Vom Werden der Vernunft - Hartmut Lange - E-Book

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Hartmut Lange

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Beschreibung

Hartmut Langes Dramen aus den Jahren 1960 bis 1976 dokumentieren einen doppelten Abschied: Ausgehend vom Hegelschen Rationalismus und der Sozialutopie von Karl Marx enden sie in der Melancholie über das Verschwinden jeglicher Vernunft und beschwören die Erinnerung an jene Gesellschaft, deren erklärter Gegner Lange war: an den märkischen Adel und an das Spätbürgertum.
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Hartmut Lange

Vom Werden der Vernunft

und andere Stücke fürs Theater

Diogenes

Arbeiten im Steinbruch

Hegel hat eine Geschichte des gesellschaftlichen Bewußtseins behauptet, in der die griechische Antike die erste Stufe bildet, und zwar: Das durchschnittlich gesellschaftliche Bewußtsein ist mangels wissenschaftlicher Erkenntnisse durch und durch poetisiert, bildhaft, befindet sich «noch auf dem Stand der einfachen Wahrnehmung». Wir wissen, daß Homers «Ilias» den Antiken als wissenschaftliche Geschichte galt, ebenso die Werke des Tacitus, der munter Legende und Fakten durcheinandermischt, oder die Schriften des Polybios, der alle mediterranen Vorgänge seit Alexander und Hannibal harmonisch aufeinander abstimmt. Ähnlich verfährt die römische materialistische Philosophie. «De rerum natura» von Lukrez, in Hexametern geschrieben, behandelt die Bewegungen der Materie ganz so wie die Bewegungen der vorgestellten Götter. «Wie Zeus unter den tosenden Waffenkämpfen der Kureten aufwuchs, so hier die Welt unter dem klingenden Kampfspiel der Atome» (Marx). Nun behauptet Hegel weiter, daß dieser Zustand naiven Wissens, das sich in anmutige und poetische Formen fassen kann, leider vergänglich ist. Das gesellschaftliche Bewußtsein schreitet fort, es verliert seine Unschuld, und es verliert in dem Maße poetische Begrifflichkeit, wie es sich dafür das wirkliche positive Wissen über die Welt aneignen kann. Hegel definierte schon seine gegenwärtige preußische Welt als kunstunfähig, weil zu vernünftig, und nur der Renaissance, vor allem Shakespeare, gestand er noch die Fähigkeit zu, menschliche Geschichte spekulativ als Legende, mit Ausschmückungen persönlicher Art auf die Bühne zu bringen. Die Existenz Shakespeares datiert vor der bürgerlichen Aufklärung. Das Mittelalter hatte die antike Welt fast vergessen gemacht, bis auf ein paar Bruchstücke römischen Imperiums oder antiker Dichtung, die vom Mittelalter religiös umfunktioniert und dadurch aufgehoben wurde, zum Beispiel die «Aeneis» des Vergil. Neben der Bibel waren dies die einzigen Quellen historischen Bewußtseins. So glaubte die englische Nation immer noch, von Rom und dadurch von Aeneas und dadurch von Troja abzustammen. Die frühe englische Geschichte war in tiefes Dunkel gehüllt, die mittlere wurde überliefert durch Chroniken. Andrerseits kannte man aber auch Plautus und die römische Kunst der Intrige, und die Elisabethanische Zeit machte von dieser Bekanntschaft reichlichen Gebrauch. Shakespeare fand eine Welt vor, die, zumindest in England, der engen mittelalterlichen Ideologie entwachsen war. Man kannte noch nicht die Freiheit positiven Wissens, aber doch schon die Freiheit, die Welt wieder spekulativ aufzufassen. Die Aufklärung von More und Bacon trieb phantastische Blüten, die Landlords begannen ihre «Ursprüngliche Akkumulation». Grundlage aller Produktion blieb aber die feudale Naturalwirtschaft. Es versteht sich, daß Shakespeare, unterstellen wir einmal eine historische «Phänomenologie des Geistes», noch einmal in den Stand gesetzt war, englische Geschichte als «einfache Wahrnehmung», das heißt, die gesellschaftlichen Vorkommnisse seiner Zeit auf ihren poetischen Begriff zu bringen. Die Unbedenklichkeit, mit der er aus Holinsheds Chronicle Lebensläufe englischer Könige dramatisierte, entsprach eben der Unbedenklichkeit, mit der Geschichte überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Das Ergebnis: Shakespeare unterhielt in seinem Globe-Theater den englischen Hof, ebenso das Londoner Volk mit zehn Schauspielen, die das historische Bewußtsein seiner Zeit ausweisen.

Shakespeare war ein beneidenswerter Mann. Ihn erwischte der Cromwellsche Puritanismus erst nach seinem Tod, mich erwischt der Stalinsche Puritanismus vor meiner Geburt. Die hier vorliegenden Theaterstücke, geschrieben in den Jahren 1960 bis 1972, zeigen den Versuch, gegen ein herrschendes gesellschaftliches Bewußtsein anzuschreiben, das den Sinn für poetische Mitteilungen entweder noch nicht entwickelt oder schon wieder verloren hat. Stalins Verbot der «Permanenten Revolution», das anhält, betrachtet die Literatur als Privateigentum und behandelt Leute, die freien Gebrauch davon machen, nicht besser, als der Karstadt-Konzern Ladendiebe behandelt: Sie werden vor Gericht gestellt. Die spätkapitalistische Warenwirtschaft unterwirft jede gesellschaftliche Arbeit, also auch die der Literatur, der privaten Wertproduktion, so daß Peter Handke mit Recht behaupten kann: Aktuelle Literatur sollte Arm in Arm mit dem Wertgesetz spazieren, man sollte Sachen schreiben, so schnell und kurzlebig wie Wegwerfflaschen: Verkaufen, vergessen – und hopp! Wie in der Waren weit, so gilt auch in der Literatur der Marktwert, der Name des Produzenten, sein Produkt als Markenartikel. Unwichtig ist, ob die angebotene «Ware Literatur» Qualität, Nutzen, eben Gebrauchswert hat, wichtig ist: Der Literat muß sich mit seinem Produkt, koste es, was es wolle, auf dem Markt durchsetzen. Und hat er sich durchgesetzt, hat er einen Markennamen erobert, dann verkauft er fortan vermittels Papier und einigen Worten nur noch diesen Namen, sein Angebot reproduziert ausschließlich seine Stellung am Markt. Das Resultat ist wie in der sonstigen Warenwelt eine Verelendung der sinnlichen und begrifflichen Landschaft, vom Konsumenten aufwärts bis hin zum Produzenten, die sich vor allem in der Verelendung der Produkte zeigt: Die Technik verfällt, die Substanz der Mitteilung schrumpft, über das Vakuum wird gewitzelt, wie überhaupt der größte Teil der aktuellen Markenliteratur seine Substanzlosigkeit als Ironie drapiert. «In Ansehung des Inhalts», schreibt Hegel, «machen manche sich es wohl zuweilen leicht genug, eine große Ausdehnung zu haben. Sie ziehen auf ihren Boden eine Menge Material, nämlich das schon Bekannte und Geordnete, herein, und indem sie sich vornehmlich mit den Sonderbarkeiten und Kuriositäten zu tun machen, scheinen sie um so mehr das Übrige, womit das Wissen in seiner Art schon fertig war, zu besitzen.» Die ironische, die überlegene Attitüde allein stellt hier den Gebrauchswert. Wie die Warenwelt müssen Kunst und Literatur ihrer Hülle bei Strafe des Nichtverkaufs den Schein der Überlegenheit, des «Ungeahnt-Neuen» geben, und das Karussell dieser permanenten Verjüngung dreht sich schnell: Kein Stil hält länger als zwei, drei Jahre, oder er wird zum Ladenhüter. Das Wertgesetz verurteilt die Kunst zur Avantgarde, die Avantgarde verurteilt die Kunst zur modischen, gedächtnislosen Aktualität. Neuestes Indiz, in der die Ware als zynisches Abziehbild ihrer selbst erscheint, sind die graphischen Arbeiten von Andy Warhol. Seit den zwanziger Jahren, seit die Wertproduktion alle Bereiche des gesellschaftlichen Bewußtseins überwuchert, ist dem bürgerlichen Denken der Horizont stark eingeschrumpft, wenn nicht ganz und gar abhanden gekommen und damit die Fähigkeit, gegenwärtige Welt als geschichtliche Kontinuität zu begreifen. Wenn das Weimar Goethes sich noch der Erinnerung an die griechische Mythologie, die Französische Revolution sich noch der Erinnerung an die Römische Republik bediente, um ihre Gegenwart durchschaubar zu machen, so ist das spätbürgerliche Bewußtsein, zum Beispiel in der Ästhetik, ohne jedes Gedächtnis.

Theaterstücke enthalten die Biographie des Verfassers, oder sie gehen niemanden etwas an. Die hier vorliegenden Theaterstücke enthalten meine Erfahrungen mit der ersten sozialistischen Revolution auf deutschem Boden. Ich war Zeuge und Nutznießer 1. der Expropriation der Expropriateurs, 2. der Bodenreform und Kollektivierung der Landwirtschaft, 3. der Bildungsrevolution. Die gewaltsame Umwälzung der gesellschaftlichen Verkehrsformen in einem Teil Deutschlands hat mehr Stoff für Literatur aufgehäuft als die letzten 100 Jahre bürgerlicher Geschichte. Allerdings hat der stalinistische Oberbau die Beschreibung seiner Basis verhindert, so daß Dutzende von Talenten aus der Arbeiterklasse, durch die Bildungsrevolution befähigt und entschlossen, ihre Erfahrungen auf Gedanken und aufs Papier zu bringen, entweder zu Konzessionen oder zur Emigration in den anderen Teil Deutschlands gezwungen wurden. Fest steht: Die stalinistische Bildungsrevolution, die mit Nachdruck alle Nachteile meiner Klasse in Vorteile verwandelt hat, und die mich überhaupt erst in den Stand setzte, Theaterstücke zu schreiben, hat mich in den Jahren 1960 bis 1965 entschieden am Schreiben von Theaterstücken gehindert. Aber das beweist nur: Poesie ist ein Beruf, der höchst selten gebraucht wird (außer von Verlegern natürlich, die bekanntlich nur bedrucktes Papier verkaufen können). Es gibt Epochen, wie die der englischen Renaissance, in der Mäzenatentum und der Kompromiß zweier Klassen die Poesie gefördert haben, und es gibt Epochen, in denen die Produktion von Getreide, Gewehren, Stahl und die von Macht nötiger ist, wie 1789 in Frankreich und 1972 in Vietnam. Und dann kann die Poesie auch noch von der Reaktion verboten werden, und das alles ist – außerordentlich normal. Wer trotzdem Poesie machen will, darf sich nicht wundern. Brecht war zwölf Jahre «arbeitslos». Einige der Schwierigkeiten, in kunstfeindlichen Zeiten Kunst zu machen, hat er neu aufgeschrieben, allesamt sind sie seit über 2000 Jahren bekannt.

