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Die staatliche Ordnung der menschlichen Gesellschaft ist nur eine vorübergehende Erscheinung. Der Staat entsteht durch Krieg, Eroberung und Unterdrückung. Er schafft Klassen, in denen sich seine Gewalt und seine Ungerechtigkeit ausdrücken. Dies gilt nicht nur für die Diktatur, sondern auch für die Demokratie. Die Überwindung der staatlichen Ordnung ist die Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Dies ist die vollständige Überarbeitung des legendären "libertären Manifests" von 2001: Gereift in der Sprache, gestrafft und aktualisiert in der Darstellung, aber ohne Abstriche an Konsequenz und Radikalität des Engagements für Toleranz, Frieden und Freiheit.
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Seitenzahl: 248
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Schriftenreihe
Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik in der edition g.
Stefan Blankertz
101 Minimalinvasiv: Acht kritische Nachträge
104 Das libertäre Manifest: Zur Neubestimmung der Klassentheorie
105 Pädagogik mit beschränkter Haftung: Kritische Schultheorie
106 Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele
107 Die Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie
110 Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt
111 Mit Marx gegen Marx
Murray Rothbard
102 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 1: Staat und Krieg
103 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 2: Soziale Funktionen
Stefan Blankertz | 1956 | »Wortmetz« | Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt von Deutschlands »DienstältestemAnarchokapitalisten« (laut André F. Lichtschlag).
Klassenkampf ist nicht vorbei
Staatsentstehung
Der bloße Staat
1.
Enteignerklasse (herrschende Klasse)
2.
Kapitalistenklasse (unterdrückte Klasse)
3.
Vollstreckerklasse
Übergangs- und Protostaaten
Etatismus: Entwicklungslogik des Staates
4.
Sozialverwaltungsklasse
5.
Staatskapitalistenklasse
Der Staat als Produzent von Armut
6.
Die »behinderte«Klasse
Die Kultur der Gewalt im Spätetatismus
Das Problem des Marxismus
Zur Lage der Opposition
Die Gesellschaft vom Staat befreien: Ein libertäres Programm
Statt Literaturverzeichnis
Definitionen
¡VENCEREMOS, ROTHBARDEROS!
Weder ist Geschichte ausschließlich diejenige von Klassenkämpfen, noch sind es ausschließlich Ideen, welche die Welt verändern. Ideen haben Einfluss. Einfluss haben ebenso die Kämpfe organisierter Gruppen. Diese Kämpfe werden bestimmt von Ideen, die sich die Handelnden über das bilden, was ihnen zuträglich sei. Solche Ideen können zuerst falsch sein, durch die Kämpfe aber ins Richtige sich verwandeln. Die Unternehmer haben lieber noch als den Kapitalismus den Sozialismus unterstützt, meist jedoch einen mehr oder weniger militanten Nationalismus. Dadurch haben sie vom politischen Prozess sich abhängig gemacht, und so wurde das Interesse an einem »starken« und durchgreifenden Staat immer mehr zu ihrer materiellen Grundlage. Heute könnte die Idee des Kapitalismus zur gefürchteten Waffe an den Rand Gedrängter gegen die herrschende Koalition aus Bürokraten und Unternehmern sowie Arbeiterfunktionären werden. Dazu jedoch wäre zunächst einmal der Etatismus zu überwinden.
Pionier der Entwicklung der libertären Theorie des Klassenkampfes ist Christian Michel mit seinem Vortrag »The Class Struggle Is Not Over«.1 Er provozierte uns 1998 in Berlin mit der These, die Libertären sollten Marx und Engels lesen. Von ihnen ließe sich nicht bloß die Klassentheorie lernen, sondern auch die Ideologiekritik, die freilich schon Ludwig von Mises für den Liberalismus entdeckt hatte – aber die Liberalen wollten diese Lektion nicht lernen. Die Libertärendagegenmüssen sie lernen, um die politische Lage verstehen zu können.
Nur wenn wir aufdecken, welche ökonomischen Interessen hinter den etatistischen Argumentationen stehen, lässt sich begreifen, warum hartnäckig an der sachlich längst widerlegten Behauptung festgehalten wird, der Staat sei eine soziale Notwendigkeit oder soziale Errungenschaft. Dieser Ideologiekritik kann natürlich auch der Marxismus nicht entgehen, dessen politische Wirkung wegen seiner Feindschaft gegenüber Eigentum, Markt und Anarchie in einer Stärkung des Etatismus bestand–die zu dem ökonomischen Nutzen der herrschenden Klassen war und ist.
Die zentrale Frage von libertärer Theorie lautet nicht, warum der Staat nachteilig sei, sondern warum der Staat trotz der bekannten Nachteile eine solche universelle Verbreitung und kaum zu brechende Stärke hat. Der nicht zu bestreitende »Erfolg« des Staates ist das Problem der libertären Theorie. Sich mit diesem Problem systematisch auseinan derzusetzen, markiert erst den Anfang der libertären Theoriebildung. Diese Auseinandersetzung ist keineswegs abgeschlossen.
Nach wie vor existieren Menschen unter erbärmlichen Umständen. Seit rund hundert Jahren brennen Flöze im nord indischen Jharia-Gebiet, einem der weltweit größten Kohlevorkommen. Der Boden ist verseucht. Die Luft ist voll von Schwefelnebel. Häuser stürzen unberechenbar ein. Steinlawinen erschlagen Menschen. Die achtjährige Reshma lebt davon, dass sie von früh bis spät Kohlen stiehlt, die sie in einen Korb füllt, den sie über einen kilometerlangen Weg auf dem Kopf ins Dorf bringt.
