Anarchokapitalismus - Stefan Blankertz - E-Book

Anarchokapitalismus E-Book

Stefan Blankertz

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Beschreibung

»Krieg ist keine Option«, lautet das Leitmotiv des Essays: Die Suche nach den Bedingungen, unter denen Frieden statt Krieg geführt wird. Im Laufe ihrer Kulturentwicklung habe, schrieb Sigmund Freud 1932 in düsterer Vorahnung, die Menschheit zahlreiche, ja unaufhörliche Kleinkriege gegen seltene, aber umso mehr verheerende Großkriege eingetauscht. Das nächste, heute erreichte Stadium ist der unaufhörliche Großkrieg gegen die Kleinkriege (»Terror«). Ein Zusammenleben, das demgegenüber auf freiwilliger Kooperation gründet, friedlichen Wettbewerb zulässt (Kapitalismus), der Konflikte nach Möglichkeit ohne Gewalt (Anarchie) löst – unter welchen Bedingungen ließe sich dieses Ideal verwirklichen? Welche Interessen stehen ihm entgegen? Der Autor, ein Sozialwissenschaftler und Schriftsteller, schöpft aus rund vier Jahrzehnten Querdenkens für Toleranz und gegen Gewalt, wenn er die relativ neue politische, sozialpsychologische und ökonomische Theorie des Anarchokapitalismus an aktuellen und historischen Beispielen lebendig werden lässt und dabei gleichsam nebenbei traditionelle politische Gegensätze wie links und konservativ, marxistisch und liberal überwindet. Er provoziert durch die gut belegte und scharf formulierte These, die von Staat und Medien verordnete Toleranz sei in Wirklichkeit repressiv.

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Zeichnung: Stefan Klinkigt 2014

(www.klinkigt.net)

Stefan Blankertz | 1956 | »Wortmetz« | promoviert in Soziologie, habilitiert in Pädagogik; & Rothbardero-Avantgardist seit 1980. Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.

INHALT

Widmung

Repressive Toleranz 2.0

Besser als Demokratie

Wo ich mich verorte

Doch ein bisschen Gewalt?

Marx, der Anarchokapitalist

Zur Struktur anarchokapitalistischer Theorie

Der Waffengang

Schokotaler für unendlichen Spaß

Bewegung: Rinks oder Lechts

Das Murray Rothbard Institut

Editorische Notiz

GEWIDMET MEINEN IMPERFEKTEN HELDEN

1.

DEM UNBEKANNTEN KAPITALISTEN,

der, angefeindet von aller Welt, diese versorgt.

2.

OTTO WELS, Sozialdemokrat,

der am 23.3.1933 gegen die Machtübergabe an die Nationalsozialisten stimmte.

3.

LIU SHAOQI, Kommunist,

der 1961 Maos – & seinen! – »großen Sprung nach vorn« stoppte und durch die Einräumung kleiner wirtschaftlicher Freiheiten erreichte, dass wieder genug zum Überleben produziert wurde. Als Mao die Macht 1967 zurückeroberte, ließ er Liu zu Tode foltern und die Szene filmen.

REPRESSIVE TOLERANZ 2.0

1.

Feind #1 der Menschheit: Der Neoliberale. Dessen parteipolitisch organisiertes Ärmchen macht sich, in Deutschland, selber zur F.D.P. nummer. Entsprechend schallt durch den von süßem Regen durchwallten Blätterwald,1 was die Wissenschaft längst weiß:2 Das Problem der Welt, in der die Staaten dermaßen viel Macht, Gewalt und Einfluss wie nie zuvor aufgehäuft haben, lautet, »zu viel Freiheit, zu wenig Staat«.3 Der Staat ist ohnmächtig, der arme, macht er doch so unendlich viel Gutes, Wohlstand und Frieden, wenn man ihm, ach, die Macht bloß ließe. Der neoliberale Dschungel-Kapitalismus aber schickt die Heuschreckenplage.

2.

Und da soll »Anarchokapitalismus«, Steigerung des Neoliberalismus ins Unendliche, gegen Gewalt helfen, gegen die Gewalt, die immer vom Volk im wörtlichen Sinne ausgeht, nie aber vom Staat, der so gern Frieden schaffen würde und das ganz ohne Waffen, währenddessen die Individuen in aller Welt privat sich bewaffnen, um den schutzlosen Staat anzugreifen, wo sie nur können!4 Wer begeht hier den Denkfehler? Die folgenden Überlegungen sollen zur Aufklärung des »Bourdieu-Paradoxes« beitragen. Sie zu lesen, fordert Mut: sich den von der etatistisch bestochenen Intelligenzija geprägten Denkfiguren zu widersetzen und eine andere Perspektive einzunehmen.

3.