Zu jeder gesellschaftlichen Erfahrung ist die persönliche Bekanntschaft gescheiter Leute nötig, die jede Erfahrung zu einer kollektiven und damit privaten Gewißheit macht, diese Aufgabe übernahm bei mir vor allen anderen Kollegen der Stückeschreiber Peter Hacks. Hacks war damals theoretisch weit fortgeschritten und entwickelte den Wunsch nach einer Renaissance des elisabethanischen Dramas. Er hatte auch eine einleuchtende literaturhistorische Analogie zur Hand, die ich hier der Einfachheit halber zitieren möchte, weil sie auch mein ästhetisches Selbstverständnis dieser Jahre beschreibt.

Hacks: «Ich fürchte, ich bin ungemein stellvertretend für die Entwicklung der Dramatik in diesem Land. Alle guten Leute hier haben in einer Periode des episch-soziologischen Theaters gelernt, gesellschaftliche Vorgänge auf der Bühne darzustellen, und können jetzt darüber hinausgehen. Jetzt können sie große Geschichten von Leuten erzählen, ohne die Tatsache zu vernachlässigen, daß diese Leute in einer Gesellschaft angesiedelt sind. Sehen Sie, wir haben ziemlich genau die Entwicklung der frühbürgerlichen Dramatik rekapituliert. Wie diese bestanden wir darauf, die Gattung des Dramas, die eigentlich schon erfunden war, neu zu erfinden. Wie diese – ich rede von den vorlessingschen, Leuten wie Lillo, Pfeil, Brawe – begannen wir mit Stücken, die vollkommen damit zufrieden waren, daß sie die neue Klasse überhaupt auf die Bühne brachten; sie schilderten sie in ihrem läppischsten Tun und Treiben und mit der einzigen Aussage, daß diese neue Klasse die Tugend gepachtet habe. Die nächsthöhere Stufe war in der bürgerlichen Dramatik die des Sturm und Drang, wo die Klasse, selbstbewußter geworden, hinging und anfing, die überkommenen Formen, der Gesellschaft wie der Kunst, zu beleidigen. Die entsprechende Zeit bei uns waren die fünfziger Jahre, mit ‹Dorfstraße›, ‹Schlacht bei Lobositz›, ‹Lohndrücker›. Analogien beweisen nie alles; aber auf den Sturm und Drang folgte die Klassik, wo man die großen Produktionen der Vergangenheit nicht erledigte, indem man sie ignorierte, sondern indem man sie verbesserte. Ich vermute, daß auch wir dorthin kommen wollen. Es ist natürlich schwer, über den letzten Stand unserer Dramatik zu reden, solange die drei wichtigsten Stücke der DDR, Müllers ‹Umsiedlerin›, Langes ‹Marski› und mein ‹Tasso› der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind.»

Analogien beweisen wirklich nicht alles, zumal Hacks den Historischen Materialismus etwas zu optimistisch auslegt. Schon Lukács glaubte an die Wiedergeburt einer Literatur elisabethanischen Ausmaßes, wenn nur die neuen gesellschaftlichen Verkehrsformen die kapitalistische Entfremdung aufarbeiten, wenn Überflußproduktion und Planung den kommunistischen Menschen in den Stand setzen, wie zum Beispiel der liebenswürdige Ovid durch seine Sklaven in den Stand gesetzt war, den Tag über amourös, tiefsinnig und sorgenfrei zu dichten. Dieser Glaube beruft sich vor allem auf die Interpretation, die Lukács der Hegelschen «Ästhetik» gegeben hat. Aber Hegel hat keine «Idealische Ästhetik» geschrieben, die dem Kommunismus als Handbuch der «Akademie der schönen Künste» dienen könnte. Im Gegenteil: Hegel hat den Zerfall der Literatur als Krise der einfachen Wahrnehmung, die Zunahme an positivem Wissen als Fortschreiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung seit der Antike systematisiert, und wohlgemerkt: Seit der Aufklärung haben die deutschen Literaten begriffen, daß sie von Shakespeare lernen müssen, was Hegel fordert: Wie man möglichst viel Welt in ein poetisches Bild bringen kann, sie haben aber auch lernen müssen: Das fortschreitende gesellschaftliche Bewußtsein erlaubt immer weniger poetische Bilder, das heißt: Die Vernunft in der Geschichte nimmt zu, die Poesiefähigkeit der Geschichte nimmt ab. Die Krise der aktuellen Literatur ist nicht nur in den Auswirkungen der Wertproduktion oder in der Kulturpolitik der herrschenden stalinistischen Parteien zu suchen, die Krise der aktuellen Literatur datiert seit dem Sturm und Drang. Besser noch: Seit Goethes «Götz von Berlichingen» und Schillers «Die Räuber» wissen wir: Die Rekonstruktion großer Charaktere mit den Mitteln des elisabethanischen Theaters scheitert, seit das gesellschaftliche Bewußtsein sich die naive, poetisierte Unwissenheit der Griechen, der «natürlichen Kindheit der Menschheit» an den Schuhsohlen abgelaufen hat. Brecht stand vor dem gleichen Problem wie Goethe: Geschichte als Stoff für große Dramen war notfalls vorhanden, aber naiv war ihr nicht mehr beizukommen. Literatur fordert aber Naivität. Was tun?

Literatur fordert vor allem Realismus. Ändert sich das gesellschaftliche Bewußtsein, muß sich auch die Literatur ändern. Verbietet das positive Wissen Naivität, zeigt die Literatur Naivität als Aufhebung, von Naivität. Goethes lebenslängliches Laborieren am «Faust» zeigt den Zerfall der einfachen Wahrnehmung als Mittel der Literatur, aber mit den Mitteln der einfachen Wahrnehmung. Goethe wollte die überlieferten antiken und elisabethanischen Kunstmittel für eine veränderte, aufgeklärtere Welt erhalten, indem er sie – zerstörte. Er benutzte sie als Steinbruch, um aus den gewonnenen Teilen eine neue Welt zu errichten, wie das Mittelalter aus dem Colosseum der Römer seine Kirchen errichtet hat. Die Literatur wird begrifflicher, auch in ihrer Form. «Faust II. Teil» ist ein Musterbeispiel für den Einbruch an analytischer Methode in die Literatur. Aber Analyse ist immer gleichzeitig Synthese. Überlieferte Kunstmittel zertrümmert der spätkapitalistische Kulturbetrieb, mit dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit, am laufenden Band auch. Aber er zertrümmert nur um zu zertrümmern, er setzt keine neuen Segel. «Für den Dialektiker», schreibt Benjamin, «kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind bei ihm nur die Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.»

Fassen wir zusammen: Es gibt im Augenblick zwei den gesellschaftlichen Durchschnitt beherrschende Ansichten über aktuelle Kunstmittel: 1. Die stalinistischen Parteien fordern eine mechanische Restauration der bürgerlichen Literatur aus der Epoche ihrer höchsten Leistungen, also der englischen Renaissance, der deutschen Klassik, dem französischen und russischen Realismus des 19. Jahrhunderts. 2. der spätbürgerliche Kulturbetrieb fordert die Kunst als Avantgarde, als reklametechnische Dokumentation der galoppierenden Warenwirtschaft. Ihm gelten die Leistungen seiner Väter, also Shakespeare, Goethe, Balzac usw., einen feuchten Dreck, wie dem Automobilproduzenten der Schrottberg seiner Oldtimer, die er nicht verkaufen kann, einen feuchten Dreck gilt. Die stalinistischen Parteien, hier noch zu kurz gekommene Kinder des kapitalistischen Zeitalters, teilen diesen Überdruß nicht. Sie sind ausgehungert nach den Leistungen der sie ehemals beherrschenden Klasse, sie ergreifen davon Besitz. Die Bildungsrevolution siegte unter dem generalisierenden Schlachtruf: «Stürmt die Höhen der (bürgerlichen) Kultur!» Indessen: Die Früchte der bürgerlichen Kultur sind, wie man weiß, aktuell vergiftet. Das Spätbürgertum trägt seine Fäulnis in die Leistungen seiner Väter, und wer die «Höhen der (bürgerlichen) Kultur» stürmt, fällt auch in die «Abfallgruben der (spätbürgerlichen) Kultur». So sehen wir, wie im östlichen Teil Deutschlands zur Zeit bei Kaffee und Kuchen Schubert, Brahms, Beethoven, Mozart usw. der Bevölkerung gouvernantenhaft verabreicht werden, die Bildungsrevolution verkommt zum kulturellen Kaffeekränzchen des Biedermeier, die bürgerliche Kultur liegt überall als Häkeldecken über den neuen gesellschaftlichen Verkehrsformen. Wir sehen: Beides, Überdruß und Heißhunger gegenüber der Geschichte, erzeugen einen leeren, sterilen Historismus. «Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion», schreibt Benjamin, «deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von «Jetztzeit» erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die Französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genauso, wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische, als den Marx die Revolution begriffen hat.»

