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Gestalttherapie ist ein einzigartiges therapeutisches Konzept: Menschen in psychischen Nöten beizustehen und beim Zurückfinden in Lebensfreude zu unterstützen, ohne sie in die Tretmühle zu re-integrieren. Sinnvolle, für sich selbst hilfreiche, nicht selbst-zerstörerische Rebellion mit notwendiger, für den Organismus gerade mal eben so noch akzeptabler Anpassung zu kombinieren, ist ein hartes Brot. Auf die Gründungseltern der Gestalttherapie einwirkende biographische, geschichtliche und kulturelle Quellen werden hier zusammengeführt und lassen die Entstehung der Gestalttherapie lebendig werden: Laura und Fritz Perls aus Deutschland und Paul Goodman in Amerika bilden ein Team starker Gegensätze, geeinigt von ihrem Stammvater Sigmund Freud und seinem gefallenen Engel Wilhelm Reich: Dieses Buch ist eine Tour de force, dessen Autor sich seit einem halben Jahrhundert mit der Theorie der Gestalttherapie befasst.
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Seitenzahl: 514
Gestalttherapie ist ein einzigartiges therapeutisches Konzept : Menschen in psychischen Nöten beizustehen und beim Zurückfinden in Lebensfreude zu unterstützen, ohne sie in die Tretmühle zu re-integrieren. Sinnvolle, für sich selbst hilfreiche, nicht selbst-zerstörerische Rebellion mit notwendiger, für den Organismus gerade mal eben so noch akzeptabler Anpassung zu kombinieren, ist ein hartes Brot.
Auf die Gründungseltern der Gestalttherapie einwirkende biographische, geschichtliche und kulturelle Quellen werden hier zusammengeführt und lassen die Entstehung der Gestalttherapie lebendig werden: Laura und Fritz Perls aus Deutschland und Paul Goodman in Amerika bilden ein Team starker Gegensätze, geeinigt von ihrem Stammvater Sigmund Freud und seinem gefallenen Engel Wilhelm Reich : Dieses Buch ist eine Tour de force, dessen Autor sich seit einem halben Jahrhundert mit der Theorie der Gestalttherapie befasst.
Stefan Blankertz | Wortmetz | Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt. Anarchist ab 1970. Ab 1972 Beschäftigung mit Paul Goodman.
Start ins Hier und Jetzt
Goldene Zwanziger
Lucys wegen auf der Couch : Freud 1
Funktion des Orgasmus : Reich 1
Der Organismus : Goldstein
Kritik der Ganzheit : Lewin
Anarchismus 1: Buber
Was ist Wahrheit? Friedlaender & Husserl
Vom Regen in die Traufe
Oraler Widerstand : Freud 2
Smuts und das Problem des Holismus
Empire City
Der Stammvater : Freud 3
Gesellschaft contra Faschismus : Reich 2
Kritischer Pragmatismus : Aristoteles
Je weniger Staat, um so besser : Jefferson
Anarchismus 2 : Voltairine de Cleyre
Das Äquivalent des Kriegs : James
Kernfusion
Anarchismus 3 : Gestalt Therapy
Stilfrage : Wer ist Antonicelli?
Epilog : Offene Zukunft
Bibliographie
Personenindex
Sachindex
für Gaby
EDWARD ROSENFELD : «Viele Leute finden das Buch Gestalt Therapy so schwierig, dass sie es beiseite legen und denken, es sei nicht wichtig.»
