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Antiochia am Orontes, eine der größten, reichsten und schillerndsten Städte der Antike, 49 n.Chr. Der Apostel Paulus befindet sich im Aufbruch zu seiner zweiten Missionsreise. Da erreicht ihn die Nachricht über einen Fall von "Blutschande" unter den Christen von Paphos auf Zypern. Paulus schreibt einen Brief an die Gemeinde und fordert die Bestrafung, ja den Tod der Missetäter. Der Apostel Barnabas ist anderer Auffassung als Paulus. Die beiden Freunde zerstreiten sich und gehen fortan getrennter Wege. Barnabas begibt sich nach Zypern und unterstützt dort die Wahl der von Paulus zu Unrecht verurteilten Sergia Minor Lucia zur Bischöfin der Gemeinde. Der Streit zwischen Paulus und Barnabas aus der (fiktiven) Perspektive von Barnabas: Es geht um die Frage, wie die Liebesbotschaft von Bruder Jesus in die Praxis umzusetzen sei. In der Sicht von Barnabas ist Paulus ein Machtpolitiker, der um des Erfolgs willen die Lehre von Jesus verrät und die eigene Predigt von der Liebe nicht ernst nimmt. Der Roman setzt die spannungsgeladene Entwicklung des frühen Christentums zwischen jüdischer, griechischer und römischer Kultur in Szene. Dabei lotet er die spirituelle Tiefe aus, die Schlitzohrigkeit, die alltäglichen Sorgen, die Größe wie die Kleinlichkeit der damals Handelnden. "Dein Name sei Menschenfischer" ist ein Buch, das auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken über Liebe, multikulturelle Begegnung und Glauben anregt. Stefan Blankertz, 1956 geboren, ist promovierter Soziologe, habilitierter Erziehungswissenschaftler, Werbetexter, Ausbilder am "Gestalt-Institut in Köln", Testentwickler und Führungskräfte-Coach. In den 1970er Jahren war er Mitinhaber des Underground-Verlages "Büchse der Pandora". Zu seinen Veröffentlichungen gehören zahlreiche Sachbücher zu theologischen, philosophischen und psychologischen Themen, historische Romane, Kriminalromane, Lyrik, die Science-Fiction-Romane "2068" (2007), "Das Miriamslied" (2008) und "Der Lamo Kodex" (2010).
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STEFAN BLANKERTZ
DEIN NAME SEI MENSCHENFISCHER
Historischer Roman
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ISBN 978-3-86474-086-2
Produced in Germany
E-Book-Produktion: ABW Wissenschaftsverlag mit bookformer, BerlinUmschlaggestaltung: brandnewdesign, HamburgTitelabbildung: istockphoto (micheldenijs)
P140003
Mit * gekennzeichnete Personen sind historisch, werden in der Apostelgeschichte oder in apokryphen Schriften erwähnt. Darstellung, die Verwandtschafts- und Familienverhältnisse, Lebensdaten sowie Handlungen und Gedanken weichen teilweise von der Überlieferung ab. Dieses Werk ist ein Roman, kein Geschichtsbuch.
Amos, Synagogenvorsteher in Antiocheia bei Pisidias; Ehefrau: Judith.
*Ananias, Judenchrist in Damaskus, der Saul nach seinem Bekehrungserlebnis in Empfang nimmt.
*Antonia, Ehefrau von Prokonsul Castellius, Statthalter in Ikonion; Cousine von Kaiser Claudius.
*Aristobul, verstorbener Ehemann der Mariam, Vater von Markos; Bruder des Vaters von Barnabas.
Armenus, Servier- und Empfangssklave bei Prokonsul Quintus Sergius Paulus. „Armene“ ist Anredeform (gr./lat.).
*Barnabas, Josef, Iosephos, eigentlich: bar Nebo (Sohn des Nebo), Diasporajude in Zypern, Apostel; der Beiname „Barnabas“ wird in der Apostelgeschichte gedeutet als: Sohn des Trostes (aramäisch: bar nebhuah); Mutter: Tabita; Ehefrau (getrennt lebend): Ruth; Tante: Mariam; Vetter (Ziehsohn): Markos. „Barnaba“ ist griechische, „Iosephe“ griechische, „Josephe“ lateinische Anredeform.
*Castellius, Prokonsul und Statthalter von Ikonion; Ehefrau: Antonia. „Castellië“ ist Anredeform (gr./lat.).
*Chagab (gr. Agabos), jüdischer Wahrsager.
Claudia, erste Frau von Prokonsul Quintus Sergius Paulus. Kinder: Felix, Sergia (die Ältere), Cornelius.
Cornelius, *1. römischer Hauptmann und einer der ersten nichtjüdischen Christen; 2. Sohn von Prokonsul Quintus Sergius Paulus und Claudia.
Damaris, zweite Frau von Prokonsul Quintus Sergius Paulus, Vater (Grieche): Ibykos. Mutter (Jüdin): Ruth. Sie wuchs bei Verwandten väterlicherseits auf. Mutter von Lucia. Im Kindbett gestorben.
*Elymas, Magier und Berater von Prokonsul Quintus Sergius Paulus; Jude. „Elyma“ ist die griechische Anredeform.
Esther, Frau von Bischof Michael, Mutter von Jannes; Vater: Dionysos (Grieche), Mutter: Sara (Jüdin).
*Gamaliel, Patriarch, jüdischer Tora-Lehrer von Barnabas und Saul; Beschützer der Christen in Jerusalem.
*Hananiah, aramäische Form von Ananias (siehe dort).
Helena, Tochter eines griechischen Wirtes in Seleukia Pieria; Ehefrau von Markos; Kinder: Abraham und Maria.
*Jakob (Jacobus der Ältere), gehört zu den erstberufenen Jüngern; unter Herodes Agrippa hingerichtet.
*Jakobos (der Jüngere), „Herrenbruder“ oder Vetter von Jesus; spielt nach der Hinrichtung von Jacobus dem Älteren eine wichtige Rolle in der Jerusalemer Urgemeinde der Christen.
Jannes, Sohn von Bischof Michael und von Esther.
Johannes (aramäisch Joukanna, griechisch Iohannes), *1. Johannes des Täufer; *2. Lieblingsjünger Jesu; *3. Evangelist. Dass 2 und 3 identisch seien, entspricht der Überlieferung, nicht aber der historisch-kritischen Forschung.
*Josef (griechisch Iosephos), siehe Barnabas.
Judith, Ehefrau von Amos, dem Synagogenvorsteher in Antiocheia bei Pisidias.
*Kajafa, von 18 bis 37 n. Chr. jüdischer Hohepriester, treibende Kraft bei der Verurteilung von Jesus; Gegenspieler von Gamaliel. Gräzisiert: Kajaphas.
*Kefa siehe Simon bar Jona. Gräzisiert: Kephas.
Kyrke, Sklavin; freigelassen, um ihren Herrn, den Quaestor Publius Cassius Naso, heiraten zu können; Schwester von Timon.
Lucia, Sergia Minor [die Jüngere] Lucia, Tochter von Quintus Sergius Paulus (Prokonsul), Mutter: Damaris, Großmutter: Ruth. Kinder (mit Jannes): Salome, Jakob, Rachel, Nikanor.
*Lukas, Evangelist und Verfasser der Apostelgeschichte. Dass er zu den Augenzeugen zählt, gilt als unwahrscheinlich.
Lydia, reiche Witwe aus Antiocheia am Orontou, in deren Haus die christliche Gemeinde zusammenkommt.
*Mariam (aramäisch), Maria (griechisch), Mutter von Markos; Schwester: Barnabas’ Mutter Tabita; verstorbener Mann: Aristobul (Onkel väterlicherseits von Barnabas).