Die Antizipation solcher Sprünge im gesellschaftlichen Bewußtsein leistet die Kunst. Unter dem freien Himmel der Geschichte bewegt sich zum Beispiel der Mann, den ich den einzig lebenden kommunistischen Künstler unserer Zeit nennen möchte: Pablo Picasso. Er ist die Ausnahme, die die gesellschaftliche Regel bestätigt, aber indem er sich bewußt auf diese Regel einläßt. Picasso, der die Enge aller originalen Stile vom Impressionismus zum Expressionismus bis zu seiner klassizistischen Periode durchschritten hat, malt heute wie jemand malt, der alle Zeitgenossen, Monet, Braque, Chagall usw., auf seinem Pinsel hatte. Er überwindet, sie vereinnahmend, über sie hinwegmalend, sein eigenes Original. Er ist nicht mehr der unter Konkurrenz stehende Künstler, der seine Handschrift hüten und abgrenzen muß, um seine Individualität zu retten. Er ist die Kontinuität all dieser bürgerlichen Rettungsversuche und der Beweis ihrer Vergeblichkeit. Picasso hat nie versucht zu malen wie Picasso. Er betrachtet die ihn umgebenden Kunstleistungen als Steinbrüche, wie Shakespeare die Leistungen des vorelisabethanischen Theaters als Steinbruch für sein Theater betrachtet hat. Resultat: Picasso besiegt die Zwangsjacke der bürgerlichen Ästhetik, das Urheberrecht. Er ist frei, kein Künstler neben ihm erreicht auch nur annähernd seine riesige Individualität. Ihm stehen alle aktuellen und historischen Kunstmittel zur Verfügung. Picasso vereinnahmt nicht nur die Leistungen seiner Zeitgenossen, er vereinnahmt antike Vasen, Motive Cranachs, Genrebilder des Rokkoko, er vereinnahmt die Geschichte der bildenden Künste ganz so, wie die Griechen die sie umgebende Natur vereinnahmt haben: Mit der Unbedenklichkeit einer freien Ästhetik und mit unnachahmlicher Naivität.

Wenn Picasso den Garten seiner Villa bei Cannes mit seiner Kunst, einer zweiten, humanisierten Natur schmückt, finden wir darin einen Faun aus Papier, der die Grazie der Antike im unverkennbaren Stil des 20. Jahrhunderts zitiert. Nur so, aus Spaß, als freundliche Reminiszenz an ein für die Kunst besonders freundliches Zeitalter. Dies ist, wie ich meine, die neue, die wirklich kommunistische Kunst. Es ist Erinnerung als Überfluß, aussöhnendes Wissen der Vergangenheit, die man überwunden, hinter sich gelassen und also in Ruhe und Gelassenheit bei sich behalten kann. Diese Haltung ist in der heutigen Welt, die sozial auf Leben und Tod kämpft, völlig unmöglich, ich weiß, ich weiß. Sie ist naiv, richtig. Aber Picassos Naivität ist gleichzeitig die Aufhebung jeder Naivität.

Senftenberger Erzählungen oder Die Enteignung

Personen

DIE MÖNCH

OSWALD

ARNOLD

REGINE

EDGAR

DER VATER

ADAM

ÄLTERER ARBEITER

LANGER ARBEITER

JUGENDLICHER

GROSSVATER

ENKEL

ARBEITER MIT HUT

DER JUNGE

SEPTEMBER

BRACK

STOCKFLEISCH

BRACKS AUFWARTEFRAU

HAGERE FRAU

ROBUSTE FRAU

SCHMÄCHTIGE FRAU

JÜNGERE FRAU

EDGARS MUTTER

POLIZIST

STOCKFLEISCHS GEHILFEN

POLIZISTEN

MÄNNER UND FRAUEN

1

a) Oswald, Regine, Edgar, der Vater vor einer Baracke. Regine langt aus einem Korb Brotschnitten. Eine davon steckt sie heimlich Edgar zu. Edgar gibt die Schnitte dem Vater.

EDGAR

Meine Damen und Herren, Sie wurden eben Zeugen eines bedauerlichen Vorfalls: Eine Tochter stiehlt ihrem Vater ein Stück Brot. Man kann es entschuldigen. Ich bin hungrig, und sie ist meine Braut. Aber ich bin nicht schäbig genug. Ich kann keinem alten Mann das Brot wegessen, den diese volkseigene Grube nicht ernährt. Sie bleibt abgesoffen, weil sie keine Pumpen hat, und ehe Pumpen herangeschafft sind, wird er verhungert sein. Denn was bekommt er für seine Arbeit? Versprechungen. Lebt er von Versprechungen? Nein. Er lebt von den Bettüchern seiner Frau, die sie gegen Brot tauscht. Soll ers, er ist alt genug. Ich will auf einem weißen Laken Hochzeit feiern. Ich gehe zum Privatunternehmer Brack. Der zahlt pünktlich Lohn und Büchsenfleisch dazu, weil er einen Schweizer Teilhaber hat. Bei Brack versuch ichs. Er will gehn.

OSWALD

Halt! Du bist Arbeiter. Rennst du zu einem Kapitalisten, weil er dich mit Almosen ködert? Dann nimm das! Er schlägt ihm aufs Auge. Edgar läuft fort. Zu Regine, die Edgar nachlaufen will: Du bleibst! Untersteh dich, diesem Lümmel nachzulaufen!

ARBEITERKOMMT

Geht in die Baracke. Es wird gestreikt.

 

b) In der Baracke. Streikversammlung. Ein Arbeiter mit Hut steht auf dem Tisch.

ARBEITER MIT HUT

Kumpels, was verlangen wir? Daß man uns einen Lohn auszahlt, wies nötig ist. Für nichts arbeiten wir nicht. Es ist zu spüren, daß hier die richtige Hand fehlt. Man hat uns von ihr befreit, weil sie uns ausgebeutet hat, heißt es. Recht so. Jetzt können wir verhungern. Beifall. Aber sie haben, Gott sei Dank, einige Ausbeuterhände übriggelassen in Senftenberg, die uns ernähren. Sie geben uns sogar Büchsenfleisch, wenns draufankommt.

RUFE

Brack! – Brack!

ARBEITER MIT HUT

Und warum macht man uns faule Versprechungen? Können sie nicht ehrlich sein und sagen: Wir wissen nicht, ob ihr was kriegt, also geht oder bleibt?

DER VATER

Sie wollen ja, daß wir bleiben.

RUFE

Wir sollen warten, bis wieder Kohle gefördert wird. – Das kann lange dauern. – Also weiter für den halben Lohn. – Weiß man, daß meine Schwester lungenkrank ist?

ADAM

Sags dem September. Der stellt sich ans Bett und redet ihr alies aus. Die Arbeiterklasse ist nicht lungenkrank. Die wird von mal zu mal kräftiger, grad weil sie hungert.

RUFE

Von September kommt alles. – Wer nicht umsonst arbeitet, den sieht er nicht über die Schulter an.

DER VATER

Das ist sein Stolz. Er arbeitet mehr als wir alle zusammen.

ADAM

Er arbeitet besser, weil er bezahlt wird. Und er mißachtet uns, die ihn bezahlen.

DER VATER

Du lügst. Ich verdanke ihm einen Ratschlag zur Verbesserung meines Tabaks.

ADAM

Sag ihn mir, Alter.

DER VATER

Ich werde dir was scheißen.

ARBEITER MIT HUT

Also es bleibt dabei. Wir waren geduldig. Sie sagen immer: Erst arbeiten, dann essen. Wir aber wissen, wer arbeitet, der muß vorher gegessen haben.

Er will vom Tisch steigen. Oswald tritt vor.

OSWALD

Halt! Habt ihr nicht gehört, daß das Auspumpen der Grube beginnt und jede Hand gebraucht wird? Wer erlaubt euch zu streiken?

ARBEITER MIT HUT

Eine andere Frage, nicht weniger schwierig, mein Herr: Wer erlaubt unseren Mägen zu knurren?

OSWALD

Laß deine Faxen. Geht das Gleis freischippen. Euretwegen kommen die Züge nicht durch.

ARBEITER MIT HUT

Bedauerlich. Aber wir haben eben eine Resolution gefaßt. Wir gehen weg von hier.

OSWALD

Ihr geht nicht weg. Diese Grube ist volkseigen, und wer Resolutionen gegen das Volk faßt, ist ein Schädling.

ARBEITER MIT HUT

Er hat eine kernige Sprache.

ADAM

Dein Volkseigentum ernährt uns nicht. Wer ernährt dich, Bester, daß du unsere Ansichten nicht teilen kannst? Gib den Weg frei.

OSWALDBLEIBT STEHEN

Ich beschwöre euch. Wartet wenigstens bis morgen. Wir bringen zwei neue Pumpen in die Schächte. Wenn es gelingt, ist die Grube trocken. Wollt ihr euch selbst im Stich lassen? Wir arbeiten alle ohne Geld.

RUFE

Er lügt! – Stoß ihn zur Seite. – Frag, wer ihn hergeschickt hat. Adam versucht Oswald zur Seite zu drängen. Oswald wehrt sich und bleibt Sieger.

OSWALDPLÖTZLICH

Ihr werdet alles bereun! Hunde! Ihr seid viel zu blöd, euer Glück zu machen!

RUF

Dafür hau ihm eins in die Fresse, Adam.

Sie schlagen auf Oswald ein.

2

Marktplatz. Tor der Firma Brack, darüber Bracks Balkon. Ein Lebensmittelladen. Am Tor warten Arbeiter, darunter Edgar, der ungeduldig an den Eisenstangen rüttelt, bis Stockfleisch von innen ans Tor tritt. Frauen stehen nach Quark an.

STOCKFLEISCH

Die Firma Brack und Compagnon benötigt keine weiteren Arbeitnehmer. Alle vorhandenen Arbeitsplätze sind seit gestern mittag besetzt.

DER ENKEL

Aber Großvater ist erst zu heute herbestellt!

Stockfleisch zuckt mit den Schultern.

EDGAR

Ich will Herrn Brack sprechen!

STOCKFLEISCH

Herr Brack hat zu tun. Warten Sie, bis er fertig ist. Vielleicht ist noch ein Arbeitsplatz frei. Ab.

Ein Arbeiter verläßt die Szene. Die anderen warten.

DIE MÖNCHKOMMT

Ich bin sehr gekränkt. Heute morgen ging Oswald, mein Ältester, fort und sagte mir, ich soll mit dem Abendbrot auf ihn warten, es würde spät werden. Mehr sagte er nicht, und ich habe es dabei belassen, obwohl ich weiß, daß er mit diesem September in die eingestürzten Schächte kriechen will, die neuen Pumpen anbringen. Jetzt erfahre ich, daß er zu meiner Nachbarin gelaufen ist, um ihr zu sagen, sie soll auf mich aufpassen. Und sie soll, falls ich alles erfahre, dafür sorgen, daß ich keine Dummheiten mache. Ich habe also einen Vormund nötig, mein Sohn hat mehr Vertrauen zur Nachbarin als zu seiner eigenen Mutter, und die Nachbarin weiß über meinen Sohn besser Bescheid als ich selbst.

