Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mittelalter live miterleben – von junger Liebe bis zur Inkontinenz des greisen Magisters Albertus, von tief empfundener Barmherzigkeit bis zu brutaler Verfolgung Andersgläubiger, vom opulenten Fressgelage bis zum kargen Fastenmahl, von großer Heilkunst bis zu gefährlicher Quacksalberei: Der genau recherchierte und detailliert nachgezeichnete Alltag des Hochmittelalters im 13. Jahrhundert bildet den Hintergrund für Stefan Blankertz' Mittelalterkrimis. El Arab ist der Spitzname für Sultan Ibn Rossah. Er ist arabischer Gelehrter, Arzt, Erzieher und Abenteurer. Seiner Herkunft nach Jude, ist er zum Islam übergetreten, aber verehrt auch herausragende christliche Philosophen. In seinem verzweifelten Kampf um ein "Land der Sonne", in welchem alle Religionen friedlich nebeneinander leben können, verschlägt es ihn bis nach Köln. Dort nehmen die Kriminalfälle ihren Ausgang. El Arab bleibt freilich ein Held zum Anfassen: Er ist keineswegs ohne Fehl und Tadel. Alle Kriminalfälle werfen die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Recht im Umgang miteinander auf. Eine Frage, die heute nicht weniger wichtig ist als ehedem. BAND 2: DIE STUMME SÜNDE Der Kölner Ratsherr Andreas Kleingedank wird Anno 1274 von einem Wanderprediger der "Stummen Sünde" beschuldigt, d. h. der Homosexualität. Als Andreas auch noch ein Mord zur Last gelegt wird, scheint sein Schicksal besiegelt zu sein: Er soll dem Henker übergeben werden. Verzweifelt sucht die Schwägerin des Angeklagten in Köln nach Beweisen für die Unschuld von Andreas. Ihren Sohn Johannes, einen jungen weit gereisten Dominikanermönch, schickt sie derweil auf den langen und gefährlichen Weg nach Paris, um dort eine wichtige Zeugin aufzusuchen. Doch während er auf der abenteuerlichen Wanderung nach Paris darüber nachgrübelt und allerlei Ungemach zu überwinden hat, spitzt sich die Lage in Köln dramatisch zu. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Liebe ebenso wie Hass, Toleranz ebenso wie Intoleranz im 13.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 386
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
STEFANBLANKERTZ
CredoEin Krimi aus dem Mittelalter
Johannes, Schüler von El Arab, Band 3
*Albertus .(1193–1280), Dominikanermönch, hoch angesehener, alter und ebenso weiser wie eigensinniger Magister
Aleidis Clocrenge, Witwe mit Augenleiden
Arnulf, Novize im Dominikanerkloster
Averom, latinisierter Name von Sultan Ibn Rossah
Beatrice, eine hübsche Klarissenschwester
Bernhard Covelshoven, Novize im Dominikanerkloster
Buosco, Katharer
Clemens, Geselle des Schwertmachers Ruiter
Dideradis, Äbtissin der Klarissen
El Arab, Spitzname von Sultan Ibn Rossah
Erwin, Dominikanermönch, Lehrer an der Klosterschule, Freund von Johannes
Everhard, Novize im Dominikanerkloster
*Ezzelino III. da Romano .(1194–1259), Tyrann in der Lombardei
Franz Weinhold, Schöffe
Georg von Hemelrich, Gildemeister der Garnmacher
Gottschalck von der Mühlengasse, Patrizier im Exil
Gunderadis von der Trankgasse, eine Besessene
Hadwig, Mutter von Johannes, Leiterin des »weißen Hauses«, eines Laienkonvents für »gefallene Mädchen« .(Reuerinnen)
Ibrahim, Begleiter von Sultan Ibn Rossah
Johannes von Köln, Dominikanermönch, Physikus
Josepha, Bettlerin
Konrad, Dominikanermönch, Famulus
Konstantin, Gildemeister der Schwertmacher
Lothar, Stuhlmacher
Margaretha Baichstraisse, Ehefrau von Ruiter
Martina, Baderin des neuen Badehauses
Moneta, Dominikanermönch
Petrus von Brescia .(1192–1258), Dominikanerprediger
Philipp von Pistoria .(1212–1277), Bischof von Brescia
Richard, Tafelmaler
Richolf, Kind, lebt im »weißen Haus«
Robaldus, Dominikanermönch
Ruiter van Troyen, Schwertmacher, Ehemann von Margaretha
Salvo Berci, Katharer
*Siegfried von Westernburg .(† 1297), Erzbischof und Fürst von Köln
Sultan Ibn Rossah .(1211–1272), arabischstämmiger Gelehrter, Arzt und Abenteurer, Lehrer von Johannes, latinisierter Name: Averom
Udehilde, Klarissennonne, Physika
Wido, Abt der Dominikaner
Wolfhardt, Ehemann von Hadwig
Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, einige sind es nicht. Der Anhang enthält ein Glossar. Historische Personen sind mit einem Stern gekennzeichnet. Die Darstellung ihres Verhaltens und ihres Charakters im Roman entspricht jedoch nicht in jedem Fall der Überlieferung. Schriften damaliger Autoren werden sinngemäß, nicht wörtlich zitiert.
»Das Mädchen, das du da siehst, ist die Liebe.«
Hildegard von Bingen
Köln im 13. Jahrhundert
Das Dominikanerkloster
Personen
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Nachwort
Glossar
Impressum
E-Books von Stefan Blankertz
Weitere Mittelalter-Krimis
Urban-Fantasy-Roman
Der Bettelmönch aus der Stolkgasse, von dem niemand ahnte, dass er die linke Hand des Leibhaftigen war, kam wie vom Feuer berechnet des Weges von Köln nach Brauweiler. Neben ihm her trottete ein gutmütiger Esel, der einen Karren zog. Es lag nahe zu vermuten, dass die wertvolle Ladung auf dem Karren darum mit einer Plane abgedeckt war, weil es regnete. Moneta trug ein seliges Lächeln auf dem einfältigen Gesicht. Seine unverfroren zur Schau gestellte Sorglosigkeit gab dem Feuer weitere Nahrung. Dessen Rauch hüllte das ganze Land ein, so weit das Auge zu sehen vermochte. Das Auge brannte und musste gerieben werden. Zu allem Überfluss hatte Moneta ein unzüchtiges Lied auf den schmalen Lippen, fröhlich, ganz und gar verfehlt für einen ehrwürdigen Mönch:
… hat er sie, bei Gott, gestorcht.Weißt du, wer ihm so gehorcht?Nein, es ist des Wirtes Weib,das ihm hingibt seinen Leib.Sanft sein Werkzeug es umfasst,macht daraus den großen Mast.Ja, sein Werkzeug, das wird stark und fein,ihre Freude ist darob nicht klein.Fest in seine Arme er sie schloss,und sodann von jeder Seit’ genoss …
Nachdem er auf dem Scheitelpunkt der Biegung, an der ihn das Schicksal sehnsüchtig erwartete, angekommen war, löste sich der brennende Busch der Rache, dessen Feuer niemand sehen konnte, und stieß Moneta den lodernden Dolch in die Seite durch das wallende Fett tief in die Eingeweide. Weil das der Strafe nicht genug war, zuckte die verzehrende Mordwaffe wie eine züngelnde Flamme hin und her.
