An der Prorer Wiek und anderswo - Hartmut Lange - E-Book

An der Prorer Wiek und anderswo E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

Der mondäne Badeort Binz auf der Insel Rügen ist berühmt. Und eine eindrückliche Bühne für unerwartete Begegnungen und Lebenskrisen. Schauplatz Rom, eine weitere Kulisse für große Lebensfragen. Wie gefeit ist die »Ewige Stadt« wirklich gegen die Vergänglichkeit? Zehn abgründige, melancholisch schöne Novellen über das, was einmal war und noch immer lebendig ist, über ein berühmtes Bild aus der Alten Nationalgalerie, über philosophischen Trost. Und vor allem darüber: Was hat Bestand?

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Seitenzahl: 71

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Hartmut Lange

An der Prorer Wiek und anderswo

Novellen

Diogenes

{5}Ich danke Ulrike für ihre Mitarbeit

{9}An der Prorer Wiek

{11}Das Seebad Binz an der Prorer Wiek ist überaus berühmt. Es ist eine Ansammlung renovierter Villen hinter einer von Bäumen umstandenen Promenade. Überall vollbesetzte Strandkörbe, von der Seebrücke her, von der Anlegestelle der Fährschiffe, hört man ununterbrochen Musik. Hier wird einiges geboten, hier herrscht bis weit über Mitternacht hinaus der unbedingte Wille, sich zu amüsieren. Aber das war es nicht, was Henning Biesterfeld interessierte. Er saß, ein Glas Eiskaffee in der Hand, in der Empfangshalle des Kurhauses, die ihn an die Zeit der Belle Époque erinnerte, und plötzlich geschah etwas, das er sich nicht erklären konnte. Er sah eine Frau, die mit unruhigen Blicken, und als würde sie etwas suchen, durch die Flügeltür trat, und als Henning Biesterfeld sich erhob, als er auf dem Sofa, auf das die Person zusteuerte, Platz machen wollte, sah er sie bereits auf der gegenüberliegenden Seite der Empfangshalle.

›Wie ist das möglich‹, dachte er und kam von {12}dem Eindruck nicht los, sie wäre durch ihn hindurchgegangen.

Für Augenblicke stand er ratlos da, sah zu, wie die Frau die Empfangshalle verließ und, dies glaubte Biesterfeld zu erkennen, auf der Promenade in Richtung Granitz unterwegs war. Er wollte ihr folgen, ließ es aber sein, und als er wieder auf dem Sofa saß, zog er seinen Skizzenblock hervor, begann zu zeichnen. Er tat es sicher und schnell, und die Korrekturen, die er anbrachte, wiesen darauf hin, dass hier ein Könner am Werk war, und so war es kein Wunder, dass er zuletzt die Skizze eines Porträts in seinen Händen hielt.

Henning Biesterfeld war ein bekannter Maler, der auf riesigen Leinwänden Farbflächen gegeneinander setzte. Ob dies auf die Dauer überzeugend sein würde, konnte niemand sagen. Aber er hatte Erfolg, und am nächsten Tag tat er, was er sich vorgenommen hatte, das heißt, er ging unter den hohen Kiefern hinweg in Richtung Granitz. Nach einem halben Kilometer erreichte er den Fischerstrand, und nachdem er die Villa Agnes passiert hatte, sah er ein Haus, dessen Dach offenbar undicht geworden war. Man kennt diese vernachlässigten, seit langem leerstehenden Immobilien, die, da sich niemand darum zu kümmern scheint, allmählich Spuren des Verfalls aufweisen. Ringsherum {13}und besonders in Richtung der Seebrücke hatte man alles auf exklusive Weise erneuert. Binz war ein Ort, der besondere Renditen versprach. Umso erstaunlicher, dass man dieses Beispiel norddeutscher Bäderarchitektur, dieses Fachwerkhaus aus der Jahrhundertwende mit vorgebauten Veranden, Bogenfenstern und einem Dreiecksgiebel, dass man dieses Zeugnis bürgerlichen Wohlstands offenbar unbeachtet gelassen hatte. »Betreten verboten«, war da zu lesen.

Henning Biesterfeld überlegte, ob er das verrostete Gartentor, das einen Spaltbreit offen stand, passieren sollte, und für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass jene, die er suchte, in solch einem Haus, ›Ja, warum nicht?‹, dachte Biesterfeld, anwesend sein könnte.

›Immerhin war sie, und das kann ich bezeugen, als sie den Strand erreicht hatte, in dieser Richtung unterwegs‹, dachte er, zwängte sich durch das Tor und begann, da er nichts weiter als Papier und Bleistift bei sich hatte, alles was ihn interessierte, zu zeichnen.

Zunächst sah er, wie kunstvoll und fragil man das Dachgeschoss über dem Dreiecksgiebel gestaltet hatte und dass man mit dem nötigen Mauerwerk sparsam umgegangen war. Am Holz der Veranden blätterte die Farbe ab. Auch bemerkte Biesterfeld {14}direkt neben dem Giebel so etwas wie eine Lücke, und je länger er hinsah, je genauer er dies zu Papier brachte, desto deutlicher wurde, dass da etwas weggebrochen war.

›Ein Stützbalken hat sich gelöst‹, dachte er und spürte, wie unangenehm ihm diese Entdeckung war.

Denn dies wusste auch Henning Biesterfeld, dass ein undichtes Dach die Balken in ununterbrochener Nässe mürbe machen und dem Einsturz überantworten würde.

›Und von Stockwerk zu Stockwerk bis ins Parterre hinab‹, dachte er und ging zum Eingang, den man ebenfalls, wie das verrostete Gartentor, offen gelassen hatte.

