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Was die öffentlichen Schulen betrifft, dominieren in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit die Fragen, warum es so unüberwindliche Disziplinprobleme zu geben scheint, warum so viele Schüler an der Schule scheitern und warum Lehrersein einer der Berufe mit der höchsten Rate von Frühverrentung ist. Für viele Schüler, Lehrer und Eltern ist die Schule kein Ort beschaulichen Lernens, sondern ein täglicher Krampf. Kann uns die Systemtheorie von Niklas Luhmann helfen, diese Fragen zu beantworten (und eventuell einen Ausweg zu finden)? Die Antwort lautet Nein. Luhmann rechtfertigt die gegenwärtige Schulorganisation als einzig mögliche und vernünftige Form der Erziehung; er bestreitet die Möglichkeit einer humanen Alternative. Dagegen eignet Kurt Lewins Feldtheorie sich besser, um zu verstehen, wie Schulpflicht, Berechtigungswesen und staatliche Finanzierung des Schulsystems in den schulischen Alltag hinein wirken und Schüler, Lehrer und Eltern zu unerbittlichen Feinden machen. Was wir brauchen, ist eine Besinnung darauf, dass Pädagogik vor allem eine Voraussetzung hat: Freiwilligkeit.
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Foto vom 19. 11. 2018, gemeinfrei via flickr photos/78423546@N06/51798370118
Stefan Blankertz | Wortmetz | Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt | ewiger Student der Akademie für neoliberalen Kulturmarxismus | Schulkritiker seit 1970
Vorab
SYSTEMTHEORIE
Zukunft einer Illusion
Die Machtfrage
Unbehagen in der Schule
FELDTHEORIE
STAATSTHEORIE
Anmerkungen
Personenregister
Sachregister
[§ 01] Was die öffentlichen Schulen betrifft, dominieren die Fragen, warum es so unüberwindliche Disziplinprobleme zu geben scheint, warum etliche Schüler scheitern und war um Lehrersein einer der Berufe mit der höchsten Rate von Frühverrentung ist. Für Schüler, Lehrer und Eltern ist Schule oft kein Ort des beschaulichen Lernens, vielmehr täglicher Krampf. Kann Luhmanns Systemtheorie helfen, die Fragen zu beantworten (und einen Ausweg zu finden)? Nein. Denn Luhmann rechtfertigt die gegenwärtige Schulorganisation als die allein vernünftige Form der Erziehung; er bestreitet die Möglichkeit einer humanen Alternative.
[§ 02] Dagegen eignet die Feldtheorie Kurt Lewins (ab S. 89) sich, um zu ergründen, wie Schulpflicht, Berechtigungswesen und staatliche Finanzierung des Schulsystems in den schulischen Alltag hinein wirken und Schüler, Lehrer und Eltern zu unerbittlichen Feinden machen. Was wir brauchen, ist eine Besinnung darauf, dass Pädagogik eine Voraussetzung hat: Freiwilligkeit.
»Antiherrschaftlicher Widerstandist keine Systemkategorie. [Systemtheorie führte] zur Unterschätzung der ökonomischen Basisproblematik und zur Überschätzung von Kommunikationsstrategien.«1Christian Sigrist befasste sich mit Luhmanns Hauptwerk Soziale Systeme (1984) und stellte die Systemtheorie polemisch in den Kontext des US-Imperialismus. Den (vulgär-) marxistischen Antikapitalismus, der mit ethnologischen Erkenntnissen, wie er wusste, in Spannung steht, teile ich nicht. Seine Luhmann-Kritik, dessen Systemtheorie fehle die Kategorie des Widerstands, nehme ich aber zum Ausgangspunkt. Widerstand bezeichnet, so Sigrist, eine primäre Verhaltensweise. Der Mensch vergesellschafte sich ursprünglich im Widerstand gegen Herrschaftsbildung; insofern gehe der Widerstand der Herrschaft voraus (mehr hierzu ab S. 115).