Das unheilige Blut strömte aus der klaffenden Wunde, als sei es ein Sturzbach glühender Lava. Der Mönch brach zusammen, war aber nicht tot. Das sollte er auch nicht. Alles verlief so, wie es vorherbestimmt war. Das Röcheln des Sterbenden, das nach einem Knistern von nicht ausreichend abgelagerten brennenden Holzscheiten klang, konnte niemand anderes als das Feuer selbst hören. Der Ort, an dem ihn die gerechte Strafe ereilte, war sorgfältig ausgewählt. Der Mönch wurde seines Leibesumfanges wegen mit nicht geringer Mühe unter den Karren geschoben und der Esel, der ja eine unschuldige Kreatur war, losgemacht, denn schließlich durfte er nicht leiden für das Verbrechen eines anderen, mochte es so ungeheuerlich sein, wie es wollte.
»Der Hundsfott soll mich sehen«, hämmerte die Rache im Kopfe der Glut. »Die gottverfluchte Zeit sei dem Lüstling zugestanden, bis er erkennt, wofür er sein Leben geben muss.« Um seiner schwindenden Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, schrieb der lodernde Finger mit dem Blut des Gemeuchelten das alles erklärende Wort in die Erde: »CREDO«.
In diesem Augenblick, so kurz vor seinem Dahinscheiden, schien es so, als vermochte Moneta das Feuer zu sehen. Die Erkenntnis zeigte sich auf seinem schmerzverzerrten Antlitz und also geschah dies zur übergroßen Freude des Schicksals. Der erste Teil der Mission war ohne jeden Abstrich erfüllt worden. Der Sterbende aber hörte auf, zu röcheln und nach Hilfe zu krächzen. Mit leise wispernder Stimme erflehte er von seinem Schöpfer vielmehr Verzeihung:
»Zu Dir, Du Quelle aller Barmherzigkeit, mein Herr und Gott, komme ich als armseliger Sünder«, betete Bruder Moneta mit versiegender Kraft. »Du Sonne der Gerechtigkeit, erleuchte mich völlig Erblindeten. Schenke mir die Salbung Deiner Gnade. O mein Gott, wie sehr habe ich mit Wort und Tat gefrevelt! Daher flehe ich für meine Gebrechlichkeit: Erlasse mir in Milde, was ich mit meinem Grame im Herzen verschuldet habe … Du hast gemahnt, richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet, ich aber habe es nicht verstanden. So danke ich Dir für Deine Gnade, mich meinen Tod auf diese furchtbare Weise erdulden zu lassen, damit ich hienieden noch sühne, um mein wahres Leiden im Jenseits zu verkürzen. Lasse mich sterben in der Hoffnung auf Dich, den gnädigen Gott, der Du mir meine Sünden, darunter auch die schwerste, mit Deinem gütigen Herzen vergibst und die Seelen der verirrten Schäfchen als guter Hirte in den Himmel führst zur unendlichen Glückseligkeit, in der sie Dich, den Herrn, von Angesicht zu Angesicht schauen … Amen.«
Das Feuer hörte das geflüsterte Gebet mit einer Mischung aus Genugtuung über das Leid und aus Verachtung für den Glauben an den falschen Gott, verlosch aber wie das Leben des Mönches, und von Kälte erfasst, trollte es sich von dannen. Es blieb nur ein kleiner Rest Glut im Herzen, denn die Mission war nicht vollendet. Noch zwei weitere Male musste sich das Feuer zur gegebenen Stunde wieder entfachen lassen, bevor es für immer ausgebrannt sein würde.
Ich glaube an den einen Gott,den allmächtigen Vater,den Schöpfer des Himmels und der Erde
Im Refektorium des Dominikanerklosters herrschte ein unruhiges Durcheinander. Während die Brüder aus der Kirche, wo sie zur Non gebetet hatten, durch das Dormitorium und vorbei an Magister Albertus’ Klause in den Esssaal strömten, trugen die Novizen, die die Messe darum früher hatten verlassen müssen, das Mahl auf. Des beständigen Regens wegen hatten die Brüder von der Kirche zum Refektorium nicht wie gewöhnlich den Weg über den Kreuzgang genommen, sondern zwängten sich treppauf durch den Schlafsaal. Es gab ein Gerangel um die Plätze neben demjenigen, auf welchem stets Magister Albertus saß. Johannes wusste, warum: Er hatte für den alten Mann einen Fastendispens erwirkt, weil er sich schon seit Jahren weigerte, Fisch zu essen, und sein vom Alter ausgezehrter Körper es nicht verkraften würde, wenn er nichts äße. Da er aber selbst die verführerischsten Speisen nie mehr gänzlich vertilgte, gelang es den Brüdern, die sich unmittelbar rechts und links neben ihm befanden, oftmals etwas von den Leckereien abzubekommen, wenn sie meinten, der Abt würde wegschauen und das unerlaubte Fastenbrechen nicht bemerken. Heute hatte Bruder Paul, der wohlbeleibte Koch des Konventes, es ganz besonders gut mit Magister Albertus gemeint und ihm ein Stück fettesten Schweinebauch gebraten. Auch Johannes lief das Wasser im Munde zusammen. Für ihn allerdings gab es selbstredend, wie für die anderen auch, nur Fisch, Aal, um genauer zu sein, in einer leuchtend grünen Tunke aus Petersiliensaft. Johannes hoffte, dass Bruder Paul den Wein nicht zu sehr mit Wasser getauft hatte, so dass er mit dessen starkem Geschmack den ekelhaften Fisch herunterspülen konnte.
Erst nachdem alle sich niedergesetzt hatten, führte der Famulus, der Johannes in der Krankenstube und auch sonst zur Hand ging, den abgehärmten alten Magister aus seiner zwischen Refektorium und Dormitorium gelegenen Klause zum Essen, denn sonst bestand Gefahr, dass der Greis umgerannt würde. Magister Albertus musste auch nicht mehr zu den Stundengebeten seine Klause verlassen, denn oft verirrte er sich hernach und fand den Weg nicht zurück. Wenn ihm aber die Brüder ihre Hilfe anboten, verhielt er sich verstockt und schlug geradewegs die entgegengesetzte Richtung von der ein, die ihm bedeutet wurde. Einmal war er auf diese Weise sogar aus der Kirche in die Stolkgasse hinausgeraten und von dort bis zum großen Markt gelangt, wo ihn die besorgten Brüder auffanden, während die belustigten Leute in ihm einen verkleideten Bettler vermeinten, den sie ungestraft zum Narren halten durften, indem sie ihm Steine in den Mund schoben und behaupteten, es sei Brot. Nur noch wenige Disputationen hielt der Magister, und die Studenten mussten dazu in seine Klause kommen. Es geschah jedoch immer öfter, dass er mitten im Reden von einer ganz anderen Sache anfing zu sprechen.
Man munkelte, mit dem Verfall der geistigen Kräfte wolle Gott den Magister dafür strafen, dass er, bevor er in den Predigerorden eingetreten war, an seiner Berufung zum Mönchsdasein gezweifelt hatte, weil ihn das Gehorsamsgebot abschreckte. Johannes hatte eine andere Erklärung. Schließlich war der Medizin bekannt, dass bei einem Menschen, der ein solch hohes Alter erreichte, die Kräfte stets einzeln nacheinander den Dienst versagten. Aber Johannes hatte gemerkt, dass die Wissenschaft gegen den Aberglauben nichts auszurichten vermochte und mit der Zeit verzweifelte er daran nur noch selten.