Gegenwärtig verschwinden Negerkuss, Zigeunersoße und Judenkuchen. Der Migrationshintergrund von Straftätern bleibt derzeit ungenannt und »Toleranz« wird zwangsweise in der Schule unterrichtet. Zum Teil greift die »Korrektur« bereits in historische Texte ein.5 Sogar die Bibel gibt es in »gerechter Sprache«.6 Diskriminierung »benachteiligter« Gruppen wie Frauen, Alte, Homosexuelle etc. gesetzlich zu verbieten, geschlechter- bzw. genderkonforme Ausdrucksformen amtlich vorzuschreiben, nimmt zu. Die Kritiker von Islamisierung, von Euro, von Kriegsführung zur Sicherung der Humanität und zur Aufrechterhaltung eines Status quo an staatlichen Grenzen, von Zuwanderung, von Asylmissbrauch, von Anerkennung homosexueller Ehen oder von schulischer Sexualkunde klassifiziert man ganz pauschal als Nazis. Dagegen kann das Christentum gefahrlos kritisiert werden. Den Klimawandel darf man so wenig »leugnen« wie Auschwitz. Den Kapitalismus muss man kritisieren, denn jedes Kind weiß inzwischen, dass Auschwitz und der Nationalsozialismus ebenso wie etwa der Klimawandel ein unmittelbares, unvermeidliches Ergebnis des Kapitalismus darstellen. Wer das nicht so sieht, sieht sich umgehend ebenfalls in die Nazi-Ecke gestellt. Satire darf zwar »alles«, bloß aber im Einklang mit der politischen Korrektheit. Also bitte ganz bestimmte Witze unterlassen, um nicht die Gefühle ganz bestimmter – favorisierter – Gruppen zu verletzen. Im Namen der Toleranz wird zunehmend sowohl durch die staatliche als auch mediale Seite Intoleranz ausgeübt und gefordert. Der Einsatz von staatlicher Gewalt und von öffentlicher Meinung, die behaupten, die Toleranz zu verteidigen und zu fördern, ergibt einen Teufelskreis, der in die Hölle von gutgemeinter Intoleranz, Repression und Aufhebung der Freiheit treibt.

4.

HERBERT MARCUSE 1965 veröffentlichte Marcuse seinen einflussreichen Essay mit dem Titel »Repressive Toleranz«. Ihn heute zu lesen, ist ein Erlebnis besonderer Art. Denn über weite Strecken liest er sich, als habe ihn grad neulich ein Kritiker der politischen Korrektheit geschrieben. »Wenn Toleranz in erster Linie dem Schutz und der Erhaltung einer repressiven Gesellschaft dient, wenn sie dazu herhält, die Opposition zu neutralisieren«, schreibt er, »dann ist Toleranz pervertiert worden.«7 Gesetz und Ordnung seien überall und immer Gesetz und Ordnung derer, die die etablierte Hierarchie schützen.8 Durch Schule, Politik, Medien und Gesetzgebung werde Sprache und Denken so geformt, führt Marcuse weiter aus, dass es die Mehrheit der Bevölkerung geneigt macht, schließlich die »Demokratie mit totalitärer Organisation«9 zu tolerieren und Abweichlern gegenüber intolerant zu sein. (Marcuse geißelt im Übrigen auch ein öffentliches Werben für eine ungezügelte Form der »Selbstverwirklichung«,10 die einen Nonkonformismus ermutigt, der die wirklichen Unterdrückungsmechanismen der gleichgeschalteten Gesellschaft unberührt lässt.)

5.

Wenn Marcuse seinen Essay mit der Formulierung beginnt, »dass die Verwirklichung der Toleranz Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen erheischen würde – sowie die Ausdehnung der Toleranz auf politische Praktiken, Gesinnungen und Meinungen, die geächtet und unterdrückt werden«,11 dann meinte er damit, wie später im Text deutlich wird, »befreiende Toleranz würde mithin gegenüber Bewegungen von rechts Intoleranz bedeuten und Duldung von Bewegungen von links«.12 Rechten die Toleranz entziehen, Linke jedoch begünstigen – ginge das so weit, linken und eventuell sogar islamistischen Antisemitismus zu tolerieren, gegen rechten mit der Härte des Gesetzes vorzugehen? Das kann Marcuse nicht gemeint haben.

6.

Heute sind jene die Vertreter der Repression und des herrschenden Status quo, die sich den von Marcuse in seinem Essay immer wieder, wenn auch meist nur stichwortartig erwähnten Inhalten verschrieben haben: Kampf gegen Rechts, gegen die ökonomische Macht der Wirtschaft, gegen den Betrug auf dem Markt, gegen Reklame. Bloß die Mahnung, dass militärische Interventionen, um Frieden und Freiheit zu »sichern«, nichts seien als »das Grundvokabular der Orwellschen Sprache«,13 ist in der politischen Korrektheit auf der Strecke geblieben. Ironie am Rande: Marcuses Essay würde heute seinerseits unter die Zensur der herrschenden Linken fallen, da er an einer (inhaltlich nicht bedeutenden) Stelle von »Negern«14 spricht – damals, 1965, der politisch korrekte, wertfreie Begriff.

7.

Der von Marcuse analysierte Mechanismus, mit welchem die »veröffentlichte und verordnete« Sprache den Zugang solchen »Wörtern und Ideen versperrt, die anderen Sinnes sind als die etablierten«,15 stellt sich heute folgendermaßen dar: Der anständige Deutsche muss auf der einen Seite für eine multikulturelle Willkommenskultur eintreten, auf der andren Seite aber dem Realitätsprinzip genüge tun und eine Abwehr von Einwanderungswilligen an den Grenzen der EU tolerieren, die der Todeszone der verflossenen Deutschen Demokratischen Republik alle Ehre macht. Dies gilt als die einzig vernünftige Haltung, der gegenüber Abweichungen entweder links- oder rechtsextremistisch, irrational sowie populistisch zu nennen sind. Oder man hat als Deutscher das marode staatliche Gesundheitswesen als das beste der Welt und als die Krone des Sozialstaats zu preisen, während man gleichzeitig den Skandal einer »Zweiklassenmedizin« geißeln muss. Solche und weitere ähnliche Denkfiguren, die objektiv irrational bis hin zum Lächerlichen sind, werden durch »die Reklame der bestehenden Mächte« etabliert »und in deren Praktiken« verifiziert.16

8.