Sie geht zu den Frauen. Ein Arbeiter kommt und rüttelt an Bracks Tor.

JÜNGERE FRAU

Schon der sechste, der an Bracks Tor rüttelt. In der Grube brauchen sie die Leute wer weiß wie nötig und hier stehen sie herum wie Bettler.

HAGERE FRAU

Sie stehen nicht herum wie Bettler, werte Frau. Sie gehen dahin, wo ihnen für ihre Arbeit bezahlt wird. Das ist kein Verbrechen. – Hugo, ist noch nicht auf? Der Arbeiter am Tor winkt mürrisch ab. Bei uns auch nicht.

JÜNGERE FRAUZUR MÖNCH

Sie hat früher zu den Nazis gehalten. Sie hat ein scharfes Mundwerk. Man kommt nicht gegen sie auf.

HAGERE FRAU

Holen Sie auch Quark, Frau Mönch?

DIE MÖNCH

Ja, was soll ich sonst holen?

HAGERE FRAU

Richtig. Sie geben uns kein Fleisch mehr. Sie geben uns dreifach Quark. Wenn ein Volk einen Krieg verloren hat, geht es mit ihm abwärts. Damit müssen wir uns abfinden.

DIE MÖNCH

Damit werden wir uns gar nicht abfinden.

HAGERE FRAUNACHDEM IHR DIE SCHMÄCHTIGE ETWAS INS OHR GEFLÜSTERT HAT

O das versteht man! Frau Mönch, ich bewundre Sie. Zu den anderen Frauen: Sie hat ihren Sohn in diesen gefährlichen Schacht gelassen. Und was bekommt er dafür?

SCHMÄCHTIGE FRAU

Keinen Pfennig. Wie der Staschek seiner. Er ist vor dem Krieg auf das Ende vom Ausleger gekrochen, weil eine Rolle verklemmt war. Und das hat nachgelassen und unten war er. Hats ihm einer bezahlt?

ROBUSTE FRAU

Mein Gott, der Arme. Er hatte eben erst geheiratet gehabt, nicht? Zur Mönch: Haben Sie keine Angst?

DIE MÖNCH

Ich habe Angst. Aber mein Sohn ist erwachsen. Ich habe es ihm nicht verbieten können.

ROBUSTE FRAU

Mein Ältester dürfte sein Leben nicht aufs Spiel setzen. Für was denn!

HAGERE FRAU

Aber verstehen kann man es. Irgendwer muß den Anfang machen. Das sind die Tapferen. Aber meist auch die Dummen. Mancher hätte länger leben können ohne Tapferkeit. Mein Ältester sagte immer, bevor er vor Moskau gefallen ist: Wer sich nicht vordrängelt, dem passiert nichts. Aber habe ich auf ihn aufpassen können?

DIE MÖNCHMUSS SICH ANLEHNEN

Sie machen mich ganz ängstlich mit ihrem Geschwätz. Es wird doch nichts passiert sein? Sie sind alle so sonderbar.

JÜNGERE FRAU

Beruhigen Sie sich, Frau Mönch. Man beneidet Sie um Ihren Sohn.

DIE MÖNCH

Ich verstehe sie. Sie sind böse, daß sie auf ihre Söhne nicht mehr stolz sein können.

Sie geht in den Laden. Die Arbeiter am Tor werden auf Edgar aufmerksam, der sein linkes Auge versteckt hält.

LANGER ARBEITER

Warum hast du ein blaues Auge?

EDGAR

Man hat mir eine kontraproletarische Haltung vorgeworfen. Die Eltern meiner Braut, vor allem aber ihr Bruder, haben mich vor die Tür gesetzt, weil ich ihnen erwiderte, daß sie sich meine Haltung schon gefallen lassen müßten, weil ihre Tochter von mir ein Kind erwartet. Es ist zu einem Handgemenge gekommen, wobei ich dem Bruder eine gewischt habe. Der Rest bleibt mir egal. Ich lebe ohne ihren Segen. Aber Regine schaden sie, die mir jetzt nachläuft und heult, weil sie Angst hat, daß ich sie verlasse. Da kommt sie.

REGINEKOMMT, ENTDECKT EDGAR UND SCHLUCHZT

Du läufst mir fort!

EDGAR

Heul nicht. Ich gehe doch zu Brack. Und dann mußt du den Umgang mit mir einstellen, hat dein Bruder gesagt.

REGINE

Der sagt gar nichts!

EDGAR

Aber geschlagen hat er mich. Das ist schlimmer, als wenn er was sagt. Das kann ich nicht hinnehmen.

REGINE

Du warst angetrunken!

EDGAR

Und er war sogar nüchtern, wie?

REGINE

Aber wenn du mich liebst, gehst du trotzdem nicht zu Brack, damit ich meine Familie behalte.

EDGAR

Deine Familie behältst du, da sei ohne Sorge. Ein verrückter Sohn wird deiner Mutter nicht den Kopf verdrehn. Und mich behältst du auch, und das Kind kriegst du. Aber dazu muß ich dir etwas zu Essen bringen. Brack zahlt Kindergeld, wenns draufankommt. Stell dich her. Du könntest als Botin unterkommen.

REGINE

Nein, das verlange nicht. Mein Vater mag meinen Bruder auch nicht. Aber er ist fünfzig Jahre in der Grube und will, daß seine Kinder auch dort sind. Mir wäre es egal.

EDGARZUM LANGEN ARBEITER

Ihr Vater ist auch so einer. Aus purer Treuherzigkeit läßt er sich das Bett ausräumen und schläft auf seiner Tischdecke. Die ganze Familie ist meschugge.

REGINENACH EINER PAUSE

Ich liebe dich sehr, Edgar.

EDGAR

Schon gut. Laß mich nur machen. Wir werden noch heiraten. Du wirst sehn. Aber da kommt deine Mutter. Geh, ich will nicht, daß sie mich sieht. Und wisch dir die Tränen ab. Ich will auch nicht, daß du heulst, wenn ich mir um unser Kind Sorgen mache.

Er versteckt sich vor der Mönch, die aus dem Laden getreten ist. Ihr entgegen Regine.

DIE MÖNCH

Du bist nicht in der Grube, du bist hier! Läufst deinem Bräutigam nach, anstatt dich rar zu machen, daß er dir nachläuft. Merk dirs, es ist dumm, wenn eine Frau dem Mann ihre Liebe nachträgt. Da kann er dich leicht behandeln wie wurmstichiges Obst, weil du ihm in den Schoß fällst. Gerade jetzt, wo er den besten Teil an dir weg hat. Weißt du nicht, daß jede Hand gebraucht wird, wenn sie das Auspumpen der Grube schaffen?

REGINE

Sie haben es aber noch nicht geschafft!

DIE MÖNCH

Um so schlimmer, wenn du herumstehen kannst, statt vor Angst zu vergehen wie ich. Ich sehe, du hast geweint? Regine zeigt auf Edgar. So, da steht er also an. Will lieber seine Mütze ziehen, statt die Hände zu was Ordentlichem zu gebrauchen.

REGINE

Er liebt mich und er gebraucht seine Hände für mich!

DIE MÖNCH

Dagegen habe ich nichts. Er kann auch zu uns kommen. Er soll nur aufpassen, daß Oswald nicht da ist. Und sein freches Maul soll er zügeln. Sonst werf i c h ihn hinaus.

ADAMKOMMT

Sie haben es geschafft! Die Pumpen arbeiten. Ab nächste Woche soll es Lohn geben und ein warmes Mittagessen, für den ders glaubt. September hat eine Rede gehalten, in der er hundertmal das Wort S o z i a l i s m u s gebraucht hat. Davon ist mir solch Durst gekommen, daß ich zu Brack gelaufen bin. Gelächter.

DIE MÖNCH

Meinem Sohn ist nichts passiert. Und ich habe meine Betttücher nicht umsonst geopfert. Zu Regine: Nun lauf schon, du dummes Ding! Bring ihm Quark, daß er sich Schnitten machen kann! Zu den Arbeitern: Habt ihr gehört? Mein Sohn hat die neuen Pumpen aufgestellt, und jetzt gibt es ein warmes Mittagessen, und das kriegt jeder, der mitarbeitet. Die Grube braucht jede Hand, hat mein Sohn gesagt. Also könnt ihr gleich hingehen, nicht? Die Arbeiter rühren sich nicht. Ja, was bleibt ihr stehn und haltet die Mützen in den Händen! Hier gibt es keine Arbeit!

BRACKRÄUSPERT SICH. ER STEHT AUF DEM BALKON

Meine Damen und Herren, Sie haben Glück. Eben erreicht uns die angenehme Nachricht, daß man für die Trockenlegung der Grube gesorgt hat. Da unsere Firma für die Grube arbeitet, sehen wir uns in der Lage, die doppelte Zahl Arbeitnehmer einzustellen. Stockfleisch! Stockfleisch kommt, öffnen Sie den Herren bitte das Tor. Stockfleisch öffnet das Tor.

DIE MÖNCH

Gibt es so etwas! Sie lassen die Grube tatsächlich im Stich und laufen fremden Almosen nach. Zu Brack: Sie, verführen Sie die Leute nicht! Sie wissen ja selbst, daß Sie ein Ausbeuter sind!

BRACK

Liebe Frau. Ich weiß nicht, warum Sie so reden. Man könnte glauben, wir Unternehmer sind Wölfe oder überhaupt Leute, die beißen und vor denen man sich rechtzeitig nach einem großen Knüppel umsehen muß und dreinschlagen. Aber nichts ist undankbarer, als wenn der kleine Mann auf den kleinen Mann schimpft wie auf einen großen Mann. Ich besitze keinen Handwagen, um mein Gerümpel vom Hof zu schaffen, sehen Sie nach. Ich würde verhungern, wenn ich nicht einen Schweizer Teilhaber hätte.

DIE MÖNCH

Ja, und der Schweizer Teilhaber würde verhungern, wenn er nicht unsere Arbeiter hätte!