*Marcus Antonius Felix, in den Jahren 52 bis 60 n. Chr. Prokurator von Judäa.
*Markos, Evangelist; Vetter von Barnabas; Mutter: Mariam, Vater: Aristobul; Ehefrau: Helena. „Marke“ ist Anredeform (gr./lat.).
Martha, Konkubine von Prokonsul Quintus Sergius Paulus.
Michael, Bischof der Gemeinde von Paphos, Vater von Jannes; Ehefrau: Esther.
Murrans, Gladiator (Retiarius) in Ikonion.
Onesimos, Sklave bei Prokonsul Quintus Sergius Paulus.
*Onesiphorus, Römer-Grieche in Ikonion. „Onesiphore“ ist Anredeform (gr./lat.).
*Paulus, siehe Saul.
*Petros, Petrus, siehe Simon bar Jona.
*Porcius Festus, hatte von 60 bis 62 n. Chr. die Befehlsgewalt in Judäa inne.
Pugnax, Gladiator (Murmillo) in Ikonion.
*Rose (gr. Rhode), Magd im Haushalt von Mariam.
Ruth, Mutter von Damaris (erster Ehemann und Vater von Damaris ist der Grieche Ibykos), Exfrau von Barnabas.
*Saul[os], Schüler von Gamaliel, Christenverfolger, Apostel; Ehefrau: Saphira (Halbschwester), Sohn: Thamyris. Nimmt nach der Taufe von Quintus Sergius Paulus dessen Beinamen an. „Saule“ und „Paule“ sind Anredeformen (gr./lat.).
Sergia Minor [die Jüngere] Lucia, siehe Lucia.
*Sergius Paullus, Lucius, Bruder von Quintus Sergius Paulus (Prokonsul), Quaestor in Antiocheia bei Pisidias.
*Sergius [Hausname] Paulus [Beiname], Quintus [Vorname], Prokonsul und Statthalter von Zypern 28-48 n. Chr.; erste Ehefrau: Claudia, zweite Ehefrau: Damaris. „Paule“ ist die Anredeform (gr./lat.).
*Simon bar Jona, Jünger. Beiname „Kefa“ (aramäisch: Stein), „Petros“ (griechisch: Fels) oder meist „Petrus“ (lateinische Schreibweise von „Petros“).
*Stephanos, aus der griechischen Diaspora nach Jerusalem zurückgekehrter Jude, der sich den Nazoräern anschloss; erster christlicher Märtyrer.
Tabita, Mutter von Barnabas.
*Thamyris, Sohn von Saul, Verlobter von Thekla.
*Thekla, Tochter von Theoklia; Jüngerin von Saul; Adoptivmutter: Antonia. Zeitweise als Mann verkleidet unter dem Namen „Titos“.
*Theoklia, Witwe eines Töpfers, griechische Jüdin, Mutter von Thekla.
Thomas, *1. Jünger von Jesus; *2. Autor einer Sammlung von Jesus-Worten (Thomasevangelium), über den nichts sonst bekannt ist.
Timon, entlaufener Sklave, am Kreuz hingerichtet.
Das Paradies liegt an ’ner andren Straßenecke.– Mario Vargas Llosa
Cover
Titel
Impressum
Personen
Inhalt
I Verlesen
II Verbrüdern
III Versehen
IV Verführen
V Verrichten
VI Vergeben
VII Vergessen
Glossar
Achtung, Bruder Stephanos war ja zu arglos, zu andersartig, nicht ausgefuchst genug gewesen, dachtest du, als man ihn ergriffen und vor den Hohen Rat der Israeliten gezerrt hatte. Man wollte, dass die Herren des Hohen Rats über ihn richteten; Stephanos, ein Menschenfischer wie du, war zu einem Gotteslästerer erklärt worden. Dein Freund nämlich predigte, Gott habe einen Sohn und diesen unter dem Namen „Iesous“ als Christos auf die Erde gesandt, um den „Ioudaioi“ das Heil zu bringen. Die Ioudaioi aber würden Iesous verleugnen, wie sie schon zu Zeiten ihrer Ahnen Mouses verleugnet hätten. In seiner Rechtfertigung vor der Anklage, ein Gotteslästerer zu sein, belegte Bruder Stephanos mit Zitaten aus den Büchern von Mouses, dass Gott den Ioudaioi, seinem auserwählten Volk, seit Urzeiten das Kommen eines Christos verhieß. Das entsprach zwar der Wahrheit, war jedoch unbedacht, weil es gewisse Herren des Hohen Rats zur Raserei trieb: Genau diese Aussage stellte in ihren Augen die Lästerung dar. Denn wie konnte Gott, neben dem es keinen anderen geben sollte, einen Sohn haben? Besonders erzürnte sie, dass Stephanos als ein „Grieche“, wie die aus der Fremde ins gelobte Land zurückgekehrten Israeliten zu deiner Zeit genannt wurden, sie über ihren Glauben belehren wollte. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, hielt Bruder Stephanos seinen Anklägern entgegen. Als Stephanos dann noch sagte, er sehe den Himmel offen und den Sohn zur Rechten seines Vaters stehen, konnten nicht mal mehr die gemäßigten Herren des Hohen Rats den Aufruhr derjenigen Amtskollegen mäßigen, die in nichts als in ihre Herrschaft vernarrt waren.
Die erzürnten Herren des Hohen Rats verstopften sich ihre Ohren und schrien laut. Sie stürmten wider Stephanos und trieben ihn vor sich her, ihn, den liebenswertesten und friedfertigsten Menschen, den du dir vorstellen konntest. Einiges Volk, von der römischen Unterdrückung zur Plebs gemacht, schloss sich den Herren des Hohen Rats an, und gemeinsam bildete man eine mordlüsterne Meute. Vor dem Nordtor von Jeruschlem auf offenem Feld angekommen, hielten die Verfolger nicht inne. Sie entblößten sich, um die Reinheit ihrer Absichten darzutun, und legten ihre Kleider zu Füßen eines jungen Mannes, der Saul hieß. Dann schwärmten sie aus und umringten den Gotteslästerer. Sie hoben Felsbrocken vom Boden auf und schleuderten sie gegen Bruder Stephanos, obwohl die römischen Besatzer die Todesstrafe ihrer eigenen Gerichtsbarkeit vorbehalten hatten. Bruder Stephanos rief Iesous an. „Nimm meinen Geist auf, o Christe!“ Er fiel auf die Knie und bat: „Gottvater, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Danach starb er. Saul aber war mit dem Mord einverstanden.
O Stephane, den meine Seele liebt, als Salbeiöl hat sich sein Name ergossen, hallte in deinem Kopf das Lied der Lieder, sein Geist sei höher zu rühmen als Wein. Fort, fort, ist er, mein Geliebter, dem jungen Hirschen gleich auf Balsambergen.
Wir schreiben das achte Jahr der Regentschaft von Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, kurz Kaiser Claudius, und das neunzehnte Jahr, nachdem Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben, binnen dreier Tage jedoch von den Toten auferstanden und seinen Anhängern erschienen ist. Die Anhänger des Gekreuzigten nennen sich „Jünger“, „Menschenfischer“, „Brüder und Schwestern“. Jesus bezeichnen sie als „Messias Jeschua“, „Christos Iesous“, „Herrn“ oder auch einfach als „Bruder“. „Messias Jeschua“, der vom Ewigen gesalbte Heilsbringer, sagen die Israeliten in Palästina. Sie sprechen Aramäisch. „Christos Iesous“ sagen die Ioudaioi aus der Verstreuung in der Fremde. Sie sprechen Griechisch. Seit ein paar Jahren hat sich, ausgehend von der Gemeinde im griechischen Antiocheia am Orontou, der Name „Christianoi“ eingebürgert; ansonsten hört man von den Jesus-Anhängern als „Nazoräern“ oder als denjenigen, die einem „neuen Weg“ folgen.
