andere stehen, lächelte, aber er tat es mit Nachsicht, so, als würde er gern behilflich sein, wenn Herr Semmering sich nur verständlich machen könnte.
›Was träume ich da‹, dachte Herr Semmering, als er aufrecht im Bett saß. Er sah auf die Uhr. Es war drei Viertel sechs, und statt nun beruhigt zu sein, wehrte er sich dagegen, nochmals einzuschlafen. Er überlegte, ob ihm das Café, von dem er geträumt hatte, bekannt war und ob er zwischen den engen Tischen und auf den harten Holzstühlen irgendwann einmal gesessen hatte.
Am Nachmittag ging er den Kurfürstendamm entlang, überprüfte die Schaufenster und Fassaden, und vor dem Café an der Hardenbergstraße blieb er stehen. Er sah die rosa Decken auf den Tischen und daß die Stühle gepolstert waren. ›Unmöglich‹, dachte er, ›hier bin ich nie gewesen‹, trat dennoch ein. Die Kellnerin kam auf ihn zu, und er fand, daß er den Platz, den sie ihm anbot, unmöglich hätte ablehnen können. Er bestellte eine Tasse Kakao und sah sich um. Das Café war halb leer, worüber Herr Semmering sich wunderte. Er fühlte sich nicht wohl, hatte, seit er sich erinnern konnte, nur selten in solchen Räumlichkeiten gesessen. Alles war hell, beinahe lichtüberflutet, der Blick auf den Bürgersteig und die Straße war unverstellt, so großflächig war die Fensterfront, vor der er saß.
›Wie auf dem Präsentierteller‹, dachte Herr Semmering, der sich beeilte, den Rest Kakao auszutrinken. Aber nun sah er schon, während er die Tasse absetzte, mit der linken Hand griff er nach dem Kleingeld in der Jackentasche, um zu zahlen, nun sah er, wie dort draußen, direkt neben dem Zeitungskiosk, der dicht umlagert war, ein Mann hin und her schlich. Er stieg über Zeitungspacken und abgestellte Plastiksäcke hinweg, verschwand hinter dem Kiosk, um gebückt wieder hervorzukommen, und dies ständige Bücken und Herumsuchen auf der Erde, als müsse er die Stellen, die er eben erst überprüft hatte, nochmals mit den Händen abtasten, dies geschäftige Auf und Ab und immer im selben Viereck herum, dies alles kam Herrn Semmering irgendwie bekannt vor.
›Sieh mal einer an‹, dachte er, ›er sucht nicht nur im Wald nach irgendwelchen Dingen‹, aber was den Fremden, den er wiederzuerkennen glaubte, dort draußen zwischen den Passanten wirklich umtrieb, er konnte es nicht sagen. Er sah, daß der andere verdreckte Schnürstiefel trug, ein Lodenmantel reichte ihm bis über die Waden, und das kurzgeschnittene Haar wirkte frisch gewaschen. Wie alt er war? Schwer zu sagen. Herr Semmering versuchte, dem Fremden ins Gesicht zu sehen, was nicht gelang, weil er, wenn er sich aufrichtete oder sich der Fensterfront zuwandte, den Kopf immer nur gesenkt hielt. Und irgendwann war er verschwunden. Sicher hatte er, vom Kiosk verdeckt, die Straßenseite gewechselt, oder er war nach rechts zur Uhlandstraße weitergegangen. Unwillkürlich beugte sich Herr Semmering mit dem Oberkörper in ebendiese Richtung, glaubte für Augenblicke, noch einmal den Lodenmantel zu sehen, und plötzlich hatte er den Wunsch, jenem dort nachzugehen.
›Was für ein Unsinn‹, dachte er, zahlte den Kakao und setzte sich, er hatte schon den Hut vom Haken genommen, an den Tisch zurück.
In der Woche nach Pfingsten hatte Herr Semmering einen schlechten Tag. Es begann damit, daß er es versäumt hatte zu frühstücken. Der Kessel mit dem Teewasser stand auf dem Herd, aber er hatte die Gasflamme nicht angezündet, aß auch nicht von dem Brot, das, in Scheiben geschnitten, auf dem Holzbrett lag. Statt dessen saß er im Wohnzimmer und hatte wieder den Schuhkarton mit den Passepartouts vor sich. Einiges sortierte er aus. Es waren Ansichten von Landschaften mit riesigen Pappeln im Hintergrund, davor ein Backsteingebäude, dessen Portal mit Sandsteinsäulen geschmückt war. Auf der Treppe knieten Kinder, und da war, Herr Semmering fuhr mit dem Finger immer wieder darüber hin, ein Porträt, zu einem Oval ausgeschnitten, das einen Uniformierten zeigte. Es war ein Mann um die Fünfzig, mit gutmütigem, bäurischem Gesicht. Herr Semmering erhob sich, griff hinter einen Stapel Bücher, und nun hatte er die Berliner Ansicht aus der Druckerei in der Fasanenstraße in der Hand, legte sie Rand an Rand zu den übrigen Fotografien.