Ein halbes Jahrhundert nach der »Repressiven Toleranz« ist es nicht möglich, ihren Begriff in dem von Marcuse gemeinten Sinne als Ganzes zu erhalten. Man kann entweder seinem Inhalt Priorität geben. Das ist der Weg des sozialdemokratisch-grünen Mainstreams mit seiner politischen Korrektheit. Dieser Weg lässt sich durchaus auf Marcuses Text zurückverfolgen. Nachdrücklich mahnt er dort an, dass »Gruppen und Bewegungen die Rede- und Versammlungsfreiheit entzogen« werde, die »eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten oder der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. sich widersetzen«;17 ja, sogar von »neuen und strengen Beschränkungen der Lehren und Praktiken in den pädagogischen Institutionen«18 und Intoleranz gegenüber ihm missliebiger wissenschaftlicher Forschung fantasiert er.

9.

Wie die Entwicklung der letzten fünf Jahrzehnte gezeigt hat, hebt er auf diese Weise allerdings die kritische Bedeutung seines eigenen Begriffes von einer »repressiven Toleranz« schlechterdings auf. Repressive Toleranz wird dann befürwortet, sofern sie die der heute herrschenden Klasse nützliche Politik stützt. Das Ergebnis ist jedoch nicht die von Marcuse erträumte Freiheit oder auch nur das Erwachen der Massen zu demokratischer Mündigkeit, vielmehr eine beispiellose Gleichschaltung19 und Degradierung der Bürger zu von der Bürokratie abhängigen, unmündigen Kindern im Spätetatismus. Man kann also entweder Marcuses Inhalt die Priorität geben, oder man kann die Struktur seiner Kritik an der repressiven Toleranz von ihren dem politischen Tagesgeschäft geschuldeten zufälligen Inhalten ablösen und ihren befreienden formalen Kern erhalten. Was wir brauchen, ist eine kapitalistische außerparlamentarische Opposition, die der »repressiven Toleranz 2.0« Widerstand leistet. Dieser gehe es darum, »die Sprache von der Tyrannei der Orwellschen Syntax und Logik zu befreien« und dabei »die Begriffe zu entwickeln, welche die Realität erfassen«.20

10.

Das Tuwort »leugnen« bedeutet, etwas Offenkundiges zu bestreiten. Auch etymologisch gesehen sind der »Leugner« und der »Lügner« enge Verwandte. Im Zusammenhang mit der Rechtsprechung wird die Unterstellung, der Angeklagte »leugne«, in offenkundigen Unrechtssystemen verwendet. Vor der Inquisition zu leugnen, dass man Hexe oder Ketzer sei, vor dem stalinistischen oder maoistischen Revolutionstribunal zu leugnen, dass man objektiv konterrevolutionär gewirkt habe, vor Roland Freislers Gerichtshof die volksschädigenden Umtriebe zu leugnen, das sind todeswürdige Verbrechen. Die einem vorgeworfenen »Verbrechen« zuzugeben, bedeutet andererseits ebenso, das eigene Todesurteil zu fällen. Stets befindet der Angeklagte sich im Unrecht. Die neue, rechtsstaatliche Karriere des Tuworts »leugnen« begann mit dem Leugnen des Holocausts. Da noch eine vage Erinnerung bestand, dass es nicht Aufgabe eines Gerichts sein darf, über die Wahrheit von Aussagen zu historischen Ereignissen zu befinden, musste hier, um das Leugnen zum Straftatbestand zu erklären, dem Leugnen noch eine weitere Qualität zugeschrieben werden. Man fand diese Qualität in der Behauptung, das Leugnen des Holocausts würde die Opfer beleidigen. Diese Beleidigung aber betraf einerseits Tote, andererseits ein nicht genau bestimmbares Kollektiv; so blieb auch diese Begründung des Deliktcharakters vom Leugnen ungenügend. Zu weiterer Stützung wurde darüber hinaus der logische Schluss gezogen, dass der, der den Holocaust leugne, für die Verfolgung der Juden heute eintrete und darum Volksverhetzung betreibe.21

11.

Die Logik hinter diesem Schluss hat mir allerdings nie eingeleuchtet: Wem es wichtig ist, den Nationalsozialismus von einer damaligen Verfolgung der Juden freizusprechen, soll deren Verfolgung heute befürworten? Gleichwohl konnte die Logik der Kriminalisierung des Leugnens fest in vielen der westlichen Gesellschaften etabliert werden. Man durfte nicht mehr »leugnen«, wollte man nicht des Kreises der anständigen und vernünftigen Menschen verwiesen werden. Dagegen hat mir immer sehr eingeleuchtet, dass die strafrechtliche Verfolgung von Holocaustleugnern diese mit dem werbeträchtigen Nimbus des Märtyrertums ausstattet.

12.