Herr Wido, der Abt der Bettelbrüder, verlangte von den Mönchen meistenteils nicht, während der Mahlzeiten zu schweigen, jedoch in der Quadragesima vor Ostern wurde aus der Schrift gelesen. Heute war Bruder Lukas an der Reihe, der arme, der darum überhaupt nichts essen konnte. Mit jämmerlicher, träger Stimme trug er aus der Offenbarung vor, während seine Augenlider tief über seine kleinen Knopfaugen herabhingen: »Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen …«
… rauschen … rauschen … die Worte rauschten an Johannes vorbei und seine Gedanken schweiften ab. Was für ein Unsinn es doch war, die Schrift nichts als einfach vorzulesen, wo doch der große Magister Abaelard zeigte, dass die Schrift nur verstanden werden könne, wenn sie mit den Mitteln der Philosophie ausgelegt werde … Während er so vor sich hin döste, stellte Johannes erstaunt fest, dass ihm die grüne Tunke trotz des Fisches darin gar nicht so schlecht mundete. Bruder Paul war eben ein vortrefflicher Koch. Arnulf, einer der Novizen, der Johannes gegenübersaß, stieß ihn unter dem Tisch mit dem Fuß an. Er hob zwei Finger, um anzudeuten, dass er mit Johannes in Zeichen sprechen wolle. Johannes liebte dieses Spiel nicht, in welchselbiges die Novizen ihn seiner jungen Jahre wegen eingeweiht hatten, obgleich er ihr Lehrer war.
Doch bevor Johannes sich eine Antwort einfallen lassen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit durch Eselsrufe, Poltern und Geschrei in Anspruch genommen. Aller Augen wandten sich zum Eingang, Bruder Lukas hielt in seinem Lesefluss inne und Johannes sah, dass dessen Hände, mit denen er die Schrift hielt, zitterten. Einige Mönche schickten sich schon an aufzustehen, als Herr Wido mit strenger Stimme zu dem Famulus sagte: »Bruder Konrad, schaue doch bitte nach, was los ist.«
Die anderen Brüder begriffen, dass ihr Abt ihnen damit verboten hatte, die Tafel zu verlassen. Es war nicht klar, ob Bruder Konrad beneidet oder bedauert werden sollte, denn die Unterbrechung war zwar eine willkommene Abwechslung, man fürchtete sich aber wohl auch vor der ungewohnten Aufregung, die zu erwarten war. Angespannte Stille herrschte, nachdem Bruder Konrad den Saal verlassen hatte. Johannes beobachtete, dass auch Herrn Widos Hände unruhig auf das Holz der Tischplatte trommelten. Das Tok-Tok-Tok war das einzige Geräusch, das er vernehmen konnte. Ausgenommen das Gackern der Hühner vor der Küche …
Nach kurzer Frist kam Bruder Konrad atemlos zurück und wandte sich aufgelöst an Herrn Wido: »Ehrwürdiger Vater und Herr Abt. Der Wagen … hat den Kreuzgang …«
»Welcher Wagen?«
Ohne auf die Frage einzugehen, fuhr Bruder Konrad fort zu stammeln: »Tot … der Schöffe ist da … Bruder Moneta … ist … tot.«
»Bruder Moneta weilt in Brauweiler bei seiner Mutter«, sagte Herr Wido wie um sich zu beruhigen und erhob sich. »Du redest wirr, Bruder Konrad! Bringe Magister Albertus in seine Klause. Wir werden selbst nachsehen, was dort draußen vor sich geht. Bruder Johannes, bitte begleitet uns. Von euch anderen erwarten wir, dass ihr euch in demütiger Zurückhaltung übt.«
Johannes schloss sich gehorsam dem Abt an, der mit schnellen Schritten zur Tür eilte, die Treppe hinunterhastete und auf den Innenhof trat, in welchem der Kreuzgang angelegt war. Unten angekommen, sah er, dass im Hof tatsächlich ein Karren stand, der sich wohl, gezogen von einem Esel, durch die Unterführung der Bibliothek gequetscht hatte. Die Büsche des Kreuzganges an der Ecke vor der Küche waren umgeknickt. Neben dem Wagen befanden sich der Schöffe Franz Weinhold sowie ein Büttel. Magister Jacob, der während des Mahles die Torwache hielt, war zeternd hinterdreingekommen.
»Was erlaubt Ihr Euch, ehrenwerter Herr Schöffe?«, fragte der Abt streng. Franz Weinhold war bei den Dominikanern nicht wohlgelitten, denn einst wirkte er daran mit, die Mutter von Johannes, die hoch angesehene Leiterin des weißen Hauses, ungerecht der Ketzerei anzuklagen. Zwar hatte man sich inzwischen wieder versöhnt, die alten Narben aber waren geblieben und ließen den Abt schroff sein im Umgang mit dem Schöffen.
Franz machte nur eine Kopfbewegung, die darauf deutete, dass der Abt und Johannes auf dem wegen des andauernden Regens mit einer Plane abgedeckten Wagen nachschauen sollten.
Johannes schlug die Plane zurück. Der Wagen war mit feinstem blauen Coelsch Garn beladen, zwischen diesem aber lag … Bruder Moneta, offensichtlich entseelt. Der voll Regenwasser gesogene schwarze Mantel des Mönches war mit Erd- und Lehmklumpen verunreinigt, ebenso der Saum seiner weißen Kutte, der unter dem Mantel hervorlugte.
Der Schrecken durchzuckte Johannes wie eine Glut. Er wusste nicht, wie lange er regungslos auf den toten Bruder geblickt hatte, bevor er sich umsah und entdeckte, dass auch sein Abt, den doch, wie er dachte, nie etwas aus der Bahn zu werfen vermochte, erstarrt war und unfähig zu sein schien, etwas zu sagen oder zu tun. Johannes’ Augen füllten sich mit Tränen der Erschütterung. Als Physikus fühlte er sich gegen den Tod gewappnet. Aber dieser Verblichene war doch all die Jahre im Konvent sein Bruder gewesen!
Schließlich erwachte die Pflicht in ihm, nach Art eines Physikus’ zu verfahren. Wie ist er wohl zu Tode gekommen?, fragte er sich betrübt. Krank oder siech war Bruder Moneta nicht gewesen; er erfreute sich bester Gesundheit, als Johannes ihn zum letzten Male lebendig gesehen hatte. Mit einem beherzten Satz war er auf dem Karren. Er drehte unter ächzenden Mühen den starren, nicht gerade leichten Körper des Bruders auf den Rücken und sah das Einstichloch. Kein plötzliches Versagen des Herzens … kein Unfall … sondern vielmehr grausamer Mord! Das Eisen war nicht am Herzen eingedrungen, sondern weiter unten. Der Magen.
Mein Gott, fuhr es Johannes durch den Kopf, was muss er für Höllenqualen gelitten haben! Warum ausgerechnet Bruder Moneta? Er war eine, wie Johannes es empfand, weitgehend umgängliche, wenn auch verschlossene Person gewesen, nur zu Bruder Robaldus schien er engere Bande gehabt zu haben. Er pflegte den Gemüsegarten mit großer Hingabe, beteiligte sich hingegen nie an den Disputationen. Einmal im Monat besuchte er seine kranke Mutter in Brauweiler. Weniger heilig war allerdings, wie man zugeben musste, sein bisweilen unzüchtiges Mundwerk. Johannes sah ein letztes Mal in Bruder Monetas grüne Augen und schloss sie dann.