Eine Weile betrachtete er, was wie zu einer Patience angeordnet war, dann nahm er seinen Mantel, überprüfte, ob er den Beleg und genügend Geld bei sich hatte. Minuten später sah man, wie er in einer Drogerie einen Umschlag entgegennahm, den er behutsam in die Manteltasche steckte. Er ging in seine Wohnung zurück, und wieder saß er neben dem Schuhkarton vor den ausgebreiteten Passepartouts, die er um ein Foto erweitert hatte. Es war ein merkwürdiger Anblick. Da waren die vergilbten, zum Teil unscharfen Bilder, deren Ansehnlichkeit durch die Pappumrandung gesteigert wurde, und da war jenes Viereck, das die junge Frau Förster zeigte, wie sie allzu aufrecht auf dem Sofa saß, neben sich die Kinder, und wie ebendieses Foto, obwohl auf Glanzpapier und in leuchtenden Farben gehalten, im Vergleich mit den anderen eher bescheiden wirkte. Herr Semmering rückte es hierhin und dorthin, achtete darauf, daß alles Rand an Rand zueinanderlag, und doch blieb da, nachdem er das Viereck aus der Mitte zurück in die rechte Ecke geschoben hatte, so etwas wie ein Riß. Es wollte sich nicht fügen.
›Warum auch‹, dachte Herr Semmering. ›Es paßt eben nicht zueinander‹, und er ließ alles, so wie er es zuletzt geordnet hatte, liegen.
Gegen Mittag, er hatte den Umschlag und einen Schirm in der Hand, war er versucht, bei den Försters zu klingeln, unterließ es aber, warf statt dessen den Umschlag durch den Briefschlitz, ging rasch, sicher, weil er vermeiden wollte, daß jemand die Tür öffnete, weiter, und auf der Straße stieg er in den Bus, der zum Tegeler Weg fuhr. Er setzte sich nicht, obwohl genügend Platz war, sah angestrengt in die Gegend, und je länger dies dauerte, desto heftiger schien er mit sich zu kämpfen, ob er aussteigen sollte. In der Nähe des Charlottenburger Schlosses verließ er die Plattform, um sofort wieder aufzuspringen, und als er über die Brücke fuhr, als er die Spree sah, wurde er ruhiger. Der Anblick war ihm nur allzubekannt, hatte doch das Fenster seines Arbeitszimmers nach Westen gelegen, so daß er täglich, wenn er an seinem Schreibtisch beschäftigt gewesen war, den Park mit dem Teehäuschen und das Gewässer mit den Schleppkähnen vor Augen gehabt hatte.
Im Landgericht wurde er angesprochen. Man überredete ihn, mit in die Kantine zu kommen, und dort mußte er, kaum daß er sich gesetzt hatte, Fragen beantworten: Wie es ihm ginge, ob er immer noch allein wäre und ob er, was er doch seit Jahren vorgehabt hätte, in Ostindien gewesen sei. Aber das Interesse des anderen war ihm zu überfallartig, und dessen Gerede war ohne Punkt und Komma, und die Königsberger Klopse, die man servierte, lagen ihm, nachdem er davon gegessen hatte, sofort schwer im Magen. Trotzdem: Als er wieder in der Halle war, als er die schweren Steintreppen hinaufging, als er die einem Kloster nachempfundenen Säulen betrachtete, beschloß er, einen Blick in sein ehemaliges Arbeitszimmer zu werfen.
›Wie gut‹, dachte er, ›kenne ich diese langgestreckten Gänge‹, und jetzt erst fiel ihm auf, daß alles, bis zur Decke, frisch gekalkt war.
Er öffnete die Tür, sah die riesigen Aktenschränke und die beiden Tische, die man gegeneinandergeschoben hatte, und im Hintergrund ragte das schmale Fenster auf, dessen rechter Flügel geöffnet war. Da es zog, glitt ihm die Klinke aus der Hand. Die Tür schlug zu, für Augenblicke war er unentschlossen, wußte nicht, ob sein Besuch, kaum begonnen, damit beendet war, und auf der Heimfahrt bemerkte er, daß er seinen Schirm liegengelassen hatte.
›Zwecklos‹, dachte er, ›sicher hat ihn jemand mitgenommen.‹
Das Völlegefühl im Magen war verschwunden, auch wunderte er sich, wie leicht ihm das Treppensteigen in den vierten Stock gelang, und nachdem er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, er ging, während er seinen Mantel aufknöpfte, ein paar Schritte in das Berliner Zimmer hinein, überkam ihn ein Gefühl von Angst. Es war ein Kreisen in seinem Kopf, und die Dinge um ihn her waren irgendwie in der Schwebe, als könnten sie ihm, wenn er eine falsche Bewegung machen würde, entgleiten. Gleichzeitig aber, indem er diesen Verlust erwartete, wußte er, daß es keineswegs so war und daß alles, was er sah und was ihm seit jeher vertraut war, zuverlässig halten würde.
Es klingelte, und als er Schritte hörte, die sich zaghaft entfernten, trat er ins Treppenhaus hinaus. Es war Frau Förster, die sich für die Fotos bedanken wollte. Sie öffnete das Portemonnaie, das sie in der Hand hielt, offenbar wollte sie ihm die Auslagen zurückerstatten, aber es kam nicht dazu. Wortlos ging Herr Semmering in die Wohnung zurück, und sie, unsicher über sein Schweigen, folgte ihm mit einigen Schritten Abstand, und als er sie ansah, er stand wieder in der Mitte des Zimmers, bemerkte sie seine Blässe.
»Was haben Sie«, fragte Frau Förster.
»Nichts, nichts«, antwortete Herr Semmering. »Vielleicht war es ein Fehler, in den Tegeler Weg zu fahren.«
Er hatte vergessen, die Fotos auf dem Tisch wegzuräumen, und nun war es zu spät. Frau Förster hatte entdeckt, daß er das gleiche Foto, das sie jetzt bezahlen wollte, unter die Passepartouts eingereiht hatte.