Reshma helfen keine Regierungen und keine »Menschenfreunde«, die ein »Recht« auf Kindheit oder Schulbildung proklamieren. Sie und die Familie sind aufdas bisschen Geldangewiesen, das sie für ihre Hehlerware erhält. Wenn man sie zwingen würde, zu einer Schule zu gehen, müsste sie verhungern. Wollte die indische Regierung ihr oder der Familie Geld für den Unterhalt »schenken«, dann könnte sie das bloß, indem sie es jemand anderem, der etwas über seinen unmittelbaren Lebensbedarf hinaus produziert hat, in Form von Steuern wegnimmt.
Was Reshma fehlt, ist nicht die Kraft, die Ausdauer und der Wille zur Arbeit. Sie arbeitet viel. Sie arbeitet unter extrem gefährlichen Bedingungen. Sie arbeitet länger, als man es für möglich hält. Was Reshma fehlt, ist jemand, der ihre Arbeit produktiv macht: ein Kapitalist,2 der ihre Arbeitskraft derart mit der Arbeitskraft anderer kombiniert, dass mehr herauskommt, als zum nackten Überleben notwendig ist.
Ließe so ein Kapitalist Reshma unter genau den gleichen Bedingungen arbeiten, unter denen sie gegenwärtig arbeitet, ihr dafür aber einen guten Lohn zahlen, würde ihn alle Welt als einen schändlichen Ausbeuter anklagen. Der Staat würde es ihm verbieten, selbst wenn das hieße, dass Reshma wieder in ihr gegenwärtiges Elend zurückfällt. Denn der produktive Kapitalist wird verachtet. Die größte Leistung der gesamten Menschheitsgeschichte, die Leistung der Kapitalisten des 19. Jahrhunderts, die es geschafft hatten, erstmals in Europa genügend zu produzieren, dass niemand mehr verhungern musste, diese Leistung, die alle Pyramiden und anderen von Sklavenarbeit geschaffenen Kultursymbole überragt, sie wird bis heute nicht gewürdigt, sondern an statt dessen in den Dreck gezogen. Man steht bewundernd vor Pyramiden, die von ausgebeuteten und geschundenen Menschen unter brutalem Zwang errichtet wurden, aber man verabscheut das alte Fabrikgebäude, das freie Arbeiter aufgebaut haben und in dem freie Arbeiter unter sachkundiger Anleitung eines Kapitalisten den Wohlstand produzierten, der alle am Leben erhielt.
Der Abscheu vor den Kapitalisten hat seine Ursache nicht in irgend einem unerklärlichen psychologischen Defekt. Er ist das Ergebnis eines kalkulierten ökonomischen Interesses: Wenn nämlich die Produktiven als »Volksschädlinge« angeprangert werden können, erscheint es als gerecht, ihnen so viel wie möglich von dem Produkt, das sie in Form von Geld besitzen, abzunehmen, um es dann anders zu verwenden, als sie es verwendet sehen möchten: Mit dem Steuergeld, das den Produktiven enteignet wird, finanziert der Staat Nichtproduktivität – entweder unproduktive Arbeiten, das heißt Arbeiten, für die keiner im freien Tausch die eigene Arbeit oder das eigene Geld hergibt, oder Untätigkeit.
Wer sind diese Unproduktiven? Und überwelche Macht verfügen sie, dass sie auf der ganzen Welt die Herrschaft an sich bringen und ihr eigenes Tun als »gut« definieren konnten, während sie das Tun derjenigen, die alles schaffen, womit die Menschen sich ernähren und kleiden, als schlecht darzustellen vermochten? Umdies zu erklären, müssen wir weit zurück in der Geschichte der Menschheit gehen, in die Zeit, als es noch nicht die Spaltung in die Klasse der produktiven Kapitalisten und die Klasse der unproduktiven Enteigner gab (cf. unten S. 17ff).
Niemandem ist es wirklich unbekannt, in welch beklagenswertem Zustand die Menschheit gegenwärtig sich befindet. Jeder könnte sehen, dass eine Mehrheit der Menschen von Krieg, Hunger, Elend und Verfolgung betroffen ist. Jeder könnte wissen, dass die wohlhabende Minderheit der Menschen in psychischer Stumpfheit zu versinken droht. Lieber schaut man weg von dieser Tatsache, weil es so aussieht, als gäbe es keine Alternative. Das Festhalten am Bestehenden ist das Ritual aller Politik geworden, sei sie rechts oder links, konservativ, liberal oder sozialistisch.
Weil Politiker all jene Probleme, vor denen die Menschheit steht, nicht lösen können, es noch nie gekonnt haben und es nie können werden, wenden gegen den gemeinsamen Feind sie sich, der die Gefahr heraufbeschwört, dass er den Menschen die Augen öffnet – die libertäre Bewegung. Politiker fürchten, die Menschen würden erkennen, dass sie die Probleme nicht lösen können, sondern das Problem darstellen. Noch mehr aber fürchten Politiker die libertäre Bewegung, weil sie in die Position sich gebracht hat, eine lebenswerte Alternative aufzuzeigen, die theoretisch fundiert ist sowie empirisch sich überprüfen lässt.