Die meisten Israeliten, Römer und Griechen sehen in den Christen nichts als eine harmlos unbedeutende Sekte. Einige israelitische Priester aber erklären die Christen nach wie vor zu Gotteslästerern, die zu sterben haben. Ihr Blut komme über sie, wie es das Gesetz der Israeliten für Gotteslästerer verlangt. Nach römischem Recht dürfen die judaeïschen Machthaber Todesurteile allerdings nicht selber aussprechen oder vollstrecken. Die Statthalter Roms stimmen der Hinrichtung von Christen manchmal zu, wenn ihnen dies geeignet zu sein scheint, um sich die Unterstützung eines einflussreichen Teils der judaeïschen Priesterschaft zu sichern. Außerdem verfolgen die Amtsträger der römischen Besatzer mit Argwohn, dass sich die Menschenfischer des neuen Wegs immer öfter auch an Nicht-Judaeï wenden. Nicht-Judaeï heißen hebräisch „Gojim“ und griechisch „Ethne“. Die Judaeï genießen im römischen Reich eine Ausnahmeregelung: Sie müssen die Staatsgötter der Römer und den Kaiser nicht verehren, da ihr eigentümlicher Glaube an nur einen Gott ihnen das verbietet. Da die Judaeï niemanden zu bekehren versuchen, besteht wenig Gefahr, dass sich die Ausnahmeregelung über den begrenzten Rahmen des judaeïschen Bevölkerungsteils auf die Ethne (oder, wie die Römer sagen, „Gentilis“) ausdehnt. Die Religion der Judaeï hat wegen der ihr nachgerühmten Tugendhaftigkeit zwar Sympathisanten unter den Ethne. Die mit den Ioudaioi oder Judaeï sympathisierenden Ethne oder Gentilis werden „Gottesfürchtige“ genannt. Gottesfürchtige haben es aber schwer, zu deren Glauben überzutreten. Nur selten machen israelitische Priester aus ihnen Neubekehrte. Zusätzlich stellt die Forderung nach Beschneidung für die Männer eine Hürde dar, Neubekehrte werden zu wollen. Die Beschneidung gilt unter den Ethne und Gentilis als entehrend und als Gefahr für die Gesundheit. Die Christen dagegen ersetzen die Beschneidung durch die unproblematische Taufe als Aufnahmeritual. Darum lässt ihr Glaube einfacher als der israelitische sich verbreiten. Und: Die Christen „fischen Menschen“.
Hier auf Zypern vermischen sich viele kulturelle Einflüsse miteinander. Lange stritten Perser und Griechen um die Insel, bis die Könige der Stadtstaaten von Zypern sich Alexander dem Großen anschlossen. Seit der Zeit zählte die Insel zum Ptolemäerreich. Rund hundert Jahre steht Zypern nun unter der Herrschaft des römischen Imperiums. Auf dem sicheren und wohlhabenden Zypern siedelten sich nach und nach auch Israeliten an. Viele Israeliten kamen ins Land, nachdem ihr König Herodes der Große von Kaiser Augustus das Monopol auf den Kupferbergbau gepachtet hatte.
Vor einer knappen handvoll Jahren ließ sich der Statthalter Roms auf Zypern taufen, Prokonsul Quintus Sergius Paulus. Seitdem verfolgt die römische Staatsmacht die zypriotischen Christen nicht mehr und hindert Hetzer, es zu tun. Nun ist es einige Wochen her, dass der Prokonsul Quintus Sergius Paulus entschlief in der Hoffnung, am Tag der Erfüllung vom Herrn zu ewigem Leben aufgeweckt zu werden.
Obwohl sie sich nicht mehr verstecken müssen, gehen die Christen von Paphos, der Hauptstadt Zyperns, immer noch in die Katakomben, kaum zwei Meilen nördlich der Stadt gelegen, wenn sie beim Abendmahl Brot und Wein in den Leib und in das Blut des Herrn wandeln. Josef Barnabas selbst ist Zeuge des letzten Abendmahls von Bruder Jeschua. Es fand statt am israelitischen Fest der süßen Brote vor etwas mehr als einem Dutzend Jahren, als der Leidensweg des Messias begann. Das letzte Abendmahl hatte Jeschua mit den Jüngern im Haus von Josef Barnabas’ Tante Mariam abgehalten. Und indem die Jünger aßen, nahm Jeschua das ungesäuerte Brot, dankte und brach es und gab den Jüngern davon und sprach: „Nehmt, esst; das ist mein Leib.“ Und nahm den Kelch und dankte und gab ihn den Jüngern und sie tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: „Das ist mein Blut des neuen Bundes, das für viele vergossen wird. Tut das zu meinem Gedächtnis.“ Mit diesen Worten erinnern die Nazoräer bei jedem Abendmahl an ihren hingerichteten Anführer. In den Augen etlicher Römer, Griechen und Israeliten stellt das den absonderlichsten Teil des neuen Wegs in der Nachfolge Christi dar. Brot und Wein in den Leib und das Blut von Bruder Iesous unter den wachsamen Augen jener zu wandeln, kann schnell zu Aufruhr, wenigstens zu Spott führen.
Du hebst die Fackel, die einzige Quelle der Erleuchtung in diesem Dunkel der Katakomben, Josef bar Nebo, Sohn des Nebo. Genannt jedoch wirst du: „Barnabas“, Sohn des Trostes. Dein Antlitz gleiche dem eines Engels, so wird dich einige hundert Jahre später ein Mönch aus dem dir gewidmeten Kloster auf Zypern preisen: Die Brauen seien zusammengewachsen. Die Augen von Barnabas aber strahlen; nicht grimmig blicken sie, sondern neigen sich fromm nach unten. Sein Mund sei ehrwürdig und über die Lippen kommen ihm nur wohlklingende Worte, die Süße des Honigs träufele von ihnen herab; niemals nämlich äußere er sich über das Maß des Notwendigen hinaus. Seine Gestalt sei hager, der Gang ruhig und ohne Gefallsucht.
Engel? Schon mal einen Engel mit dichtem dunklen Bart gesehen? Warten wir ab, ob der sehnige, zurückhaltende Mann mit Bart unser Bild von Engeln korrigieren kann.
Josef Barnabas steht die Aufgabe bevor, einen Brief zu verlesen, der die Jünger des Herrn auf die Zerreißprobe stellen wird. „Meint ihr etwa, dass ich gekommen sei, um Frieden zu bringen?“, hatte Bruder Jeschua einmal erbost gefragt und den Kopf geschüttelt: „Nein, sondern Zwietracht.“ Die Brüder und Schwestern sind versammelt in einer Gruft der Katakomben, ehemals letzte Ruhestätte eines reichen Griechen oder Persers, der vor hunderten von Jahren starb. Das Gewölbe der Gruft hält den Geruch von Rauch und Ruß. Er vermischt sich mit dem des Schweißes der Menschen, die sich in die Gruft zwängen.
