Das »Bewusstsein begleitet immer unsere gegenwärtigen Empfindungen und Vorstellungen, wenn sie deutlich genug sind, und eben
dadurch ist jeder für sich, was man im reflexiven Sinn ein Selbst nennt (soi-même). So weit sich das Bewusstsein über die Handlungen und Gedanken der Vergangenheit erstreckt, ebenso weit reicht
auch die Identität der Person, und das Selbst ist in diesem Augenblick dasselbe als damals.«
Gottfried Wilhelm Leibnitz, 1704.1
»Statt ›Ich‹ müsste ich vielleicht besser immer sagen ›Selbst‹. […] Das Ich ist wesensmässig auf jedes abgegrenzte Erlebnis […] bezogen. […] Das Selbst aber [… ist …] das ›durchgehend‹ Identische.«
Edmund Husserl, 1921.2
Zitiert bei Husserl in einer Notiz vom Juni 1921 (Husserliana, Band 14, 1973, S. 48).
Das Zitat von Leibnitz nutzt Husserls als Begründung für diese Aussage.
Cornelia Muth
Mein Weg zur Intuition
Husserl schrieb am Ende seines Lebens: »Gerade jetzt, wo ich fertig bin, weiß ich, dass ich von vorne anfange, denn fertig sein heißt, von vorne anfangen.«1
Im Wintersemester 2017/18 habe ich als professorale Gestalt-Pädagogin ein thematisch neues Seminar zur Intuition angeboten: Studierende und
ich setzten sich über Referate mit dem Buch von Gigerenzer (2008) zur Intuition auseinander und
gleichzeitig überprüften wir dieses Wissen anhand eigener Erfahrungen. So stimme ich mit dem oberen
Zitats Husserls überein, denn an die thematischen Grenzen meiner Lehre zu gelangen bzw. ein neues
Thema auszuprobieren, entpuppte sich als Neubeginn, alte Wissensvorräte zu aktivieren. Der Seminartitel ›Zur Intuitionalisierung sozialwissenschaftlichen Wissens‹ bezog sich auf ein Forschungskonzept meines Lieblingsprofessors Enno Schmitz,
phänomenologischer Soziologe, das ich während meines Pädagogik-Studiums an der Freien Universität Berlin kennenlernte.
Schmitz’ Intuitionsbegriff lehnt sich an die von Charles Parsons, Mathematik-Philosoph,
an: Intuition ist eine in-tellektuelle Wahrnehmungsfähigkeit, die sich als Wahrnehmungserfahrung in individuellen Ereignissen zeigt.
Mit Intuition finden wir, nach Parsons, Zugang zur Mathematik und zu abstrakten
Objektivationen, allerdings nicht zur mathematischen Wahrheit (vgl. Symons
2008, S. 85). Schmitz selbst hatte damit jedoch als Vertreter des
Interpretativen Paradigmas, das alles Soziale als Interpretation erklärt, kein Problem, Intuition als Lern- und Ausführungsweg zu begreifen. Letztendlich bin ich diesem Lehrer meinen deduktiven Weg
zum Gestalt-Ansatz schuldig. Kontakt ist für mich praktische Phänomenologie.
Zudem erinnerte ich eine Notiz aus meiner Promotionszeit, dass Emmanuel Levinas
eine Arbeit über Intuition geschrieben hat, allerdings in Französisch. Dazu gibt es auch eine englische Übersetzung, aber keine deutsche. Als ich die englischen und französischen Fassungen las, dachte ich nur, dass ist doch eine Beschreibung von
Kontaktprozessen und so entstand die Idee, ein Kapitel dieses Buches mit
Gestaltkolleg*innen zu übersetzen.
In den letzten Monaten haben Stefan und ich ausgewählte Passagen übersetzt und gestern (im Februar 2018) haben wir abgemacht, dass unser
jeweiliges Ich beschreibt, was die Originalquelle, hier Levinas Darstellung der
Intuition in Anlehnung an Husserl mit uns macht bzw. zu was sie uns inspiriert.
Mit Original meinen wir unsere persönlichen Übersetzungen aus den französischen und englischen Ausgaben. Die Auswahl von zehn Textstellen, die ich als
relevant betrachtete, sind unsere gemeinsame Grundlage (gewesen).
Beim ersten Austausch unserer jeweiligen Übersetzungen zeigten sich zwei phänomenologisch differente Strukturen, die von Stefan und die von mir, was das »Problem der Relevanz« betrifft. Der Husserl-Schüler Alfred Schütz schreibt in seinem gleichnamigen Buch (1982) in Anlehnung an Kurt Goldstein,
dass es entscheidend ist, wie der Organismus mit der Umwelt, die wir nicht
geschöpft haben, zurecht kommt: »Die Umwelt hat gleichfalls ihren subjektiven Sinn für den Organismus. Sie ist das Ergebnis und das Produkt der Wahl des
Weltausschnittes, den wir für unser ganzes organisches und geistiges Tätigsein als relevant betrachten und anerkennen« (Schütz ebd., S. 130).
Unsere jeweiligen Biografien spiegeln das wider, und mit Schütz gesprochen, heißt das auch, wie unsere Wissensvorräte entstanden, entscheidet, was wir wahrnehmen und was wir für relevant halten. So löst bei mir die Auseinandersetzung mit Levinas und Husserl Erinnerungen aus, wie
ich überhaupt zur Phänomenologie gekommen bin und welche zentralen Fragen mich beschäftigt haben und beschäftigen. Eine der Fragen in meinem Studium und später während der Promotion lautete, wie ich als Pädagogin lebensweltbezogen und dialogisch bilden und beraten kann (vgl. Schmitz
1986 und Muth 1998/2011).
In der Auseinandersetzung mit dem französischen Text von Levinas zur Intuition wurde mir erneut der Bruch zwischen
Theorie und Praxis deutlich, der darin besteht, dass das, was ich denke, nicht
das ist, was geschieht, und dass das, was ich wahrnehme, nie von mir losgelöst ist, obwohl es unabhängig von mir existiert. Ähnlich argumentiert Stefan auch. Damit grenzen wir uns klar vom radikalen
Konstruktivismus ab, der behauptet, dass wir allein die Wirklichkeit
konstruieren, in der wir leben. Ich behaupte diesbezüglich mit Schütz und Husserl, dass vielmehr unser Zurechtkommen und dessen Interpretation
entscheiden, wie wir die Umwelt wahrnehmen.