BRACK

Ja, und Ihre Arbeiter würden verhungern, wenn sie von meinem Teilhaber kein Büchsenfleisch hätten.

DIE MÖNCH

Ja, von wem nimmt er denn das Büchsenfleisch?

BRACK

Liebe Frau, Sie sind naiv. Natürlich von den Schweinen. Gelächter. Und wer schwatzt davon, daß ich die Leute von der Grube weglocke, wenn mein Teilhaber Investitionsaufträge für den Gleisbau übernommen hat. Also wenn sich unter meinem Gerümpel Schwellenzangen befinden, die Ihrer Grube fehlen, soll es falsch sein, wenn die Leute mit bloßen Händen in den Taschen zu mir kommen und mit Schwellenzangen wieder zurück? Zustimmung. Und nun rege sich jemand auf über die Fleischbüchsen, die mein Teilhaber für meine Arbeiter schickt, aus purer Nächstenliebe, damits dem einen unter der Bettdekke schneller hochschlägt und der andere besser kacken kann, grad wos hinkommt. Ich gebe Ihnen auch eine, wenn Sie wollen. Sie brauchen es nur zu sagen. Gelächter. Also wenn der da oder der, alles eins – aber setzt eure Mützen auf, Leute, es sieht tatsächlich dämlich aus. Er wartet, bis sie es getan haben. Wenn also der kleine Mann seinen Hut aufbehält und sagt: Ich lasse mich nicht mehr vertrösten auf den Morgen, der vielleicht wieder neblig ist und naßkalt. Ich unternehme gleich etwas. Ich stille erst einmal meinen Hunger! denkt er real. Nämlich: Ob er bei der Hungerei den nächsten Morgen überhaupt noch erleben kann. Richtig? Beifall.

ADAM

Und wie halten Sie es mit der Arbeit, Herr Brack?

LANGER ARBEITER

Und mit der Zukunft?

ÄLTERER ARBEITER

Und mit der Bezahlung?

BRACK

Von der Arbeit halte ich sehr viel, weil man danach einen Feierabend hat. Gearbeitet wird überhaupt nur, damit man den Feierabend genießen kann, vermittels Essen, Trinken, Tanzen, Kindermachen, Blumensäen, alles eins. Mit der Zukunft ist es wie mit dem Kindermachen. Sie kommt durch den Genuß. Nämlich: Wenn zwei sich hinlegen, und sie macht die Beine breit, macht sies aus Spaß an der Liebe oder aus Liebe am Spaß, gleichviel, und für die Zukunft ists nützlich, daß dabei ein Kind kommen kann. Beifall. Die Frauen, die sich unter die Arbeiter gemengt haben, kreischen. Mit dem Lohn ists teuflisch. Er ist der eigentliche Herr der Arbeit und der Kernpunkt aller Streiterei. Aber ich nehms nicht so genau. Ich bin doch kein Ausbeuter. Leute, wir wollen doch alle leben, was? Hahahahaha! Die Arbeiter bereiten ihm Ovationen.

3

Bracks Zimmer. Brack liest Zeitung. Die Aufwartefrau bringt das Frühstück.

AUFWARTEFRAU

Die Eier sind schlecht, Herr Brack. Ich habe sie hartkochen müssen. Hoffentlich bekommt Ihnen das. Am liebsten würde ich Ihnen jetzt Sauerkraut geben, das stärkt Ihren Darm und bekämpft den Katarrh. Aber es gibt keins. Das Büchsenfleisch habe ich ganz sein lassen, weils bei Ihnen nur Unheil anrichtet, weils zu fett ist. Sie sollten überhaupt kein Fett essen. Schon die Butter gebe ich Ihnen ungern. Und dann ist Post von Ihrer Tochter da.

BRACK

Die zeigen Sie her.

AUFWARTEFRAUWÄHREND BRACK DEN BRIEF LIEST

Das hat lange gedauert, ehe sich das arme Fräulein Klara gemeldet hat. Hoffentlich geht es ihr besser, daß ihr die dünne Kitzbühler Luft auch bekommt. Weil sie immer Atembeschwerden hatte.

BRACK

Eben weil sie die hat, ist sie ja hoch.

AUFWARTEFRAU

Ach, und ich dachte wegen der Gelenke.

BRACK

Deswegen auch.

AUFWARTEFRAU

Da bekommt sie wohl Bäder?

BRACK

Ja, Bäder.

AUFWARTEFRAU

Ich frage, weil ich mich da oben in den Alpen nicht auskenne. Und weil ich mich freue, daß das arme Fräulein Klara endlich geheilt werden soll. Sie hat es nötig. Sie ist bald dreißig und hat noch keinen Mann. Dabei brauchen solche jungen Dinger auch ihren Spaß. Und Sie brauchen einen Enkel fürs Geschäft, gelt? Und ohne Schwiegersohn bekommen Sie halt keinen, gelt? Wenn ich gehe, soll ich Ihnen die Galoschen rausstellen, im Fall wenn Sie hinauswollen, weils regnet?

BRACKIMMER MIT DEM BRIEF BESCHÄFTIGT

Nein. Ich bleibe heut zu Hause. Schmerzen.

AUFWARTEFRAU

Warten Sie. Da gebe ich Ihnen das Kissen hinter den Rükken. Tut es. Stichelts da? Dann wird es Frost geben. Trinken Sie den Tee nicht zu hastig, denken Sie an Ihren Darm. Und daß ich das Wichtigste nicht vergesse: Da ist eine Frau vor der Tür. Die möchte Sie sprechen.

BRACK

Was für eine Frau?

AUFWARTEFRAUBITTET

Ihr Mann ist krank, und da möchte sie fragen, ob sie nicht trotzdem die Büchse kriegen kann.

BRACK

Nein.

AUFWARTEFRAU

Aber sie ist das fünfte Mal hier und hat zwei Söhne verloren, einen vor Moskau und einen am Don, und jetzt hat sie noch vier Kinder, zwischen drei und acht Jahr alt, und ihr Mann hat seine Kräfte aufgezehrt für die deutsche Industrie.

BRACK

Ich habe es geahnt, daß Sie mir wieder Ihre Bekannten auf den Hals hetzen. Nein, Frau Graham, nein! Die Aufwartefrau geht maulendab, Brack legt den Brief weg. Ich darf mich freuen. Es geht meiner Tochter besser. Herein Stockfleisch. Stockfleisch, setzen Sie sich, essen Sie mit. Sie sind mein Gast. Stockfleisch setzt sich. Sie essen. Sie haben also den Schotter besorgen können und damit den Auftrag?

STOCKFLEISCH

Jawohl, Herr Brack.

BRACK

Fabelhaft, Stockfleisch. Jetzt sind wir allmählich wieder ein Unternehmen. Der Weizen blüht, die Arbeit macht wieder Spaß. Nicht zuletzt durch Ihr Talent. Werden wir auch die zusätzlichen Arbeitskräfte haben? Sie wissen, die Grube kämpft um jeden Arbeiter.

STOCKFLEISCH

Wir zahlen höhere Löhne als die Grube. Ich lasse von den 25 Prozent Trennungsgeldern, die uns die Grube für einen Teil unserer Arbeiter überweist, nur 10 Prozent auszahlen.

BRACK

Beschiß?

STOCKFLEISCH

Keineswegs. Ich schlage die restlichen 15 Prozent auf den Nettoverdienst dieser Leute auf.

BRACK

Also doch Beschiß. Das verstößt gegen den Lohnkatalog. Gegen ein Gesetz. Stockfleisch, ich vertraue Ihnen, aber machen Sie mir keine Dummheiten. Stehen Sie mir für die Gesetze.

STOCKFLEISCH

Das ist leider nicht mehr möglich.

BRACK

Was? Es soll nicht möglich sein, daß ich ein ehrlicher Mann bleibe? Ich habe mich in meinem Leben nur ehrlich hochgearbeitet. Und ich bin stolz darauf. Verlassen wir uns ausschließlich auf unsere Fleischbüchsen. Die sind legal, und die Behörden behalten vor uns Respekt.

STOCKFLEISCH

Gern, wenn wir genügend Fleischbüchsen hätten – Herr Brack, Ihr Unternehmen begann mit bescheidenen Transportarbeiten. Heute entrostet es eine Förderbrücke. Daraus folgt: Unsere Arbeitskräfte haben sich in der letzten Zeit verdoppelt. Und damit die Nachfrage nach Büchsenfleisch. Leider erfahre ich, Ihr Schweizer Compagnon kann die neue Sendung nicht sofort fertigmachen. Um es gleich zu sagen: Wir haben kein Fleisch für Neuanwerbungen mehr. Entweder wir schicken den Auftrag zur Beschotterung der Gleise zurück, oder wir zahlen höhere Löhne.

BRACK

Stockfleisch, erpressen Sie mich nicht. Ich habe angeordnet, keine Büchsen an Bummelanten und Kranke auszugeben. Ich denke, das wird eine wirksame Maßnahme sein.

STOCKFLEISCH

Ich bedaure, nein. Herr Brack, Sie besorgen Ihren Arbeitern Fleisch statt Geld, was Ihrer Firma Mehrkosten verursacht, jeder spricht davon. Aber Sie verweigern es Ihren kranken Arbeitern, die am nötigsten Fleisch brauchen. Auch davon spricht man bereits.

BRACK

Wissen Sie, wieviel Kranke täglich mopsfidel an meiner Wohnungstür klingeln? Mindestens fünf. Ich gebe kein Fleisch an mopsfidele Kranke aus.

STOCKFLEISCH

Aber die Grube verteilt ihr Mittagessen an Bummelanten, um wenigstens davon genügend zu bekommen. Und an deren Kinder.

BRACK

Das ist ja hinterhältig. Frau Graham! Frau Graham! Die Aufwartefrau kommt. Schicken Sie sofort diese Frau herein. Die HagereFrau kommt. Schweigen Sie, ich weiß alles. Sie haben zwei Söhne im Krieg verloren, Ihr Mann hat sich abgearbeitet für die deutsche Industrie. Sie haben ihm vier weitere Kinder geschenkt, Sie sind eine Patriotin. Zur Aufwartefrau: Gehen Sie mit ihr in die Küche. Geben Sie ihr alles, was im Speiseschrank ist.