[§ 03] Die Schule wäre Überforderung an Sitz- und Unterforderung an Denkleistung, pflegte mein Vater zu sagen. Dass er das irgendwo geschrieben hätte, weiß ich nicht; demgemäß handelt es sich um eine rein mündliche Tradierung. Ich erinnere mich an einen zweiten – für mich – entscheidenden Satz. Er war in den 1970er Jahren bis zu seinem Tod engagiert bei der Entwicklung (s)einer Schulreform (der »Kollegschule NRW«). Als er in einem Interview gefragt wurde, was er sich für den Start wünsche, habe er geantwortet (so erinnere ich mich, dass er es mir berichtete), er wünsche sich, nur solche Lehrer mögen in seiner Schule unterrichten und nur solche Schüler mögen sie besuchen, die dies wollten. – (Allerdings fand ich später nie heraus, wann und wo er das gesagte hätte.)
[§ 04] Inwiefern diese beiden Überlieferungen väterlicher Autorität sich in den Gedanken auf den folgenden Seiten niederschlagen, wird sich beim Lesen erschließen. Auch will ich nicht verschweigen, dass Christian Sigrist als mein Doktorvater ebenfalls eine Autorität für mich ist. Immer noch und immer mehr. Diesen beiden Vätern sei das Buch gewidmet, eingedenk, dass Jacques Derrida meint, »wahre Anarchie hat väterlich zu sein«.2
[§ 05] Blättern in Paul Goodmans Verhängnis der Schule, als das ich 1974 Compulsory Mis-education (1964) übersetzte und 1975 in der von meinem Vater herausgegebenen Reihe Fischer Athenäum Taschenbücher publizieren durfte. Was ich dort lese, findet sich, o Wunder, in meiner kritischen Analyse von Luhmanns Erziehungssystem der Gesellschaft 48 Jahre später wieder; etwa die folgenden Highlights an immer noch gültigen Einsichten. (Ich zitiere sie so, wie ich sie damals übersetzt habe, obwohl es mich in den Fingern juckt, hier und da stilistische und gar inhaltliche Eingriffe vorzunehmen, 48 Jahre später.)
»Laßt uns sehen, wie es sein kann, daß ein großes Schulsystem überhaupt nichts mit Erziehung zu tun hat. Das New Yorker System verschlingt mehr als 700 Millionen Dollar jährlich, Kapitalsteigerungen nicht eingerechnet. Es gibt 750 Schulen in New York, von denen jährlich ca. 15 erneuert werden, was noch einmal 2 bis 5 Millionen Dollar kostet. Es gibt 40000 bezahlte Angestellte. Dahinter aber stehen gewaltige Interessen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß dieses System ebenso wie ein großer Teil unserer politischen Strukturen, von denen die Elementarschule ein Teil ist, um seiner selbst willen weiterfunktioniert, während es eine Million Menschen beschäftigt, den Wohlstand, die Zeit und den Raum für irgend etwas anderes wegnimmt. Es ist ein gigantischer Markt für Schulbuch hersteller, Bauunternehmer und Pädagogische Fakultäten.«
»Der Grundriß eines solchen Systems ist alt, er hat sich bis heute nicht geändert, obwohl der gegenwärtige Handlungsraum dem Umfange nach anders ist, als er früher war, und deshalb eine andere Bedeutung haben muß. Z.B. schlossen um 1900 6% der 16jährigen mit der High-School ab und weniger als ein halbes Prozent ging zum College; 1963 schlossen 65% mit der High-School ab und 35% gingen zu etwas, was College genannt wird. Ebenso groß ist der Unterschied zwischen der Schulzeit, die unterbrochen wird vom Leben auf einer Farm bzw. in einer Stadt mit vielen kleinen Jobs, und einer Schulzeit, die die einzig ›seriöse‹ Beschäftigung des Kindes ist und oft einziger Kontakt mit der Erwachsenenwelt. Eine vielleicht veraltete Institution ist so der fast einzig statthafte Weg des Aufwachsens geworden. Und mit dieser Vereinnahmung wird eine beschränkte Erfahrung intensiviert, z.B. in der Form von Curriculum und Prüfungen entsprechend den Vorschriften der ›Graduate-Schools‹, die örtlich und zeitlich weit entfernt sind. Ebenso wie unsere amerikanische Gesellschaft im ganzen immer straffer organisiert wird, so ist ihr Schulsystem, als Teil jener Organisation, immer mehr reglementiert.«
»Andere arme Jugendliche, in eine Situation getrieben, die ihren Veranlagungen nicht gerecht wird, für die sie auch ihre Verhältnisse nicht vorbereitet haben und die sie auch nicht interessiert, entwickeln eine reaktive Dummheit, ganz anders als ihr Verhalten auf der Straße oder auf dem Sportplatz.«3
[§ 06] Für mich als ein unglücklicher und (bis auf die beiden letzten Jahre) miserabler Schüler war diese Schulkritik ein Rettungsanker. Während ich Compulsory Mis-educationübersetzte, schrieb ich in Englisch Fünfen und Sechsen. Erst danach wählte ich Leistungskurs »Englisch« und hatte das Glück, einen Lehrer zu bekommen, der Verständnis für mein von Goodman geprägtes American English zeigte. Paul Goodman geistert auf allen folgenden Seiten umher. Danke, Paul.