LAURA PERLS : « Sie haben eben keine Zähne. Das ist schade.» 1
1 Laura Perls, Interview 1977, zit. n. Meine Wildnis ist die Seele des Anderen, Kassel 2017, S. 142.
GOODMAN, 1964 : « Das Grundschulschulsystem in New York verschlingt jährlich 700 Millionen Dollar [1964], Zinslast nicht eingerechnet. Von den 750 Gebäuden werden pro Jahr 15 mit Extrakosten zu je 2 bis 5 Millionen Dollar renoviert. Es gibt 40 000 bezahlte Angestellte. Das sind gewaltige Pfründe, und sehr wahrscheinlich funktioniert es wie ein großer Teil unserer wirtschaftlichen und politischen Struktur – von der die öffentlichen Schulen ein Teil sind – um seiner selbst willen, hält über eine Million Leute auf Trab, verschwendet Wohlstand, belegt Zeit und Raum mit Beschlag, wo etwas anderes stattfinden könnte. […] Mit dieser Beschlagnahme geht eine Engführung der Er fahrung einher, etwa durch die Gestaltung der Lehrpläne und der Prüfungen nach den immer rigider werdenden Vorgaben der sowohl zeitlich als auch räumlich weit entfernten höheren Schulen.» 2
2 Paul Goodman, Compulsory Mis-education (1964), New York 1966, S. 17. Nach Recherche sind die Zahlen eher zu niedrig als zu hoch veranschlagt.
Die Entwicklung der Gestalttherapie ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von drei Personen – Laura (1905-1990) und Fritz Perls (1893-1970) sowie Paul Goodman (1911-1972). Das Ursprungswerk, « Gestalt Therapy », 1951 erschienen, ziert allerdings neben Fritz Perls und Paul Goodman anstelle von Laura Perls der Name Ralph F. Hefferline (1910 -1974), einem der ersten Patienten von Fritz nach dessen Ankunft in den Vereinigten Staaten 1946. Er wird während des weiteren Texts freilich nicht mehr vorkommen, denn über ihn ist kaum etwas bekannt, und das, was bekannt ist, deutet nicht auf einen denkwürdigen Beitrag hin ; 3 jedenfalls ist dieser bedeutend geringer als derjenige der ungenannten Laura Perls. Typisches Beispiel einer Ehefrau, die im Schatten ihres erfolgreichen Mannes stand? Ja und Nein. Fritz Perls litt an einer Schreibblockade ; weite Teile der Texte, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden, verfasste Laura, abgesehen von denen, die aus (Stegreif-) Vorträgen entstanden (das sind diejenigen der späteren Jahre). Aber auch nach der räumlichen Trennung 1956 – sie in New York und er in Kalifornien – publizierte sie wenig unter eigenem Namen ; andererseits veröffentlichte sie einige Texte zuvor, ohne dass Fritz interveniert hätte. Sie selber bestand dar auf, sie habe als Autorin nicht in Erscheinung treten wollen.4
Die drei brachten über ihre individuellen Eigenarten hin aus auch zwei Kulturkreise mit in die Entwicklung der Gestalttherapie ein, die, trotz mancher Überschneidungen, kaum unterschiedlicher hätten sein können : Berlin und New York der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Die Spannung zwischen diesen persönlichen, geographischen und kulturellen Polen macht Faszination wie Problematik der Entstehungsgeschichte der Gestalttherapie aus.
Warum schreibe ich diese Entstehungsgeschichte der Gestalttherapie? Es gibt einen biographischen und einen inhaltlichen Grund. Dieses Buch basiert darauf, was ich seit nun gut drei Jahrzehnten in Ausbildungsgruppen den angehenden Gestalttherapeuten erzähle, zunächst am Gestalt-Institut Köln GIK und jetzt am InKontakt Gestaltinstitut Berlin. Im Herbst 1972 entdeckte ich Paul Goodman. Da war ich 16. Dass es 1972 war, kann ich deswegen so genau sagen, weil ich in jener Zeit die Schülerzeitung « Neue Viehzucht » (1970 -1977 ) produzierte ; der erste Artikel über Goodman, den ich schrieb, stand in der Ausgabe vom September 1972. Meine Entdeckung hatte mit Gestalttherapie nichts zu tun, denn ich entdeckte Goodman als anarchistischen Schulkritiker. Es gab wenig von ihm auf Deutsch, und ich konnte zu dem Zeitpunkt kein Englisch, schrieb Sechsen in diesem Fach. Dann nahm ich mir vor, ein Buch von Goodman zu übersetzen.5 So lernte ich Englisch. Ein steiniger Weg, wohlgemerkt. Denn Goodman verfügte als jemand, der fließend Altgriechisch und Latein sprach – er besuchte als Student Seminare, in denen diese angeblich toten Sprachen im Unterricht verwandt wurden – sowie Französisch, etwas Deutsch und ein klein wenig Spanisch, über einen un gewöhnlich großen Wortschatz. Als verfemter Homosexueller kannte er sich auch bezüglich der Gossensprache aus, die er hemmungslos in seine Texte einfließen ließ. In den Tagen vor dem Internet war es nicht einfach, diese Hieroglyphen zu entschlüsseln. Zudem pflegte er die Angewohnheit, Autoren zu erwähnen, sie allerdings weder zu zitieren noch irgendwelche Literatur- und Quellenhinweise zu geben. Ich folgte seinen Spuren und vermag mein Denken schwer von seinem Denken zu trennen. Als ich 2022 über Goodmans Anarchismus einen Beitrag für die Zeitschrift « Gestalttherapie » der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie verfasste, fragte der mich betreuende Redakteur wiederholt, ob etwas meine Meinung oder diejenige Goodmans sei. Wie soll ich das auseinanderhalten?