Die libertäre Theorie kann zeigen, dass der Wohlstand der Menschen bloß unter der Bedingung ihrer ökonomischen und sozialen Freiheit entsteht, während er verfällt, wenn die Herrschaft des Staates in die freiwilligen Handlungen interveniert. Die libertäre Empirie kann mit Beispielen belegen, dass jeder Wohlstand der Freiwilligkeit entsprungen ist, während die Wirkungen von staatlichen Interventionen, und seien sie noch so »sozial« gedacht, tatsächlich zur Verelendung beitragen.
Weiter kann die libertäre Theorie zeigen, alle Funktionen der menschlichen Gesellschaft wären aus der Freiwilligkeit heraus besser zu erfüllen, wogegen staatliche Institutionen diese Funktionen nie gut und meist nicht einmal schlecht bewältigen. Die libertäre Empirie wiederum kann mit Beispielen belegen, dass alle Funktionen, die in Gesellschaften notwendig geworden sind, auch eine freiwillige Erfüllung irgendwo und irgendwann gefunden haben, während der Staat sie bloß okkupiert und für eigene Zwecke missbraucht. Hegel: Bewusstsein bestimmt Sein. Marx: Sein bestimmt Bewusstsein. Beides ist falsch. Dialektik hilft hier nicht. Materiell bestimmt ist in der Regel das sozial relevante Verhalten. Bewusstsein neigt dahin, das tatsächliche Verhalten zu rationalisieren, ist hierzu jedoch nicht gezwungen. Ein Lehrer in der Zeit des Nationalsozialismus wurde durch die Bedrohung der materiellen Lebensgrundlage von ihm und seiner Familie veranlasst, die Rassenlehre zu vertreten. Zur Vermeidung innerer Widersprüche lag es nahe, die Rassenlehre dann auch eher für richtig zu »halten«. Allerdings war das nicht nötig, um die gesellschaftliche Eingliederung zu gewährleisten. Der ökonomische Mechanismus, mit dem das Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft gelenkt wird, funktioniert in der Demokratie ebenso wie in der Diktatur. Selbst wer von einem ausufernden Autoverkehr ökologische Katastrophen erwartet, kann sich ihm praktisch nicht entziehen, solange die ganze Organisation der Reproduktion auf ihm beruht. Den fortwährenden Widerspruch zwischen Bewusstsein – Falschheit der Rassenlehre, des Straßenverkehrs – und dem eigenen Verhalten – Vermittlung des Antisemitismus, direkte oder indirekte Verwiesenheit aufs Automobil – gibt die Gesellschaft dem Individuum als krankmachende Medizin. Allerdings kann die Krankheit ansteckend werden und in Auflösung münden. Ein Beispiel ist das Schicksal des »realen« Sozialismus.
Die bloß relative Abhängigkeit von Verhalten und Bewusstsein erklärt, warum nach dem Zusammenbruch irgend eines Regimes kaum jemand anzutreffen ist, der mit ihm sich zuvor identifiziert haben will.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein nicht als eine Natur des Menschen, wohl aber als Realität der gegenwärtigen Demokratie. Organisierte Gruppen behaupten, ihr partikularer »Anspruch« auf staatliche Zuwendungen liege in dem Allgemeininteresse. Die »Interessenvertreter« müssen diese Ideologie vertreten, um Erfolg haben zu können. Wenn im Zuge wirtschaftlicher Entwicklung die Kohle als Energiequelle ersetzt wird, erklärt man es zum nationalen Interesse, deren Förderung gleichwohl zu subventionieren. Die Subventionierung führt zu Folgeproblemen; von ihnen werden weitere soziale Kämpfe ausgelöst. Da im Kampf um Kohlesubventionierung Arbeiter- und Unternehmerinteressen gleichlauten, bei den Folgekämpfen aber die unter »Lohndruck« stehenden Arbeiter und die unter »Kostendruck« stehenden Unternehmer gegeneinander antreten, sind die Erfolgschancen der Kämpfe ungleichmäßig verteilt. Daraus ergibt sich eine umfassende Entsolidarisierung.
Gegen den Entsolidarisierungseffekt, der den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet, hilft Rassismus. Den Rassismus des 20. Jahrhunderts begründete der Vorwurf, die gebrandmarkte Gruppe nähme den »ehrbaren Bürgern« die Arbeit »weg«. Die Folge der politischen Überformung des wirtschaftlichen Prozesses – die Arbeitslosigkeit – wurde auf die Existenz von konkurrierenden Arbeitskräften geschoben. Als ob es eine festgesetzte Zahl an Arbeitsplätzen gäbe, behauptete die Ideologie, die physische Beseitigung einer bestimmten Anzahl von Menschen würde erneut zur Vollbeschäftigung führen. Diese Ideologie inklusive der sie speisenden Ökonomie ist nicht einfacher Irrtum, sondern sie ist notwendig, um das System »pluralistischen« Interessenausgleichs – des Etatismus eben – zu schützen. Der Etatismus basiert darauf, dass der Staat seine Macht den organisierten gesellschaftlichen Interessengruppen in Relation zu ihrer Fähigkeit zur Verfügung stellt, öffentliche Zustimmung zu erzeugen. Für das System des Etatismus ist es unerheblich, ob die Handelnden demokratisch formell oder diktatorisch informell sich auseinandersetzen. In beiden Fällen bedarf es der Sündenböcke, die für die Anpassungs- und Übergangsprobleme bei den organisierten Interessen und für die Probleme der ausgegrenzten Gruppen verantwortlich gemacht werden können.