Die Brüder hatte es natürlich nicht auf ihren Stühlen gehalten und nun traten sie, ungeachtet des Verbots von ihrem Abt, in den Regen, um sich gegenseitig puffend und auf die Füße tretend selbst zu erkunden, was denn da vorgefallen sein konnte. Sobald ruchbar wurde, dass Bruder Moneta wahrhaftig zum Herrn abberufen worden sei, erhob sich ein lautstarkes Jammern. Tränen flossen und händeringend beklagte man das schlimme irdische Schicksal.
»Mord …«, murmelte Johannes wie zu sich selbst, aber kaum hatte er es ausgesprochen, verbreitete sich die unfassbare Kunde. Man hatte ihm das Wort wohl eher von den Lippen abgelesen als gehört. Das Wehklagen erstarb. Leise wiederholten die Mitbrüder das schreckliche, das furchterregende Wort. Ihre Bewegungen gefroren und ehrfürchtige Stille senkte sich über die Runde. Bruder Robaldus löste sich aus der in stummem Entsetzen vereinten Brüderschar und stürzte mit einem gellenden Schrei auf seinen toten Freund zu.
Johannes ließ Bruder Robaldus auf den Karren und sprang selbst hinunter, schlug sich den Lehm von den Händen und hörte, wie sich der Abt an den teilnahmslos dabeistehenden Schöffen wandte: »Was ist geschehen, Herr Franz?«
Das Lijnengarn, dachte Johannes, was hat es zu bedeuten? Es erinnerte ihn an etwas, er kam jedoch nicht darauf, woran.
»Man fand ihn jenseits des Vrisintors, schon ein gutes Stück auf dem Seitenweg nach Brauweiler, und rief die Schöffen herbei. Als wir erkannten, dass er zu Euch gehört, bin ich sofort hierher …«
»Lag er so auf dem Wagen, als man ihn fand?« Johannes konnte es sich nicht vorstellen, denn schließlich war Bruder Monetas Kutte lehmig und tropfnass, die Garnballen aber aufgrund des Schutzes durch die Plane nur klamm.
»Er befand sich, wie mir berichtet wurde, unter dem Wagen«, sagte Franz Weinhold. »Und mit seinem Blut hatte er ein Wort auf den lehmigen Boden gemalt: CREPO.« Der Schöffe ging in die Hocke und ritzte mit seinem Finger die Capitalis-Buchstaben in die nasse Erde. »Weil es unter dem Wagen war, hatte der Regen die Schrift noch nicht weggespült.«
»CREPO, ich krepiere, was sollen wir daraus entnehmen?«, fragte Johannes.
Abt Wido hatte sich gefasst und überlegte laut: »Sieht ihm gar nicht ähnlich, im Angesicht des Todes Witze zu machen!«
Bruder Robaldus saß auf dem Karren und vergoss viel salziges Wasser um seinen Freund. »Wer kann denn solcherart freveln«, schluchzte er, »und dich, den Heiligsten unter uns, dahinraffen?« Seine mitunter lüsternen Redensarten machten ihn ja nun nicht gerade zum Heiligsten unter uns, dachte Johannes, dennoch hat Bruder Robaldus recht: Bruder Moneta war ein im großen Ganzen wackerer Mönch gewesen, der niemandem etwas zuleide getan und darum einen solchen brutalen Tod nicht verdient hatte.
Nach einer Pause wandte sich Bruder Robaldus an die anderen: »Wir müssen ihn begraben.«
»Ja«, bestätigte der Abt knapp. »Bruder Johannes, Ihr werdet herausfinden, wie unser Bruder Moneta zu Tode gekommen ist und durch wessen verruchte Hand, während wir uns um das Begräbnis kümmern werden und darum, die neugierigen Brüder im Zaume zu halten.«
»Sie sollen sich gleich im Kapitelsaal versammeln«, bestimmte Johannes. »Ich muss mit ihnen sprechen. Mit allen, außer mit Magister Albertus selbstverständlich.«
»Wir verlassen uns auf Euch.«
Johannes wandte sich an den Schöffen: »Wer hat ihn gefunden?«
»Torwächter Peter.«
Johannes nickte. »Was ist mit dem Wagen und der Ware, wem gehört das alles? Und warum seid Ihr damit hierher gekommen? Wisst Ihr nicht, dass der Kreuzgang für Fuhrwerke ungeeignet ist?«
»Bruder Johannes«, erwiderte der Schöffe scharf, »welchen Ton nehmt Ihr Euch uns gegenüber heraus? Offensichtlich haben Räuber den armseligen Bruder Moneta angegriffen und getötet. Der Wagen gehört gewiss ihm oder besser gesagt Euch, den Predigerbrüdern. Wir haben ihn Euch zurückgebracht, wie es unseres Amtes ist. Morgen werden wir eine Schar Soldaten aussenden, um die Räuber im Wald aufzuspüren und, so Gott will, zu töten.«
»Sicher habt Ihr recht gehandelt«, gab Johannes nach und dachte: Was sind das für Räuber, die nichts rauben? Und weiß Franz nicht, dass wir kein Garn machen? Wieder beunruhigte ihn der Gedanke an das Lijnengarn, doch er bekam den Gedanken nicht genauer zu fassen.
»Seid Gottes Gnade anempfohlen«, verabschiedete sich der Schöffe, dem es in der Gegenwart von Bruder Johannes offenbar auch nicht ganz wohl zumute war. »Es ist mir ein Jammer um Euren Bruder. Wir werden seinen Meuchler schon dingfest machen.«
Der Schöffe spannte den Esel ab und sagte auf Johannes’ fragendes Gesicht hin: »Der Karren wurde ohne Zugtier aufgefunden. Es ist unseres, so dass ich es wieder mitnehme.«
Erst jetzt merkte Johannes, dass Bruder Robaldus noch auf dem Wagen hockte.
»Schließe dich den anderen an, ich komme gleich in den Kapitelsaal und rede mit euch«, sagte er zu ihm. Er half Bruder Robaldus vom Wagen. »Ach ja, bitte schicke mir zwei Brüder, die Bruder Moneta … aufbahren können.«
»Ich werde selbst Hand anlegen, Bruder Johannes«, versprach Bruder Robaldus mit brüchiger Stimme. »Es waren nicht die Räuber.«
»Nein«, stimmte Johannes zu. »Bruder Moneta kann kein Gold bei sich gehabt haben; nur Magister Albertus wäre das gestattet. Und den Wagen mit dem wertvollen Lijnengarn haben sie zurückgelassen.«
»Aber Herr Franz, der Schöffe, hat recht: Wenn es sich bei dem Lijnengarn um das Gut von jemand anderem handeln sollte, hätte dieser den Übergriff sicherlich gemeldet oder, wäre er ihm auch zum Opfer gefallen, er hätte tot neben dem unglücklichen Bruder liegen müssen.«
»Gut geschlossen«, sagte Johannes anerkennend.
»Ihr haltet uns, Bruder Moneta und mich, für einfältig, weil wir uns nicht an den Disputationen beteiligen. Aber wir kennen die Philosophie so wie Ihr, glaubt es mir, nur haben wir einst, als wir noch in der fernen Lombardei predigten, erfahren müssen, dass die Philosophie bloß Unglück bringt über die Menschen und über uns, so dass wir uns entschlossen hatten, uns ganz der Tiefe der Einfachheit hinzugeben …«
Johannes hörte dem Gerede seines Mitbruders kaum noch zu und unterbrach ihn nun, indem er, allerdings mehr zu sich selbst als zu ihm, sagte: »Ich werde bei den Garnmachern in der Dravergazzen nachfragen. Irgendjemandem muss dieser Karren ja gehören!«
»Bruder Moneta war auf dem Wege nach Brauweiler zu seiner kranken Mutter«, murmelte Bruder Robaldus und ging, um einen weiteren Bruder zu bitten, ihm behilflich zu sein, den Toten an einen würdigeren Ort zu bringen.