[§ 07] & für all die Kinder, die gern zur Schule gehen, und all die Lehrer, die gern unterrichten: Möge eure Schule noch schöner werden; ohne Nörgler, Störer oder andere blöde Zeitgenossen, die einem’s Lernen oder Lehren verleiden. »Offensichtlich wären Schulen ohne den uninteressierten, verdrossenen Ballast besser dran« (Paul Goodman, 1969).4
[§08] Dieses Buch begann damit, dass Thomas Schübel mich einlud, für seinen Sammelband »Perspektiven der Gestaltpädagogik« einen Beitrag zu verfassen. Meine Idee war, die Systemtheorie Luhmanns mit Lewins Feldtheorie zu konfrontieren, um herauszufinden, mit welchem Ansatz die Schulwirklichkeit besser zu verstehen sei. Für den Beitrag, der dann den Titel »Gestaltpädagogik als Machtkritik« erhielt, hatte ich mehr Material gesammelt, als im Umfang von zwölf Seiten unterzubringen waren; und so wurde dies Buch draus.
[§ 09] Den Hinweis auf Jürgen Markowitz (S. 69-85) verdanke ich Heiko Kleve, nachdem er Teile meiner Kritik an Niklas Luhmann gelesen hatte.
[§10] Jürgen Markowitz: »Junge Menschen mit erheblichem Bewegungsdrang [müssen in der Schule] für die Dauer mehrerer Stunden eines Tages möglichst bewegungslos an einer Stelle sitzen bleiben und ihnen [wird] außerdem auch noch minutiös vorgeschrieben, wann sie mit wem worüber und wie reden dürfen« (vgl. Anm. 135).
Verlassene Schule in Coin, Iowa Foto: Jo Naylor, 13. 6. 2009, CC-BY via flickr photos/pandora_6666/3620259267
Das Erziehungssystem
[§ 01] Nicht bloß für die soziologische Theoriebildung spielt die Systemtheorie in ihrer Luhmann’schen Version eine prägende Rolle, sondern auch als Horizont von Beratung, Coaching und Therapie namens eines »systemischen« Ansatzes. Inwiefern sich solch eine praktische Verwendung der Luhmann’schen Theorie tatsächlich auf ihn beziehen kann, liegt freilich im Dunklen. Anhand von Luhmanns Das Erziehungssystem der Gesellschaft, ein Text, an dem er bis zu seinem Tod 1998 schrieb und der 2002 posthum von Dieter Lenzen herausgegeben wurde, untersuche ich die Frage, wie viel bzw. wenig seine Systemtheorie dazu beiträgt, die Institution Schule kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls zu Prozessen der Verbesserung beizutragen. Seine andere Monographie zum Thema, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, die er 1979 gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Karl-Eberhard Schorr publizierte, ziehe ich nur sporadisch zu Rate; warum das so ist, erkläre ich am Ende der Auseinandersetzung. Als ein neoliberaler Kulturmarxist unterziehe ich mit ihr die Luhmann’sche Konstruktion eines Erziehungs- (=Schul-) Systems der dekonstruktivistischen Lektüre. Im zweiten Schritt – Machtfrage – werte ich die beiden Abhandlungen Luhmanns zur Macht bezogen auf seine Darlegungen zum Erziehungssystem aus. Als dritten Schritt – Unbehagen in der Schule – lese ich das Buch des Luhmann-Schülers Jürgen Markowitz zum »Verhalten im Systemkontext (am Beispiel des Schulunterrichts)« daraufhin, ob die bei meiner Luhmann-Lektüre entdeckten Defizite sich mit seinem Konzept des »(sozialen) Epigramms« heilen lassen.
