Der Lichthof - Hartmut Lange - E-Book

Der Lichthof E-Book

Hartmut Lange

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Beschreibung

»Liebe ist keine Gelegenheit zur Freiheit, sie geschieht aus Not«, denkt eine Frau, die begreift, dass ihr Mann sie verlassen hat. Sätze wie dieser haben Hartmut Langes Prosa berühmt gemacht, dunkel leuchtend und geheimnisvoll und zugleich kristallklar und evident. Vier Novellen und ein autobiographischer Text – Weihnachten 1944 in Naßwerder, die Schrecken der Flucht, der Tod des Vaters und später des Bruders –, prägende Ereignisse für sein Leben und Schreiben.

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Hartmut Lange

Der Lichthof

Novellen

Diogenes

Ich danke Ulrike für ihre Mitarbeit

Der Lichthof

›Dennis ist schon wieder verreist‹, dachte Hannelore.

Sie war allein, und man sah, wie sie sich zögernd und als wäre sie von der Schönheit der Räume eingeschüchtert, auf die äußerste Kante eines Sofas setzte. Die Wohnung, in der sie sich befand, war hundertsechzig Quadratmeter groß. Zwei Zimmer gingen auf die Straße hinaus, vor den Fenstern wuchsen riesige Linden, deren Zweige bis an die Hauswand reichten, und ob sie nun mit oder ohne Laub waren, sommers wie winters verbreiteten sie den Eindruck von Schutz und Geborgenheit. Das Haus mit der Nummer acht stammte aus dem Jahr 1905. Die Fenster und Türen am Eingang und im Treppenhaus waren ausnahmslos mit Schnitzereien versehen, die den Eindruck verspielter Leichtigkeit erweckten. In den Wohnungen Parkett, die dreieinhalb Meter hohen Decken der Zimmer waren mit Stuck verziert: Man sah Frauengestalten, die mit ausgestreckten Armen zu schweben schienen.

Eine Weile hatte die Wohnung leer gestanden, dann, nachdem sie renoviert worden war, sah man vor dem Hauseingang einen Umzugswagen. Mehrere Männer waren dabei, Möbel in das zweite Stockwerk zu schleppen, die Wohnungstür stand sperrangelweit offen, und in den immer noch kahlen Räumen gingen zwei Personen auf und ab.

Es waren die neuen Mieter, genauer das Ehepaar Linstow, das mit einer gewissen Vorfreude und Vertrautheit, sie hielten einander untergehakt, darüber beratschlagte, wo die Möbel am besten zur Geltung kommen würden. Sie waren schnell verteilt. Hier und dort eine Kommode, daneben das Sofa.

An den Wänden hingen Ölgemälde, eine Hinterlassenschaft von Hannelores Großvater, der in den zwanziger Jahren ein bekannter Maler gewesen war. Im Berliner Zimmer hatte man die Küche eingerichtet. Sie wirkte komfortabel, und dahinter begann der Korridor. Er war mit Holzplanken ausgelegt, und die Stiche an der rechten Wand zeigten Vogelmotive aus der Zeit des Biedermeier. Bis hierhin war alles so, wie Hannelore und Dennis es sich gewünscht hatten. Nur die eine Tür, die zum Badezimmer führte …, hier betrat man einen Raum, wo hinter den Fenstern abgerissener Putz zu sehen war. Es war der Lichthof, der, weil unzugänglich, seit Jahrzehnten nicht mehr erneuert wurde, und so war es nur selbstverständlich, dass man ihn, um den angenehmen Eindruck der Wohnung nicht zu beschädigen, so schnell wie möglich aus dem Blick haben wollte.

Zwei Gardinen vor den Fenstern hätten genügt, um sich beim An- und Auskleiden, beim Duschen oder Haarewaschen nicht beobachtet zu fühlen.

›Und es ist mir unverständlich‹, dachte Hannelore, ›warum Dennis, obwohl ich ihn darum gebeten habe, keine Firma beauf‌tragt hat, diesen unzumutbaren Zustand, er ist der einzige in dieser Wohnung, zu korrigieren.‹

Jedes Mal, wenn sie das Bad betrat, war sie bemüht, das, was sie störte, möglichst nicht zu beachten. Das heißt, sie versuchte, den Fenstern den Rücken zuzuwenden, aber da der Schrank, in dem die Handtücher und andere Utensilien untergebracht waren, unmittelbar an einem der Fenster stand, hatte sie doch wieder, bevor sie sich bückte und nach einem Handtuch griff, den finsteren Lichthof vor Augen.

Wenig später kam die Sache wieder zur Sprache. Hannelore und Dennis hatten Freunde eingeladen, um die neue Wohnung zu feiern. Man trank Aperol, und als einer der Gäste ins Bad gehen wollte und Dennis auf den Korridor wies, musste Hannelore erklären, dass nur die Toilette in der Garderobe geöffnet sei.

»Sie ist eng, ich weiß. Aber das Bad habe ich abgeschlossen. Ich kann meinen Freunden schließlich nicht erklären, dass es dort einen Abgrund zu sehen gibt«, sagte sie und lachte, und als Dennis erwiderte, dass er das ganze Theater um zwei fehlende Gardinen albern fände, unterließ sie es, darüber zu streiten.

Hannelore war durchaus in der Lage, über Probleme, die sie belasteten, hinwegzusehen, und als Dennis wieder einmal verreist war, beschloss sie, bis zu seiner Rückkehr das gemeinsame Bett zu verlassen, um stattdessen auf dem Sofa im Wohnzimmer zu schlafen. Es war ihr nicht unangenehm, dass sie hier unmittelbar unter dem Plafond mit den Stuckverzierungen lag. Es waren jene Frauengestalten, die mit freiem Oberkörper und faltenreichen Röcken, beide Arme weit ausgestreckt, zu tanzen schienen, und ihre Leichtigkeit war derart, dass man, auch wenn man länger hinsah, nie das Gefühl bekam, dass es nur Stuck war, den man vor Augen hatte.