Mein erster Artikel zu Paul GoodmanNeue Viehzucht, 1972
Neue Viehzucht, Seite 2 des Artikels und Zitate aus Growing up Absurd
1983 promovierte ich in Soziologie – mit einer Arbeit über Paul Goodman. Das Buch « Gestalt Therapy » wird darin häufig zitiert, jedoch immer noch ohne den Hauch eines Bezugs zur Gestalttherapie. Erst Mitte der 1980 er Jahre sprach mich Hilarion Petzold, Begründer der Integrativen Therapie, der sich damals noch als Gestalttherapeut identifizierte, an, ob ich auf einer von ihm organisierten Tagung einen Vortrag über Goodman halten möchte – von dem man nicht viel wisse, außer dass er nach dem Zeugnis von Laura Perls der theoretische Kopf unter den Begründern gewesen sei. Über Goodman könne ich durchaus etwas sagen, erwiderte ich, verstünde jedoch nichts von Gestalttherapie. Petzold lachte und meinte, was Gestalttherapie sei, wüssten sie schon selber. Für den Vortrag 6 machte ich mich dann doch etwas kundig in Gestalttherapie.
Zehn Jahre später, nach den ersten Durchgängen von gemeinsamer Lektüre des Ursprungstextes mit Auszubildenden in Gestalttherapie, fiel mir auf, dass die Struktur des ersten Teils des zweiten, theoretischen Bandes von « Gestalt Therapy » aus einer Anlehnung an Aristoteles’ Schrift «Von der Seele » und ihrer Rezeption durch Thomas von Aquin zu verstehen sei. Niemand war bisher dieser Spur gefolgt, einfach deshalb, weil man sich zwar in der Philosophie weiterhin mit Aristoteles beschäftigt, nicht aber in der Psychologie. Von Goodman her gesehen ist eine Anspielung auf Aristoteles (und Thomas ) nicht weit hergeholt, denn sein Doktorvater war der Aristoteliker Richard Mc Keon (1900 -1985) – der, in dessen Seminaren Altgriechisch die Umgangssprache war. Um bei ihm studieren zu können, hatte der Straßenjunge Paul sich Altgriechisch beigebracht. Mc Keon verachtete die Neothomisten, weil diese Aristoteles in Latein lasen, und untersagte seinen Studenten, bei ihnen zu hören. Genau das tat der Rebell und musste sein Schullatein auffrischen. Die Neothomisten sprachen Latein. Chicago, 1930 er Jahre … just kulturlose Amis.