Der Reihe nach schaut Josef Barnabas in die Gesichter der anwesenden Jünger des Herrn. Die Meisten sitzen mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, einige lehnen stehend an den Wänden, die Hände hinter dem Rücken gekreuzt. In den Pupillen aller glimmt der Widerschein der Fackel. Der Atem geht schwer. Deine eigene Beklemmung, Josef, siehst du gespiegelt in den verdüsterten Gesichtern der paphosischen Brüder und Schwestern, eben noch gezeichnet von Freude über deine Ankunft. Obwohl Josef Barnabas hauptsächlich in anderen Gegenden der Welt seinem Beruf des Menschenfischens nachgegangen ist, fühlt er sich am ehesten unter den Paphosi heimisch. Deine Kindheit hast du hier verbracht. In dieser Erde liegt deine Mutter begraben. Nie darfst du vergessen, dass du zu spät gekommen bist. Sie lebte schon nicht mehr. Untröstlich warst du, Josef, ihr Erstgeborener, dass du dich vor ihrem Tod nicht mit ihr versöhnen konntest. Das aber hättest du sowohl nach dem Willen von Jeschua als auch nach dem Gesetz eurer Ahnen tun sollen. Markos, der dich Vetter nennt, gleichwohl eher Ziehsohn ist, versuchte, dich zu beruhigen mit einer Geschichte, die er über Jeschua gehört habe. Um Jeschua vor weiterem Ärger mit den israelitischen Schriftgelehrten zu bewahren, wollten seine Mutter und seine Brüder ihn aus dem Kreis der Jünger herausholen. Jeschua aber sprach: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Und er sah rings um sich auf die Jünger, die im Kreise saßen, und antwortete selber: „Siehe, das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester, Mutter.“ Bruder Lukas steuerte sogar ein noch schlimmeres Wort von Jeschua bei: „Wer zu mir kommt und nicht seinen Vater, seine Mutter, sein Weib, seine Kinder, seine Brüder, seine Schwestern und dazu sich selbst hasst, kann kein Menschenfischer sein.“ Doch du, mein Josef, bliebst untröstlich. Du zeigtest dich des Beinamens nicht gewachsen, „Barnabas“, Sohn des Trostes. Der Herr würde dich am Tag des Gerichts angemessen dafür strafen, das wusstest du. Du erwartetest die Strafe für diese wie für deine übrigen Sünden, um deine Schuld begleichen zu können.
Die meisten Menschen, die sich mit Josef Barnabas in der Gruft versammelt haben, um des auferstandenen Herrn zu gedenken, sind Israeliten. Einige Ethne und Gentilis gesellen sich dazu. In anderen Gegenden der Welt führt die Gemeinschaft von israelitischen und nichtisraelitischen Christen zu Reibereien, während ihr euch gleichzeitig der Nachstellungen durch die Ungläubigen erwehren müsst. Hier auf Zypern überlagern sich verschiedene Kulturen seit langem. Keine Geschichte gegenseitigen Drangsals belastet euer Zusammenleben wie in den beiden Antiocheias, in Damaskos, in Korinth und in den übrigen Städten, in denen die Verkündigung der frohen Botschaft des heilbringenden Leidens von Christos Iesous inzwischen auch Gehör findet. Die Saat geht auf. Wie du es Bruder Jeschua versprochen hast, Josef, nachdem er dich im Haus deiner Tante Mariam zum Menschenfischen berief. Für Bruder Jeschua einzutreten, gab deinem nichtsnutzigen Sein einen Wert.
Bis zur Begegnung mit Bruder Jeschua machtest du nichts anderes, als den Reichtum deiner Eltern zu verschleudern und vor deinem dir angetrauten Weib wegzulaufen. Seinen Namen wolltest du auf ewig dem Vergessen anheim geben. Als dein größtes Werk betrachtetest du, jeden Buchstaben des Gesetzes deiner Ahnen einzuhalten und deinem Leib kein makliges Krümelchen zuzuführen, während viele Menschen hungerten und sich nach jedem Essbaren verzehrten, egal ob maklig oder rein. Lange dauerte es, bis du begreifen und hinnehmen konntest, was Jeschua mit seinem umstrittenen Spruch meinte: „Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn maklig machen; denn das geht nicht in sein Herz, sondern in seinen Bauch. Was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn maklig.“ Erst Bruder Saul öffnete dir die Augen. Doch wie vom Herrn angekündigt, befinden sich seine Menschenfischer mit der frohen Botschaft, dass Gottvater das Gesetz aufgehoben habe, auf einem schmalen, von Dornengestrüpp überwucherten Weg.
„Bringen wir es hinter uns, Vetter“, sagt Markos, der neben Barnabas hockt. Er reibt sich die Augen. Die verbrauchte, rußige Luft wird sie ihm ausgetrocknet haben. Oder reibt er sich die Augen in Erwartung dessen, was euch bevorsteht? Markos kennt den Wortlaut des Schreibens so wenig wie Barnabas. Sie hatten ihrem Freund Saul, bevor sie gemeinsam mit Bruder Michael zu den Paphosi sich auf den Weg begaben, nicht eine nachsichtige Haltung abringen können. Während der Überfahrt von Antiocheia am Orontou nach Zypern vermieden es Barnabas, Markos und auch Bischof Michael, der mit ihnen gekommen war, über das ihnen Bevorstehende zu sprechen. Alles wird davon abhängen, welche Position Bischof Michael von Paphos bezieht.
Um die Schriftrolle entziffern zu können, senkt Barnabas die Fackel. Die Hitze greift nach einigen Härchen des Bartes, die abstehen. Gestank verbrannten Horns sticht ihm in die Nase. Alle Willenskraft muss er aufwenden, um die Flamme dem Papyros nicht so anzunähern, dass er Feuer fängt, noch bevor er ihn verlesen hat. Barnabas räuspert sich.
Paulus, ein Knecht von Christos Iesous, berufen zum Menschenfischer, auserkoren, die frohe Botschaft zu verkündigen, an die Gemeinde Gottes zu Paphos auf der Insel Kypros samt jenen, die den Namen des Herrn überall preisen. Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Iesous Christos.
Ich danke meinem Gott beständig euretwegen für die Gnade, die euch in Christos Iesous gegeben ist. Wir predigen den gekreuzigten Christos. Den Ioudaioi ist das ein Ärgernis. Die Griechen und Römer nennen es eine Torheit. Doch euch, die ihr berufen seid, ob Ioudaioi, Griechen oder Römer, gereiche es zur Kraft, gespendet von der göttlichen Weisheit, auf dass, wie geschrieben steht, wer sich rühmen will, sich also des Herrn rühme. Ihr aber rühmt euch zu Unrecht. Wisst ihr denn nicht, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Laib versauert?
Also muss ich euch ermahnen, liebe Brüder …
Eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfeldes nimmt Barnabas wahr. Er unterbricht sich und hebt den Kopf. Seine Aufmerksamkeit erregt Sergia die Jüngere, genannt Lucia, wie sie die Hand von Jannes nimmt. Was ahnt sie? Was erwartet sie?
Vor vier Jahren hattest du Schwester Lucia das erste Mal getroffen. Seitdem ist sie gereift; „zur Frau gereift“ solltest du denken, o Iosephe, du aber denkst eher an einen griechischen Athleten. Nun geht sie schwanger mit dem zweiten Kind. Ihre Augen sind, denkst du, wie Trauben, die in Milch baden. Den heiteren Ernst ihrer Gesichtszüge siehst du getrübt von einer Furche auf der Stirn, die deiner Meinung nach eher der Sorge um ihren Gatten als um sie selbst geschuldet sein wird. Genau wie ich, denkst du, spürt sie die bösen, gesetzlosem Fühlen entspringenden Blicke mancher Anwesenden. An Lucias rabenschwarzen Haaren, ehedem gelockt wie Dattelrispen, erkennst du: Sie hellt sie nicht mehr mit allerlei Tinkturen auf. Nun liegen sie streng an ihrem Kopf, gediegen wie Edelmetall, in Strähnen nach hinten geführt und dort zu einem gen Himmel weisenden Knoten gebunden. Als Römerin weigert sie sich, die Haare gleich den judaeïschen Weibern unter einem Tuch zu verbergen, und du kannst nichts finden, was daran unter den Jüngern des Herrn hätte tadelnswert sein sollen. Der Herr trug uns auf, jeden ungeachtet der Herkunft in unserer Mitte willkommen zu heißen. Das können wir daraus schließen, dass Bruder Jeschua selber mit Sündern speiste und der Bitte der nichtisraelitischen Frau nachkam, ihren von einem makligen Geist besessenen Sohn zu heilen.