Was ist ein »System«?
[§ 02] Als »System« bezeichnet Luhmann eine Organisation, die 1. eine gesellschaftliche Funktion (wie beispielsweise Rechtsprechung oder eben Erziehung) erfüllt, 2. »operativ« gegen die übrige, als »Umwelt« begriffene Gesellschaft abgegrenzt wird, sowie 3. sich intern selbst-reproduziert. Luhmann spricht von »selbst-organisiert« (wobei hiermit, n.b., nicht der Begriff der Selbstorganisation aus der basisdemokratischen Bewegung gemeint ist). Ein »System« im Luhmann’schen Sinne ist »autonom« (auch damit meint er weder den politischen noch den psychologischen Begriff der Autonomie). »Ausdifferenzierung heißt Systemautonomie und Systemautonomie heißt Notwendigkeit von Selbstorganisation.«5
[§ 03] Dass es bei »Erziehungssystem« nach Luhmann ausschließlich um schulische (unter Einschluss universitärer) Erziehung gehen kann, wird hieraus klar: Die Erziehung in der Familie oder in anderen Organisationen, die sich unter anderem auch mit Kindern oder Jugendlichen befassen (zum Beispiel Lehrlinge beschäftigende Firmen), geschieht »beiläufig«, wie Paul Goodman das nannte,6 und meistens nicht als ein organisatorisch ausdifferenziertes System mit einem professionalisierten Personal (teilweise aber doch: Lehrwerkstätten, Hauslehrer usw.).
Was ist »der Staat«?
[§ 04] Was bei Luhmann kaum und an keiner Stelle kritisch reflektiert wird, ist Staatsgewalt. Da die Staatsgewalt mit ihren Wirkungen auf das Erziehungssystem in meiner Kontroverse mit Luhmann eine entscheidende Rolle spielt, skizziere ich vorab, was ich mit »Staat« meine; ausführlich gehe ich auf die kritische Staatstheorie am Schluss dieses Buches ein. Drei Punkte wären in jeder Analyse zu berücksichtigen:
1. Mindestbedingung dafür, dass von »Staat« gesprochen werden kann, ist, dass es einen »Erzwingungsstab« im Sinne Christian Sigrists gibt: Einer Person oder einer Gruppe von Personen (Organisation) steht eine Polizei für Verfügung, die ihre Entscheidungen gegebenenfalls gegen Widerstand mittels Gewalt durchsetzt. Der Erzwingungsstab hat die Tendenz, ein territoriales Monopol auf legitime Gewaltausübung zu beanspruchen.
2. Zu einer voll entwickelten Staatlichkeit gehören all jene Organisationen, welche vom Gewaltmonopol abhängen, insbesondere von dessen Fähigkeit, Steuern zu erheben und diese dann als finanzielle Ressourcen politisch zu verteilen.
3. Private Organisationen, die zumindest eins von den drei folgenden Merkmalen aufweisen,
a) teilweise oder völlig aus Steuern finanziert zu werden,
b) einer staatlichen (amtlichen) Zulassung zu bedürfen,
c) durch Zwangsmitgliedschaft gekennzeichnet zu sein, bilden mit dem Staat eine »korporatistische Struktur«. Oft treten die Merkmale kombiniert auf.
[§ 05] Die organisatorische (systemische) Einheit des Staats stiftet (strukturelle) Gewalt. Zu keinem historischen oder aktuellen Zeitpunkt lässt der Staat sich als »Übereinkunft« charakterisieren. Jede Übereinkunft wäre aufkündbar. Da der Staat kein System im Sinne Luhmanns darstellt, kann er ihn nicht reflektieren, obwohl er mit den Möglichkeiten als Gewalt- und Rechtsmonopol bei Luhmann in ständiger, aber unreflektierter Form präsent ist, wie wir auch anhand seiner Analyse des Erziehungssystems sehen werden.