Mit dem Ärmel wischte sich Johannes den Regen oder auch die Tränen aus dem Gesicht. Es hatte offensichtlich wenig Zweck, zum Vrisintor zu gehen und auf dem Weg nach Brauweiler den Fundort von Bruder Moneta anzuschauen. Der Regen würde alle Spuren weggespült haben. Es wäre weitaus besser gewesen, Franz Weinhold hätte den Karren nicht bewegt und alles gelassen, wie es war. Doch das konnte nun nicht mehr geändert werden. Johannes verabscheute den Schöffen noch mehr. Um sich von seiner Trauer abzulenken, wandte Johannes seine Aufmerksamkeit der Frage zu, die ihm vom Abt gestellt worden war: Wer hatte Bruder Moneta auf dem Gewissen?
Dafür war es entscheidend zu erfahren, was Bruder Moneta mit der Garnladung zu tun gehabt hatte. Wäre er getötet worden, als er zufällig in der Nähe des Wagens war, könnte man nicht erklären, warum der Besitzer oder Lenker des Karrens sein kostbares Gut im Stich gelassen hatte. Selbst wenn dieser Angst vor Angreifern gehabt haben und geflohen sein sollte, wäre er doch sicherlich zurückgekehrt, nachdem der Angreifer zwar Bruder Moneta gemeuchelt, das Lijnengarn hingegen nicht angetastet hatte. Johannes kam zu dem Schluss, dass Bruder Moneta allein den Wagen geführt haben musste. Aber warum hatte er das getan?
Es ergab für Johannes keinen Sinn, sich vorzustellen, dass Bruder Moneta insgeheim mit Lijnengarn gehandelt haben sollte, weil es außer Magister Albertus niemandem im Konvent der Predigerbrüder erlaubt war, persönliches Hab und Gut zu besitzen. Und schließlich handelte man aus Streben nach Besitz und aus keinem anderen Grunde. Obwohl er an dieser Stelle nicht weiterkam, war Johannes nun auf eine höchst wichtige Frage aufmerksam geworden: War Bruder Moneta immer, wenn er vorgab, seine kranke Mutter in Brauweiler zu besuchen, stattdessen mit einem Karren, gefüllt mit Gütern, unterwegs gewesen? Wenn das der Fall war, musste es Leute geben, die ihn gesehen hatten. Am besten sollte ich den Torwächter Peter vom Vrisintor befragen, beschloss Johannes.
Als Bruder Robaldus zusammen mit dem Novizen Arnulf den Toten heruntergehoben hatte, schob Johannes den Karren etwas zur Seite, so dass er nicht im Wege stand.
Mit nachdenklich gesenktem Haupt ging er in den Kapitelsaal. Er hörte nur leises Geraune, und als er den Saal betrat, verebbte es ganz. Da die meisten Brüder nass geworden waren, füllte kalter Dampf den Raum aus, was das Atmen schwer werden ließ. Als er in die geröteten Augen seiner Mitbrüder sah, erfasste Johannes wieder die Trauer. Er wollte anheben, zu ihnen zu sprechen, musste sich aber erst räuspern.
»Liebe Brüder, Bruder Moneta ist von uns gegangen. Wir wollen für seine Seele beten.« Viel Zeit zum Beten ließ Johannes allerdings nicht, sondern fuhr fast unmittelbar fort: »Aber eigentlich ist er nicht von uns gegangen, sondern er ist durch meuchlerisches Handeln von uns genommen worden. Gott will nicht, dass dies ungesühnt bleibt. Darum hat mich unser verehrter Vater und Herr Abt beauftragt, herauszufinden, wem die verruchte Tat zuzuschreiben ist. Denn was der Schöffe Weinhold sagt, ist nicht logisch: Es können keine Räuber gewesen sein.«
»Warum nicht?«, fragte Bruder Konrad verwundert.
Johannes beachtete den Einwurf nicht. »Das, was ich zuerst herausfinden muss, ist, was Bruder Moneta mit dem Lijnengarn zu schaffen hatte. Sicherlich weiß der eine oder andere von euch etwas darüber …«
Jetzt begannen alle, wild durcheinander zu schreien. Johannes hörte: »Bruder Moneta war ein guter Christ.«
»Er nannte ein gar reines Herz sein eigen.«
»Er war immer gehorsam.«
»Und demütig war er auch.«
»Nie hat er sich etwas zuschulden kommen lassen.«
»Auch gelogen hat er nicht.«
Johannes hob beschwichtigend die Hände und rief: »Niemand hat Klage über Bruder Moneta geführt. Was redet ihr da? Dass er nicht gelogen hätte, stimmt jedoch nicht. Und wer erinnert sich nicht an seine unkeusche Rede, die er stets im Munde führte, wenn Herr Wido nicht in der Nähe weilte? Er war ein Sünder wie wir alle auch. Er wollte uns etwas verheimlichen; und vielleicht hatte er gar keine kranke Mutter oder besuchte sie wenigstens nie. Es muss etwas gegeben haben, was den Zorn des Täters hervorgerufen hat. Denn keiner tötet bar eines Grundes. Jeder empfindet, was er auch immer tut, als gut, wie Magister Thomas lehrte, sonst würde er es nicht tun: Also tötet ein jeder, der tötet, weil er meint, das sei gut. Und gut kann man das Töten nur nennen, wenn es dazu geeignet ist, das zu beseitigen, was den Zorn erregt. Um herauszufinden, wer unseren Bruder auf dem Gewissen hat, müssen wir demnach dahinter kommen, wen er sich zum Feinde erwählt hat. Wer von euch sich etwas Derartiges denken kann, soll sprechen um der Seele des armen Bruders willen.«
Es blieb mucksmäuschenstill, keiner sagte etwas. Sie wissen nichts, weil Bruder Moneta in sich gekehrt war, oder sie verstehen nichts, weil sie zu einfältig sind, dachte Johannes.
»Räuber waren es«, krakeelte Bruder Konrad trotzig in die Runde.
»Sie haben ihm nichts genommen«, ereiferte sich Bruder Robaldus. »Welcher Räuber tötet und lässt das Gut dann zurück?«
»Begebt euch an euer Tagewerk. Es hat keinen Zweck mit euch«, befahl Johannes entmutigt und trat wieder ins Freie. Herr Wido folgte ihm und hielt ihn auf:
»Seid nachsichtig mit ihnen, Bruder Johannes«, sagte er und konnte seine eigene Erschütterung dabei kaum verhehlen. »Er geht ihnen sehr nahe, der Tod von Bruder Moneta.«
»Nehmt ihnen die Beichte ab«, presste Johannes aufsässig heraus.