Den Etatismus kennzeichnet extreme Durchorganisation des alltäglichen Lebens. Interessen haben nur Chancen, sich zu behaupten, wenn sie organisiert sind. Die Behauptung eines Interesses geschieht durch Regelungen, die »alle« betreffen. Der Staat ist das Medium, um Partikulares zu Allgemeinem zu machen. Partikulares kann sich nie mit einem Eigenrecht ausgestattet autonom behaupten. Die Verallgemeinerung gelingt oder das Interesse wird ausgeschlagen. Dies ist ein umfassender Angriff des Gemeinwesens auf die Individualität, Entfaltungsmöglichkeit und Spontaneität, der in einem Mangel an Engagement, Initiative und Lebensfreude der Menschen sich ausdrückt. Der Überschuss an Lebendigkeit wird ebenfalls über den Rassismus abgeleitet. Die gebrandmarkte Gruppe nimmt den ehrbaren Bürgern nämlich typischerweise nicht nur die Arbeit, sondern auch »die Frauen weg«. Juden sind wild, sexuell aktiv, erfolgreich, skrupellos – alles Eigenschaften, die die Faschisten für sich selber in Anspruch nehmen, aber nicht einlösen. Das ist ein Lehrbuchbeispiel von Projektion.
Die Verklärung der vorgeblichen Spontaneität der Frauen, Kinder und Schwarzen ist Ausdruck davon, dass sie jederzeit wieder Opfer von Ausgren zung werden können, wenn es die psychische Ökonomie des Etatismus erfordert. Etatismus würde überwunden in Toleranz. Sie setzte die Fähigkeit zum Erleiden voraus. Chronische Opfer haben allerdings keine solche Fähigkeit mehr »übrig«.
Im Begriff des Etatismus geht es mir nicht darum, die Rede vom Totalitarismus aus dem kalten Krieg zu wiederholen, in der Braun mit Rot gleichgesetzt wurde, um die Guten von den Bösen unterscheiden zu können, und in die ich nun noch als drittes die Demokratie einbeziehen will. Es geht um die soziologische Analyse gesellschaftlicher Eingliederungs mechanismen, die uns gegen unser Bewusstsein, das Frieden und Recht will, zum Tun von Krieg und Intoleranz zwingen. Dazu führe ich neo-marxistische und neo-liberale – bzw. neo-anarchistische – Ansätze zusammen in einem Versuch, die »Lähmung der Kritik« aufzuheben. Die Liberalen, die weiterhin der Illusion sich hingeben, dieser Staat sei »ihr« Staat, werden dagegen von der Krise der Politik hinweggerafft werden: Ihre Glaubwürdigkeit nimmt ständig ab. Auf der politischen Bühne sind auf der einen Seite Technokraten gefragt, die die Maschinerien trostloser Verwaltungsapparate so gut wie möglich managen; auf der anderen Seite Vereinfacher, Populisten und Demagogen, die versprechen, wenn man ihnen die Macht bloß übereigne, würden sie’s schon richten.
Heute gibt es keine qualitativ (sondernnur quantitativ) neue Staatstätigkeit; alle möglichen Formen von Staatstätigkeit sind ausprobiert worden und haben sich als sozial und ökonomisch fatal erweisen. Fast jeder glaubt jedoch, dass es der Staat sei, der seine Reproduktion garantiere. Probleme, die in Wahrheit die Staatstätigkeit hervorruft, werden rituell selbstverständlich auf den nicht mehr existierenden freien Markt projiziert. Und das bestätigt der Augenschein: Sind es nicht die Mineralölkonzerne, die in ausbeuterischer Weise die Preise heraufsetzen? Doch würden die gleichen grünen Spießer nicht laut »Eiwei!« schreien, kostete das Benzin so wenig, wie ein Konzern es anbieten könnte, gäbe es keine Steuern und Abgaben?
Wie es zu diesem Spätetatismus gekommen ist, erklärt das vorliegende libertäre Manifest: Es ist Theorie, weil es Antwortenauf Fragen gibt, die die libertäre Theorie bisher nicht beantworten konnte, und es ist Praxis, denn nur mit solchen Antworten mag anti-etatistische Praxis erneut aufblühen. Eins aber ist klar: Frieden, Freiheit und Wohlstand können wir nur gegen den Staat erringen.
Es ist höchste Zeit zu entdecken, dass die freiheitlichen Ideale revolutionäre Ideale sind, die nicht mit der Politik durchgesetzt werden können, sondern gegen die Politik errungen werden müssen. Ludwig von Mises 1927:
»Liberale Regierung ist eine ›contradictio in adjecto‹. Regierungen müssen zum Liberalismus durch die Macht der einmütigen Volksüberzeugung gezwungen werden.«3
1www.libertarian.co.uk/lapubs/philn/philn059.pdf
2Marx:»Das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise«sei es, »die Produktivität der Arbeit fortwährend zu steigern […] und daher [!] den Preis der einzelnen Ware zu senken oder die Warenpreise überhaupt zuverwohlfeilern«. Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, nicht veröffentlichtes VI. Kapitel des 1. Kapital-Bandes. Fehlt in den MEW, zitiert nach Berlin 2009, S. 33. Verfasst ca. 1866; Erstveröffentlichung 1933.