»Macht« als Terra incognita bei Luhmann7
[§ 06] Das Thema der »Macht« neutralisiert Niklas Luhmann in einer bezeichnenden Weise. In Das Erziehungssystem der Gesellschaft kommt es bloß einmal ausdrücklich vor und zwar im Zusammenhang der Abwehr Luhmanns von Kritik an Lehrern, sie würden mit ihren Benotungen oder ihren Entscheidungen über die Versetzung »Macht oder gar ›Gewalt‹« ausüben.8 Luhmann hält das für einen »irreführenden« Gebrauch des Begriffs, weil der Lehrer »gar nicht frei« wäre, »die Herstellung solcher Fakten [Zensurenvergabe und Versetzungsentscheidung] zu vermeiden« und schlägt vor, von »Macht« nur in dem Fall zu sprechen, »wenn mit negativen Sanktionen (hier: schlechten Zensuren) gedroht wird, um ein damit nicht zusammenhängendes Verhalten zu motivieren«; Luhmann gibt als Beispiel: »Der Lehrer kann nicht mit schlechten Zensuren drohen für den Fall, daß ein Schüler ihm nicht in bestimmten außerschulischen Dingen behilflich ist, etwa Rasen mäht oder die Straße fegt.«9 Einige Seiten später behauptet er, man könneNoten »nicht aus pädagogischen Gründen anheben oder absenken je nach dem, was man sich davon als erzieherischen Effekt verspricht«.10 – Will Luhmann sagen, kein Lehrer dürfe das tun? Denn können kann er das zweifellos; und oft genug geschieht dies sogar. Wie dem auch sei, Noten unter dem Gesichtspunkt der erwarteten Motivationswirkung zu geben, ist unter Lehrern 1. verbreitet, 2. wird es durch die erziehungswissenschaftliche Seite befürwortet sowie 3. von Eltern und Schülern erwartet: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.«
[§ 07] Dass der Lehrer, so ihm das Erziehungssystem zum Beispiel die Entscheidung über Versetzung eines Kindes abverlangt, diese nicht verweigern darf, deutet an, dass er selber Gegenstand von Machteinwirkung sei. Er vermittelt die Macht und übt sie stellvertretend fürs System gegenüber dem Schüler aus. Und selbstredend kann der Lehrer im Einzelfall durchaus entscheiden, ob der Schüler versetzt wird oder nicht, ansonsten wäre es keine Entscheidung. Im Einzelfall mag er die Entscheidung sogar ablehnen (dann übernimmt jemand Anderes die Entscheidung); wenn er seine Selektionsfunktion freilich grundsätzlich ablehnen würde, würde er seinerseits Schwierigkeiten im System kriegen: Sein Verhalten würde als Widerstand gewertet. Das heißt, der Lehrer übt Macht aus, und zwar in jeder Versetzungsentscheidung sowie allgemein, insofern er keinen Widerstand leistet.
[§ 08] Luhmanns Einschränkung eines »politisch kontrollbedürftigen Gebrauchs von Macht«11 auf außerschulische Bereiche ist ebenso problematisch. Wenn beispielsweise der Lehrer im Nationalsozialismus dem Schüler, der die Rassenlehre nicht lernt oder gar Einwände formuliert, mit einer schlechten Zensur droht, dann wäre es laut Luhmann keine Machtausübung. Zudem scheint Luhmann hier davon auszugehen, dass Macht politisch kontrolliert werden solle und könne, während es doch Politik ist, die sie primär ausübt. Ein Beispiel ist die aktuell um sich greifende Praxis, teils schon in Prüfungsordnungen verankert, bei nicht vorschriftsmäßig gegenderten Examensarbeiten eine Herabstufung der Zensur vorzunehmen.