Unter Lucias langer, gebogener Nase siehst du ihre Lippen wie in Lilien weiden; entgegen deinem Grundsatz, dich nicht bei Äußerlichkeiten aufzuhalten, meinst du, in ihnen Lucias Vater zu begegnen. (Aber vielleicht finden wir schön, was wir lieben, erinnert sich Barnabas, und es ist nicht so, dass wir die Schönheit lieben.) Hatte der Herr mir nicht dich, Schwester Lucia, gleichsam zum Enkel gegeben, der an den Brüsten meiner Tochter sog?, denkt Barnabas. Also darf ich dich küssen und keiner wird Anstoß daran nehmen. Ohne Schmuck oder andere Zeichen von Wohlstand und Macht, strahlt Lucia doch männliche Entschlossenheit aus, die von ihrem Vater auf sie gekommen sein musste. In der Zeit während ihres Lebens und Leidens unter den Christen konnte sich Schwester Lucia ihre Ursprünglichkeit bewahren.
Was hat Bruder Saul veranlasst, überlegst du, Josef, dass er einen Brief schreibt, der sich so weit aus dem Erbarmen des Herrn entfernt? Saul eignete sich sogar den Beinamen von Lucias Vater an, dem ersten Menschen, den er für den Herrn fischte: Paulus. Darüber hinaus war Lucias Vater der erste römische Amtsträger gewesen, der sich zum Herrn bekannte, ohne ein Israelit zu sein. Saul genießt zudem, anders als du, römisches Bürgerrecht, worauf er sich Einiges zugute hält, und spricht, außer unter Hebräern, von sich als „Paulus“. Sein Vater, über den er ebenso wie über andere Verwandte selten ein Wort verliert, musste es einst für viel Geld gekauft haben.
Ach, Saul hätte mit uns zu den Paphosi kommen sollen!, bedauerst du, Josef. Dann könnte er jetzt am eigenen Leibe erfahren, wie Lucia und Jannes in wunderbarer Andersartigkeit ihr Kreuz tragen. Davon hätte er sich vielleicht anders als von glänzenden Reden oder gelehrter Weisheit überzeugen lassen. Du, Josef Barnabas, vergabst Saul vor einem dutzend Jahren im Geist deines Bruders Jeschua seine Mitschuld an der Steinigung von Stephanos. Und jetzt wirft er wieder den ersten Stein.
Der Fremde fiel auf die Knie und neigte den Kopf. Der Stoff der zu weiten Tunika legte sich so über Wirbelsäule und Rippen, dass es aussah, als befände sich darin ein fleischloses Skelett. Die Tunika war abgewetzt und fleckig, wies aber keine Spuren von frischem Dreck auf und roch reinlich. Die Glieder des Fremden zitterten. Der Fremde neigte dir einen zur Hälfte kahlen Schädel zu, auf dem du Schweißperlen quellen sahst. Innere Pein stand der Mann aus. Das rührte dich, Josef, den Sohn des Trostes, ungeachtet der schwierigen Lage, in der du dich befandest.
Mariam hatte den Fremden angekündigt. Sie war die Tante von Josef Barnabas, jedoch ungefähr im gleichen Alter wie dieser. Einer Magd des Hauses, die Rose hieß, lief, oder besser gesagt, stolperte der Fremde zerlumpt, vor Durst, Hunger und Erschöpfung nahezu besinnungslos, am Nordtor Jeruschlems über den Weg. Rose nahm den Fremden in das Haus von Mariam mit, wusch ihn, reichte ihm zu trinken und zu essen und bot ihm neue Kleidung an. Denn, „wahrlich, was ihr für einen meiner geringsten Brüder tut, das tut ihr mir“, sagte Jeschua. Neue Kleidung jedoch lehnte der Fremde ab, wie Rose erzählte, und ließ bloß zu, dass sie seine Tunika säuberte, so gut es eben ging. Tante Mariam befragte den Fremden. Er gab an, „Saul aus Tarsos“ zu sein. Deine Tante erschrak. Wie du sah sie in Jeschua aus Nazaret den geweissagten Messias verkörpert. Einen gewissen Saul kanntet ihr als jemanden, der den Jüngern des Messias nachstellte. Dieser Saul nun wirkte bei der Steinigung von Stephanos mit, dem Freund und obersten Diener der Gemeinde von Messias Jeschua in Jeruschlem. Vor drei Jahren soll Saul nach Darmeseq gezogen sein, um dort unter den Anhängern des Nazoräers ein Blutbad anzurichten. Dem Vernehmen nach war Saul dazu durch den Hohen Rat der Israeliten, angestachelt von dem Hassprediger Kajafa, in Absprache mit den römischen Besatzern ermächtigt worden. Und nun bat jener im Namen des gekreuzigten Messias um Aufnahme in Tante Mariams Haus? Tante Mariams Haus hatte noch Bruder Jeschua selbst gesegnet. Hier nämlich feierten Jeschua und seine Jünger das Fest der süßen Brote, bevor sein Leidensweg begann. Und das kam so: Als Jeschua einen Raum in Jeruschlem suchte, wo er mit seinen Jüngern das Abendmahl abhalten konnte, sandte er zwei von ihnen voraus und wies sie an: „Geht hin in die Stadt. Dort wird euch ein Knabe begegnen, der einen Krug mit Wasser trägt. Weil er mit löblichem Fleiß das macht, was sonst nur die Frauen tun, könnt ihr das Zeichen nicht verfehlen. Folgt ihm nach, bis er in ein Haus hineingeht, und fragt: ‚In welchem Raum kann Rabbuni Jeschua mit seinen Jüngern das Lamm essen?‘ Und man wird euch einen großen Saal zeigen, der schon für das Abendmahl hergerichtet und mit Polstern ausgestattet ist. Dort bereitet alles für uns vor!“ Der Knabe aber, der den Krug mit Wasser trug, war Markos, Mariams Sohn, und der Hausherr ihr Neffe Barnabas, denn sie war eine Witwe. Seitdem gingen die Jünger und Menschenfischer des Messias in diesem Haus ein und aus. Es lag in der Oberstadt und bot Platz für die gesamte Gemeinde der Nazoräer und konnte, weil es durch eine Mauer und ein Außentor gesichert war, auch als Zufluchtsstädte für Verfolgte dienen. Von ihm aus herrschte allerdings auch Sicht auf die Marmortürme des Herodes-Palasts: Sie drohten an, dass die Übermacht des Imperiums jederzeit mit euch kurzen Prozess machen könnte, wenn sie es denn wollte.