AUFWARTEFRAU

Auch die Butter?

BRACK

Alles, habe ich gesagt; die Butter, die Eier, das Brot, zwei Büchsen. Haben Sie nicht verstanden? Die beiden Frauen gehen fort. Herrgott, ist diese Frau geizig. Dabei ist es ihre Bekannte. Und ich habe meinen Tee doch wieder hastig getrunken. Stockfleisch, wir werden einen harten Winter kriegen!

4

Winter. Tagebau. Zwei Baubuden. In der linken Bude September, der Vater und andere. Eintritt Oswald.

OSWALDZU EINEM JUNGEN

Steh nicht herum. Heiz den Ofen nach. Oder kannst du zusehen, wie der Parteisekretär friert?

Der Junge geht hinaus.

SEPTEMBER

Erzählen wir einen Witz.

OSWALD

Der Parteisekretär genehmigt einen Witz. Bitte, ich halte einen frisch in der Faust: Eine volkseigene Grube vergibt an einen Ausbeuter namens Brack den Auftrag zur Entrostung ihrer Förderbrücke, um den Gleisbau nicht zu gefährden. Was tut der Ausbeuter Brack? O er ist ein Genie. Er wirbt der volkseigenen Grube die Gleisbaukolonne ab, die schon am nächsten Morgen unter seinem Namen die Förderbrücke entrostet. Aber jetzt fehlt der Grube doch die Kolonne für den Gleisbau, nicht? Also was tut die volkseigene Grube? Sie gibt an Brack den Auftrag zur Instandsetzung ihrer Gleise, um den Abraum nicht zu gefährden. Was tut das Genie Brack? Er wirbt die Abraumkolonne ab, die unter seinem Namen die Gleise instandsetzt. Aber jetzt fehlt doch der Grube die Abraumkolonne für den Abraum, nicht? Was tut die Grube? Was tut Brack? Willst du ihm morgen unseren Abraum überlassen?

SEPTEMBER

Wenn es nötig ist, ja.

OSWALD

Dann habe ich heute im Gleisbau geschuftet, um morgen in der Abraumkolonne zu schuften. Ich bin kein Genosse mehr, ich bin Sklave des Privateigentums. Kannst du mir sagen, was mich rettet?

SEPTEMBER

Unsere Gesetze. Wir brauchen Bracks Talent, das ausbeutet, aber unsere Brücke entrostet, weil wir die Brücke gegen die Ausbeutung brauchen. Unser Gleis errichten uns noch Lohnsklaven, aber sie errichten es gegen die Lohnsklaverei.

OSWALD

Und wer wird, bitte schön, fett dabei?

SEPTEMBER

Wenn der Hahn zu fett ist, wird er geschlachtet.

DER VATER

So ist es. Das habe ich am eigenen Leib erfahren, mein Herr.

SEPTEMBER

Was hat er?

OSWALD

Ich habe ihm das Tabakschieben verboten. Er verlangte Wucherpreise.

DER VATER

Dieser Herr, mein Herr, mein Sohn, hat mir den Verkauf von Tabak verboten, der nach Ihren Ratschlägen zubereitet war. Ich habe ihn einer Zigarettenfabrik überlassen müssen. Jedermann auf der Straße raucht ihn jetzt. Wofür ich lediglich eine Spottabfindung erhalte. Ich möchte mich beschweren, mein Herr!

Oswald und September lachen. Der Junge sammelt zwischen den Baubuden Kohlestücke auf. Ihm entgegen die Gleisbaukolonne Bracks. Sie halten den Jungen fest.

LANGER ARBEITER

Heizt den Herrschaften die Bude, ja?

ADAM

Oder wie nennst du die, die dich zwingen schneller zu arbeiten als deine Lust?

DER JUNGE

Ich tus aus Spaß. Wir machen eine freiwillige Sonderschicht.

ADAM

Habt ihr gehört? Sie machen eine freiwillige Sonderschicht. Sie schaffen dreimal mehr als wir. Sie haben einen Teil unserer Aufträge erledigt. Sie wollen uns fertigmachen. Zum Langen Arbeiter: Schreib jeden Tag 10 Prozent Aufschlag, damit uns nichts verlorengeht. Wir arbeiten nicht umsonst, Junge. Und wir werden auch nicht schneller arbeiten, weil wir unbestechliche Proletarier sind. Verstanden? Sie gehen in die rechte Baubude, der Junge in die linke.

DER JUNGE

Regine kommt! Und sie bringt die Suppe!

REGINEHEREIN MIT EINEM KÜBEL SUPPE

Die Grube schickt euch für eure Überstunden Brot und einen Schlag Suppe. Sie wünscht, daß beides mit Appetit gegessen wird. Bringt euer Geschirr.

Alle drängen mit Kochgeschirren zu Regine, die ihnen eingießt. Der Vater bleibt abseits.

REGINE

Halt. Der Rest bleibt für Vater.

OSWALDDA DER VATER ABWEHRT

Willst du uns den Appetit verderben?

DER VATER

Ich werds abkaufen.

SEPTEMBER

Bei uns wird die Suppe nicht gekauft, sondern gegessen.

DER VATER

Und wann bekommt man sie?

SEPTEMBER

Wenn sie fertig ist.

DER VATER

Das ist gut. Er nimmt die Suppe und hält ihnen Tabak hin. Darf ich Ihnen dieses kleine Päckchen Tabak zur Verfügung stellen? Alle stürzen auf den Tabak. Die Arbeiter in der rechten Baubude, außer Edgar, essen ihr Büchsenfleisch. Der Lange Arbeiter hat durch einen Spalt in die linke Bude gesehen. Er kommt zurück.

ADAM

Was tun sie?

LANGER ARBEITER

Sie rauchen.

ADAM

Rauchen. Da verstehe ich ihren Ehrgeiz. Wenn man mit geschürzten Lippen blaue Ringe aufsteigen lassen kann. Wer hätte da nicht Lust zu arbeiten? Haben sie auch zu essen?

LANGER ARBEITER

Ja. Wassersuppe.

ADAM

Wassersuppe. Er schiebt die Fleischbüchse von sich. Wie unpraktisch diese Welt ist. Sie haben kein Fleisch und wir haben keinen Tabak. Man müßte tauschen können: Fleisch gegen Tabak. Edgar –

EDGAR

Gib dir keine Mühe. Meine Braut schachert nicht.

ADAM

Richtig. Greift wieder zur Büchse, seufzt. Die Bräute. Ich hatte auch einmal eine, im vorigen Jahr, die hat auch nicht schachern wollen. Erst heiraten, hat sie gesagt, und dann ins Bett. Aber Tugend reizt mich. Ich habe sie genommen und über den Tisch gelegt und ran und aus. Sie ist vor Schreck gleich schwanger geworden.

EDGAR

Schwein.

ADAM

Ja, rülps dich stark. Du kommst erst gar nicht zum Schwängern. Jeder weiß, daß du die Hosen voll hast, wenn du zu deiner Braut mußt. Weils vorher an ihrem Bruder vorbeigeht, der ist gegen Brack und kräftig. Also siehst du lieber zu, wie sie anderen die Suppe reicht. Weiß man zu welchem Zweck?

EDGAR

Adam, ich warne dich. Unsere Beziehungen sind ernsthaft.

ADAM

Seltsam. Und sie sitzt nicht neben dir und teilt mit dir einen Stuhl, wie sich das gehört?

EDGARGEHT ZUR TÜR

Regine! Adam lacht. Regine!! Adam lacht. Regine!!!

Regine, in der linken Baubude, geht zur Tür, zögert und kehrt wieder um.

DER JUNGEGEHT HINAUS

Du hast zu laut gebrüllt. Sie ist kein Dackel. Sie gehorcht nicht.

EDGARRAST

Sage meiner Braut, wenn sie schwanger ist, soll sie sich gefälligst an meinen Tisch setzen! Weiß ich sonst, ob das Kind von mir ist!

DER JUNGEGEHT ZU REGINE

Ich soll dir sagen, wenn du schwanger bist, sollst du dich gefälligst –

Regine ohrfeigt den Jungen. Der Junge läuft hinaus und ohrfeigt Edgar. Edgar wird vom Langen Arbeiter, Oswald von September festgehalten.

ADAM

Verhältnisse! Der Bräutigam lädt die Braut zu Tisch und erntet Ohrfeigen. Wie muß das erst aussehen, wenn sie zusammen ins Bett steigen.

5

Marktplatz. Die Frauen stehen nach Sauerkraut an. Es herrscht strenger Frost.

EINE FRAUTRITT AUS DEM LADEN

Ich soll sagen, Herr Krämer fängt das letzte Faß Sauerkraut an. Die Hintersten warten umsonst. In einer halben Stunde wird das Faß leer sein.

Die Frauen streiten um die Plätze. An der Ladentür steht Arnold.

DIE MÖNCHKOMMT

Da gehen sie aufeinander los wie Hyänen. Und das seit fünf Uhr früh, jetzt ist es zwölf. Ich bin froh, daß ich den Jungen habe. Ich könnte meinen Platz nicht für eine Minute verlassen. Sie wären so herzlos und jagten mich auf den letzten Platz zurück. Dabei habe ich vier Mäuler zu füttern, darunter sogar ein politisches, das mir die Reinheit der Speisekarte vorschreibt. Von wegen, da darf keine feindliche Erbse in den Topf rutschen und doch muß gegessen werden. Ich möchte wissen, wie ich das machen soll.

ARNOLD

Mutter, sie erzählen, dort drüben gibt es Fleisch.

DIE MÖNCH

Das ist drüben. Bei uns gibt es Schmalzschnitten und heißen Kohl ohne Fleisch, weil das Fleisch dort drüben einem Ausbeuter gehört. Hat dein Bruder gesagt.

ARNOLD

Das ist mir gleich. Ich esse auch das Fleisch von einem Ausbeuter.

DIE MÖNCH

Aber dein Bruder nicht.

ARNOLD

Dann ist er dumm.

DIE MÖNCH

Das denke ich auch manchmal. Aber halte den Mund, das bleibt unter uns. Geh im Kreis herum, daß dir wärmer wird. Ich bin gleich wieder da.

Sie geht mit dem nächsten Schwung in den Laden. Arnold geht im Kreis herum. Aus Bracks Tor tritt die Schmächtige Frau. Sie stellt sich vor die Ladentür. Die Frauen protestieren.