›Hoffentlich denkt sie nicht, es hätte etwas zu bedeuten‹, diese Sorge war ihm plötzlich wichtig, auch wollte er verhindern, daß sie näher an den Tisch herantrat. »Es ist nicht der Rede wert«, sagte er, schob die Passepartouts, so wie sie dalagen, rasch ineinander, warf sie, er hatte noch einmal nachgefaßt, als Packen in den Schuhkarton zurück.
Minuten später lag ein Zehnmarkschein auf der Kommode, die zwischen dem Spiegel und der Garderobe aufgestellt war, und Herr Semmering, der sich abgewandt hatte, um den Schuhkarton in das Regal zurückzustellen, bemerkte, wie Frau Förster die Wohnung verließ. Für Augenblicke schien sie zu zögern, vielleicht, weil sie sich nochmals zeigen und verabschieden wollte, dann hörte Herr Semmering die Tür klappen. Er war wieder allein.
Als es dunkel wurde, stand er auf dem Balkon, sah in Richtung Fehrbelliner Platz, sah, wie sich der Verkehr an der oberen Kreuzung vor der Ampel staute und daß der Damm, den er überblickte, wie eine Anhöhe wirkte. Dies war ihm nie aufgefallen. Er beugte sich über das Geländer, musterte die Fassade, und es kam ihm vor, als würde weiter unten nach rechts zu und zwei Etagen tiefer, ebendort, wo er die Wohnung der Frau Förster vermutete, als würde dort unten etwas in Bewegung sein. Das Fenster war geschlossen, auch hatte man die Gardinen zugezogen, und dennoch konnte Herr Semmering erkennen, daß zwei Schatten gegeneinander gestikulierten.
›Der da‹, dachte Herr Semmering und tippte sich unwillkürlich, wie um die Druckstellen eines Plastikhelms anzudeuten, mit dem Finger gegen die Stirn, ›der da‹, dachte er, ›schlägt doch nicht etwa seine Frau!‹
Er war empört, aber während er überlegte, ob es sinnvoll wäre, ein paar energische, unmißverständliche Worte in Richtung gegen die zweite Etage hin auszurufen, war alles wieder vorbei. Man hatte das Licht gelöscht, das Fenster wurde einen Spaltbreit aufgestoßen, und nun wirkte auch dieser Teil der Fassade, wie alles übrige, normal und unbeweglich.
›Ich werde auf sie achten müssen‹, dachte Herr Semmering, und als er im Bett lag, als er die Zigarette, die halb aufgeraucht war, im Aschenbecher ausdrückte, dachte er noch einmal an die Fotos, die er endgültig im Schuhkarton hatte verschwinden lassen, und besonders beschäftigte ihn die Altberliner Ansicht, die er in der Fasanenstraße gekauft hatte und auf der jener unbekannte Junge mit dem Strohhut zu sehen war, die rechte Hand erhoben, als würde er jemanden grüßen. Die Knie wirkten in ihrer Beugung wie künstlich angehalten, aber deswegen nicht starr, sondern als müßten sie, wenn man nur Geduld hatte und genauer hinsah, wieder in Bewegung geraten.
›Es ist eine Täuschung‹, dachte Herr Semmering. ›Und wäre jener da‹, dachte er, ›nicht durch einen Zufall mit auf die Platte gebannt worden, er wäre verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.‹
Mit schlechtem Gewissen gestand er sich ein, daß er versucht gewesen war, das Bild als alten Plunder in den Mülleimer zu werfen, und obwohl ihn dieser Gedanke beunruhigte, schlief er auf der Stelle ein.
Bevor der Sommer zu Ende war, buchte Herr Semmering doch noch eine Reise. Er nahm Strapazen auf sich, der Flug dauerte länger als vierzehn Stunden, und als er endlich am Ziel war, bereute er den Entschluß. Unaufhörlich flimmerten vor seinen Augen Menschenmassen, die sich durch enge Straßen schoben, an niedrig hängenden Leuchtreklamen vorbei, ein ununterbrochenes Pfeifen und Rauschen lag in der Luft und ein Gestank von Benzin, Schweiß, süßlichen Gewürzen, dazu eine unendlich laue, nach Tang schmeckende Brise vom offenen Meer her. Unvorstellbar, daß Herr Semmering bei dem Verkehr eine Kreuzung hätte überqueren können, und wenn er sich in einer Kutsche herumfahren ließ, kam er sich überflüssig, ja inmitten des Gewimmels beinahe minderwertig vor. Er hatte Sehnsucht nach den Pappeln und Akazien seiner Wilmersdorfer Gegend, und daß er das Hotel in den letzten Tagen vor seiner Rückreise nicht mehr verließ, war ihm nur selbstverständlich.
Er saß an der Bar, trank Whisky, dann wieder Mineralwasser, ließ sich in belanglose Gespräche verwickeln, rauchte übermäßig, und es gab Augenblicke, die ihn irritierten. Ein älterer, fast glatzköpfiger Hilfskellner stand ihm im Rücken, um jedesmal, wenn Herr Semmering seinen Zigarettenstummel ausgedrückt hatte, nach dem Aschenbecher zu fassen, dessen Inhalt er mit einer raschen Bewegung in der hohlen Hand verschwinden ließ. Dies tat er nur bei ihm, obwohl auch andere rauchten, und wie er die Zigarettenreste letztendlich wieder loswurde, dies konnte Herr Semmering nicht erkennen.
