Der Abgrund des Endlichen - Hartmut Lange - E-Book

Der Abgrund des Endlichen E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

Ein verjährter Mord und seine Sühne. Ein Historiker im Sog der Vergangenheit. Der abgründige Eros eines Studienrats. Drei Novellen, die eines gemeinsam haben: Sie beschreiben die Suche nach Glück über dem Abgrund des Endlichen.

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Hartmut Lange

Der Abgrund des Endlichen

Drei Novellen

Diogenes

Ich bedanke mich für die Mitarbeit meiner Frau

Mathilde oder Der Lichtwechsel

1

An der Ecke zwischen der Nassauischen und der Gasteiner Straße gibt es eine Autowerkstatt. Hässliche, keine drei Meter hohe Hallen umgrenzen ein großes, zubetoniertes Viereck, auf dem Autos hin und her rangiert werden. Tagsüber sind die Metalltüren geöffnet, man hört den Lärm der aufheulenden Motoren, und hin und wieder überquert einer der Monteure den Hof, um zu einem flachen Steingebäude zu gelangen, in dem das Büro untergebracht ist. In Richtung Nassauische Straße ist das Gelände frei und lediglich von einem Drahtzaun umgeben, in der Gasteiner Straße passiert man eine abweisende Fassade mit niedrig gehaltenen Fenstern, durch die man ins Innere der Werkstatt sehen kann, und wenn man die Straßenseite wechselt, bemerkt man, dass das Dach der Werkstatt von einem Giebel überragt wird. Darunter zwei zugeklebte Fenster, deren Stürze Verzierungen aufweisen, und zwischen den Fenstern auf einem Sockel, der ins Mauerwerk eingelassen ist, ein Frauenkopf. Kein Zweifel, dort stand, bevor man die schmalen Wände der Autowerkstatt errichtet hatte, eine Remise aus der Zeit der Belle Époque.

Der Frauenkopf ist schmal, die rötlichen Haare, die bis über den Nacken reichen, liegen eng angeschmiegt, das Gesicht mit den feinen, ebenmäßigen Zügen ist hell, beinahe weiß, ebenso der freie Hals, und der Giebel, der durch geschnitzte Balken gehalten wird, ist viel zu hoch, als dass er die Figur schützen könnte. Die Sonne dringt hier nur selten durch, so dass der Giebel mit der Figur immerfort im Schatten liegt, und nur Mitte Juni fallen durch das Laub der Bäume, die in der Gasteiner Straße aufragen, einige helle Flecken auf das Gesicht. Dies geschieht am Mittag. Aber Stunden später schon, am Nachmittag, wird der Horizont jenseits der Stadt irgendwie diesig, es ist die Dämmerung, die sich wie eine Brücke von Norden nach Westen hin ausbreitet, und zuletzt verwischen nur noch die Straßenlaternen die Konturen der hereinbrechenden Nacht, so dass der Giebel mit dem Frauenkopf kaum mehr zu erkennen ist. Und gab es überhaupt jemanden, der von den Resten dieser längst vergessenen Kutscherwohnung Notiz nahm, wo alle Zugänge vermauert waren und wo auch die Dachpappe über dem Giebel seit Jahrzehnten nicht mehr ausgebessert worden war?

Ja, doch. Es war Johannes Feldmann, der, wenn er an der Autowerkstatt vorbeikam, zu dem Giebel und dem Frauenkopf hinaufsah. Dies geschah flüchtig, und es war ja auch so, dass Feldmann während der Mittagspause kaum Zeit hatte, sich von dem Gymnasium, an dem er als Studienrat tätig war, zu entfernen. Zügig umschritt er ein Rechteck über zwei, drei Straßen hinweg, betrat eine kleine Bäckerei, um sich ein Brötchen zu holen. Die letzten Bissen waren kaum hinuntergeschluckt, dann war er schon auf der Höhe der Werkstatt, wo die Möglichkeit bestand, zu der Frauenfigur hinaufzusehen. Zugegeben, die Gelegenheit war kurz, und wenn man die wenigen Schritte, um von der Nassauischen in die Gasteiner Straße einzubiegen, hinter sich hatte, war die Sicht wieder verstellt.