3 Ludwig von Mises, Liberalismus (1927), St. Augustin 1993, S. 60. Warum er in Omnipotent Government (1944), Auburn 2010, S. 47, meint, der Staat sei »the […] most useful instrument in the endeavors of man to promote human happiness« wird auf immer sein dunkles Geheimnis bleiben.
Klassenlose Gesellschaft
Rudimente klassenloser Gesellschaften gibt es noch heute. Hier steht nicht zur Debatte, ob wir uns vorstellen könnten, »wieder« wie die Ureinwohner Afrikas, Amerikas, Asiens, Australiens oder Europas zu leben. Es geht um die Tatsache, dass die Menschen zunächst nicht vertikal geschichtet, also hierarchisch organisiert, sondern horizontal untergliedert, gleichsam »segmentiert« sich haben. In den segmentären Gesellschaften fehlten Herrschaft und staatliche Zentralinstanz nicht als ein Defizit, weil sie der gesellschaftlichen Organisation nicht fähig waren oder weil bei ihnen niemand Macht angestrebt hätte. Vielmehr trieben dieselben Leidenschaften die Menschen an, die sie heute antreiben. Dazu gehörte auch das Streben nach Macht und Einfluss. In der segmentären Gesellschaft leisteten die Menschen erfolgreich Widerstand gegen die Herausbildung von hierarchischen Machtstrukturen. Dieser Widerstand heißt nach Christian Sigrist »segmentäre Opposition«.4 Voraussetzung für die »segmentäre Opposition« ist das System der Verwandtschaft: Jeder ist irgendwo mit jedem im Stamm verwandt.
Bei Streitigkeiten – sei es, dass es darum geht, ob jemand einem anderen ein Stück Vieh gestohlen hat, sei es, dass jemand sich von einem anderen ungerechtfertigt dominiert sieht – treten stets gleich starke »Segmente« gegenüber. Oder anders gesagt: Wenn eine Gruppe in Gefahr steht, zu unterliegen, kommen ihr genau so viele weitere Verwandte zu Hilfe, bis sie ebenso stark ist wie ihre Widersacher. Da alle mit allen verwandt sind, läuft das darauf hinaus, dass bei drohendem Unterliegen einer Gruppe solche Verwandte aus der anderen Gruppe die Seite wechseln, die über eine hinreichende verwandtschaftliche Nähe zu der unterliegenden Gruppe verfügen. Darum ist es für ein Segment nie möglich, ein anderes zu erobern und dauerhaft zu unterwerfen, denn die Opferseite erhält jeweils so lange Hilfe von Verwandten, wie sie glaubhaft sich als Opfer darstellen kann.
Aus diesem Grundprinzip leitet sich ab, dass »segmentäre Opposition« auf Verteidigung beschränkt ist. Weil in der segmentären Gesellschaft jeder mit jedem verwandt ist, ist es in der Tat ausschließlich möglich, verwandtschaftliche Unterstützung für den Verteidigungsfall zu erlangen. Würde jemand einem anderen helfen, eine dritte Person zum Opfer zu machen, dann würde er ja helfen, einen Verwandten zu schädigen. Dies wäre in der Ethik der Stammesgesellschaft ein schlimmes Vergehen.
Es gibt durchaus Stammesgesellschaften, die sich mit dem Prinzip der »segmentären Opposition« in ständigen Auseinandersetzungen befinden. Diese Auseinandersetzungen führen jedoch nicht zur Herausbildung stabiler politischer Hierarchie und zu einer staatlichen Struktur der Herrschaft einer Gruppe. Viele segmentäre Gesellschaften jedoch entwickeln einen zusätzlichen Mechanismus, der Auseinandersetzungen begrenzt. Weil bei »segmentärer Opposition« niemand in einem Konflikt »gewinnen« kann, ergibt sich daraus eine starke Motivation, Konflikte friedlich durch Spezialisten der Mediation zu lösen. Diese Spezialisten sind die »Richter«.
Die »Richter« bleiben allerdings Teil der segmentären Organisation der Gesellschaft. Sie verfügen über keine Macht, ihren Spruch durchzusetzen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Konfliktpartner zu überzeugen und zu einem von allen Beteiligten akzeptierten Ergebnis zu kommen. Falls sie einseitig entscheiden, erhält das Opfer Hilfe der Verwandten, die notfalls auchgegen den Richter sich stellen. Darum kann solch ein »Richter« niemals eine herrschende Position erlangen.
Die Anarchie segmentärer Gesellschaften bildet ein System der Selbstregulation des verwan dtschaftlichen Netzwerkes.5 Die Funktion der »segmentären Opposition«, also des verwandtschaftlichen Netzes, ist Widerstand gegen Eroberung und Unterwerfung, Widerstand gegen die Herausbildung einer stabilen Hierarchie und einer staatlichen Struktur. Widerstand kennzeichnet die durch segmentäre Opposition strukturierte Gesellschaft. Segmentäre Gesellschaften verhindern – nach Sigrist – durch Widerstand bewusst die Entstehung von Herrschaft.