Mit dem Paradigma der Kriminalisierung einer Holocaustleugnung, die allgemein akzeptiert wird, gibt es einen auch anderweitig einsetzbaren Kampfbegriff, den des Leugners. Wer etwa den durch die Menschen gemachten, schädlichen Klimawandel oder die Gefahren des Passivrauchens leugnet, und wer leugnet, dass Nahrungsmittel aus genmanipulierten Pflanzen die Gesundheit bedrohen, dass wir um der Volksgesundheit willen einen Impfzwang brauchen und dass, um Frieden zu schaffen, ein Krieg nach dem anderen geführt werden muss, oder was auch gerade als vordringliche gesamtgesellschaftliche Schutzaufgabe notwendig erscheint, der versündigt sich nun am Wohlergehen der Nation oder am Volk, an Minderheiten oder Mehrheiten, an der »internationalen Staatengemeinschaft«, an Natur und Umwelt.

13.

Eine weitere Eskalationsstufe ist die Einführung eines zusätzlichen Begriffs, durch welchen das Tuwort »leugnen« in einen coolen Anglizismus transformiert wird: »Denial Industry«. Schon immer ist den jeweiligen »Leugnern« vorgeworfen worden, dass sie sich finanzieren ließen aus dunklen, das heißt privaten, das heißt unternehmerischen Kreisen. Ein solcher Vorwurf kann fraglos nur von einer Bevölkerung akzeptiert werden, die bereits fest davon überzeugt ist, dass alles Private parteiisch und damit unglaubwürdig sei, demgegenüber der Staat mit seiner Finanzierung der Wissenschaft unparteiische Objektivität und Glaubwürdigkeit garantiere. Es wird schlicht geleugnet [!], dass der Staat irgendwelche eigenen Interessen habe und diese durch die Finanzierung von Forschung in eben der Weise verfolge, wie es privat organisierte Interessen auch tun; nur dass der Staat mit mehr Macht ausgestattet ist. Adel der Objektivität kennzeichnet allerdings nicht jeden Staat. Journalisten, die ihre finanziellen Zuwendungen »aus Moskau« erhalten, sind ebenso wenig glaubwürdig wie die Wissenschaftler mit Aufträgen der geheimnisumwitterten »Koch Industries«.

14.

15.

PAUL K. FEYERABEND Die enge Zusammenarbeit von der staatlich finanzierten Wissenschaft, der Gesetzgebung und der Rechtsprechung mit den Medien spielt eine wichtige Rolle bei der Kriminalisierung des Leugnens. In dieser Zusammenarbeit konstituiert sich die »repressive Toleranz«, die Marcuse auf den Begriff brachte. Zehn Jahre nach dem Essay von Marcuse, 1975, veröffentlichte Paul K. Feyerabend die provokante Streitschrift »Wider den Methodenzwang«.22 Der Erkenntnistheoretiker Feyerabend, anders als Marcuse weder Marxist noch Psychoanalytiker, sondern aus dem »Wiener Kreis« des Neopositivismus stammend, räumte in dem Buch mit der Behauptung auf, Wissenschaft umgebe ein Heiligenschein der Objektivität. Er legte eine Fülle von Material aus der Geschichte und der Gegenwart des akademischen Betriebs vor. In der Wissenschaft – wohlgemerkt: auch und gerade in der angeblich unbestechlichen Naturwissenschaft – entscheiden die Interessen und Machtkämpfe darüber, was als wahr zu gelten habe. Ihre Struktur wäre nicht Wahrheitssuche, sondern »Stalinismus«. Genau diese These von Feyerabend liest sich heute, als sei es eine Beschreibung des Zustands etwa in der Klimaforschung.

16.

Die Wirkungsgeschichte von Feyerabends Argumentation »wider den Methodenzwang« ist wie auch bei Marcuses »repressiver Toleranz« zwiespältig. Hatte Feyerabend seine Position zunächst als »erkenntnistheoretischen Anarchismus« gekennzeichnet, verfiel er in den folgenden Jahren auf die Idee, dass sich die Tyrannei der Wissenschaften durch »Bürger- und Laienkomitees« demokratisch kontrollieren ließe. Als junger Erwachsener führte ich Anfang der 1980er Jahre einen – inzwischen öffentlich zugänglichen – Briefwechsel mit ihm und fragte nach, warum er die Tyrannei der Wissenschaften durch die Tyrannei der Mehrheit ersetzen wolle, erhielt aber keine mich überzeugenden Antworten.23 Mit seiner »demokratischen Wende« bereitete Feyerabend die Situation heute vor, in der das, was als Wahrheit nicht geleugnet werden darf, von Parlamenten, von Gerichten, von der »Gemeinschaft« der Wissenschaftler oder von den Ausschüssen der UNO u. dgl. determiniert werden kann.

17.

Allerdings stellte es sich auf dem Wege hin zu dieser neuen, alltäglichen Inquisition im Spätetatismus heraus, dass man sich von Feyerabends Kritik an der Wissenschaft wieder lösen musste. Auf die Behauptung, die eigene Position sei »wissenschaftlich unangreifbar«, mochte man nicht verzichten; propagandistisch war sie zu kostbar. Paul K. Feyerabend wieder zu entdecken heißt auch, sich abermals starke Argumente gegen die Tyrannei der staatlich finanzierten, medial und teils schon gerichtlich für sakrosankt erklärten Wissenschaft anzueignen.

18.