Der Fremde, der sich als „Saul aus Tarsos“ bezeichnete, hatte sogar verlangt, „Kefa“ zu sprechen: So aber nannte sich Simon bar Jona, der Fels, auf dem der Messias seine Kirche zu bauen gedachte. Die meisten Griechen bezeichneten Bruder Simon als „Petros“. Der Fremde, laut Akzent unüberhörbar ein Grieche, hatte das nicht getan, sondern von „Kephas“ gesprochen. Wollte er mit der Verwendung der aramäischen Form des Beinamens von Simon seine Herkunft aus der griechischen Diaspora verschleiern? Mariam beriet sich mit ihrem Neffen, der nach dem Tod ihres Gatten dem Haus vorstand. Denn nicht nur war Mariam die Schwester von Barnabas’ Mutter, sondern ihr verstorbener Gatte Aristobul der Bruder von dessen Vater. Was solltet ihr tun: Den Stephanos’ Mörder als Schauspieler hinauswerfen? Der Herr, wandte Tante Mariam dagegen ein, habe euch zum Beispiel gegeben, mit den Sündern den Tisch zu teilen. Du aber rietest zur Umsicht und erinnertest daran, dass die Feinde des Herrn aus dem Hohen Rat immer wieder versuchten, eure Gemeinde mit Verrätern auszuhorchen. So entschiedet ihr euch, dass Barnabas zunächst allein Saul gegenübertreten und prüfen solle, ob ihr ihm über den Weg trauen konntet.
„Steh auf und setz dich“, sagte Barnabas. Er hatte den Fremden in die kleine Kammer bringen lassen, die ihr nutztet, wenn ein Mitglied der Gemeinde etwas mit einem Menschenfischer zu besprechen hatte, das für niemandes Ohren bestimmt war als für die des himmlischen Vaters.
Außer zwei gemauerten Sitznischen mit einer Auflage von ungehobeltem Holz gab es keine weiteren Möbel in der Kammer. Den Boden bildete blanker Stein, ohne Mosaik, ohne Teppich. Die weiß gekalkten Wände zierte an der Stirnseite als einziger Schmuck eine in sich verschlungene blaue Linie, die für den Fisch stand, das Erkennungszeichen der Jünger des neuen Weges. Denn als Jeschua am Galiläischen Meer entlangging, um sich die ersten Jünger zu berufen, sah er Simon und Andreas, Simons Bruder, wie sie ihre Netze ins Meer warfen, weil sie Fischer waren. „Folgt mir nach!“, forderte Jeschua sie auf. „Ich will euch zu Menschenfischern machen!“ Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.
„Habe Nachsicht mit mir. Als der niedrigste unter all den Knechten bin ich nicht würdig, dir, o Bruder Iosephe, in die Augen zu schauen, der du dem Herrn noch im Fleische begegnet bist, wie ich gehört habe. Aber sprich nur ein Wort und ich werde bereit sein zum Dienst an der Gemeinde des auferstandenen Herrn.“
Die ungedämmten Wände brachen die Stimme des Fremden und warfen ein Echo. Die Stimme war verdächtig hoch und dünn. Du erkanntest die Stimme sofort. Sie gehörte dem Saul, der als Jüngling in die Tora-Schule von Meister Gamaliel eingetreten war, während Barnabas die Lehre des Gesetzes damals fast abgeschlossen hatte. Kam die Sprache auf den Sohn des Zimmermanns aus Nazaret, der so beängstigend viele Jünger um sich scharte und frech den Anspruch erhob, der von den Sehern verheißene Messias zu sein, ereiferte sich Saul mit genau solch einer schrillen, etwas näselnden Stimme und nannte Jeschua einen „Kleinbauern“. Euer Lehrer Gamaliel dagegen mahnte zur Zurückhaltung und sagte, es sei das Erbrecht des Allmächtigen, über die Behauptungen des Nazoräers zu entscheiden, und nicht das eines Menschen.
Ein anderes Mal damals vor etwas mehr als einem Dutzend Jahren hatte Barnabas mitgekriegt, wie sogar der Lehrer selber zur Zielscheibe der Ironie des griechischen Schülers Saulos geworden war. Meister Gamaliel sprach über die kommende Zeit des Messias, denn er erkannte Jeschua nicht als den durch die Seher geweissagten Messias an. Meister Gamaliel befand, in der Zeit des Messias würden die Frauen tagtäglich gebären, das könne man aus der Schrift schließen. Saul spottete, indem er seine charakteristische Stimme hören ließ: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Meister Gamaliel wies ihm aber mit einer Henne nach, dass es dergleichen schon auf dieser Welt gäbe. In der Zeit des Messias würden, fuhr Meister Gamaliel fort, die Bäume zudem täglich Früchte tragen. Und wieder spottete Saul: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Meister Gamaliel deutete auf einen dornigen Kapernstrauch, der zeige, dass dergleichen auf dieser Welt möglich sei. Weiter lehrte Meister Gamaliel, in der Zeit des Messias würden Brote und wollene Gewänder fertig wachsen. Abermals blieb Saul dabei: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Doch Meister Gamaliel belegte dem Schüler mit Schwämmen und Pilzen, die als fertige Speisen wachsen, und mit dem Bast der jungen Palmen, der bereits fertige Kleidung sei, dass dergleichen schon auf dieser Welt gefunden werden könne. Saul klagte laut über den Lehrer und piepste ihm entgegen, wahrlich, das Königreich Gottes solle er nicht in Essen und Trinken, sondern in Gerechtigkeit sowie in Friede und Freude des andersartigen Geistes suchen. Da gab Meister Gamaliel ein helles Lachen von sich und schwieg geraume Zeit.
Meister Gamaliel verdammte dich, Josef, und deine Tante Mariam auch dann nicht, nachdem ihr euch offen zu Jeschua als dem Messias bekannt hattet.
„Tante Mariam berichtete mir, du hättest verlangt, Bruder Kefa Simon bar Jona zu sprechen. Drückt sich jemand auf solch eine herrische Weise aus, der behauptet, ein Knecht zu sein?“
„Weil nicht ein Mensch, sondern der Herr selber mich zum Menschenfischer berufen hat, bin ich zuversichtlich. Denn er hat sich aus freien Stücken für unsere Sünden hingegeben und ich bin von ihm neben euch eingesetzt worden, um Zeugnis abzulegen.“ Inzwischen schwang in Sauls Stimme jedoch eine Andersartigkeit mit, die Barnabas über diese Welt hinaus zu weisen schien.
Um dich gegen ein vorschnelles Einlenken zu wappnen, erhobst du dich und packtest Saul unter den Achseln. Der leistete keine Gegenwehr, sondern versteifte Arme und Beine, sodass er sich wie eine Statue heben ließ. Saul war ein Fliegengewicht, doch du spürtest unter deinen Händen die Zähigkeit seines Körpers, die dich beeindruckte. Barnabas schleuderte Saul in die Sitznische neben sich. Saul gab, als sein knochiges Gesäß auf das Holz prallte, einen unterdrückten Laut von sich. Du hattest nicht grob sein wollen, gabst dir allerdings auch keine Mühe, besondere Sanftmut walten zu lassen. Wenn dieser Mann den Tod von Bruder Stephanos wirklich zu verantworten hatte, würde es dir schwer fallen, das Herrenwort vom Liebesdienst an den Feinden zu erfüllen und, wie er seinen Jüngern empfohlen hatte, die andere Backe hinzuhalten.
Die Fürsorglichkeit, Gerechtigkeit und Andersartigkeit, für die Bruder Stephanos bekannt gewesen war, fehlten der Gemeinde. Jeden Tag gedachtet ihr des Märtyrers. Du hattest dich zu der Zeit, als er gesteinigt wurde, in Zypern aufgehalten, um vereinigt mit deinen Geschwistern die Mutter zu beerdigen, und kanntest das ganze Unglück nur aus Berichten. O Stephane! Als du zurückgekehrt bist von der Trauer um deine Mutter, die von dir so viel Unrecht gelitten hatte, Josef, musstest du um den Freund trauern.