Feldmann war einen Meter fünfundsiebzig groß, er hatte breite Schultern, die buschigen Augenbrauen gaben ihm etwas Einschüchterndes. Wenn er sprach, konnte er seinen badischen Dialekt nicht verbergen, und vor Ostern, meist in der Karwoche, fuhr er regelmäßig zu seinen Eltern nach Karlsruhe. Dann empfing ihn, oft war es spät, die Mutter mit einem gedeckten Tisch, und nun saßen die drei, obwohl der Vater es gewohnt war, früh ins Bett zu gehen, bis über Mitternacht hinaus beisammen und tranken Rotwein. Worüber redeten sie? Es war immer dasselbe. Die Mutter wollte wissen, ob es etwas Neues gäbe, Feldmann erzählte diese und jene Belanglosigkeit, der Vater erklärte, dass er nun endgültig beschlossen habe, sich pensionieren zu lassen, und zuletzt sprach man wieder darüber, wie unmöglich es sei, dass Feldmann zu seiner geschiedenen Frau keinerlei Kontakt mehr hätte.

»Du musst verstehen«, sagte der Vater, als er am nächsten Vormittag mit dem Sohn im Schlossgarten spazieren ging, »du musst verstehen«, sagte er, »dass es für Mutter immer noch unbegreiflich ist, dass es gewisse Neigungen gibt, die zu derartigen Konsequenzen führen. Und es war doch offensichtlich so«, fügte er hinzu, »dass du dir selber darüber nicht im Klaren warst.«

»Das ist richtig«, sagte Feldmann.

»Und bist du nun glücklicher?«

»Nein«, sagte Feldmann und in einem Ton, der es dem Vater nicht erlaubte, weiter darüber zu reden.

Auf der Rückfahrt nach Berlin versuchte Feldmann sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, und er konnte nicht sagen, ob er wirklich erleichtert war, als ihm, kaum dass er seinen BMW geparkt hatte, ein junger Mann entgegenkam, der auf ihn gewartet hatte. Eine flüchtige Umarmung, dann fuhr Feldmann mit ebendiesem jungen Mann in die fünfte Etage hinauf. Er griff zum Schlüsselbund, man hörte, wie das Sicherheitsschloss zurücksprang, und nun stand die Tür, nachdem die beiden über die Schwelle getreten waren, sperrangelweit offen.

2

Ja, die sperrangelweit offene Tür. Sie war ein Problem. Feldmann musste darauf achten, dass keiner der Nachbarn in seine Wohnung sah. Sie war unaufgeräumt, schlimmer noch: Feldmann hatte die Angewohnheit, leere Schachteln samt Packpapier, sogar die übervollen Müllsäcke nicht auf der Stelle zu entsorgen, so dass sie sich hier und dort, vor allem im Korridor stapelten, und im Wohnzimmer sah man überall abgelegte Kleidungsstücke, wie Hemden, Jacken, Schuhe, die mit wenigen Handgriffen, hätte sich Feldmann dazu entschlossen, in den Schränken zu verstauen gewesen wären. Stattdessen saß er lieber, mit einem Glas Wein in der Hand, in einem großen Sessel und hörte sich in der knapp bemessenen Freizeit, die ihm blieb, Opernarien an. Manchmal zu laut, so dass jeder, der im Treppenhaus vorbeikam, Feldmanns Vorliebe für Puccini entdecken konnte, und nur wenn der Freund, mit dem er augenblicklich liiert war, wenn jener, der ihn nach seiner Rückkehr aus Karlsruhe vor der Haustür empfangen hatte, energisch auf den Klingelknopf drückte, trat augenblicklich Ruhe ein. Man hörte ein Räuspern, ein unterdrücktes Husten, das näher kam. Der Freund trat ein, die Tür wurde geschlossen.

Dies geschah zwei- oder dreimal in der Woche, und es kam regelmäßig vor, dass sich die beiden stritten und dass der Jüngere versuchte, sich zu rechtfertigen, und wenn dies nicht gelang, war Feldmann wieder allein. Dann brannte im Wohnzimmer noch lange das Licht, und Feldmann saß grübelnd in seinem Sessel.

Vielleicht dachte er über die Vorwürfe nach, die ihm die Mutter in Karlsruhe gemacht hatte und dass der Vater ihn, obwohl er sich dies verbat, immer wieder fragte, ob er nun, da er seinen Neigungen nachgegeben hätte, glücklicher sei, und er fand es unfair, dass seine geschiedene Frau nie versucht hatte, ein zweites Mal zu heiraten. Er stellte sich vor, was er tun würde, gesetzt den Fall, sie würden sich wieder begegnen und er müsste, wie er es gewohnt war, ihren vorwurfsvollen Blick ertragen.