Dass Menschen, die sich in ihrem Anliegen und demjenigen einer großen Gruppe – wenn nicht gar der Mehrheit – der Bevölkerung, welches sie in ihrer außerparlamentarischen Opposition zu artikulieren trachten, durch die Presse nicht ernst genommen, blamiert und diffamiert, unfair dargestellt oder ausgegrenzt fühlen, diese Presse als »Lügenpresse« bezeichnen, ist nur allzu verständlich.24 Wenn die auf diese Art bezeichnete Presse dann auch noch unisono wie die sprichwörtlich getroffenen Hunde aufheult, klingt das als eine Bestätigung; dass sie dabei wiederum lügt und den Begriff, der tatsächlich von oppositionellen Gruppen aller politischen Ausrichtungen benutzt wurde, bloß der Ausrichtung nach »rechts« zuschreibt, ist ein bittersüßes Bonbon am Rande. Auch die etymologische Nähe des Wortes »Lüge« zum »Leugnen«, welches die zur »Lügenpresse« gestempelten Medien als ein staatsfeindliches Delikt allerersten Ranges zelebrieren, ist meines Wissens nirgendwo einer Erwähnung für nötig gehalten worden. Dem Begriff der »Lügenpresse« eignet jedoch eine ganz andere Problematik, die, wenn nicht dem Anliegen der außerparlamentarischen Opposition, so doch ihrer Erfolgsaussicht grundsätzlich entgegensteht.

19.

Als »Lüge« ist bloß das zu bezeichnen, was jemand wider besseres Wissen behauptet.25 Jemandem, den man einen »Lügner« nennt, unterstellt man, dass er es besser wisse, also dass er die Wahrheit kenne. Bei der »Lügenpresse« muss es sich demzufolge um eine gigantische Verschwörung, die die Wahrheit leugnen will, handeln. Dem Gegenüber eine Lüge zu unterstellen, nimmt ihn nicht ernst, blamiert und diffamiert ihn, stellt ihn unfair dar oder versucht, ihn auszugrenzen. So jemanden überzeugt oder ändert man nicht, man macht ihn sich zum Feind. Da dieser Feind Teil einer gigantischen »Verschwörung« sein muss, ist er auch stets mächtiger als die außerparlamentarische Opposition. Sie schneidet selber sich von der Denkmöglichkeit ab, wirksam zu werden. Gleichzeitig beweist die schiere Existenz der Opposition, dass die gigantische Verschwörung keineswegs so erfolgreich ist, wie zu sein ihr die Opposition unterstellt.

20.

Dieser Effekt des Begriffes »Lügenpresse« leitet über zu einer zweiten Problematik, die sich offenbart, wenn wir die Seite der angeblich Belogenen anschauen. Belügen lässt sich bloß der Arglose oder der Unwissende. Die schiere Existenz einer außerparlamentarischen Opposition zeugt allerdings davon, dass die Lüge nicht unterschiedslos bei jedem wirkt. Interessant wird angesichts dieser Beobachtung die Frage, warum die einen die Lügen der Presse schlucken und die Medien weiter konsumieren, während andere es nicht mehr tun. Die Medien verfügen also offensichtlich gar nicht über jene Macht, eine außerparlamentarische Opposition an der Formierung zu hindern. Da, unter der Bedingung der formal gewahrten Meinungs- und Pressefreiheit, die Konsumenten die jeweiligen Medien auswählen, die sie konsumieren, ist es schier unmöglich, dass ein Medium Meinungen, Ansichten und Haltungen in verschwörerischer Absicht transportiert, welche den Meinungen, Ansichten und Haltungen der Konsumenten widersprechen. Sofern ein Medium dies versucht, werden die Konsumenten auf andere Medien ausweichen. Angenommen, über Nacht würde eine oppositionelle Fee den Chefredakteur vom »Spiegel« durch, sagen wir, einen PEGIDA-Sympathisanten ersetzen, welche Auflage hätte der Spiegel einige Wochen später noch?26

21.

Nun haben wir mit dem Begriff »Lügenpresse« nicht nur eine gigantische Verschwörung aller Journalisten, Medienverantwortlichen, Meinungsbildner und Kommentatoren heraufbeschworen, sondern auch noch die zumindest stillschweigende, wahrscheinlich durchaus aktive Beteiligung aller Konsumenten dieser Medien. Damit wird auch die Behauptung widerlegt, die außerparlamentarische Opposition artikuliere einen in der Bevölkerung zwar bislang noch stillschweigenden, aber schon (oder noch) verbreiteten Widerstand gegen die Inhalte, die die »Lügenpresse« verbreitet. Der Begriff der »Lügenpresse« transportiert dagegen die Wahrheit, dass bei der außerparlamentarischen Opposition es sich um eine kleine radikale Minderheit handelt, ganz so, wie die Lügenpresse das darstellt.

22.

Vertut sich die außerparlamentarische Opposition mit dem Begriff der »Lügenpresse« die Denkmöglichkeit von realpolitischer Wirksamkeit, so vertut sie sich mit den in ihm enthaltenen verschwörungstheoretischen Annahmen auch die Einsicht in den Mechanismus der Gleichschaltung. Aber bloß eine solche Einsicht könnte die außerparlamentarische Opposition wirksam werden lassen.

23.