Du erinnertest dich, wie der Freund dir schlicht und ohne Aufgeblasenheit die Worte von Iesous deutete, und wolltest nicht glauben, dass der Herr den Mord an Stephanos hatte zulassen können. Bruder Stephanos, der war die Gutmütigkeit in Person. Ungerechtigkeit mochte er nirgends dulden. Aus dem Grund hattet ihr ihn ernannt, die Almosen der Jünger unter die Witwen und Weisen zu verteilen, ungeachtet ihres Glaubens, ihres Standes, ihrer Herkunft oder ihres Lebenswandels. Wie konnte jener Saul seinen Hohn, wenn es sich denn um denselben jungen Mann handelte, so weit treiben, bei denen aufzukreuzen, die ihren Schmerz über den Verlust des Freundes nie überwinden würden?
Saul machte nun, als du ihm ins Gesicht sehen konntest, einen jüngeren Eindruck, als seine Kahlheit vermuten ließ. Seine Wangen waren eingefallen. Sie und das spitze Kinn rahmte ein dunkler struppiger Bart. Die buschigen Augenbrauen stießen, wie bei dir auch, über der Nasenwurzel zusammen. Den Rücken krümmte er und die Schultern zog er vor sich zusammen, als wolle er den gesenkten Kopf schützen. Ob er nun an der Steinigung des Stephanos einen Anteil hatte oder nicht, es handele sich jedoch um eben jenen Saul, von dem du dir schon bei Meister Gamaliel Schmähreden über Bruder Jeschua hattest anhören müssen.
„Deine Worte verwundern mich. Du gebärdest dich unterwürfig und sprichst überheblich. Tante Mariam gegenüber hast du angegeben, du seiest Saul aus Tarsos.“
Saul nickte.
„Als ich wegen einer dringenden Pflicht nicht in Jeruschlem weilte, wahrlich, da steinigte man unseren Bruder Stephanos. Das weiß ich von den Schwestern. Unter deiner Aufsicht? Du hast den Mord gebilligt?“
Erneut nickte Saul. Barnabas beobachtete, wie die Augen des Mannes sich mit Tränen füllten. Ein Schauspieler würde auch das zuwege bringen, dachtest du. Doch würde ein Verräter prahlerisch behaupten, ein Menschenfischer zu sein, obwohl alle wussten, dass er das nicht sein konnte? Und Saul war eingeweiht, dass ihr Bruder Simon „Kefa“, den Fels, nanntet, wie der Herr ihn gerufen hatte.
„Du gibst vor, zum Menschenfischer ernannt worden zu sein; der Rat der Brüder des Herrn aber hat das nicht getan.“
„Der Herr selber tat es.“
„Wahrlich, das sage ich dir: Der Herr sitzt jetzt zur Rechten des himmlischen Vaters, wie er es weissagte. Er zeigt sich uns nicht mehr leibhaftig. Die Wahl neuer Menschenfischer trug er dem Rat der Brüder an.“
„So sei es. Meine Lippen lügen nicht! Als ich mit der Vollmacht des Hohepriesters Kajaphas im Gepäck, die Gemeinde des Herrn Iesous Christos zu zerschlagen, nach Damaskos zog, warf mich ein Blitz rücklings zu Boden und blendete meine Begleiter. Ich aber schaute eine Lichtgestalt und hörte, wie eine göttliche und liebliche Stimme mehr entschuldigend als anklagend zu mir sprach: ‚Saulos, Saulos, warum verfolgst du mich?‘ Mit Entsetzen und Zittern antwortete ich: ‚Wer bist du, Herr?‘ Er sagte mit viel Milde und Mitgefühl: ‚Ich bin Iesous, der Nazoräer, den du bedrängst. Steh auf und folge meinem neuen Weg.‘ Und das Wort des Herrn erging an mich: ‚Denn noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich auserkoren; noch ehe du aus dem Schoß hervorkamst, habe ich dich andersartig gemacht und zum Menschenfischer für die Völker bestimmt.‘ Da sagte ich: ‚Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, denn ich bin ein Sünder.‘ ‚Sag nicht, du seiest ein Sünder‘, erwiderte der Herr mir aber. ‚Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden.‘ Der Herr streckte seine Hand aus, berührte meinen Mund und sprach zu mir: ‚Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.‘“
Barnabas kräuselte seine Stirn. Eine Begegnung als Beweis war ernst zu nehmen. Oder konnte Saul sie sich nur ausgedacht haben? Zumal sie hauptsächlich aus einer Schriftstelle bestand. „Den Seher Jeremia wiederzugeben, hast du gelernt wie wir alle, die wir Israeliten sind. Das Gesetz aber lehrte dich Meister Gamaliel, bei dem auch ich in die Schule ging, um von ihm zu erfahren, wie die Tora zu verstehen und mit den weltlichen Dingen in Einklang zu bringen sei. Ich erinnere mich, dass du den Herrn verleumdet hast. Meister Gamaliel dagegen war es, der Kefa Simon und die anderen Menschenfischer, die mit ihm inhaftiert worden sind, durch seine kluge Rede im Hohen Rat vor der Steinigung bewahrt hat, während du wenig später dafür sorgtest, dass man Bruder Stephanos draußen am Nordtor zu Tode hetzte. Was ist denn in dich gefahren, dich in solcher Weise gegen die Lehre des Mannes zu stellen, der vom ganzen Volk hoch angesehen wird?“
„Ein Satan, wahrlich, lass es dir versichert sein, hatte mir damals gerade Weib und Kind genommen und mich vor Schmerz toll gemacht, sodass ich den falschen Schluss zog, der Ewige strafe mich für die Nachlässigkeit, mit der ich das Gesetz befolgte. Und du hast tausendmal recht, was die Güte unseres Lehrers Gamaliel betrifft. Er verwies mich meines Übereifers wegen sogar seines Unterrichts. Ich aber wandte mich an den Hohepriester Kajaphas, der bereits im Prozess gegen den Herrn seine schmutzigen Finger im Spiel hatte.“
„Hattest du den Eindruck, dass Gott dir den Befehl erteilte, die Jünger von Messias Jeschua dem Wunsch deines Lehrers entgegen zu quälen?“
„In meiner Verblendung gab ich mir den Befehl selber.“
„Du weißt, dass Meister Gamaliel den Leichnam unseres Freundes Stephanos, unbegraben unter den Steinen, die ihn töteten, holen ließ und ihm eine Ruhestätte an der Seite seiner Ahnen gab?“
„Dem Herrn sei Dank.“
„Wahrlich, dem Herrn sei Dank. Wann hat er dich, wie du vorgibst, zum Menschenfischer erwählt?“
„Das habe ich dir schon berichtet: Bei Damaskos, wo ich vor drei Jahren im Begriffe stand, meine satanische Mission zu erfüllen.“
„Umgekehrt bist du aber nicht?“
„Meine Begleiter brachten mich, nachdem der Herr ihnen ihr Augenlicht zurückgegeben hatte, in die nächstliegende Stadt, denn ich war blind, ich konnte nicht sprechen, ich aß und trank nicht, bis Ananias, ein vom Herrn gesandter Jünger, zu mir kam, mich taufte und wieder sehend machte.“
„Bruder Hananiah kenne ich nur vom Hörensagen, denn ich habe ihn nie getroffen. Leider ist er vor einiger Zeit verstorben, wie uns gesagt worden ist, sodass wir nicht nach ihm schicken können, um durch ihn eine Bestätigung deiner Darstellung zu erhalten. Aber was ist mit deinen Begleitern? Können sie bezeugen, was du sagst? Sie standen ja wohl im Dienst von Kajafa. Zogen sie dich nicht zur Rechenschaft, als du, anstatt die Jünger unseres Bruders und Herrn zu verfolgen, ihnen zu folgen begannst?“