SCHMÄCHTIGE FRAU

Was wollen Sie? Ich habe vor Ihnen gestanden. Frau Knerrlich kann es bezeugen, nicht wahr?

HAGERE FRAUDA SIE HINTER IHR STEHT

Nein!

JÜNGERE FRAU

Dann gehen Sie ans Ende!

SCHMÄCHTIGE FRAU

Ich denke nicht daran. Meine Kinder brauchen Sauerkraut, und hinten bekomme ich keins mehr. Ich stehe seit fünf Uhr hier.

ROBUSTE FRAUDIE AM ENDE DER SCHLANGE STEHT, KOMMT NACH VORN

Ah, aber unsere Kinder können darauf verzichten, weil wir seit fünf vor fünf hier stehen, wie?

JÜNGERE FRAU

Natürlich. Unser Kraut bekommt ihnen schlechter, weil es kein Rindfleisch dazwischen hat.

SCHMÄCHTIGE FRAU

Mein Kraut hat auch kein Rindfleisch dazwischen.

ROBUSTE FRAU

Das lügen Sie! Sie sind eben aus Bracks Tor getreten!

SCHMÄCHTIGE FRAU

Aber ich habe keine Büchse bekommen, weil mein Mann nicht arbeiten kann. An Kranke gibt Herr Brack kein Büchsenfleisch aus.

HAGERE FRAU

Lüge! Mein Mann ist auch krank, und ich habe sogar zwei Büchsen bekommen, ich meine eine, und Wurst und Butter und Eier und Brot.

ROBUSTE FRAU

Wer Fleisch hat, braucht keinen Kohl mehr.

Sie zerrt die Schmächtige nach hinten.

SCHMÄCHTIGE FRAU

Warum nehmen Sie mich! Auf die Hagere: Die hat das Büchsenfleisch bekommen!

ROBUSTE FRAU

Wenn du noch einen Ton sagst, reiße ich dir deine Zotteln aus!

Die Schmächtige schweigt eingeschüchtert. Die Hagere kichert. Bracks Aufwartefrau, die am Tor steht, winkt Arnold zu sich.

AUFWARTEFRAU

Junge, ich verspreche dir einen Fondant, wenn du dich einen Augenblick für mich anstellst. Gibt ihm eine Schüssel und eine Fleischbüchse und zeigt auf die Hagere. Geh zu der Frau und gib ihr diese Büchse. Sie wird dich vorlassen. Ich will rasch einen Mantel anziehen. Sie geht durch das Tor zurück. Arnold geht zu der Hageren, die hastig die Büchse an sich reißt und ihn vorläßt.

ROBUSTE FRAUKOMMT WIEDER NACH VORN

Was ist das für ein Junge?

HAGERE FRAU

Der hat hier gestanden.

ROBUSTE FRAU

Das lügen Sie! Er ist eben noch im Kreis herumgelaufen.

SCHMÄCHTIGE FRAUSCHLUCHZT

Sehen Sie nach, was der Junge ihr gegeben hat. Eine Fleischbüchse. Und dann sehen Sie nach, ob ich eine habe. Wenn ich kein Sauerkraut kriege, gehe ich zur Polizei.

HAGERE FRAUZUR ROBUSTEN

Fassen Sie mich nicht an. Ich zerkratze Ihnen das Gesicht. Ich habe ein Recht hier zu stehen. Und der Junge auch.

ROBUSTE FRAU

Haben wir das Recht, dort drüben Fleischbüchsen in Empfang zu nehmen? Zu Arnold: Mach daß du fortkommst, du Rotzjunge, oder ich hau dir eine runter!

Arnold bleibt trotzig stehen.

JÜNGERE FRAU

Warten Sie, ich hole seine Mutter.

Sie geht in den Laden und kommt mit der Mönch zurück.

DIE MÖNCH

Wer hat dir gesagt, daß du dich hinstellen sollst? Ich habe gesagt, du sollst im Kreis herumgehen. Arnold bleibt stehen. Hast du nicht gehört?

ARNOLD

Ich bekomme einen Fondant.

DIE MÖNCH

Eine Maulschelle kriegst du, wenn du nicht sofort herkommst!

AUFWARTEFRAUKOMMT

O bitte, er ist unschuldig. Ich hatte ihm etwas versprochen. Es ist, weil Herr Brack an Katarrh leidet und der Arzt ihm Sauerkraut verschrieben hat. Wegen seiner schwächlichen Darmflora. Und es gibt so selten Sauerkraut, gelt? Aber der Junge ist brav. Hier ist der versprochene Fondant.

ROBUSTE FRAU

Hahaha! Unsere Kinder verzichten auf Fleisch, weil Brack es für seine Geschäfte braucht. Jetzt verlangt Bracks schwächliche Darmflora ihren Kohl. Aber sie werden nicht verhungern, gelt? Sie bekommen einen Fondant. Wir verzichten auf dieses Dreckding. Stellen Sie sich gefälligst hinten an!

ARNOLDSTRECKT DIE HAND AUS

Aber ich nehme ihn.

DIE MÖNCH

Arnold!

ARNOLD

Du hast selbst gesagt, daß Oswald dumm ist, weil er von Brack kein Büchsenfleisch nimmt. Ich will den Fondant.

DIE MÖNCHOHRFEIGT IHN. DA ARNOLD LOSHEULT, REISST SIE DER AUFWARTEFRAU DEN FONDANT AUS DER HAND UND STECKT IHN ARNOLD IN DEN MUND

Sie, verführen Sie meinen Jungen nicht zu frechen Antworten, daß ich ihn ohrfeigen muß. Die ganze Stadt weiß, daß Bracks Geschäfte Unruhe stiften. Wickeln Sie sie ohne meine Kinder ab!

ROBUSTE FRAUGREIFT DIE AUFWARTEFRAU AN

Nach hinten mit ihr. Vor dieser Schwelle werden keine Geschäfte gemacht. Die Aufwartefrau flieht, um Hilfe kreischend, durch Bracks Tor.

ROBUSTE FRAU

Die kommt nicht wieder.

SCHMÄCHTIGE FRAUAUF DIE HAGERE

Aber sie hat Bracks Schüssel. Sie hat eine Büchse von ihm bekommen und will sich Liebkind machen.

HAGERE FRAU

Pfui! Die ganze Woche frißt sie sein Fleisch, und jetzt gönnt sie ihm nicht eine Kohlfaser.

Sie spuckt der Schmächtigen vor die Füße.

SCHMÄCHTIGE FRAU

Jetzt hole ich die Polizei! Ab.

DIE MÖNCH

Sie sollten sich schämen, so unverbesserlich zu sein, nachdem Ihre beiden Ältesten dafür ins Gras beißen mußten.

HAGERE FRAU

Und ich rate Ihnen, meine beiden Ältesten nicht in den Mund zu nehmen. Das schickt sich nicht. Meine Söhne starben den Heldentod.

DIE MÖNCH

Ein schöner Heldentod, der uns Trümmer hinterlassen hat und ein halbes Pfund Weißkraut im Monat.

HAGERE FRAU

Und Sie betreiben mit Ihrem Sohn schamlose Propaganda!

DIE MÖNCH

Jeder weiß, daß Ihr Drittältester falsche Arbeitsleistungen notiert, um höheren Lohn zu bekommen, also betrügt. Und wohin gehen Bracks Rechnungen? An die Grube!

HAGERE FRAU

Das lügen Sie, schamlose Person, Sie! Meine Söhne will sie schlechtmachen, um den eigenen herauszustreichen. O wie gemein! Sie weint.

JÜNGERE FRAUZUR MÖNCH

Das hätten Sie nicht sagen sollen. Sie hat darunter gelitten, daß ihre Ältesten gefallen sind. Und auch, daß ihr Drittältester trinkt. Er bestiehlt sie sogar.

ROBUSTE FRAU

Dann soll sie ihr normales Gesicht aufsetzen und uns nichts vormachen. Zeige, was du in der Tasche hast oder verschwinde!

HAGERE FRAUVERZWEIFELT

Faß mich nicht an! Ich kratze dir die Augen aus, du Hexe!

Die Robuste greift die Hagere an, die sich wehrt. Die Schmächtige kommt mit einem Polizisten, der die Streitenden trennt.

POLIZISTZUR ROBUSTEN

Warum schlagen Sie die Frau?

ROBUSTE FRAU

Warum? Weil sie Büchsenfleisch hat und noch Sauerkohl will.

POLIZIST

Das ist kein Grund, sie zu schlagen.

SCHMÄCHTIGE FRAU

Aber sie hat mir ins Gesicht gespuckt.

HAGERE FRAUWEINT HERZZERREISSEND

Das ist nicht wahr!

POLIZISTZUR HAGEREN

Wollen Sie eine Anzeige wegen Körperverletzung erstatten?

HAGERE FRAUIMMER SCHLUCHZEND

Herr Wachtmeister, ich habe sechs Kinder, zwei sind tot. Seit fünf Uhr stehe ich hier in der Kälte, damit meine Kinder Sauerkraut bekommen, und jetzt will man mich nicht in den Laden lassen.

POLIZIST

Hat sie sich vorgedrängelt?

JÜNGERE FRAU

Nein.

POLIZISTZUR HAGEREN

Gehen Sie hinein. Ich werde auf Sie warten.

Die Frauen protestieren.

SCHMÄCHTIGE FRAU

Aber sie hat Bracks Schüssel!

POLIZIST

Warten Sie. Ich sehe, Sie haben zwei Schüsseln in der Hand. Würden Sie mir sagen, wem sie gehören?

HAGERE FRAU

Die eine gehört mir und die andere Herrn Brack.

POLIZIST

Beansprucht dieser Herr Brack auch Sauerkraut?

HAGERE FRAU

Ja.

POLIZIST

Und warum kann er nicht selbst kommen?

HAGERE FRAU

Er ist krank.

Der Polizist öffnet die Ladentür, sie geht in den Laden. Die Frauen drängen protestierend nach. Der Polizist verwehrt ihnen den Zugang.

POLIZIST

Meine Damen, Ihr Protest ist zwecklos. Die Frau stand auf ihrem legitimen Platz. Niemand kann etwas dagegen einwenden, wenn sie Sauerkraut bekommt.