Die Gleichschaltung ist nicht Ergebnis einer gigantischen »Verschwörung«, sondern des Spätetatismus, der jeder über hinreichenden Grad an Organisation und genügend großen Einfluss verfügenden Interessengruppe die Möglichkeit einräumt, dass sie für ihre Mitglieder und, vor allem, für ihre Spitzen Vorteile auf Kosten von Anderen erlangt. Die unterschiedlichen Interessengruppen bekriegen sich zwar, was die Gestaltung spezifischer Maßnahmen des Staats angeht, halten es jedoch alle für Recht, dass der Staat über die Macht verfüge, ihnen die erwünschten Vorteile zu gewähren. Das Interesse an einem starken und gegebenenfalls auszuweitenden Staat eint sie. Indem der Staat auf solche Weise immer verschiedeneren, folglich widersprüchlicheren Interessengruppen Vorteile beschafft, heben diese »Vorteile« sich im Spätetatismus zwar objektiv großenteils gegenseitig wieder auf, doch jede Interessengruppe glaubt nun umso fester, dass sie ohne die »schützende Hand« des Staats auf verlorenem Posten stünde und der Gier der konkurrierenden Interessengruppen ausgeliefert wäre. Außerparlamentarische Oppo-sition, sofern durch sie nichts weiter artikuliert wird als Neid einer in diesem Prozess zu kurz gekommenen Interessengruppe, die wieder zurück an die »Schalthebel der Macht« sich wünscht, ist sie alles andere als eine Opposition.

24.

Der Begriff der »Lügenpresse« könnte falscher nicht sein. Weder lügt die Presse die Bevölkerung an, noch lässt sich die Bevölkerung belügen. Die Journalisten schreiben und die Kommentatoren sprechen in Wahrheit der Mehrheit der Bevölkerung aus der Seele, alle zusammen sind sie zutiefst und wahrhaft erschreckt über den Gedanken, der im Spätetatismus erreichte Stand staatlicher Durchherrschung und Einflussnahme auf das Leben könne auch nur um einen Hauch zurückgedreht werden.

25.

THEODOR W. ADORNO In den 1960er Jahren hielt Theodor W. Adorno der damals linken außerparlamentarischen Opposition – die mit Parolen wie »Enteignet Springer!« gegen die »Lügenpresse« vorging – entgegen, das Mediengeraune »macht die Menschen nicht zu dem, was sie sind, sondern lediglich nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind«.27 Die Symptome anstelle der Ursachen zu bekämpfen, wirkt nicht heilend.

26.

Ob denn Speziesismus, die »Diskriminierung aufgrund der biologischen Artzugehörigkeit«, mithin aufgrund falschen Aussehens, falscher Anzahl von Beinen oder falscher DNA Recht sein könne, fragt die »Giordano-Bruno-Stiftung« rhetorisch, angesichts »unserer« Ablehnung analoger Diskriminierungsformen wie Rassismus oder Sexismus. »Was aber verhindert dann die Aufnahme des Schweins in die Gemeinschaft der moralisch Gleichwertigen?«28 Es ist kein Zufall, dass die Begründung des »Anti-Speziesismus« sich auf eine heute akzeptierte, jedoch keineswegs unproblematische Spielart von Anti-Rassismus und von Anti-Sexismus stützt, als gäbe es keine Einwände gegen diese. Anti-Rassismus und Anti-Sexismus haben sich aus sozialen Bewegungen gegen institutionelle Diskriminierung und für das liberale Ideal der Rechtsgleichheit in Ideologien verwandelt, die eine neue Repression gegen Andersdenkende rechtfertigen. Sie sind einer von den Hebeln, mit deren Hilfe es der Staatsgewalt im Spätetatismus gelingt, weitreichende Eingriffe in die Privatsphäre, in die Sprache und in die Vertragsfreiheit durchzusetzen.

27.

Allen drei Formen von »Antis« liegt eine, vorsichtig gesagt, fragwürdige Umdeutung von dem Begriff dessen zugrunde, worin ein Recht bestehe. Ein Recht wird nicht mehr liberal gedacht als die Freiheit, etwas zu tun, sondern als der Anspruch darauf, etwas zu erhalten, das durch das eigene Tun gerade nicht erreichbar scheint. Ein solcher Anspruch, ein solches »Recht auf …« – statt »Recht zu …« – lässt klarerweise sich nur dadurch einlösen, dass mit der organisierten Gewalt, mit dem Staat, Andere hierzu gezwungen werden; denn wenn diese Anderen sich überzeugen ließen, den Anspruch freiwillig einzulösen, wäre er durch das eigene Tun erreichbar. Die organisierte Gewalt tritt hierbei nicht bloß denjenigen repressiv gegenüber, die zur Einlösung eines Anspruchs gezwungen werden, sondern auch bevormundend den Nutznießern des Anspruchs, die kriegen, was der Staat verordnet, und nicht, was sie für sich selber schaffen.

28.