Der Abt zog die Augen zu Schlitzen zusammen und sagte leise, aber mit gefährlichem Unterton: »Wollt Ihr damit andeuten, dass wir das Beichtgeheimnis lüften und Euch berichten sollen, was uns als Stellvertreter des Herrn, nicht als Mensch, zu Ohren kommt?«
»Nein, nein«, wehrte Johannes ab und schlug sich wie ein ertapptes Kind mit der Hand auf den Mund. Doch dann fiel ihm eine Entgegnung ein: »Legt ihnen als Strafe auf, es mir zu sagen. Das können sie nicht zurückweisen.«
»Das habt Ihr von Eurem Lehrer Averom, Bruder Johannes, den Ihr Meister Arab nennt«, sagte Herr Wido bewundernd, »dass Ihr immer einen Ausweg wisst. Darum vertrauen wir darauf, dass Ihr den Fall lösen werdet, auch bar einer List, um das Beichtgeheimnis zu umgehen. Was habt Ihr nun vor?«
»Ich werde zum Vrisintor gehen und mit dem Wächter Peter sprechen, der den Wagen entdeckt hat«, antwortete Johannes getreulich. »Vor allem möchte ich wissen, ob Bruder Moneta des Öfteren mit einer Ladung Garn gesehen wurde. Zuvor aber muss ich noch ins Infirmarium, der Stuhlmacher Lothar aus der Nachbarschaft wartet dort darauf, dass ich ihn untersuche.«
»Die Angst verbreitet sich und schleicht sich in unsere Herzen. Wer wagt es, sich so gegen Gott zu vergehen und einem harmlosen Mönch das Leben zu nehmen? Lasst Euch, wir bitten Euch, nicht zu viel Zeit, das Rätsel, das grausige, zu lösen«, sagte Herr Wido, seine Stimme war jedoch nicht fordernd, sondern niedergeschlagen. Dann ging er in die Richtung der Klause von Magister Albertus davon.
Er wird es mit ihm besprechen, dachte Johannes. Er bespricht alles mit Magister Albertus. Und das ist gut so, weil es keinen gibt, der weiser ist als der Magister. Aber ob er fähig sein wird, in dieser Angelegenheit zu helfen? Johannes bezweifelte es. Dass nicht nur Herr Wido, sondern auch er selbst besser daran getan hätte, in dieser Angelegenheit mehr auf das zu hören, was der greise Magister zu sagen hatte, konnte Johannes freilich noch nicht ahnen.
*
Im viel zu klein bemessenen Infirmarium, der Krankenstube des Klosters, machte sich Johannes daran, Lothar den Puls zu fühlen.
Lothar war von kleinem Wuchse und hatte einen leicht verwachsenen Buckel, aber Hände so groß wie Teller, die ihn in die Lage versetzten, mit ihnen tüchtig zu arbeiten. Seine Nase war gebrochen, Johannes vermutete in einer Schlägerei, seine Augen allerdings nahmen wachen Anteil an allem, was um ihn herum vor sich ging. Der Urin von Lothar zeigte die Farbe blau wie schwarzer Wein, oder, so hieß das in der ärztlichen Wissenschaft, »kyanos«. Aber »kyanos« ließ sich nicht eindeutig einer Krankheit zuschreiben und konnte Magengeschwür ebenso gut wie Herzkrampf bedeuten, gleichfalls Gicht, was jedoch bei Lothar nicht in Betracht kam. Johannes handelte als Physikus gewissenhaft und wurde trotz seiner jungen Jahre schon hoch verehrt. Er hatte bei dem im Jahre des Herrn 1272 verstorbenen sarazenischen Gelehrten und Abenteurer Sultan Ibn Rossah gelernt, den er ehrfurchtsvoll seinen »Meister Arab« nannte. Johannes beherrschte nicht nur, wie es von einem Physikus erwartet wurde, die Harnschau, das Pulsmessen nach Galen und die Kräuterkunde, sondern galt auch als ein überaus geschickter Wundarzt und legte sogar Hand an, wenn es um Aderlass und Schröpfen ging, was eigentlich bloß einem Bader zugemutet werden konnte. Nachdem Johannes vor gut drei Jahren von seiner Lehre nach Köln zurückgekehrt war, hatte es vor allem mit der Gilde der Wundärzte einige Schwierigkeiten gegeben, doch Johannes war so freigiebig mit seinem Wissen umgegangen, dass sie ihn nunmehr lieber als Autorität anerkannten, bei der sie sich gelegentlich Rat holen konnten, als ihn aus der Stadt zu jagen. Von Meister Arab wusste Johannes, dass es, da es nur eine einzige Gesundheit gab, weil man nämlich nicht anders als entweder gesund oder krank sein konnte, auch notwendig war, dass jeder Heiler das Ganze der heilerischen Künste überblickte. Und obgleich die Chirurgie den Klerikern seit dem in Johannes’ Augen schändlichen vierten Laterankonzil im Jahre des Herrn 1215 untersagt war, duldete der Abt, dass Johannes sie ausübte, mit der listenreichen Begründung, schließlich habe er sie erlernt, bevor er das Gelübde abgelegt habe.
Mitten in Johannes’ Tätigkeit platzte der Abt herein. »Was denkt Ihr Euch eigentlich dabei, Bruder Johannes?«, brüllte Herr Wido. Die Mönche des Dominikanerkonvents schätzten ihren Abt als ruhige und bedachte Mannsperson, nun aber war er aufgebracht. Vielleicht hat ihn der Mord an Bruder Moneta reizbar gemacht, dachte Johannes. »Habt Ihr überhaupt im Sinn, welch biblisches Alter Magister Albertus von Gott geschenkt wurde?« Herr Wido war ungewöhnlich groß, aber Johannes wünschte, er würde sich – gerade jetzt in der Fastenzeit – beim Essen nicht so sehr in Selbstkasteiung üben und etwas mehr gesunden Speck ansetzen. Die Auszehrung und die viele Arbeit, die er sich auflud, machten sein Gesicht blass und ließen schwarze Ringe unter den Augen wachsen, die Johannes mit Angst um das leibliche Wohlergehen seines Abtes erfüllten. Im Augenblick jedoch war Herr Wido nicht blass, sondern hochrot vor Empörung.
»Weit über achtzig«, murmelte Johannes kleinlaut. Er seufzte, ließ den Arm von Lothar los und sagte zu seinem Famulus, Bruder Konrad: »Gib ihm einen großen Becher kräftige Brühe und mische etwas von unserem Sud aus Hirschknochen hinzu.«
Bruder Konrad war ein kleiner, rundlicher Mönch, auf dessen rosigem Gesicht sich stets Schweißperlen bildeten, wenn er sich bewegen musste oder wenn der Physikus ihm abverlangte, dass er seinen eigenen Verstand gebrauchen sollte. Aber er verehrte Johannes und tat stets, was dieser von ihm erwartete, so dass man mit ihm durchaus zufrieden sein konnte. Johannes bemerkte, dass Bruder Konrads rosige Backen verschwunden waren und seine wulstigen Hände zitterten. In Johannes’ Ohren klang das Echo von den Worten des Abts: Die Angst schleicht sich in unsere Herzen …
Johannes atmete tief durch und wandte sich seinem zornigen Abt zu. Aus dessen Gesicht war inzwischen allerdings die rote Farbe schon wieder gewichen und hatte grauen Sorgenfalten Platz gemacht.
»Ihr werdet Euch unterstehen, Bruder Johannes, mit Magister Albertus nach Paris zu gehen«, sagte Herr Wido und schaute Johannes fest in die Augen.