Am nächsten Morgen, als er das Gepäck zum Bus schleppen wollte, warf er noch einmal einen Blick in die Bar. Er fürchtete, daß jener, der ihn gestern bedrängt hatte, erneut auftauchen könnte. Rasch ging er weiter, verfing sich, als er die Stufen zum Trottoir erreicht hatte, in einer losen Kofferschnalle. Er verlor die Balance, stürzte aber nicht, und auf der Fahrt zum Flughafen bemerkte er, daß der Knöchel über dem linken Fuß leicht angeschwollen war.
Als Herr Semmering in Tegel landete, war es dunkel. Er nahm sich ein Taxi, und kurz darauf stand er mit dem Gepäck im Hauseingang, überlegte, wie er am besten über die vier Treppen hinweg zu seiner Wohnung gelangen könnte. Er begann mit der Reisetasche, die er mehrmals absetzte, dann, er war froh, daß ihm niemand begegnete, schleppte er den schweren Koffer bis in den zweiten Stock, vermied es, was leichter gewesen wäre, ihn über die Stufen zu ziehen, er wollte jedes unnötige Geräusch vermeiden, und als er die Beleuchtung, die ausgegangen war, wieder einschaltete, sah er, daß vor der Tür der Frau Förster das Messingschild fehlte.
In seiner Wohnung roch es nach Bohnerwachs. Die Haushälterin hatte überall Staub gewischt, ordentlich gestapelt lag die Wäsche auf dem Küchentisch, der Kühlschrank war mit frischen Vorräten aufgefüllt. Herr Semmering ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen.
Daß er am nächsten Tag zweimal an der Tür der Frau Förster vorbeiging, ohne zu bemerken, daß sie nur angelehnt war, dies wurde ihm später erst bewußt. Ein Möbelwagen parkte vor dem Haus, der irgendwann wieder verschwunden war, und neben dem Rinnstein hatte man einen zerbrochenen Kinderstuhl zurückgelassen.
›Ein Kinderstuhl‹, dachte Herr Semmering, trat näher heran, nahm das leichte Gebilde in beide Hände, dabei sah er unwillkürlich zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf, kniff die Augen zusammen. Fehlten da nicht die Gardinen?
Herr Semmering ging ins Treppenhaus zurück, zählte beinahe die Stufen, die er hinter sich ließ. Mit gestrecktem Zeigefinger und sehr behutsam, als gelte es, einen Verdacht zu widerlegen, schob er die Tür neben dem abgeschraubten Messingschild einen Spaltbreit in den Korridor hinein. Die Wohnung war leer, alle Türen sperrangelweit geöffnet, überallhin glänzte der Parkettboden und auf den Tapeten helle Schatten, die nochmals, ja unwiderruflich darauf hinwiesen, daß hier niemand mehr anzutreffen war.
›Wie ist das möglich‹, dachte Herr Semmering, ging in die leere Wohnung, betrachtete die bunten Abziehbilder am Küchenfenster. In der Mitte der Küche sah er auf dem Linoleum Druckstellen, die der Tisch hinterlassen hatte, er fuhr mit der Schuhsohle darüber hin.
Als er im Korridor stand und in die Zimmerflucht sah, fühlte er sich elend inmitten der Kahlheit, auch war der Schmerz über dem linken Fuß im Knöchel wieder da. Herr Semmering hörte ein Geräusch, es war, als würde etwas Hartes über den Boden geschleift, dann war da ein kurzes Aufheulen, und tatsächlich: Der Rottweiler, der die Kinder der Frau Förster schon einmal erschreckt hatte, stürmte vom Treppenhaus her in die leeren Zimmer hinein, strich schnüffelnd an den Heizungen entlang, und plötzlich war er mit der Schnauze an Herrn Semmerings Knie. Herr Semmering hielt sich unbeweglich, und erst als das Tier den geschwollenen Knöchel berührte, jetzt erst faßte er den Rottweiler mit der rechten Hand hinter den Ohren und drückte ihn sanft nach unten. Eine Weile standen sie so, Herr Semmering leicht gebückt, das Tier mit der Schnauze an seinem Knöchel, dann schüttelte sich der Rottweiler, riß sich los, wobei das Ende der Leine, die sich verdreht hatte, gegen den Parkettboden peitschte.
Herr Semmering hatte keinen Pfiff gehört, und dennoch war das Tier, so unerwartet, wie es gekommen war, wieder verschwunden. Wem es gehörte und warum es nun schon das zweite Mal in diesem Haus auftauchte, wußte Herr Semmering nicht zu sagen. Er kannte niemanden in der näheren Umgebung, der einen Rottweiler an der Leine führte.
›Schade‹, dachte Herr Semmering, glaubte noch den Druck der feuchtwarmen Hundeschnauze zu spüren und daß ihm dies angenehm gewesen war.
Wochen später war in die leerstehende Wohnung jemand eingezogen, aber Herr Semmering vermied es, näher hinzusehen, wollte auch nicht wissen, wer die neue Nachbarschaft war, und wenn er im zweiten Stock an dem Namensschild vorbeiging, drehte er den Kopf zur Seite. Er hatte sehr wohl bemerkt, daß dort, statt des Messingschilds, ein helles, viereckiges Stück Emaille mit einem Namenszug angebracht war. Es wirkte auf ihn wie eine Kränkung, von der er hoffte, daß sie sich verlieren würde. Außerdem hatte er Mühe mit dem Knöchel. Die Schwellung war leicht gerötet, an den Rändern nach oben und unten ins Bläuliche übergehend, aber der Schmerz, den er spürte, blieb diffus, und wenn die Haushälterin, die ihm Umschläge aus essigsaurer Tonerde machte, mit dem Finger auf den Knöchel drückte, kam es ihm vor, als wäre da nichts, worauf man hätte achten müssen.