›Denn immerhin‹, dachte Feldmann, ›wir waren, und dies über Jahre hinweg, im Einverständnis, und niemand, ich selbst eingeschlossen, hätte damals, als wir die Wohnung in Stuttgart bezogen, ahnen können, dass sich daran etwas ändern würde. Und was war es schließlich‹, dachte er. ›Dass ich irgendwann keine Lust mehr hatte, sie zu berühren, und dass sie darüber kein Wort verlor. Das ging eine Weile‹, dachte er, ›aber dann, als sie bemerkte, dass ich sehr wohl, während ihre Betroffenheit wuchs, bei allerbester Laune war und ständig mit jemandem hierhin und dorthin, zuletzt sogar in den Sommerferien unterwegs war, zuletzt stellte sie mir einige Fragen‹, und Feldmann erinnerte sich, wie ungläubig sie ihn angesehen hatte, als er ihr gestand, dass es vielleicht besser sei, nicht zu antworten.

›Und dann war da wieder dieses Schweigen, ja dieses Schweigen, da es ihr offenbar, wie der Mutter, unmöglich war, die Gründe zu verstehen, deretwegen wir eine Ehe für beendet erklären mussten, die keineswegs, dies wenigstens stand außer Frage, gescheitert war‹, dachte Feldmann.

Und um seine Stimmung zu bessern und weil es ihm unmöglich schien, weiter allein in der vollgestellten Enge des Wohnzimmers zu sitzen, suchte er eine nahe gelegene Bar auf, mischte sich ins Gedränge an der Theke, sah dem arroganten Gehabe des Barkeepers zu, der, als Feldmann ihn ansprach, mit einer anzüglichen Bemerkung antwortete.

›Das kommt mir bekannt vor. So etwas habe ich vor kurzem erst verabschiedet‹, dachte Feldmann, konnte aber den Blick von dem anderen nicht lassen.

Er sah die affektierten Bewegungen der Hände und dass er wie ein Tänzer wirkte. Wieder sprach er ihn an, und wieder bekam er die passende Antwort.

›Es ist immer dasselbe‹, dachte Feldmann und hatte den Wunsch, alles, was ihn zu diesen flüchtigen, unüberlegten Bekanntschaften trieb, einmal ganz und gar hinter sich zu lassen.

Als er in die Wohnung zurückkehrte, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer nicht ab. Er wusste, wer da versuchte, ihn anzurufen, und dass jener, den er, vielleicht weil er um einiges jünger war, herablassend behandelte, dass jener, den er eigentlich schon verabschiedet hatte, immer wieder versuchte, bei ihm zu übernachten, dies fand er degoutant. Andererseits:

›Es gab Zeiten, da hätte ich ohne ihn nicht leben können‹, dachte Feldmann und begann mit hastigen Bewegungen das Kissen, das Plumeau, den Schlafanzug seines Freundes wegzuräumen. Er öffnete das Fenster, als wäre es nötig, frische Luft hereinzulassen, dann ging er ins Bad und warf alles, was ihm nicht gehörte, die zweite Zahnbürste, den Rasierapparat, die Hautcreme, in einen Wäschekorb, der hinter der Badewanne stand, und in der Küche, nachdem er die beiden Gedecke ineinandergeschoben und ins Spülbecken gestellt hatte, ja jetzt erst bemerkte Feldmann, wie albern er sich benahm.

Er hörte Schritte im Treppenhaus, und ihm fiel ein, dass der andere, dessen Hartnäckigkeit erstaunlich war, den Hausschlüssel besaß, so dass es für ihn ein Leichtes gewesen war, bis hierher, ›jetzt ist er in der zweiten Etage‹, dachte Feldmann, vorzudringen. Aber er hatte den Schlüssel zur Wohnung nicht, und nun wartete Feldmann auf den Augenblick, wo jemand versuchen würde, sich an der Tür bemerkbar zu machen. Er fand noch Zeit, die Sicherung der elektrischen Klingelanlage auszuschalten, hörte den Freund, der die fünf Treppen rasch hinter sich gebracht hatte, schwer atmen, und irgendwann, ›gleich klopft er gegen die Tür‹, dachte Feldmann, wurde es vollkommen still.

Dies dauerte zwei, drei Minuten, so dass Feldmann unsicher wurde, ob da überhaupt jemand war oder ob er sich geirrt hatte, dann aber, es geschah langsam und überaus vorsichtig, dann öffnete sich die Klappe am Briefschlitz. Man sah ein Lederetui, hörte, wie ein Schlüsselbund auf den Parkettboden fiel.

›Nun ist auch das vorbei‹, dachte Feldmann und wartete darauf, dass jener, den zu empfangen er sich weigerte, so rasch, wie er gekommen war, im Treppenhaus wieder verschwand.

3

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