„Der Blitz des Herrn schreckte sie ab. Nachdem sie mich in Damaskos abgeliefert hatten, verstreuten sie sich und ich weiß nicht, wo sie zu finden wären.“
„Wenn ich dich richtig verstehe, liegt das drei Jahre zurück. Was hast du in der Zwischenzeit getrieben?“
„Mit Andersartigkeit begann ich zu predigen. Doch ich stieß auf taube Ohren. Die einen waren verstockt, weil sie den Glauben an einen elend am Pfahl zugrunde Gegangenen für Aberwitz hielten, die anderen, weil sie mich nicht als einen der ihren betrachten wollten. Also begab ich mich nach Arabia, um dort die frohe Botschaft zu verkünden.“
„Woher hattest du die Botschaft, die du verkünden wolltest?“
„Wenn die Offenbarung des Herrn an einigen Stellen Lücken aufwies, half Bruder Ananias aus. Und da die Tora bei Meister Gamaliel ich genau zu lesen gelernt hatte, trat mir schlagartig in den Geist, was bereits den Ahnen über das Kommen des Messias geweissagt worden war: Es umfasst ja im Grunde genommen die ganze Botschaft unseres Herrn und Bruders.“
„Du hast in Arabia bei den Nabatäern gepredigt! Sind die Nabatäer nicht gesetzlose Gojim? Also keine Israeliten, die um die Ahnen und ihre Gesetze wissen! Wie brachtest du es fertig, ihnen zu erklären, dass der Messias gekommen ist, den der Ewige seinem auserwählten Volk verhieß?“
„Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, dass der Herr Mensch wurde und sich für unsere Sünden opferte, um Geist und Fleisch vom Gesetz unserer Ahnen zu befreien. Fünfzehn Tage nach dem Fest der süßen Brote, als die Auferstehung des Herrn bezeugt wurde, kam ein Brausen vom Himmel wie ein gewaltiger Wind. Es erfüllte dieses ganze Haus, denn die Jünger saßen zu Gast bei deiner Tante Maria. Und man sah ihre Zungen zerteilt, als wären sie feurig. Der andersartige Geist floss, wie durch den Propheten Joel vorhergesagt worden ist, in das Fleisch der Menschenfischer und aller künftiger Jünger des Glaubens, damit sie jedem Volk der Erde die frohe Botschaft übermitteln, nicht bloß den Ioudaioi, die in der Diaspora leben, sondern auch den Menschen, die sich bislang noch nie zu dem einen Gott bekannten.“
„Vom Gesetz zu befreien …“ Barnabas wiederholte diese Worte. Meinten sie etwa, ihr solltet euch abwenden von dem Kanon, zu dem euch Gott durch den Mose und die Seher bestimmt hatte? Von dem Maßstab, der euch einengte? Der euch Halt gab? Ein ungeheurer Gedanke! Befreiend, beängstigend. Er musste erwogen werden. Stammte er von jemandem, der auf Geheiß des Hohepriesters Kajafa die Menschenfischer in verstiegene Aussagen treiben wollte, damit es umso leichter sein würde, sie wegen Gotteslästerung abzuurteilen? Saul war auf jeden Fall ungewöhnlich gut unterrichtet. Von dem Ereignis am fünfzehnten Tag wussten nur Eingeweihte, unter denen du dir keinen Verräter vorstellen mochtest. Wie die Zunge das Wildbret schmeckt, hatte einst der weise Ratgeber Ben Sira gesagt, so merkt ein verständiges Herz die falschen Worte.
„Und was hast du bei den ungläubigen Gojim erreicht?“, fragtest du.
„Wenig.“ Saul knirschte mit den Zähnen. „Dem Herrn gefiel es, mich für meine Sünden zu bestrafen. Schließlich spürten mir die Häscher des Nabatäerkönigs nach, denn ich galt als Aufrührer; so floh ich zurück nach Damaskos. Zum Lohn meiner Treue hat der Herr mir eine neue Zunge gegeben, damit ich ihn lobe. In Damaskos fand ich nun, geschult und gestählt in meiner Rede, viele Zuhörer. Dann starb Kaiser Tiberius. Der neue Kaiser, Caligula, sprach Damaskos dem Machtbereich von König Aretas zu. König Aretas aber fürchtete, dass ich die Nabatäer mit dem neuen Glauben von der geschuldeten Verehrung für Kaiser Caligula abbringen und damit dessen Zorn heraufbeschwören würde. Dann würde König Aretas die Herrschaft über Damaskos womöglich wieder verlieren. Diese Aussicht gefiel ihm nicht. Ich erfuhr von der Absicht, dass ich hinterrücks umgebracht werden sollte. Legionäre bewachten alle Tore. Ich konnte die Stadt also nicht verlassen. Da nahmen mich meine Jünger und ließen mich bei Nacht in einem Korb die Stadtmauer herab. Nun war ich entkommen, doch eine beschwerliche Wanderung durch die Wüste erwartete mich, die ich allein und ohne jede Begleitung nicht lebendig durchgestanden hätte, wenn der himmlische Vater mir kein guter Hirte gewesen wäre: Er lenkte meine Schritte zu den Wasserquellen, die meinen Durst löschten, und zu den Höhlen, die mir Schutz vor den Sandstürmen boten. Und so fand mich, nach tagelanger Auszehrung, Rose, die Magd deines gesegneten Hauses. Nun weißt du alles über mich, o Bruder Iosephe. Den ich einst in deinem Beisein als ‚Kleinbauern‘ zum Gespött machen wollte, wahrlich, den bekenne ich nun als eingeborenen Sohn des lebendigen Gottes, von einem Wesen und einer Herrlichkeit mit dem himmlischen Vater und seinem andersartigen Geist, dem Abglanz von dessen Herrlichkeit und dem Urbild von dessen Wesen. Was verfügst du?“
Barnabas zögerte. Hatte Saul dreist von „seinen Jüngern“ und nicht von denen des Herrn gesprochen? Er schwankte zu schnell zwischen Demut und Selbstgerechtigkeit. Dir wurde schwarz vor Augen. Andererseits hatte er mit wenigen Worten den Willen und die Lehre des Herrn ausgedrückt, wie es keinem von euch bisher gelungen war, auch Kefa Simon und selbst Bruder Stephanos nicht. Der Herr stellte Barnabas auf die Probe, indem er forderte, was von keinem Menschen gefordert werden kann, nämlich dem Mörder des liebsten Gefährten zu verzeihen. Er hatte das gefordert. Man konnte das fordern vom Menschen. „Ich muss gestehen, dass ich unschlüssig bin, Saul. Dein Bericht ist zu abenteuerlich, wahrlich, als dass er von einem Späher stammen könnte, es sei denn, der wäre gewitzter, als es sich unser schlichter Glaube vorstellen kann.“
„Mit Freude vernehme ich die Herabsetzung, denn ich weiß, womit ich mir euer Misstrauen verdient habe und darf das Kreuz um der Leiden des Messias willen tragen.“
„Wenn dein größtes Anliegen darin besteht, Simon bar Jona zu treffen, so werde ich ihn bitten, dich in sein Haus aufzunehmen und mit dir den neuen Weg zu erörtern. Von den übrigen Brüdern und Schwestern der Gemeinde und den anderen Menschenfischern aber sollst du dich solange fern halten, bis wir uns deiner sicher sind.“
„So sei es. Das aber verspreche ich dir: Ich werde euch nicht enttäuschen.“
Es klang dir, Josef, in den Ohren wie eine Drohung.