[§ 09] Dass Politik selber Macht ausübt, scheint Luhmann niemals in den Sinn zu kommen. Autonomie sei mit »rechtlichen Regulierungen und finanziellen Abhängigkeiten durchaus vereinbar«, schreibt Luhmann, »solange diese nicht als Machtquelle benutzt werden, um pädagogische Absichten zu unterdrücken und durch etwas anderes zu ersetzen.«12 Alle rechtlichen Regulierungen und finanziellen Abhängigkeiten wirken jedoch auf das konkrete Geschehen im Unterricht und auf das Verhältnis der Lehrer zu ihren Schülern, wie ich zeigen werde. Darüber hinaus ist auch die politische Verfügung über das, was vermittelt wird, evident, in Diktaturen sowieso, in westlichen Demokratien zunehmend auch; die Frage lautet eher, ob dies jemals in der Geschichte anders war: Die politische Verfügung über die zu lehrenden Inhalte und die zum Lehren der Inhalte einzusetzenden Methoden hat für die meisten modernen Staatsformen höchste Priorität.
[§ 10] Das Erziehungssystem könne, konzediert Luhmann, von sich aus »keine kollektiv bindenden Entscheidungen treffen«.13 Sehr richtig; wenn es das könnte, müsste es mit eigenherrlicher »Rechtshoheit«, mithin Staatsgewalt ausgestattet sein. Dass aber, insoweit das Erziehungssystem sich an die Staatsgewalt wendet, um »kollektiv bindende Entscheidungen« (Luhmann nennt als Beispiele Lehrpläne, Prüfungsordnungen, Verteilung von Zeit auf Fächer) herbeizuführen, es entweder Macht hat oder nicht autonom ist, blendet er schlechthin aus. Zudem blendet er aus, dass das Erziehungssystem sich keine einheitliche Vorstellung herbeizuführender »kollektiv bindender Entscheidungen« macht. Denn Konflikt kommt bei ihm – wie Widerstand – gar nicht erst vor, jedenfalls nicht im Erziehungssystem.
[§ 11] Wie Luhmann die Frage nach den Wirkungen von der politisch organisierten Macht und Gewalt, also von Herrschaft, auf das Erziehungssystem und die Mikrostruktur des Verhältnisses zwischen Lehrern, Schülern und Eltern ausblendet, zeige ich auf an drei Themenkomplexen,
1. Schulpflicht,
2. Berechtigungswesen und
3. Schulorganisation.
1. Schulpflicht: Inklusion als Ideologie
[§ 12] Luhmann erwähnt Schulpflicht unter ferner liefen, als spiele sie keine oder eine nur untergeordnete Rolle im Erziehungssystem. Schulpflicht gehört, so scheint es bei ihm, zu den politisch-rechtlich gesetzten Umweltbedingungen für dies System. Ihr Ziel bestehe in, wie Luhmann meint, »Inklusion«, bisweilen spricht er auch einfach bloß von »Integration«,14 d. h. sie sei eins jener Mittel, mit dem der neuzeitliche Staat, der die Standesgesellschaft überwunden habe, die Teilhabe Aller sicherstelle; in diesem Fall dadurch, dass das für erfolgreiche Teilhabe am sozialen und am wirtschaftlichen Leben notwendige Maß an Wissen nach Möglichkeit Allen zur Verfügung steht (»Wissen«15 fasst Luhmann derart weit, dass hierunter auch moralische Regeln fallen). Diese Funktion der Schulpflicht mag zwar einer Forderung der Pädagogen oder Erziehungswissenschaftler entsprechen, aber sie können diese Forderung – wie Luhmann hellsichtig bestätigt – nur qua eines anderen als des Erziehungssystems durchsetzen, nämlich des politischrechtlichen Systems. Das bereits schränkt die Autonomie des Erziehungssystems ein.
[§ 13] Drei Fragen im Zusammenhang mit der Schulpflicht lässt Luhmann ausdrücklich nicht zu, und zwar ob Schulpflicht …
1. … das Ziel der Inklusion erreiche,
2. … nicht ganz andere Ziele als Inklusion verfolge und
3. … moralisch gerechtfertigt sei.