Die Tür, die Biesterfeld an der Klinke berührte, war lediglich angelehnt, und als er sie öffnete, hörte er am Knarren der Scharniere, dass hier äußerste Vorsicht geboten war. Er trat ins Innere, sah sich um, bemerkte, als er die Treppe hinaufstieg, dass die Fensterläden verriegelt waren. Aber es gab noch genügend Licht, um das, was er überblicken konnte, mit wenigen Strichen festzuhalten, und nach einer halben Stunde, nachdem auch die letzte Seite des Blocks aufgebraucht war, ging er in den Garten zurück. Er war zufrieden, hatte, wie er fand, genügend Material.

{15}›Und wer weiß‹, dachte er, ›vielleicht wäre dies der Anlass, eine neue Ausstellung vorzubereiten.‹

In den folgenden Tagen konnte man nicht sagen, ob er das Zimmer seiner Pension verließ. Man sah weder, dass er ein Restaurant aufsuchte, noch, dass er auf den Straßen zur Promenade unterwegs war. Stattdessen war da hinter den Gardinen seines Fensters ein ruheloser Schatten. Biesterfeld schien zu arbeiten, und als er mit dem Koffer an der Rezeption stand, um sich zu verabschieden, hatte er eine Mappe unterm Arm. Er fuhr nach Berlin zurück, und irgendwann zog er sein Handy hervor, um Winfried Schröder, so hieß der Galerist, mit dem er befreundet war, anzurufen.

»Ich habe etwas Neues in Arbeit, etwas, worüber du staunen wirst«, sagte Henning Biesterfeld, und am selben Abend noch, nachdem man sich in der Wohnung des Galeristen getroffen hatte, erklärte er, was er meinte.

Er nahm die Mappe zur Hand, die er öffnete, und nun konnte er dem Freund seine neuesten Arbeiten präsentieren, auf denen mit beeindruckender Raffinesse die Schönheit einer baufälligen Villa dargestellt war, und er plädierte dafür, den Packen Zeichnungen, es waren immerhin dreißig Stück, in einem separaten Raum auszustellen.

Der Galerist hörte ruhig zu, erhob sich, begann {16}in der Mappe zu blättern, legte einiges auf den Tisch, um es näher zu betrachten.

»Und wer ist die Frau hier?«, fragte er und tippte mit dem Zeigefinger auf eines der Blätter, dessen Ränder schraffiert waren.

Da war ein Gesicht, die Augen waren nur angedeutet. Eine Haarsträhne reichte bis zur Schulter, die zur Hälfte von einem Tuch verdeckt war. Aber das Ganze blieb, auch wenn man näher hinsah, überaus vage, und nun war Henning Biesterfeld gezwungen zu erklären, dass im Kurhaus eine Frau aufgetaucht war, von der er den Eindruck gehabt hätte, sie wäre durch ihn hindurchgegangen, und dass er versuchen wolle, dies, sowie sich die Gelegenheit bot, zu malen.

Als Biesterfeld die Blätter wieder einsammelte und in die Mappe zurückschob, als er begann, seine Ausführungen zu wiederholen, sagte der Galerist:

»Die Leute wollen deine Farbflächen sehen und nicht eine Frau, die dich, und auch noch im Kurhaus an der Prorer Wiek, offenbar in Verwirrung gestürzt hat. Vergiss es«, sagte er. »Oder glaubst du ernsthaft, dass das irgendjemanden interessiert?«

Henning Biesterfeld galt als überaus nüchtern, und es war noch nie vorgekommen, dass er sich auf etwas eingelassen hätte, das ihm unsinnig erschien. Er hatte sich stets auf die Meinung anderer, die er {17}schätzte, verlassen, und so tat er auch diesmal, was Winfried Schröder, sein Galerist, ihm geraten hatte. Er ging in sein Atelier, spannte eine Leinwand auf, aber anstatt die Farbtöpfe, die herumstanden, zu öffnen und den Pinsel in die Hand zu nehmen, rückte er einen Hocker zurecht und setzte sich ans Fenster.

Was draußen zu sehen war, kannte er zur Genüge. Da waren kahle Wände, und auch der Hof war, wie alles ringsherum, von einem trostlosen Grau, und was hätte näher gelegen, als über diese Trostlosigkeit, so wie er es gewohnt war, mit leuchtenden Farben hinwegzumalen.

›Ja, hinwegzumalen‹, dachte Biesterfeld, und plötzlich kam er von dem Eindruck nicht los, dass das, was er bisher getan und was ihm den Ruf eines bekannten Malers eingebracht hatte, nichts anderes als eine Masche war.

›Es hat nichts mit mir zu tun‹, dachte er, erhob sich, nahm die Zeichnungen zur Hand, veränderte hier und dort Details, und er bedauerte, dass er jenen, der ihn als Maler schätzte, mit seinen neuen Arbeiten provoziert hatte.

›Aber wie kann man‹, dachte Henning Biesterfeld und meinte das Porträt der Frau, das er aussortiert hatte, ›wie kann man‹, dachte er, ›wenn man so etwas vor Augen hat, abschätzig lächeln.‹

 

{18}Dies geschah Ende August. Anfang September fuhr Biesterfeld wieder nach Binz.

›Merkwürdig‹, dachte er, als er den Fischerstrand erreicht hatte und durch das verrostete Tor trat. ›Merkwürdig‹, dachte er, ›dass mir dieses Haus derart vertraut geworden ist. Noch erinnert alles an den Jugendstil, aber wenn man nicht wenigstens das Dach ausbessert … In wenigen Jahren wird hier nichts mehr zu sehen sein.‹