Irgendwann, es war weit über Mitternacht hinaus, schreckte Hannelore hoch, griff nach ihrem Morgenmantel, weil sie bemerkt hatte, dass es von irgendwoher zog. Sie schaltete das Licht ein, dabei sah sie zur Decke, glaubte zu bemerken, dass eine der Stuckverzierungen, die sie beim Einschlafen betrachtet hatte, verschwunden war. Jetzt war da nichts weiter als eine leere Fläche, und der Luftzug kam, da gab es keinen Zweifel, vom Badezimmer her.

›Ich habe die Tür offen gelassen und das Fenster zum Lichthof …‹, dachte Hannelore, sah aber, dass die tanzende Frauengestalt, die sie eben noch vermisst hatte, wieder an ihrem Platz war.

Ein Gefühl von Betroffenheit überkam sie, dass sie sich durch eine Täuschung und ohne dass es Gründe dafür gab, hatte verunsichern lassen.

›Ich habe doch gut geschlafen, und alles hat, wie ich jetzt sehe, seine Richtigkeit‹, dachte sie und beschloss, über den Korridor hinweg ins Badezimmer zu gehen.

Und tatsächlich: Kaum dass sie den Korridor betreten hatte, bemerkte Hannelore, dass eines der Fenster, die auf den Lichthof hinausgingen, offen stand. Sie beeilte sich, es wieder zu schließen, und der kurze Blick, den sie dabei in den Lichthof warf, bewies ihr, wie richtig es gewesen war, auf einer Abhängung zu bestehen.

›Überall Schmutz, dazu die aufgerissenen Wände, und wenn man versucht, in den Himmel zu sehen, wird einem schwindelig‹, dachte Hannelore, und irgendwie war es ihr selbstverständlich, dass in diesem Augenblick das Telefon klingelte.

Es war Dennis. Er war besorgt, wollte wissen, warum Hannelore das Bett verlassen hätte.

»Es ist mitten in der Nacht, und du hast mir versprochen, wenn ich dich allein lasse, wenigstens in Ruhe zu schlafen.« Er entschuldigte sich, sprach darüber, dass er seine Geschäftsreise um zwei oder drei Tage verlängern müsse.

»Aber dann bin ich wieder da, und es würde mich beruhigen, wenn ich wüsste, dass du nicht mehr auf dem unbequemen Sofa liegst.«

Hier brach die Telefonverbindung ab, und Hannelore stand immer noch an einem der Badezimmerfenster und überprüf‌te, ob der Griff, den sie umfasst hielt, richtig eingerastet war. Sie ging zum Sofa, nahm das Bettzeug auf, trug alles ins Schlafzimmer zurück, und nun versuchte sie, das zu tun, was Dennis ihr geraten hatte, nämlich den Rest der Nacht ruhig in dem gemeinsamen Bett zu schlafen. Sie freute sich über den Anruf und dass Dennis so besorgt gewesen war. Aber nachdem sie die Nachttischlampe ausgeschaltet hatte, als sie dabei war, die Bettdecke, die sich verhakt hatte, wieder zu lösen, als sie das Kopfkissen zurechtrückte, ja jetzt erst fielen ihr die Ungereimtheiten in dem Gespräch mit Dennis auf.

Nicht nur, dass er besorgt um sie gewesen war und sie gebeten hatte, endlich zu schlafen, nein:

›Woher konnte er wissen, dass ich wach war und unser gemeinsames Bett verlassen hatte? Und vielleicht wusste er sogar, dass es vom Badezimmer her, weil das Fenster geöffnet war, zog!‹

Tage später, als Dennis wieder zu Hause war, erklärte Hannelore, wie sehr sie sich gefreut hätte, dass er so besorgt gewesen sei, und dass sie es erstaunlich fände, wie er, obwohl hundert Kilometer entfernt, wissen konnte, dass es ihr nicht gelungen war, auf dem Sofa zu schlafen.

»Überhaupt«, sagte sie, »ist man in dieser Wohnung vor Überraschungen nicht sicher. Das Fenster im Badezimmer stand plötzlich offen, obwohl ich weiß, dass ich es nicht berührt habe.«

Und als Hannelore nochmals über die Schönheit der Stuckverzierungen reden wollte, machte Dennis eine wegwerfende Geste. Stuckverzierungen aus der Jahrhundertwende gäbe es wie Sand am Meer, und besonders in Charlottenburg hätte man versucht, die Mietshäuser dadurch aufzuwerten.

»Aber es ist immer das Gleiche. Die schwebende Dame, die dir so gefällt, findest du an jeder Ecke. Es ist eine Schablone, genauso wie die Fensterrahmen und Türen. Und was den Blick in den Lichthof angeht … Wir sollten uns morgen in einem Dekorationsladen umsehen. Es gibt tausend Möglichkeiten, um das, was einem missfällt, irgendwie verschwinden zu lassen.«

In derselben Woche noch kam ein junger Mann, um die Fenster, die zum Lichthof führten, zu vermessen. Man blätterte in einem Katalog, suchte etwas Passendes aus, besprach die Modalitäten, in vierzehn Tagen sollte alles fertig sein, und tatsächlich: Wo sonst, und völlig unverstellt, dunkle Mauern zu sehen waren, hing jetzt ein helles, elegant gerafftes Stück Stoff.