Ich selber war auf Thomas von Aquin über eine Stelle in dem von mir übersetzten Buch gestoßen. Goodman schrieb einem « St. Thomas » die Aussage zu, dass der Hauptzweck der Sexualität darin bestehe, die andere Person kennen zu lernen. Der hl. Thomas? 7
Der inhaltliche Grund für dieses Buch ist meine Überzeugung, dass Gestalttherapie Widerstand 8 bedeute (oder nichts ). Um dies nachvollziehbar zu machen, entführe ich Sie in das New York Ende der 1940 er Jahre, wo das System dem New Yorker Straßenjungen Horatio,9 inzwischen herangereift zum jungen Mann, einen Prozess macht. Horatio war pfiffig gewesen : Als er eingeschult werden sollte, entwendete und vernichtete er seine Akte. Damit wurde er fürs System unsichtbar. Natürlich lernte er lesen – wortwörtlich beiläufig – und zwar anhand der Schlagzeilen von Zeitungen. Er, die Freunde und informellen Lehrer – die Stadt als Schule : zurück zu Sokrates 10 – versuchten jeder in der eigenen Art, mit dem folgenden Dilemma fertig zu werden : Passt man sich an das kranke gesellschaftliche System an, wird man verrückt. Schließt man sich aus der bestehenden Gesellschaft (die einzige, die wirklich da ist ) aus, macht einen das ebenfalls wahnsinnig.11 Die Freunde um Horatio waren ein verschrobener und doch auch irgendwie lustiger Haufen, bis Krieg ausbrach. Der Krieg spielte in fernen Regionen, ihr Staat allerdings leistete seinen Beitrag. Einige beugten sich, machten ebenfalls mit und kamen um, andere aber weigerten sich und landeten im Gefängnis. Die Freunde lernten, dass sie, egal wie sehr sie versuchten, nicht am System mitzuwirken, stets aber ein Glied in ihm waren oder als Rädchen fungierten. Einer der Freunde ekelte sich schließlich sogar vor unschuldigem Brot, weil auch in ihm sich das System repräsentiere. Der Krieg zerstörte und tötete, das System hingegen ließ er intakt, obwohl die Hoffnung auf eine Befreiung aus dem Charakterpanzer des Systems der psychische Motor war, der die Menschen zum Mitmachen antrieb : Krieg wirft in den Naturzustand zurück und zugleich negiert er ihn. Nach dem Krieg besteht alles fort, wenn auch auf eine neue Weise, auf eine Weise noch höherer Integration in die Konformität. Der Aufbruch in den Frühling, der den Zerstörungen des Kriegs hätte folgen können, entfällt : Der Frühling ist tot, bevor das Leben zu spießen beginnt. Aber dann verlieben sich die Balletttänzerin Rosalind und Horatio ineinander. Goodman nannte es paradox « städtische Hirtenromanze ».12 Zugleich wird gegen Horatio ein sürrealer Prozess angestrengt. Der Staatsanwalt klagt ihn des Verrats an – sich der Gesellschaft zu verweigern. Sein Plädoyer formuliert er philosophisch und logisch hieb- und stichfest : Der Mensch sei ein soziales Wesen, er lebe nur durch und in einer Gesellschaft. Ihr könne er sich gar nicht verweigern, ohne Schaden an seiner Gesundheit zu nehmen sowie der Gesellschaft zu schaden. Überdies sei die Verweigerung eine nur scheinbare, denn in Wahrheit bleibe er trotz allem ihr Teil. Das fasst genau die Erfahrung zusammen, die Horatio und seine Freunde bereits schmerzlich gemacht haben. Insofern befinde der Verweigerer sich, holt der Staatsanwalt unerbittlich aus, in einem Eigenwiderspruch. Ob er wolle oder nicht, sei er verurteilt, dazu zu gehören und mitzumachen.
Der Staatsanwalt hat seine schneidende Rede beendet, das letzte Wort verhallt, der Leser ist restlos überzeugt – es gibt keinen andern Ausweg als den der Verurteilung Horatios, seine Haltung der Verweigerung aufzugeben. Horatio erhebt sich und setzt dem Staatsanwalt entgegen : « Ich bin verliebt.» 13
Dieser Satz reicht. Der Staatsanwalt hat verloren. Er sieht es ein ; seine ganze Argumentation bricht in sich zusammen : Horatio steht nicht Abseits der Gesellschaft, nein, qua Liebe verbindet er sich mit ihr. Das Liebespaar konstituiert eine Gesellschaft. Denn das war dem Staatsanwalt nicht bewusst : Es gibt einen Unterschied zwischen natürlicher (freiwilliger ) Gemeinschaft und dem gesellschaftlichen System des Zwangs und der Bürokratie, welches der Natur des Menschen zuwider läuft und das Leben abwürgt : Atemnot ist das vorherrschende Krankheitssymptom in der « Reichsstadt ». Für die tödliche Konsequenz des Systems steht das Schicksal von Horatios Schwester Laura. Vor dem Krieg eine erfolgreiche Architektin (wie Goodmans älterer Bruder Percival ), beschäftigte sie sich im Krieg mit der Unsichtbarmachung ihrer eigenen Bauwerke zum Zwecke der Tarnung im Falle eines feindlichen Luftangriffs ; nach dem Krieg kriegt sie kein Bein mehr auf den Boden und begeht Suizid 14 (was Percival erspart blieb).