IMMANUEL KANT Des Weiteren kennzeichnet den Anti-Speziesismus ein innerer logischer Widerspruch. Zu fordern, Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Tieren zu ergreifen sowie ihnen Rechte einzuräumen, wird ethisch begründet. Was auch immer die nur graduellen Unterschiede zwischen Tier und Mensch sind – Tiere gebrauchen Werkzeuge, Tiere kennen kulturelle Traditionen, Tiere haben Empathie usw. –, dieser eine bleibt eine klare Trennlinie: und das ist die Verbindlichkeit von Ethik; mit der Debatte um Evolutionismus und Kreationismus hat das nun überhaupt nichts zu tun. Anti-Speziesisten argumentieren, für die Fähigkeit, Rechte eingeräumt zu bekommen, sei es hinreichend, dass ein Wesen über Interessen und Empfindungen verfüge. Ameisen vernichten Eindringlinge, die nicht zum gleichen Staat gehören. Keine Argumentation eines Anti-Speziesisten wird sie überzeugen, ihnen anstatt dessen Asyl zu gewähren. Auch bekomme ich im Termitenstaat kein Bürgerrecht, egal welche Beschlüsse die UNO fasst oder ob ein anti-speziesistisches Glaubensbekenntnis im Grundgesetz verankert wird. Dass man »Interessen« oder »Empfindungen« zum Fundament des Rechts macht, ist unsinnig, wie Immanuel Kant in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« 1775 herausarbeitet. Das Recht muss im Gegenteil sich behaupten gegen die Interessen und gegen die Empfindungen, sie nämlich hintanstellen angesichts der Existenz des Rechts eines Anderen.29 Dass ich »Interesse« an einem Gegenstand habe, der jemand Anderem gehört, berechtigt mich nicht, ihn zu entwenden. Dass ich Wut »empfinde«, weil jemand Anderer meine Religion veralbert, berechtigt mich nicht, ihn zu töten.

29.

Interessanterweise beruft sich unter den Anti-Speziesisten zumindest die Giordano-Bruno-Stiftung auch auf den Biologen Richard Dawkins. Nun besteht das wissenschaftliche Verdienst von Dawkins unzweifelhaft in der Formulierung der Theorie vom egoistischen Gen. Diese Theorie präzisiert den Darwinismus und erklärt die Kraft hinter der Evolution: Das Bestreben des Gens, sich zu vermehren. Damit ist die Rede von der »Arterhaltung« als ein anthropozentrischer Mythos zurückgewiesen, der der Vorstellung von Volk und Nation entspricht, nicht jedoch den biologischen Gegebenheiten. Das »egoistische« Interesse des Gens erlaubt Verhaltensweisen (wie Infantizid), die noch Konrad Lorenz – und seine Schule – als undenkbar klassifiziert hatte, weil sie dem von ihm statuierten »Gesetz« widersprechen, dass es unter Tieren keine Tötung innerhalb der eigenen Art gäbe. Dawkins bestätigt ausdrücklich, wir, die Menschen, seien »als einzige [!] Lebewesen auf der Erde« in der Lage, »uns gegen die Tyrannei [!] der egoistischen Replikatoren« aufzulehnen, nur wir können ethische Entscheidungen treffen, die nicht von den Genen diktiert wären.30 Als einzige Lebewesen! Speziesistischer geht es wohl nicht.

30.

Infantizid ist einer weiteren Betrachtung wert. Er kommt in sogenannten Ein-Männchen-viele-Weibchen-Gruppen beispielsweise bei Löwen und Grauen Languren dann vor, wenn ein neues Männchen die Gruppe übernimmt und die Kinder des Vorgängers tötet.31 Meine Frage an die Anti-Speziesisten lautet: Welches Recht müsste Anwendung finden in einem solchen Falle? Das allgemeine Menschenrecht würde hier wohl auf Mord mit den jeweils aus ihm folgenden landesüblichen Strafen plädieren. Mord, weil auf Seite der Täter Heimtücke und niedere Motive vorliegen sowie auf Seite der Opfer Wehrlosigkeit gegeben ist. Oder sollte es ein Recht der Art auf ihre natürlichen Verhaltensweisen geben? Diese Antwort würde dann aber ein speziesistisches Sonderrecht zugestehen.

31.

EINE NEUE AUFKLÄRUNG TUT NOT Von einer Trennlinie zwischen Tier und Mensch zu sprechen, ist im Sinne des liberalen Rechtsdenkens dagegen ungenau. Nach Kant gilt das aus der Vernunft abgeleitete »Prinzip der Sittlichkeit« nicht nur für Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen, die über einen freien Willen32 verfügen und die ihre Handlungen nach Grundsätzen (»Maximen«) bestimmen können. In genau diesem Sinn ist das liberale Recht wahrlich anti-speziesistisch. Es definiert sich eben nicht in einer biologistischen Weise. Unter Menschen triumphiert allerdings auch allzu oft das Interesse über das Recht. Die Grundlage des Anti-Speziesismus ist nicht das selbstlose, altruistische Ringen um Recht und Gnade für die geschundene Kreatur. Zur Grundlage dient ihm, die organisierte Gewalt des Spätetatismus mit weiterer Legitimation für die Bevormundung von Menschen auszustatten. Das der logischen Struktur beraubte Recht ist willfährige Knetmasse in den Händen derer, die behaupten, Interessen anderer Menschen und zukünftig vielleicht sogar anderer Arten besser zu kennen und besser zu vertreten, als sie es jeweils selber können. Hinter der Bevormundung wiederum stehen »natürlich« ökonomische Interessen, etwa das Interesse an der Vervielfachung von entsprechenden Aufsichtsjobs im Staatsapparat oder (oftmals verborgene) Interessen von einflussreichen Unternehmen, die Konkurrenz aus dem Feld zu drängen. Aufklärung sei, so Kants berühmte und unerreichte Formulierung, der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Der Anti-Speziesismus gehört zu jenen Kräften, die den Menschen zurückführen in die Unmündigkeit als Unterworfene unter das Recht des Staats, das im Grunde nichts anderes darstellt als das »Recht« des Stärkeren auf einer höheren Stufe der Organisation. Neue Aufklärung tut not: Beachten wir dabei, dass neben Fragen der Legitimation von Herrschaft insbesondere auch diejenigen nach den mit ihr verbundenen ökonomischen Interessen Beachtung finden müssen, um zu einer realistischen Analyse und zu einer erfolgversprechenden Strategie zu gelangen für Freiheit, Wohlstand und Frieden. Auf den folgenden Seiten verbinde ich deshalb die Legitimationstheorie mit der materialistischen ökonomischen – marxistischen – Analyse.