[§ 14] Ein Zweifel etwa über das Ziel der Inklusion kommt auf, wenn wir bedenken, dass die Idee der Schulpflicht während der Reformation im Kampf gegen den Katholizismus entstand. Ein zweites historisches Beispiel dafür, dass Inklusion nicht das Ziel der Schulpflicht ist: Als im Staatenbund Nordamerikas 1787-90 gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung mit der Verfassung der Zentralstaat USA durchgepeitscht wurde, machten die neuen Herrschenden sich Sorgen, wie ihren frisch gebackenen Untertanen eine »angemessene Unterwürfigkeit« (proper subordination) beizubiegen sei, und stießen als probates Mittel auf die staatliche Zwangsschule.16 Dies kann man zwar als »Inklusion« beschreiben (denn Alle sollen gefestigte gläubige Protestanten resp. US-Nationalisten werden), aber bloß im Sinne des Strebens nach ideologischer Hegemonie (Antonio Gramsci) und Exklusion der Katholiken resp. der Liberalen.17 Nicht Inklusion sieht Pierre Bourdieu als die Funktion des Schulsystems, sondern »die Kinder der benachteiligten Schichten zu entfernen«;18 mithin ist Selektion die Funktion des Schulsystems. Das bloße Zitat, Bourdieu sei einer anderen Meinung als Luhmann, beweist natürlich nicht, wer von beiden Recht hat. Es geht mir mit jenem Zitat bloß darum, die Selbstverständlichkeit zu erschüttern, mit welcher Luhmann die soziologisch so naive Erzählung des pädagogischen Gutmenschentums von der integrativen Absicht (oder gar Wirkung) der Schule als ein Faktum hinstellt.
[§ 15] Schließlich tut Luhmann so, als würde die Schulpflicht nicht auf das Verhältnis von Schülern, Eltern und Lehrern wirken. Die Annahme, die Schulpflicht spiele im Binnenverhältnis der Schule keine Rolle, bedürfte einer Untermauerung, die bei Luhmann man vergeblich sucht.
[§ 16] Luhmann schreibt, Schulen würden zwar etwas produzieren (ausgebildete Personen, Diplome, Zensuren), es gäbe jedoch »kein Rückmeldung des gesellschaftlichen (oder auch nur: marktmäßigen) Erfolgs dieser Produkte, so daß die Organisationen [gemeint sind: Schulen] aus ihrem Ausstoß [!] keine Informationen gewinnen können«.19 Die Zensuren – oder die Prüfungsergebnisse – stellen in seinen Augen keine solche Rückmeldung dar, weil er schlechte Zensuren oder hohe Versagerquoten nicht als Problematik der Schule oder des Lehrers ansieht. Eine pädagogische Forderung der Art, nach Möglichkeit alle Schüler zum Erfolg zu führen, hält er für kontraproduktiv oder wenigstens undurchführbar, obgleich er weiß, dass viele Pädagogen und Erziehungswissenschaftler genau das fordern; diesen Aspekt diskutiere ich im Abschnitt zum Berechtigungswesen. Im Kontext der Schulpflicht ist ein anderer Aspekt wichtig. Unter der Bedingung, dass eine Inanspruchnahme einer Leistung nicht verpflichtend ist, besteht der Test der Qualität in der Nachfrage.20 Insoweit die »Leistung« aufoktroyiert ist, fällt dieser Test natürlich weg und es fehlt das Korrektiv.
[§ 17] Im Licht dieser Erkenntnis ist auch Luhmanns Behauptung zu werten, eine relativ große Versagerquote gehöre notwendig zum Erziehungssystem. Denn bei einer freiwilligen Nachfrage können wir sicher sein, dass es keine Nachfrage nach Erziehung geben würde, die regelmäßig hinter den ausgelobten Zielen zurückbleibt. Luhmann weiß das. Für Selektion gebe es keinen Konsens (also keine Zustimmung durch die ausselektierten Schüler und deren Eltern), schreibt er.21 Dies nutzt er als ein Argument zur Rechtfertigung des Zwangscharakters der Schule. Jedoch kann das Erziehungssystem den – sowohl gesellschaftlich als auch pädagogisch angeblich »notwendigen« – Zwangscharakter nicht aus sich heraus, mithin systemautonom generieren, sondern bedarf hierzu der Staatsgewalt mit ihrem