»Sie müssen zum Arzt«, sagte die Haushälterin schließlich. »Ich kann nur zweimal in der Woche kommen. Und Sie sehen ja selbst, was es mit Ihrem Fuß für eine Bewandtnis hat.«
Dies sagte sie, und Herr Semmering fühlte sich merkwürdig berührt.
›Bewandtnis, was für ein zwiespältiges Wort‹, dachte Herr Semmering, und am gleichen Tag noch fand er in seinem Postkasten einen Brief vor. Es war eine Nachricht des Seniorenheims Wernicke e.V.
»Sehr geehrter Herr Semmering«, schrieb ihm der Direktor, »da wir die Verhältnisse unseres Hauses auf Jahre hinaus genau planen und auch Sie, wenn es soweit ist, zufriedenstellen möchten, bitten wir um Ihren Besuch. Es wären noch einige Fragen zu klären …«
›Sehr korrekt‹, dachte Herr Semmering, ließ diese Fürsorge gern gelten, und so ging er, nachdem er telefonisch einen Termin vereinbart hatte und obwohl der Fuß schmerzte, die wenigen Kilometer von der Uhlandstraße bis nach Friedenau. Ihm gefiel der Anblick der Rabatten, als er den Volkspark durchquerte. Sie waren frisch gepflanzt, es roch nach Erde, die man gründlich gewässert hatte. Auf der Detmolder Straße war starker Verkehr, aber Herr Semmering wußte, daß hinter der S-Bahn, dort, wo die Gegend mit Linden, Kastanien und Ulmen bepflanzt war, alles wieder ruhig sein würde, bis hin zur Handjerystraße, die, obwohl an der Bundesallee gelegen, wie eine Idylle wirkte.
Als er den Zaun mit den schmiedeeisernen Stäben erreicht hatte, hörte er ein Martinshorn, das rasch näher kam. Mit quietschenden Reifen durchfuhr ein Rettungswagen die Roennebergstraße, wendete und raste auf den Eingang der Villa Wernicke zu. Herr Semmering blieb stehen, sah, wie die hintere Tür des Wagens aufgerissen wurde, zwei Männer zogen eine Bahre hervor, mit der sie im Laufschritt verschwanden. Herr Semmering wartete, irgendwie schien es ihm taktlos, jetzt, da der Wagen mit offenen Türen und rotierendem Blaulicht in äußerster Bereitschaft dastand, näher zu treten. Aber wie lange er auch wartete, es geschah nichts, und als er endlich in der Nähe des Wagens auftauchte, sah er, daß mehrere Personen, darunter die Männer im weißen Kittel, über die Bahre gebeugt waren, die im Hauseingang stand. Sie hantierten mit irgendwelchen Geräten, es geschah in merkwürdiger Ruhe, dann, wortlos und wie auf ein Kommando, hob man die Bahre an und trug jemanden, der eine Sauerstoffmaske vor dem Gesicht hatte, zum Rettungswagen. Herr Semmering hörte die Türen klappen, und als der Wagen abfuhr, geschah es ohne Eile und ohne daß man das Martinshorn benutzte.
»Ist etwas passiert?« fragte Herr Semmering, indem er durch das Tor die Auffahrt betreten wollte.
»Nichts, nichts«, antwortete ein überaus verbindlich wirkender Mann, es war der Direktor. »Nichts, nichts«, sagte er. »Wer hier aufgenommen wird … Es ist immer dasselbe.« Und als hätte er bemerkt, wie ungeschickt seine Antwort war, gab er einem anderen, offenbar einem Pfleger, den Wink, das Tor zu schließen, was augenblicklich geschah.
Man hörte ein Surren von links her. Wie eine Wand auf Rädern und unendlich langsam setzte sich das Tor in Bewegung. Herr Semmering hätte noch über die Stahlschiene treten und das Mißverständnis, schließlich hatte man ihn hergebeten, aufklären können, aber während er dies wünschte, stand er wie festgenagelt und mit hängenden Armen da und versuchte sich zu erinnern, ob er jenem, den man auf der Bahre fortgetragen hatte, schon einmal begegnet war. ›Damals‹, dachte er, ›vor einem halben Jahr, als ich ihnen beim Tanzen zugesehen habe.‹
Ganz gegenwärtig war ihm der Akkordeonspieler, der auf der Tanzfläche neben einem Hocker gestanden hatte. Auch war es in dem Raum, in dem man sich versammelt hatte, unerträglich hell gewesen. Aber er konnte sich an keines der Gesichter erinnern, wußte nur, daß man einander zugelächelt hatte, und jener auf der Bahre, der durch die Sauerstoffmaske entstellt war …
›Er wird wohl dabeigewesen sein‹, dachte Herr Semmering, zog den Brief aus der Jackentasche, überflog nochmals den Inhalt, und plötzlich kam ihm, was er zum zweiten, ja zum dritten Mal las, wie eine offen gemeinte Drohung vor:
»Sehr geehrter Herr Semmering, da wir die Verhältnisse unseres Hauses auf Jahre hinaus genau planen und auch Sie, wenn es soweit ist, zufriedenstellen möchten …«
›Wenn es soweit ist‹, dachte Herr Semmering, und er ertappte sich dabei, wie er den Brief in der hohlen Hand zu zerknüllen begann, so lange, bis er sich zu einer Kugel verformt hatte, und erst nachdem er auf diese Weise unkenntlich geworden war, warf er ihn seitwärts in die Büsche.