Gut 600 Seiten, 4 ½ Romane, verdichtet auf wenige Zeilen : Paul Goodman, The Empire City ( gemeint ist New York ), 1959, bestehend aus : The Grand Piano : Before a War, 1942 ; The State of Nature : A War, 1946; The Dead of Spring :15After a War, 1950 ; The Holy Terror : Modern Times sowie zwei Kapitel eines fünften, nie vollendeten Teils : Here Begins. Von der (wohlwollenderen) Kritik wurde der Roman mit Don Quijote verglichen. – Der Unterschied : Don Quijote und Sancho Panza zogen in den Kampf gegen einen sichtbaren Feind, den sie sich jedoch bloß einbildeten. Anders Horatio und seine Freunde, sie kämpfen gegen einen realen Feind, der jedoch unsichtbar ist. So ist der Repräsentant des Systems, der verschrobene Milliardär Hugo Eliphaz, derart sympathisch, dass Horatio sich ihn, während seine Kinder vor ihm fliehen, zum sozialen Vater wählt. In den letzten Lebensmonaten wohnt er mit ihm und begleitet ihn beim Sterben. Das Gegenteil von Gewalt, gibt der weise gewordene Sterbende ihm mit auf den Weg, sei der Handel.16
The Dead of Spring, 1950. 1947 waren Laura und Fritz Perls nach New York gekommen, hatten Goodman, von dem sie Essays bereits im südafrikanischen Exil lasen, kontaktiert und mit der Abfassung eines Buches für eine neu zu begründende psychoanalytische Richtung beauftragt, eines Buches, das Fritz wegen seiner Schreibblockade nicht zu Papier brachte.
Wer Goodman war und welche Scherereien er als Autor von « Gestalt Therapy » mit sich bringen würde, wird den Perls zumindest in Umrissen nicht unbekannt gewesen sein. In den Essays, die sie von Südafrika her kannten, entfaltete ein avantgardistischer Literat und bekennender Anarchist die Gründe für seine Kriegsdienstverweigerung im zweiten Weltkrieg und nutzte dazu vor allem Theorien von Sigmund Freud und Wilhelm Reich : Eine Gesellschaft, argumentierte er, die Lebenswillen und Kreativität und Aggressivität ihrer Mitglieder bis zur Bewusstlosigkeit stranguliere, erzeuge einen Wunsch nach Ausbruch – « Bersten » –, der suizidalen Charakter annimmt, wenn alle anderen Wege verstellt sind. Seinen Stil denunzierte George Orwell 1946 in « Politics and the English Language » als Beispiel für « hässliches und falsch geschriebenes Englisch », freilich ohne seinen Namen zu nennen.17 Jedenfalls zitierte er aus dem Umkreis jener Essays zur Kriegsdienstverweigerung und psychologischen Motivation, sich der Militärmaschinerie zu unterwerfen, deren Inhalt ich skizziert habe : Sie enthielten ähnliche Gedanken, wie sie durch die Perls in « Ego, Hunger, and Aggression » (1942) entwickelt worden waren.
Heute können wir im Stil Goodmans, seiner Vermischung von Genres, Philosophie, Psychologie, Sozialkritik und von Sprachebenen den Vorboten der Postmoderne erkennen.1 Wie Horatio wuchs Goodman als Straßenjunge in New York auf (auch wenn er eine reguläre Schule besuchte) ; als streunender Homosexueller blieb ihm auch später die Sprache der Randgruppen nicht fremd. Zugleich war er sorgender Vater dreier Kinder. Nicht zuletzt ging in seinen Stil die bereits erwähnte Kenntnis alter und neuer Sprachen ein. Als wenn das nicht genug des Mischmaschs gewesen wäre, las Goodman bereits als Jugendlicher Sigmund Freud, und dessen Theorien animierten ihn zu seinen Romanen, Stories, Bühnenstücken (etliche von ihnen führte das legendäre Living Theatre auf ) und Gedichten, noch bevor er in mittlerem Alter anfing, Essays zu schreiben. Den Anlass, aus dem Bereich der Literatur in den der Sozialkritik zu wechseln, gab die Frage, die er sich vorlegte : Der Einberufung zum Kriegsdienst Folge leisten oder in den Widerstand gehen und eventuell mit Gefängnis bestraft werden?