ROBUSTE FRAU

Und niemand wird etwas dagegen einwenden, wenn unsere Kinder hungern, wie?

POLIZIST

Seien Sie ruhig und froh, daß man Sie nicht wegen Körperverletzung anzeigt. Diese Frau hat ebenfalls Kinder.

SCHMÄCHTIGE FRAU

Aber sie hat schon Bracks Fleischbüchse!

POLIZIST

Das interessiert mich nicht. Hier wird mit Sauerkohl gehandelt. Die Fleischbüchsen des Herrn Brack bekommen Sie dort drüben.

Tumult.

ROBUSTE FRAU

Ach, wie einfach! Daß uns das nicht aufgefallen ist! Wachtmeisterchen, ich habe fünf Kinder, alle leben, aber dort drüben gibt man mir kein Fleisch, Wachtmeisterchen! Na, auf was wartest du, du Fatzke? Du hast Brack unsere Tür aufgehalten, jetzt stelle dich gefälligst rüber und halte uns Bracks Tor auf!

POLIZIST

Meine Dame, wenn Sie sich nicht mäßigen, werde ich Sie in Ordnungsstrafe nehmen.

Die Hagere tritt aus dem Laden, beide Schüsseln voll Sauerkraut.

DIE FRAUEN

Für welche Ordnung? – Für eure, was? – Schöne Ordnung, die unsere Kinder hungern läßt! – Dort kommt sie! – Schlagt ihr die Schüsseln aus der Hand, ihr Feiglinge!

POLIZISTBRÜLLT GEGEN DIE HERANDRÄNGENDEN FRAUEN

Jetzt reißt mir aber die Geduld!

ROBUSTE FRAU

Gott sei Dank, wir scheißen auf deine Geduld. Her mit dem Sauerkohl, du Hexe! Oder mit der Fleischbüchse! Sonst reiße ich dir deine Zotteln aus!

POLIZIST

Rühren Sie die Frau nicht an, sonst mache ich von meiner Waffe Gebrauch!

Er greift zu seinem Holzknüppel. Die Frauen lachen.

DIE FRAUEN

Ha, jetzt droht er uns mit seinem Knüppelchen, der Schäker! – Willst du uns herausfordern, du Schwächling? – Wir sind mit ganz anderen Knüppeln fertig geworden! – Er wird rot! – Mach daß du fortkommst, du Bachstelze! – Reißt ihm die Uniform herunter. Ich will sehen, ob er überhaupt Arme hat!

Die Hagere verliert die Nerven und schreit um Hilfe. Daraufhin werden sie und der Polizist in ein Handgemenge verwickelt. Die Schüsseln mit Sauerkraut fallen zu Boden. Der Polizist pfeift nach Verstärkung. Die Frauen erschrecken und lassen von ihm ab. Diese Gelegenheit benutzt Brack. Er räuspert sich. Er steht auf seinem Balkon.

BRACK

Meine Damen. Ich verstehe Ihre Stimmung, und ich mache mir nichts aus Ihrem Lärm, obwohl ich Kopfschmerzen habe, und obwohl mir Bettruhe verordnet wurde. Dieser Winter ist hart. Wir sind alle in großer Not. Es wird überall gehungert. Es muß überall geholfen werden. Wer will den Sauerkohl ohne Fleisch essen, wenn noch ein Bissen Fleisch vorhanden ist? Wo ist mein Buchhalter! Stockfleisch tritt ans Tor. Stockfleisch, ich denke, wir stehen bis zur nächsten Nothilfe aus der Schweiz zurück und geben die restlichen Büchsen an betriebsfremde Personen aus. Eine unverbindliche Hilfe, meine Damen, in den bescheidenen Grenzen meiner Firma, die sparsam und rationell zu wirtschaften weiß. Und so, nur so sehe ich mich in der Lage, Ihnen einen guten Appetit zu wünschen. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin ohne Schal. Die Frauen, allen voran die Robuste Frau, stürmen durch Bracks Tor. Die Polizeiverstärkung, die auftritt, findet einen leeren Marktplatz vor.

VERSTÄRKUNG

Haben Sie gepfiffen?

POLIZIST

Ja. Aber die Ruhe ist wiederhergestellt.

6

September tritt vor den Vorhang. Er öffnet eine Mappe.

SEPTEMBER

Ich verlese einen Beschluß der örtlichen Parteileitung: In Anbetracht der letzten Ereignisse, der Unruhen auf dem Gelände der Grube und der Unruhen auf dem Markt, in Anbetracht, daß nicht unsere Polizei, sondern eine fremde Macht unsere Straßen zu beherrschen beginnt, beschließen wir nunmehr vorzugehen gegen den Anstifter dieser Unruhen, gegen den Klassenfeind Karl Wilhelm Brack.

7

a) Bracks Schlafzimmer. Brack, der im Bett lag, kleidet sich an. Stockfleisch. Hinter der Szene undeutlich Lärm.

BRACK

Wie beschreibe ich Ihnen mein Elend? Endlich ist aus der Schweiz das ersehnte Rindfleisch eingetroffen, 800 unschuldige Büchsen, sie wurden beschlagnahmt. Die ganze Sendung, sagen Sie?

STOCKFLEISCH

Die ganze Sendung. Aber die Behörden sprechen von keiner Beschlagnahme, sie sprechen von einem Zwangsverkauf. Es wurden uns 3000 Reichsmark überwiesen.

BRACK

Und dann dieser Zynismus. 3000 Reichsmark, das ist Papier! Ich habe meine Arbeiter an den Geruch von Fleisch gewöhnt, also brauche ich Fleisch und kein Papier! Was bindet meine Arbeiter jetzt noch an mich? In Scharen werden sie in diese Grube zurückgehen, die ich aufgebaut habe. Schnell, geben Sie mir das Glas, ich bekomme mein Sodbrennen.

Er trinkt hastig Tee. Der Lärm hinter der Szene wird deutlicher.

STOCKFLEISCHMITLEIDIG

Herr Brack. Unsere Arbeiter werden Sie nicht im Stich lassen. Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen: Sie versammeln sich eben unter Ihrem Balkon, um Sie ihrer Solidarität zu versichern. Ein paar geschickte Worte und sie legen die Arbeit nieder, bis die Fleischbüchsen wieder bei uns sind.

BRACKHÖRT ENTSETZT DEN STÄRKER WERDENDEN LÄRM

Was sagen Sie? Das ist ja wieder die Straße. Die mich krank gemacht hat. Nein, die mich ruiniert hat! Ich brauche bloß an den Spektakel dieser Frauen zu denken. Stockfleisch, ich leide. Die Leute müssen wieder an die Arbeit, sofort. Sagen Sie ihnen, ich dulde keine ruhestörenden Ansammlungen unter meinem Balkon.

STOCKFLEISCHGEHT ZUM BALKON

Wie Sie wünschen. Sie werden die Straße verlassen, ich bin sicher, aber sie werden keine unserer Schippen wieder in die Hand nehmen. Sie sagten es eben selbst, ohne Fleischbüchsen –

BRACKBRÜLLT

Was soll ich denn tun?! Soll ich mich auf dem Balkon zeigen und meine eigenen Arbeiter zum Streik ermuntern?!

STOCKFLEISCH

Ja, das sollten Sie tun.

BRACK

Ich soll meine Arbeiter zum Streik ermuntern? Stockfleisch, Sie wissen nicht was Sie reden. Wenn ich sie streiken lasse, könnte ich sie ebensogut wegschicken. Wo ist der Unterschied?

STOCKFLEISCH

Herr Brack, wir brauchen den Streik, weil wir die Fleischbüchsen brauchen. Unsere Arbeiter, ich wiederhole, gehen zu dem, der sie am besten bezahlt. Und die Grube, die, dank unserer Hilfe, rentabler geworden ist, zahlt höhere Löhne und Deputatskohle, aber natürlich kein Fleisch. Wenn Sie meinen Rat bevorzugen, und es gibt keinen besseren: Vertrauen wir auf die Unentbehrlichkeit unserer Arbeiter. Wir haben Zeit, die Grube darf ihre Rentabilität nicht aufs Spiel setzen. Sie wird auf ein schnelles Ende des Streiks dringen. Dazu müßten allerdings die Fleischbüchsen wieder bei uns eintreffen.

BRACKGEHT ZUM BALKONFENSTER, SIEHT HINAUS

Was für Zeiten! in denen der Streik unserer Arbeiter unsere Existenz retten soll. Sie streiken nicht gegen ihren Unternehmer, sie streiken gegen den Staat. Stockfleisch, wenn das bekannt wird, sind wir geliefert. Helfen Sie mir meinen Schal suchen! Stockfleisch reicht ihm den Schal. Der Lärm hinter der Szene wird stärker. Sie raten mir also, ich soll sagen: Streik.

STOCKFLEISCH

Ja. Aber Sie dürfen kein politisches Wort sagen.

BRACK

Nein. Ich muß sie nach Hause schicken und ihnen versprechen … Mit Versprechungen werden sie sich nicht abfüttern lassen, was?

STOCKFLEISCH

Wie die Erfahrung lehrt, nein.

BRACK

Und gar nichts sagen geht auch nicht.

STOCKFLEISCH

Nein.

BRACK

Sagen Sie selbst, Stockfleisch, was führe ich für ein Leben. Ich kämpfe für ein kleines Unternehmen und für eine kränkliche Tochter, und man läßt mir nicht die nötige Minute zur Bekämpfung meines Darmleidens. Seit Monaten empfiehlt mir der Arzt einen Tee. Er ist gegen die Hast. Ich trinke ihn heute noch hastig. Gibt es für unsereinen keine Hoffnung?

STOCKFLEISCH

Geben Sie Ihren Schweizer Compagnon auf. Nehmen Sie den Staat als Teilhaber.

BRACKSTELLT DAS GLAS HIN

Also manchmal sind Sie ekelhaft, öffnen Sie bitte den Balkon.

 

b) Marktplatz. Streikversammlung. Brack, auf Stockfleisch gestützt, betritt den Balkon. Ovationen für Brack.

BRACKNACHDEM RUHE EINGETRETEN IST

Leute. Ovationen.

STOCKFLEISCHBRÜLLT

Ruhe!

BRACK