»Ich kann nichts erkennen«, sagte der Arzt, nachdem er den Fuß abgetastet hatte. »Zunächst«, fügte er hinzu, »werden wir die Sache röntgen.«
Und nun wurde Herr Semmering durch die Gänge des Krankenhauses hin und her geschoben. Er fühlte sich behandelt wie ein Schwerkranker, mußte sich gefallen lassen, daß man ihm in der Röntgenkabine die Hosenbeine hochkrempelte. Man nahm ihm Blut ab, mit der Bemerkung, es wäre besser, nicht hinzusehen, und zuletzt rollte man einen Wiegestuhl heran, forderte ihn auf, sich umzusetzen, wobei man ihm kräftig unter die Arme griff. Herr Semmering wollte protestieren, aber für den Nachmittag schon wurde ihm ein Bett zugewiesen.
»Ab zweiundzwanzig Uhr nichts essen, nichts trinken«, sagte die Schwester, schob ihm eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen hin, und damit war klar, daß die Untersuchungen am nächsten Tag fortgesetzt werden sollten.
Als die Sonne ins Zimmer schien, Herr Semmering hatte kaum geschlafen, wurde ihm das Thermometer hingehalten. Er tat, was man von ihm verlangte, und wieder begann eine Wanderung durch die langgestreckten Gänge, der Pfleger, der den Rollstuhl schob, pfiff gelangweilt vor sich hin. Ein endloses Warten vor dieser und jener verschlossenen Tür.
»Kein Grund zur Sorge. Sie können gut noch zehn Jahre leben«, sagte der Arzt am nächsten Tag, während er in der Mappe blätterte. »Und wenn Sie aufhören zu rauchen«, fügte er hinzu, »dürften auch die Treppen kein Problem mehr für Sie sein.« Er versicherte, daß die Schwellung bald abklingen würde, verschrieb irgendein Mittel, ordnete an, daß Herr Semmering noch zwei Tage, bis er sich selbständig würde bewegen können, auf der Krankenstation blieb, dann bestellte man ein Taxi, und Herr Semmering fuhr in seine Wohnung zurück. Und tatsächlich: Übers Wochenende schon hatte er keine Schmerzen mehr, danach verfärbte sich der Knöchel noch einmal kräftig in ein schmutziges Gelb, aber die Schwellung war verschwunden. Und was hatte ihm der Arzt gesagt? »Kein Grund zur Sorge. Sie können gut noch zehn Jahre leben.«
Herr Semmering spürte, wie vor Monaten schon, einen leichten Schwindel in seinem Kopf, ihm war, als wären die Dinge um ihn her irgendwie in der Schwebe, eine Einbildung, die ihm beim ersten Mal nicht unangenehm gewesen war, jetzt aber wollte er sie loswerden.
›Da ist nichts‹, dachte er, ›was ich zu fürchten hätte.‹
Am gleichen Tag sah man, wie Herr Semmering vor dem Café an der Hardenbergstraße auf und ab ging. Er beobachtete den Zeitungskiosk, und irgendwann beschloß er, die Drehtür zu benutzen, folgte dem Kellner, der ihm einen Tisch in unmittelbarer Nähe der Fensterfront zuwies, und so saß er in Hut und Mantel unentschlossen da, nippte an der Tasse Kakao, die er sich bestellt hatte. Er sah sich um, musterte die Gäste. Am Nebentisch saß eine Gruppe junger Leute. Herr Semmering hörte ihrer lebhaften Unterhaltung zu, ohne wirklich interessiert zu sein. Und saß da nicht jemand, der ein weißes Hemd trug, dazu eine graue Krawatte, die sorgfältig und in einer Art, die er nicht kannte, geknotet war, darüber eine bunte Weste, deren Knopfreihe übermäßig lang erschien?
›Was man heute nicht alles trägt‹, dachte Herr Semmering, und ihm fiel ein, daß er etwas Ähnliches geträumt hatte. Und war jener im Traum nicht plötzlich aufgestanden, und hatte er, Herr Semmering, ihn nicht nach der Zeit gefragt?
›Er hat mir nicht geantwortet‹, dachte Herr Semmering.
Einige Stunden später, er hatte sich entschlossen, mit dem Bus bis zur Havelchaussee zu fahren, ging Herr Semmering waldeinwärts und erreichte die Gegend, die ihm vertraut war.
›Hier bin ich lange nicht gewesen‹, dachte er und betrachtete jenen meterhohen, nach oben hin zu einer Spitze auslaufenden Findling, in den man eine Eisenplatte eingelassen hatte. Die Inschrift war unleserlich gemacht und mit grüner Farbe übermalt worden. Auf der Rückseite des Steins las man in einer feinen, weißen Schrift, wie mit Kreide hingemalt: »Indisches Grabmal«.
›Das ist neu‹, dachte Herr Semmering, fuhr mit dem Finger über die Eisenplatte, und als er weiterging, sah er, daß er in unmittelbarer Nähe des Jagen 90 war, jenes drei, vier Hektar großen Rechtecks, in dem man eine kleine Parzelle abgetrennt und umzäunt hatte.
»Schonung. Bitte nicht betreten. Berliner Forsten«, stand auf einem Schild, und während Herr Semmering überlegte, ob die struppige Wildnis, die hinter der Absperrung aufragte, die Bezeichnung Schonung überhaupt verdiente, bemerkte er, daß ihm jemand im Rücken war.