Erst durch die Bestimmung einer »Zweckrichtung« werden segmentäre Gesellschaften zu menschlichen Gesellschaften, die das »Eigen-Bewusstsein« prägt, eine bestimmte Form der Vergesellschaftung zu wollen. Oder anders ausgedrückt: In segmentären Gesellschaften »fehlt«die Herrschaft nicht als ein »Defizit«, weil diese Gesellschaften noch nicht hinreichend differenziert und entwickelt wären, sondern sie »wählen« die Herrschaftslosigkeit und halten bewusst an ihr fest. Eine solche Zweckzuschreibung stimmt mit den Beobachtungen überein: Es ist nicht so, dass den Menschen in segmentären Gesellschaften keine Neigung dazu eignete, andere Menschen zu »bevormunden«. Ihnen »fehlt«nicht der »Wille zur Macht«. Vielmehr verfügen segmentäre Gesellschaften über Strukturen, um Machtentfaltung zu begrenzenund um die Entwicklung von zentralen Herrschaftsinstanzen zu verhindern.
Die soziale Struktur der »segmentären Opposition« hält den Zustand, in welchem es keine Zentralinstanz gibt, auf Dauer stabil. Zentrale Instanzen – eben Staaten – können bloß entstehen, wenn der Mechanismus der »segmentären Opposition« zusammenbricht.
Eigentum, Autorität und Recht
Die Aussage, eine Gesellschaft sei klassenlos, darf nicht verwechselt werden mit der Behauptung, diese Gesellschaften würden kein Eigentum kennen.
Schon bei einigen Primaten scheint es eine Art Eigentumsbegriff zu geben. Entgegen sozialistischer Ansicht richtet sich Eigentum dabei übrigens nicht von den Starken gegen die Schwachen, sondern vielmehr genau umgekehrt von den Schwachen gegen die Starken. Unter Schimpansen wird das Alpha-Männchen selbst dem Rangniedrigsten dessen Beute nicht streitig machen.
Dass die sozialistische Ansicht eine Fehldeutung ist, folgt schon aus der Logik: Die Starken bedürfen nicht des Eigentums, um das, was sie für sich wollen, zu sichern, denn sie sind ja stark genug, es gegebenenfalls zu verteidigen. Das Eigentum kann demnach ausschließlich den Schwachen dienen, denn es entsteht, indem die Starken ein Verfügungsrecht von Schwachen anerkennen. Inder »Theorie des Eigentums« stellte der libertäre Pionier des 19. Jahrhunderts, Pierre-Joseph Proudhon, die historische These auf:
»Das Eigentum ist die größte revolutionäre Kraft, die besteht und die sich der öffentlichen Gewalt zu widersetzen vermag. […] Wo kann man eine Macht finden, die dieser furchtbaren Macht des Staates die Waage hält? Es gibt keine andere als die des Eigentums. […] Man […] nehme […] dem Eigentum den absolutistischen Charakter […], man lege ihm Bedingungen auf […]: dann verliert es augenblicklich seine Kraft, dann hat es kein Gewicht mehr.«6
Der Eigentumsbegriff ist Keimzelle und Voraussetzung für segmentäre Opposition: Als Opfer, das der Unterstützung des verwandtschaftlichen Netzwerks teilhaftig wird, ist derjenige definiert, dessen rechtmäßiges Eigentum (einschließlich Unversehrtheit seiner Person) angegriffen worden ist. Ohne den Eigentumsbegriff lässt ein Opferbegriff sich nicht definieren, sofern es noch kein positivistisches Staatsrecht gibt.
Richtig allerdings ist, dass der Eigentumsbegriff anhand praktischer Gegebenheiten sich entwickelt. Das heißt, dass nicht bereits an aller Materie, die es gibt, Eigentum bestehen muss. So hat eine Nomadengesellschaft keinerlei Bedarf, Eigentum an Grund und Boden zu definieren. Sehr wohl bedarf jedoch eine Ackerbaugesellschaft des Eigentums an Grund und Boden, um funktionieren zu können. Anderes Beispiel: Noch Adam Smith hat behauptet, es mache keinen Sinn, ein Eigentum an der »Luft« zu definieren, weil sie im Überfluss vorhanden sei. Heute ist das anders: Weil es kein Eigentum an der »Luft«gibt, wird sie überkonsumiert (z.B. zu stark verschmutzt), denn tatsächlich ist sie nicht länger im Überfluss vorhanden, sondern ein knappes Gut, das des Schutzes durch den Eigentumsanspruch bedürfte.
Ein zweites Missverständnis bezüglich segmentärer Gesellschaften besteht darin, das Fehlen politischer Herrschaft mit Abwesenheit von ungleich angemessenem Einfluss zu verwechseln. Ungleichen Einfluss gibt es durchaus. So ist es zum Beispiel klar, dass »Richtern« mehr Einfluss zukommt als anderen Mitgliedern des Stammes. Solcher Einfluss heißt in Abgrenzung zur Herrschaft »Autorität«.
Die Autorität ist auf Gegenseitigkeit aufgebaut und durchbricht nicht das Prinzip der Freiwilligkeit. Wenn eine Horde Paviane in einer Gefahrensituation – (z. B.: sie muss an einem schlafenden Löwen vorbei) – ihrem erfahrensten Mitglied und nicht dem Alpha-Männchen folgt, zeigt hierin sich das, was unter Menschen zur Autorität wird: Autorität basiert auf freiwilliger Gefolgschaft. Derjenige, der Autorität ausübt, erhält Anerkennung im Tausch gegen einen Dienst, den er den Gefolgsleuten erweist.