1 Freiheit sei Sklaverei … »Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter des eigenen Unternehmens.« Byung-Chul Han, Süddeutsche Zeitung, 03. 09. 2014.

2 Selbstverantwortung sei von Übel … Die »Betonung der individuellen Verantwortung, die im Zentrum einer konservativen [!] Sicht der Gesellschaft steht, ist bis in unsere so genannten sozialistischen Regierungen verbreitet.« Pierre Bourdieu, TAZ, 04. 12. 1999.

3 Gewalt sei Vernunft … »Es geht mir um die Verteidigung des Staates und seiner Vernunft gegen die pure Ökonomie.« Pierre Bourdieu, Berliner Zeitung, 26. 07. 1997.

4 Laut Pierre Bourdieu gibt es in den USA gar keinen Staat (fragt sich nur, wer da vom amerikanischen Kontinent aus bei den weltweiten Kriegen seit deren erstem kräftig mitmischt): »Eine der Eigenschaften des Staates, über die sich alle Soziologen einig sind: Er besitzt das Gewaltmonopol – in den USA jedoch kommt dieses staatliche Monopol kaum zum Tragen. Immerhin besitzen hier 70 Millionen Menschen Waffen.« Pierre Bourdieu, TAZ, 04. 12. 1999. Und was, bitte, ist mit der Schweiz? und und und … Zum »right to keep and bear arms« siehe unten Kapitel »Der Waffengang«.

5 Kristina Schröder (Familienministerin 2009-2013) sagte der »Zeit« (2012, Nr. 52), beim Vorlesen von »Pippi Langstrumpf« weiche sie diskriminierenden Begriffen wie »Negerkönig« aus, weil sie ihr Kind davor »bewahren« wolle, »solche Ausdrücke zu übernehmen«. Später werde sie dem Kind »erklären, was das Wort ›Neger‹ für eine Geschichte hat und dass es verletzend ist, das Wort zu verwenden«. (Mich würde interessieren, wie sie ihrem Kind erklären will, dass in den USA weiterhin Menschen sich weigern, den als diskriminierend empfundenen Begriff »black« für sich zu akzeptieren und anstatt dessen »negro« vorziehen. Lassen wir Spitzfindigkeiten.) In Neuauflagen besteht das Problem eh nicht: Bereits seit 2009 ist »Neger-« durch »Südseekönig« ersetzt worden. (Warum ist das Seelenleben von Südseebewohnern weniger schützenswert als das von Negern? Lassen wir Spitzfindigkeiten.) Beim Vorlesen zu verändern und historische Texte mit Einwilligung der Copyright-Inhaber umzuschreiben, sind sicherlich freiwillig, mithin legitim, egal, wer was darüber denkt. Schnell jedoch schlägt die politische Korrektheit in Zensurversuche um. 2004 forderte eine Referentin der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung einen Verlag brieflich auf, abzusehen von einer weiteren Veröffentlichung des problematischen Texts »Die Zigeuner«, Autor: Walter Benjamin. Damals entschuldigte sich die Ausländerbeauftragte nach Bekanntwerden dieses Zensurversuchs einer promovierten Ethnologin am Text eines Opfers des Nationalsozialismus. Aber was, wenn wir auf einen solchen Heiligenschein nicht zum Schutz verweisen können?

6Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.

7 Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert P. Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/M. 1965, S. 121f. Auch der Essay des Anarchisten Robert P. Wolff, seinerzeit weit weniger beachtet als der Marcuses, mit seiner Kritik an der pluralistischen Demokratie wäre eine erneute Lektüre wert.

8 Marcuse, S. 127.

9 Marcuse, S. 108, vgl. auch S. 110.

10 Marcuse, S. 125.

11 Marcuse, S. 093.

12 Marcuse, S. 120.

13 Marcuse, S. 107.

14 Marcuse, S. 105.

15 Marcuse, S. 107.

16 Marcuse, S. 107.

17 Marcuse, S. 111f.

18 Marcuse, S. 112.

19 Hannah Arendt 1964 im Gespräch mit Günter Gaus: Aber Sie wissen ja, »was Gleichschaltung ist. Und das hieß, dass die Freunde sich gleichschalteten! Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete.« (In: Hannah Arendt, Ich will verstehen, München 1996, S. 56.)

20 Marcuse, S. 123.

21 Die phobische Angst vor »unmoralischen« Meinungen ist die Rückkehr des animistischen Tabus, dessen Bruch »ansteckend« wirke. Es setzt eine Gefühlsambivalenz voraus, d.h. die Vermutung, »wir« oder vor allem »die Anderen« seien im Grunde Neonazi-Sympathisanten, die nur auf die Erlaubnis warten, auszubrechen und sich zu zeigen. Vergleiche zu diesem Mechanismus Sigmund Freud, Totem und Tabu