›Der mit dem Lodenmantel‹, schoß es Herrn Semmering durch den Kopf. Aber das Gestrüpp aus wilden Kirschen und umgehackten und in langen Ruten nachgewachsenen Akazien war so dicht, daß Herr Semmering nahe herantreten mußte, und jetzt erst, er hatte den Zaun mit den Fingern berührt, sah er, daß er sich getäuscht hatte. Es war ein anderer. Er sah ein hageres, langgestrecktes Gesicht und zwei buschige Augenbrauen, die, so schien es Herrn Semmering jedenfalls, höhnisch nach oben gezogen waren. Der Fremde war groß, überragte ihn mindestens um einen Kopf, und er fror, hielt beide Hände in den Hosentaschen, zitterte leicht unter der dünnen Lederjacke, deren Ärmel zu kurz waren.
›Und hätte er einen Plastikhelm auf‹, dachte Herr Semmering, ›er würde mich an jemanden erinnern.‹ Unwillkürlich sah er ihm auf die Stirn, als müßten da Druckstellen zu erkennen sein.
»Ist irgend etwas?« fragte der andere, und zwar dermaßen anzüglich, daß Herr Semmering einen Schritt zurückwich.
Und nun geschah etwas Unerwartetes. Vielleicht, weil Herr Semmering sich jenseits des Zauns sicher fühlte oder weil er dem anderen, der fror, freundlich begegnen wollte … Er zog seine Brieftasche hervor, ein kurzes Überprüfen des Inhalts, dann hatte Herr Semmering einen Fünfzigmarkschein in der Hand, den er dem anderen durch die Maschen des Zauns wortlos entgegenstreckte.
Bis in die Weihnachtstage hinein gelang es Herrn Semmering, sich zu zerstreuen. Er ging ins Theater, und als er durch Zufall eine Freikarte für den ›Lohengrin‹ bekam, mußte er staunen, was ihm da alles, und über vier Stunden hinweg, geboten wurde. Es waren, wie er in der Zeitung gelesen hatte, berühmte und teuer bezahlte Sänger, und daß eine Schwarze in einer Wagner-Oper minutenlang an der Rampe stand und als Fürstin von Brabant gelten durfte, dies fand er kühn, aber es gefiel ihm. Am Silvesterabend sah er Verdis ›Maskenball‹, ließ sich von der ausgelassenen Stimmung im Parkett zu einigen Bravos animieren, überlegte, ob es möglich sein würde, ein gutes Restaurant zu finden. Alles war überfüllt, und so gab er es auf, winkte ein Taxi herbei, und als er den Hausflur betrat, hörte er, wie man sich Glückwünsche für das neue Jahr zurief. Im ersten Stock waren die Türen zu den Wohnungen sperrangelweit geöffnet.
»Trinken Sie ein Glas Sekt mit uns!« Irgend jemand faßte Herrn Semmering am Ärmel, zog ihn in einen der Korridore, und nun hatte er, während draußen die Knallerei begann, ein Glas in der Hand, sah sich Gesichtern gegenüber, die er nur flüchtig kannte. Man prostete einander zu, es wurde nachgeschenkt, und Herr Semmering spürte, als er zuletzt die Treppen hinaufging, durchaus so etwas wie ein Hochgefühl, sang leise vor sich hin, als er den Schlüssel ins Schloß steckte.
»Um wieviel ruhiger es hier oben ist«, murmelte er, legte Mantel, Hut, Schal in der Garderobe ab, und während er ein paar Schritte in das Berliner Zimmer hineinging, um das Licht einzuschalten, fiel ihm der Fremde aus dem Jagen 90 wieder ein.
›Was sie dort wohl suchen‹, dachte Herr Semmering. Denn auch jener mit dem Lodenmantel hatte sich in derselben Parzelle zu schaffen gemacht, in der Parzelle, die hoffnungslos verwildert und doch mit der Bezeichnung ›Schonung‹ versehen war. Sicher, er hatte beobachtet, daß Waldarbeiter weggeworfenes Papier, leere Büchsen, Plastikabfall zu kleinen Haufen aufschichteten, die dann irgendwann weggekarrt wurden.
›Aber in solchen Haufen‹, dachte Herr Semmering, ›läßt sich nichts Brauchbares finden.‹
Unter diesen Gedanken trat er vor den Kleiderschrank, öffnete beide Türen und fuhr mit der rechten Hand über die Hemden, Anzüge und Jacken, die auf Bügeln ordentlich nebeneinandergereiht waren. Er zögerte, griff aber doch nach einem dunklen Wollmantel, den er, wobei er ihn kritisch abschätzte, hin und her zu wenden begann. Er griff in die Taschen, holte etwas Kleingeld hervor, dann, nachdem er sich nochmals vergewissert hatte, daß kein Knopf fehlte und auch sonst alles in Ordnung war, verstaute er den Mantel in einer Plastiktüte.
Es dämmerte schon, als Herr Semmering den Teltower Weg erreichte, aber als er auf das freie Feld hinaustrat, konnte man bis zum Birkenwäldchen alles genau überblicken, und Herr Semmering ging, als hätte er eine Verabredung und als gelte es, eine Verspätung aufzuholen, geradewegs auf das umzäunte Viereck zu. Er wußte, wie unsinnig es war, so kurz vor dem Dunkelwerden und in dieser Einöde jemanden zu vermuten, dem er zufällig begegnet war.
›Notfalls lege ich den Mantel ins Gebüsch‹, dachte Herr Semmering, und während er sich dem Zaun näherte, während er mit gesenktem Blick den Boden nach einer Vertiefung absuchte, an der man die Plastiktüte hätte durchschieben können, während er schon bereit war, sich zu bücken und die Maschen des Zauns anzuheben, spürte er, daß wieder jemand in seiner Nähe war.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte Herr Semmering kaum hörbar, und es kam ihm vor, als gäbe es aus dem Innern des Vierecks, aus dem mehrfachen Gestrüpp heraus, ein Flüstern.