Aus den Elementen Eigentum und Autorität wird das Recht, das sich in der segmentären Gesellschaft herausbildet und das bis heute Grundlage jedes anständigen Empfindens ist. Das Recht ist dazu da, den Kampf zu vermeiden, den die »segmentäre Opposition« so gestaltet, dass niemand einen Vorteil aus ihm ziehen kann: Da es sich also nicht lohnt zu kämpfen, ist es sinnvoll, sich anderer Mechanismen zu bedienen, um die zerstörerischen Folgen des Kampfes abzuwenden.
Also: Recht ist freiwillig, nämlich die gegenseitige Übereinkunft zwischen Konfliktparteien, eine friedliche Lösung zu erlangen. Dabei orientiert die Rechtsprechung sich an den Gebräuchen und Sitten, denn der Richterspruch muss für alle Betroffenen akzeptabel sein.
Jemand, der nicht freiwillig sich dem Recht beugt, fordert damit zum Kampf heraus. Dass diejenigen, die den Rechtsbrecher verfolgen, nicht zu weit gehen und eine übermäßige Rache nehmen, garantiert die »segmentäre Opposition«. Denn als Opfer würde auch der Rechtsbrecher Hilfe vom verwandtschaftlichen Netz erhalten.
Eroberung
Eine staatliche Struktur kann bloß dort sich ergeben, wo die »segmentäreOpposition« versagt. Kommt es zum Konflikt zwischen verwandtschaftlich miteinander unverbundenen Stämmen, so greift logischerweise das Grundprinzip nicht. Meist endet ein interethnischer Konflikt, wenn ein Stamm dem anderen deutlich überlegen sich zeigt, indem der unterlegene das fragliche Gebiet verlässt. Dies ist, wenn man so will, eine Analogie zum Revierverhalten von sozial lebenden Tieren.
Die Bereitschaft, das angestammte Gebiet zu verlassen, ist bei Nomaden groß, reduziert verständlicherweise jedoch sich mit der Sesshaftwerdung. Nach der Theorie von Franz Oppen heimer7 entsteht der Staat durch die Eroberung eines Landwirtschaft treibenden Stammes durch einen Nomadenstamm, nämlich immer durch eine Eroberung (gewaltsame Unterwerfung eines Stammes durch einen anderen), sowie immer durch Unterwerfung eines reichen sesshaften durch einen armen nomadisierenden Stamm.
Die ethnologischen Daten lassen jedoch nicht alle sich mit diesen beiden Aussagen interpretieren.8 Oppenheimers Eroberungs-Theorie der Staatsentstehung ist damit gleichwohl nicht vollständig widerlegt, sondern nur ein Aspekt seiner Theorie. Die Daten widersprechen besonders dem zweiten Teil der Aussage, dass nämlich immer ein nomadisierender Stamm einen sesshaften unterwerfe. Allerdings ist auch der erste Teil der Aussage zu modifizieren, weil es Belege für Herrschaftsentstehungen gibt, in der eine Eroberung nicht gelang: Der Stamm, der einer Eroberung sich erwehrt, kann im Zuge einer langewährenden gewaltsamen Auseinandersetzung spezialisierte Instanzen wie professionelle Krieger und zentrale Befehlsstrukturen aufbauen, die gleichsam durch eine »interne Eroberung« zur Keimzelle des Staates werden.
Immer jedoch gehen einer Herrschaftsbildung gewaltsame interethnische Auseinandersetzungen voraus, so dass festzuhalten bleibt: Herrschaft entwickelt sich nicht »gleitend«, »evolutionär«, »friedlich« oder »funktional« aus einem herrschaftsfreien gesellschaftlichenVerband. Die »segmentäreOpposition« kann dies stabil und dauerhaft verhindern – aber eben nur innerhalb einer Ethnie.
Die libertär modifizierte Oppenheimer-Theorie der Staatsentstehung ist nicht derart aufzufassen, interethnische Konflikte allein reichten aus, um die Entwicklung eines Staates anzustoßen. Ein solcher Konflikt ist eine Bedingung der Möglichkeit, jedoch noch keine hinreichende Bedingung. Kriege stehen offensichtlich in engem Zusammenhang mit der Evolution politischer Herrschaft, zusätzlich bedurfte es aber weiterer Faktoren (vor allem: Überflussproduktion und Landknappheit). Immerhin liegen zwischen der »neolithischen Revolution«, der »Erfindung« des Ackerbaus, und der Entstehung erster Staaten rund dreieinhalbtausend Jahre.
Mit der Eroberung wird es möglich, den Widerstand gegen Herrschaft zu brechen. Indem sich »Herrschaft« etabliert, ergibt sich eine Gesellschaft, in der die Interessen der Herrschenden denen der Unterdrückten gegenüber stehen. Die Unterdrückten sind nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Interesses. Sie sind keine freiwilligen Mitglieder der Gesellschaft, die den gesellschaftlichen Verband dann verlassen können, wenn ihre Interessen vom Ganzen nicht gefördert, sondern geschädigt werden.