»Herr Wido«, entgegnete Johannes und wich dem Blick aus, denn wenn er nicht als Physikus tätig sein konnte, war er unsicher und furchtsam. »Der hochwürdige Magister besteht darauf. Was soll ich tun? Ungehorsam sein? Ihn allein ziehen lassen?«
»Und wenn wir ihn eigenhändig festbinden müssen, um sein Leben zu retten«, zischte der Abt. »Zudem müsst Ihr erst den Tod von Bruder Moneta, Gott sei seiner Seele gnädig, aufklären.«
Johannes schluckte. Dann holte er tief Luft. »Bedenkt bitte, ehrwürdiger Vater und Herr Abt, dass es für Magister Albertus sehr wichtig ist, nach Paris zu gelangen. Es drang uns zu Ohren, dass der dortige Erzbischof, Étienne Temper mit Namen, zahlreiche wissenschaftliche Thesen zu verurteilen beabsichtigt, darunter auch solche, die Magister Thomas, der zum Herrn abberufene Schüler von Magister Albertus –«
»Ihr müsst uns nicht belehren, Bruder!«, unterbrach Herr Wido unwillig.
»Begreift Ihr?«, fragte Johannes unbeirrt. »Sie sollen verboten werden! Der nächste Schritt wird sein, ihn, den großen Magister Thomas, als der Häresie schuldig anzuklagen und dann vielleicht, Gott bewahre, Magister Albertus selbst – Thesen wie: Kein Geist ist hehrer als der andere.«
Bruder Konrad reichte Lothar gerade, wie von Johannes angeordnet, die Brühe und mischte sich in das Gespräch ein: »Aber Ihr, Bruder Johannes, habt doch sicherlich ein tieferes Verstehen als ich, da Ihr es vermögt, die Krankheiten auf ihre Ursachen zurückzuführen. Ist Euer Geist nicht dadurch hehrer als der meine?«
»Bruder Konrad«, erklärte der Abt mit der Engelsgeduld, die ihn bei allen ihn anempfohlenen Brüdern so beliebt machte, »es ist sehr demütig von dir, so zu sprechen. Der Philosoph Aristoteles sagt aber, dass etwa derjenige, der einen zarten Körper habe, auch besser denken könne: Nicht der Geist an sich unterscheidet uns, sondern die Zurüstung unserer Körper.«
Der Famulus lächelte schwach und schüttelte dann verständnislos den massigen Kopf, um sich mit unsicherer Hand wieder dem Kranken zu widmen. Sein Doppelkinn schwappte dabei hin und her. Herr Wido nahm Johannes bei der Schulter und führte ihn in den an das Infirmarium angrenzenden Raum, in welchem die Novizen unterrichtet wurden. Er war verwaist, weil die Lehrstunden beendet waren. Aber noch hing der süßliche Geruch ihrer jungen Körper in der Luft. Herr Wido warf einen missbilligenden Blick auf die Unordnung, die die Novizen hinterlassen hatten: Die Stühle standen kreuz und quer, auf den Pulten lagen Pergamente, Tafeln, Schreibwerkzeuge und sogar einige wertvolle Bücher achtlos herum. Magister Jacob hatte den Novizen die Zahlenlehre beigebracht. Bei mir, wenn ich ihnen die Logik des Aristoteles lehre, dulde ich solche Nachlässigkeit nicht, dachte Johannes selbstgefällig.
»Das ist eine ernste Angelegenheit, die uns sehr beunruhigt«, sagte der Abt dann und ließ seine knochige Hand auf Johannes’ Schulter ruhen, »wenn der Bischof die Disputatio, in der wir nach der Wahrheit, sie sei gepriesen, suchen, mit heiligem Ernst verbieten will.«
Johannes war jeder körperlichen Berührung abhold, es sei denn in Ausübung seiner ärztlichen Tätigkeit, und antwortete für sein Alter unangemessen scharf: »Die Wahrheit, die in Gottes ewiger Allwissenheit ruhmreich glänzt, lässt sich nicht verbieten.«
»Derweil kann jedoch leider bestraft werden, wer sie ausspricht«, antwortete Herr Wido betont milde, nahm seine Hand von Johannes’ Schulter und wischte sich über das müde Gesicht.
»Der Magister will Einspruch einlegen und den Namen Gottes davor bewahren, für die Nichtswürdigkeiten eines aufgeblasenen Bischofs herhalten zu sollen.« Johannes merkte, wie ihn innerlich die Leidenschaft aufzuzehren drohte. Er haderte mit Gott, dass dieser ihn zum friedlichen Mönch und nicht zum feurigen Ritter hatte werden lassen wie seinen Lehrer, um mit dem Schwert für die Gerechtigkeit eintreten zu können. Was kann das Wort schon ausrichten?, fragte sich Johannes bitter. Aber nein, sofort musste er den Gedanken wieder verwerfen, denn schließlich steht geschrieben: »Im Anfang war das Wort.« Und das Wort, das Jesus Christus ist, muss als stärker denn das stärkste Heer angesehen werden … Die unvermutet schneidende Stimme des Abtes riss Johannes aus seinen Gedanken:
»Warum hat er uns nicht selbst um Erlaubnis gebeten?«
»Er hat Euren Zorn weise vorausgesehen«, stichelte Johannes zuckersüß.
»Ich bin nicht zornig«, berichtigte Herr Wido duldsam, und Johannes glaubte ihm, jedenfalls was den gegenwärtigen Augenblick, nicht aber was den Anfang ihrer Unterredung betraf. Denn die Röte in seinem Gesicht und das Rasseln in seiner Stimme waren ein unzweideutiges Zeichen gewesen. »Aber Bruder Albertus kann unmöglich eine Wanderung nach Paris durchstehen. Ihr müsst dies tun. Ohne ihn. Natürlich erst, wenn Ihr wisst, wer den Frevel beging, unseren guten Bruder zu meucheln.«
»Ich kann frühestens in vier Jahren Magister der Theologie werden«, wandte Johannes zögernd ein und stellte sich vor, wie überaus schön es wäre, mit Magister Albertus auf dem Niederweg der Jacobspilger nach Paris zu gehen und an seiner Weisheit ganz allein teilhaben zu können wie zu den Zeiten, als er mit seinem Meister Arab durch die Lande streifte … »Man wird mir kein Gehör schenken.«
Der Abt überlegte und entschied: »Du wirst ein Schreiben von Magister Albertus mit dir führen.« Er stutzte ebenso, wie Johannes belustigt aufmerkte: Manchmal vergaß der Abt, dass er Johannes schon das »Ihr« angetragen hatte, obwohl er noch kein Magister der Theologie war.
Nach einer kurzen Pause setzte Herr Wido hinzu: »Und was das andere betrifft, so hat auch Magister Thomas eine Sondererlaubnis bekommen, vorzeitig den Titel des Magisters der Theologie führen zu dürfen.«
Der Vergleich schmeichelte Johannes. Unzweifelhaft war er ungehörig und er musste ihn zurückweisen. Die in ihm ausgedrückte Ehre wollte er aber zu gern annehmen. Doch da drohte der Abt wieder, die Hand auf seine Schulter zu legen. So sagte Johannes nichts, sondern machte stattdessen einen Schritt zurück, wobei er ungeschickt gegen einen der schweren Stühle stieß, der ihm mit einem unangenehm quietschenden Geräusch auf den Fuß fiel und dort einen stechenden Schmerz hinterließ, als sei der Knochen zertrümmert. Vor einiger Zeit hatte es einmal einen Novizen gegeben, Gerhard mit Namen, den er als Freund bezeichnen konnte und dessen Berührung ihm nicht widerwärtig gewesen war. Aber Gerhard war dem Ruf des Fleisches gefolgt und hatte, durchaus mit Johannes’ Beihilfe und Billigung, das genießerische Treiben außerhalb des Klosters dem gottgefälligen Leben in Bescheidenheit vorgezogen.