›Dort werden sie kampieren‹, dachte er, vielleicht auch der mit dem Lodenmantels und er wollte noch etwas sagen. Er wollte jenen, die sich nicht zeigten, ein paar freundliche Worte zurufen. Statt dessen nahm er den Mantel aus der Plastiktüte, warf ihn, wobei er zwei Schritte zurücktrat, in hohem Bogen über den Zaun, sah, wie er sich, als hätte er durch den Schwung Wind gefangen, ausbreitete, aber wo er liegenblieb, dies konnte Herr Semmering nicht erkennen.
Am nächsten Tag begann er seine Wohnung aufzuräumen, warf diese und jene Kleinigkeit, die er aus irgendwelchen Gründen aufgehoben hatte, es waren Aktenordner, alte Illustrierte, aber auch Erinnerungsstücke aus Glas, Holz, Messing, er warf, was sich auf den Stellagen oder Fensterbrettern angesammelt hatte, in den Mülleimer. Einiges sortierte er aus, und die Haushälterin staunte, als er ihr ein paar Nippesfiguren, dazu vier wertvolle Tassen aus Nymphenburger Porzellan anbot. Sie bedankte sich, konnte sich nicht erklären, warum er die Brücke auf dem Teppich entfernt hatte. Tagelang lag sie zusammengerollt in der Ecke, schließlich war sie verschwunden, und auch die Bücher in dem Regal wurden auffallend weniger.
›Ja, will er ausziehen‹, dachte sie, machte sich Sorgen, daß Herr Semmering öfter als sonst, wie sie meinte, auf den vier Treppen unterwegs war, und er war außer Atem, wenn er das Zimmer betrat.
»Sehen Sie«, sagte er und klopfte sich mit der Faust gegen das Brustbein, »sehen Sie«, sagte er, »jede Woche geht es ein wenig schlechter.«
Er setzte sich, um sich zu erholen, und er wirkte merkwürdig zufrieden, sah der Haushälterin, die immer noch regelmäßig kam, beim Staubwischen zu, und eines Tages zeigte sich Herr Semmering gereizt. Er bemerkte, wie die Haushälterin den Schuhkarton aus dem halbleeren Regal nahm, es war eine Bewegung, als müsse sie etwas Überfälliges wegräumen, und da der Deckel, der notdürftig mit Tesafilm befestigt war, nachgab, schien es Herrn Semmering, als müsse der Inhalt jeden Augenblick herausrutschen.
»Was machen Sie da! Alles bleibt, wie es ist!« rief er, dann, die Haushälterin hatte den Karton so rasch, wie sie danach gegriffen hatte, ins Regal zurückgestellt, trat wieder Ruhe ein, und Herr Semmering murmelte ein paar Worte der Entschuldigung.
Irgendwann ging Herr Semmering erneut zum Kleiderschrank, war versucht, eine der Jacken oder eine Hose auszusortieren.
›Erst einmal will ich sehen, wie sie mit dem Mantel zurechtkommen‹, dachte er.
Sicher, man hätte die Knöpfe versetzen müssen, auch war das Futter unter den Achseln zu eng geschnitten, aber wenn man den Kragen steil hochschlug und den Saum an den Ärmeln lostrennte und nach unten zu ausließ … ›Könnte es gehen. Und der Wollstoff wärmt‹, dachte Herr Semmering, als er jenem, der überaus hager und immer noch unrasiert wirkte, wieder gegenüberstand. Er hatte den Mantel über die Lederjacke gezwängt, man sprach kein Wort, und doch war es beinahe wie ein Wiedersehen und als hätte man aufeinander gewartet.
›Vielleicht hofft er, daß ich ihm nochmals Geld zustecke‹, dachte Herr Semmering, der schon zur Brusttasche griff, aber obwohl der andere mit Blicken die Bewegung seiner Hand verfolgte, diesmal ließ er es sein.
Der Fremde wandte sich ab. Ein, zwei Schritte, als würde er darauf warten, daß man ihn ansprach, dann verschwand er in dem Gestrüpp, das hinter seinem Rücken zusammenschlug.
›Soll ich ihm folgen‹, dachte Herr Semmering, der wußte, wie leichtsinnig dieser Gedanke war. ›Er könnte mich niederschlagen und ausrauben. Kein Mensch würde es in dieser Stille bemerken‹, dachte Herr Semmering, und doch ging er einige Schritte um das Viereck herum, um eine Lücke zu entdecken, durch die man auf die andere Seite des Zauns hätte gelangen können.
›Irgendwo‹, dachte er, ›muß es so etwas geben‹, und tatsächlich: Der Zaun war an mehreren Stellen verrottet, zwei Pfähle hatten sich aus dem Boden gelöst, so daß der Maschendraht flach auf der Erde lag. ›Von hier aus‹, dachte Herr Semmering, ›müßte jener, der auf mich gewartet hat, und, wer weiß, vielleicht auch der mit dem Lodenmantel, hinter die Büsche gelangt sein.‹
Es dauerte eine Weile, ehe er bereit war, den Schritt über den Maschendraht hinweg zu wagen. Er wollte nicht hängenbleiben, und so sprang er beinahe, indem er sich an einer Akazie festhielt, über die niedergerissene Grenze, und nach zehn, zwanzig Schritten stand er dem Fremden wieder gegenüber, und er sah, wie richtig seine Vermutung gewesen war.