Die Herrschaft ist zwar erfolgreich, nicht im evolutionären Sinne einer Anpassung aber, die für alle Mitglieder der Gesellschaft Vorteile hat. Sie ist erfolgreich, weil sie es vermag, die Interessen von Teilen der Gesellschaft zu unterdrücken und deren Arbeitsleistung dem anderen, also dem herrschenden Teil der Gesellschaft zuzuschlagen.
Aus Widerstand entstehen die Strukturen »Recht auf Basis der Ebenbürtigkeit«, »Gerechtigkeit als Freiwilligkeit«, »Achtung vorm Eigentum und Leben der Mitmenschen«, »Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfeleistung«.
Aus Herrschaft entstehen die Strukturen »Gesetze auf Basis von Gewalt«, »Gerechtigkeit als Ausübung willkürlicher Vorschriften«, »Achtung vor der Hierarchie«, »Verpflichtung zur Staatsraison «.
Nicht aber Herrschaft, sondern Widerstand ist die primäre Form der Vergesellschaftung. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass jede menschliche Gesellschaft von Widerstand gekennzeichnet ist, jedoch nur einige menschliche Gesellschaften Herrschaft herausbilden. Die Entstehung von Herrschaft ist zeitlich später als die von Widerstand.
Für die libertäre These, Widerstand sei die primäre Form der menschlichen Vergesellschaftung, spricht:
Herrschaft muss von Beginn an sich rechtfertigen. Nirgendwo gilt Herrschaft »unhinterfragt«. Immer tut es not, dass diejenigen, die die Herrschaft ausüben, eine Ideologie zu ihrer Verteidigung vorbringen. Die Verteidigung findet auf dem Hintergrund eines Rechtsverständnisses statt, das demzufolge nicht innerhalb der Herrschaft, vielmehr
vorab
entstanden ist.
Herrschaft sieht sich immer Widerstand gegenüber. Nirgendwo gibt es eine nicht bekämpfte Herrschaftsstruktur.
In geschichtlich frühen Formen der Herrschaft prägt sie nicht die gesamte gesellschaftliche Struktur, sondern sichert nur den Bestand des Ausbeutungsverhältnisses. In jeder anderenHinsicht regulierte die Gesellschaft des frühen Staates sich nach den Prinzipien »segmentärer Opposition«.
In allen Herrschaftsgesellschaften gibt es einen Mythos von einem der Herrschaft vorausgehenden »goldenen Zeitalter«, das durch Prosperität und Herrschaftslosigkeit gekennzeichnet sei.
Der »Erfolg« des Staates ist nicht als Fortschritt zu kennzeichnen, sondern als Defizit, das es zu überwinden gilt – das aber auch überwunden werden kann, weil Staat nicht zu der ursprünglichen Bedingung menschlicher Vergesellschaftung zählt.
Evolutionäre Staatsentstehung?
Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft vollzieht sich nach soziobiologischer Ansicht so: Allmählich wird die Steuerung durch die Natur – früher sagte man »durch die Instinkte«, heute »durch die Gene« – ergänzt und ersetzt durch Kultur. Edward O. Wilson benutzt die Metapher der »langen Leine«, um zu beschreiben, wie Kultur und Natur zusammen wirken. Die Natur, wohlgemerkt, ist es, die die Kultur an der Leine führt. – So beschreibt er Gesellschaft:
»Alle Säugetiere, auch der Mensch, bilden ihre Gesellschaften auf Basis einer Vereinigung von rein egoistischen Interessen.«9
Dieser Satz sagt oberflächlich besehen nichts anderes aus als: Lebewesen mit vereinzelnden, konkurrierenden Interessen schließen sich dann und nur dann zusammen, wenn das ihre Position im »Kampf ums Dasein« verbessert.
Vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet enthält der Satz von Wilson eine Zumutung. Da die Gesellschaft durch egoistische Interessen zustande komme, könne strukturelle Konflikte es nicht geben. Die »Konformitätspolitik« (cf. S. 91ff), von der Howard Bloom spricht, ist inexistent, bzw. sie lässt nicht sich kritisieren: Die Menschen »bilden« Gesellschaft so lange, wie sie ihren Vorteil darin sehen, nicht darüber hinaus. Zwar bestünde ein prinzipieller Gegensatz der Interessen zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft – denn jeder verfolge seine egoistischen Interessen –, wenn aber die Mitglieder keinen Vorteil in der Gesellschaft sehen, bilden sie sie nicht.
Dies ist ja auch konsequent evolutionistisch gedacht. Bloß solche Strukturen sozialer Organisation breiten sich aus, die erfolgreich sind. Erfolgreich sind die, die den egoistischen Interessen ihrer Mitglieder dienen. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, dessen Forschungsleistung Wilson »bahnbrechend« nennt, hat denn auch ausdrücklich festgestellt:
»Der Staat entwickelte sich […] auf dem Wege der Selektion. […] Der Staat als Organisationsform muss seinen Bürgern Überlebensvorteile bieten.«10
Oder andersherum ausgedrückt: Wenn der Staat nun keine Überlebensvorteile böte, hätte er auf dem Weg evolutionärer Selektion bereits verschwunden sein müssen.
Diese Schlussfolgerung wird durch die auch biologisch gesehen zweifelhafte evolutionistische Annahme erzeugt, dass die beobachteten Entwicklungen aufgrund eines Selektionsdruckes unausweichlich