»Ihr seid ein eigenartiger Mensch«, sagte der Abt, der Johannes nachdenklich beobachtete. »Nun, wir werden über alles reden. Aber zuvörderst muss ich in Magister Albertus’ Klause zurückkehren, um ihn aufzuhalten. Er steht dort reisebereit und sandte mich, um Euch zu holen.«
Als sie durch das Infirmarium zurückgingen, um an der Küche vorbei in das Refektorium und dann zur Klause von Magister Albertus zu gelangen, sahen sie Bruder Konrad, wie er gierig von dem Rest Brühe trank, den Lothar wohl übrig gelassen hatte.
»Du bist der stumpfste Pickel unter allen«, raunte Johannes ihm zu und wurde selbst schweißnass, da der Famulus seiner Hut anvertraut war. »Wie kannst du dich nur beim Fastenbrechen ertappen lassen!«
Bruder Konrad ließ erschrocken die Schale fallen, wurde noch bleicher als zuvor und muckste sich nicht. Heiße Brühe spritzte an Johannes’ Kutte. Die Schale brach entzwei.
»Wir wissen schon, unser Sohn«, sagte der Abt zu Johannes, »dass Ihr die Fastenregeln der heiligen römischen Kirche nicht sonderlich schätzt.«
»D… d… das habe ich n … n … nicht gesagt«, stammelte Johannes erschrocken. Sein Meister Arab hatte ihm zwar eingeschärft, dass man sich nur der Macht der Vernunft beugen dürfe; aber Johannes konnte nicht umhin festzustellen, dass ihm sein Mund den Dienst versagte, wenn ihm der Geist gebot, sich der Autorität zu widersetzen. Gern hätte er mit Herrn Wido über die unvernünftige Enthaltsamkeit gesprochen, durch die das Fleisch des Menschen zugrunde geht, weil ihm nicht die Grünkraft der rechten Ernährung vergönnt wird.
»Es war darin eingeschlossen, was Ihr zu dem Armseligen gesagt habt. Wir aber gehorchen den Anordnungen derer, die wir achten, auch wenn wir sie nicht immer ganz verstehen, weil wir anerkennen, dass es Menschen gibt, die weiser sind als wir und höher, also Gott näher stehen.«
Johannes war, als habe sein Abt gehört, was er ihm hatte sagen wollen. So wich er aus, indem er eine andere Frage stellte: »Wie wollt Ihr mit Bruder Konrad verfahren? Ich bitte Euch, seid barmherzig, wie es einem Christen gebührt!«
»Manchmal«, sagte Herr Wido und lächelte Johannes nachsichtig an, »seid Ihr ängstlich wie ein Hase und bald darauf frech wie ein Spatz! Aber wir werden es Euch nicht sagen.« Er sprach zu Bruder Konrad: »Du sollst uns heute beichten und dann werden wir feststellen, was Recht ist.«
Johannes wandte sich an Lothar, den Stuhlmacher: »Geh nach Hause, guter Mann, und komme morgen wieder, um die notwendige Behandlung fortzusetzen.«
Als sie bei Magister Albertus angelangt waren, drängte dieser erfreut zum Aufbruch. Es gelang Johannes, den alten Mann zu überzeugen, die Reise zu verschieben, bis der frevelhafte Mord an Bruder Moneta aufgeklärt sei.
*
Bruder Lukas hatte Magister Jacob abgelöst und hielt nun die Torwache. Er ließ Johannes hinaus. Er wird hungrig sein, dachte Johannes mitfühlend, denn schließlich hatte er, anstatt das ohnehin kärgliche Fastenmahl einnehmen zu dürfen, aus der Schrift lesen müssen. Bruder Lukas’ Wangen waren eingefallen und da er eigentlich eine gesunde und schön anzusehende Fülle sein eigen nannte, hing die überdehnte Haut an seinen Wangen hinunter wie leere Säcke.
»Wo soll das hinführen«, sagte Bruder Lukas wehleidig, »wenn böse Räuber jetzt auch schon uns heilige Mönche überfallen?«
Das Mitgefühl von Johannes schwand ob der Einfältigkeit des Bruders und er ging mit seinem schmerzenden Fuß wortlos durch das Tor bis zur Kapelle St. Paul, an der er rechts bei der Pilgerherberge St. Andreas in die Armenstraße einbog. Er sah, wie einige Kinder, die augenscheinlich schon ihre erste Kommunion hinter sich hatten und nicht mehr so klein waren, Bretzellaufen spielten. Der Sieger eines jeden Laufes erhielt vom Schiedsrichter, ein von oben bis unten verdrecktes Mädchen mit blondem Wuschelkopf und einem blassen, runden Gesicht, ein Stück von einer Bretzel gleichsam als Preisgeld. Doch es waren sehr kleine Stückchen, die das Mädchen abbrach, denn der eigentliche Spaß bestand darin, dass der Letzte – oder die Letzte – jeweils ein Kleidungsstück ablegen musste, das dann unweigerlich achtlos in den Dreck geworfen wurde. Das Geschick der Schiedsrichterin, dachte Johannes, bestand wohl darin, die Bretzel so lange reichen zu lassen, bis möglichst viele der Mitspieler völlig hüllenlos waren. Johannes mochte Kinder nicht gern und verstand ihre Spiele meist nicht. Er war bei seinem Meister und dessen Begleiter Ibrahim aufgewachsen, hatte das Jagen gelernt und wie man sich in den Wäldern zurechtfindet, während ihm die Anfangsgründe der Philosophie und der Medizin beigebracht wurden, bevor sie nach Paris zogen, wo Johannes bei den Größten der Magister hören konnte.
Vom Bretzellaufen ließ sich Johannes aber ablenken und er verweilte einen Augenblick, um den Kindern zuzuschauen. Er erinnerte sich daran, dass einmal sogar die Novizen in seinem Konvent dabei ertappt worden waren, diesem Spiel zu frönen, wobei sie statt der Bretzelstücke Kerzen als Preisgeld verwendeten, die sie heimlich entwendet hatten. Herr Wido war sehr schnöde geworden wegen der unerlaubten Blöße, nachdem er sich jedoch mit Magister Albertus beraten hatte, war den Übeltätern nur auferlegt worden, die Zahl der gestohlenen Kerzen in doppelter Höhe zu ersetzen, indem sie zusätzlich im Bienenstock und in der Wachserei arbeiteten. Sie hatten in der folgenden Zeit nicht viel Schlaf bekommen und Johannes musste ihr Leiden an zahllosen Bienenstichen zur Schadenfreude der Übrigen durch eine Duftsalbe aus gestampften und mit Milch versetzten Barrocum-Blättern lindern, denn sie waren im Umgang mit den Insekten noch nicht geübt genug.
Johannes ging erst weiter, als einer der Jungen, der schon die Hose verloren hatte, ihm sein blankes Hinterteil entgegenstreckte und laut furzte. Er fragte sich, ob es sich denn tatsächlich so verhielte, wie er einen Magister einst sagen hörte, dass die Kinder der Armen klüger und wohlgeratener seien als die der Reichen, weil die Nachsicht der Letzteren verhindere, dass sie die Zucht der Natur zu spüren bekämen.