Der Stil, in dem Goodman « Gestalt Therapy » verfasste, ist eins der Gewichte, das diese Therapieform zu stemmen hat :
PETZOLD, 2011 : « Das Buch ist ein künstlerischer Text, und darin liegt ein Problem, denn heute wird von einem zentralen Text der Psychotherapie verlangt – und ich meine zu recht –, dass er grundlagenwissenschaftlich (neurowissenschaftlich, empirisch-psychologisch) und klinisch (durch dokumentierte Erfahrungen im klinischen Bereich, klinische Forschung ) fundiert ist.» 18
Wird verlangt … Zu recht … Wer verlangt? Und mit welchem Recht? Die Fragen verweisen auf eine weitere Beschwernis, die Goodman ins Päckchen packte ; sie hängt zusammen mit dem Stil, wiegt aber noch schwerer, und das ist die Einsicht in das Dilemma der Gesellschaft, wie Goodman es in «The Dead of Spring » auf den Punkt brachte: Sich dem Verlangen des gesellschaftlichen «Wir » zu unterwerfen, macht ebenso krank, wie sich der Sozialität zu verweigern. Wichtig ist, dass Goodman hier keinen wohlfeilen Ausweg wies, kein Beisser’sches Paradox der Veränderung,19 keine Buber’sche Dialogphilosophie, keine Levinas’sche Akzeptanz der Andersheit des Anderen, keinen Perls’schen Verzicht auf Mindfucking und auch keinen Reich’schen Rückzug aufs rein Körperliche : Das Dilemma ist da. Und es bleibt da. Es ist der Pfahl im Fleische der Gestalttherapeuten ebenso wie in demjenigen von ihren Klienten. Das Therapeutische liegt dar in, sich dem Dilemma zu stellen, ihm nicht auszuweichen, weder in Richtung Unterwerfung, noch in Richtung einer Verweigerung, welche zur Selbstvernichtung tendiert.
Die Gestalttherapie ringt seit Anfang der nun 75 Jahre ihrer Existenz (von denen ich rund die Hälfte selber bezeuge ) stets mit diesem Dilemma, das Goodman ihr ins Stammbuch schrieb. In Deutschland etwa sehnte sie sich qua ihres Berufsverbandes vor allem danach, von der Staatsgewalt anerkannt zu werden – und weiterhin sehnt sie sich, wohl wissend, dass die Staatsgewalt sie niemals mit Paul Goodman und seinem Buch anerkennen wird : Der einzige Ausweg in das Paradies, an dem Manna der Staatsgewalt doch irgendwie noch Teil zu kriegen, liegt in Richtung der Unterwerfung.
Der anarchistische Impuls, wie Goodman ihn in dem Dilemma formulierte, veraltete über die Jahrzehnte keineswegs. Und heute ist er wichtiger denn je. In einem anderen Roman sprach Goodman bereits 1963 von einer «Welt ohne Asyl ».20 Man stelle sich das vor : 1963! Inzwischen stopfte die Staatsgewalt die noch vorhandenen Löcher, sodass es keine regionale Souveränität mehr gibt.
Weit weg von der psychotherapeutischen Praxis? Keineswegs. Die Behauptung, Psychotherapie müsse von der Öffentlichkeit beglichen werden, weil die Menschen sie sich nicht zu leisten vermögen, beruht wesentlich darauf, dass die Staatsgewalt heute weit mehr als die Hälfte all dessen konfisziert, was die Arbeitenden er wirtschaften.
Ist Goodmans Kritik am Staat historisch verständlich und berechtigt, aber nicht mehr zeitgemäß? Wie sieht die Empirie aus? Ein Beispiel: Das Bildungsbudget betrug in Westdeutschland 1972, Goodmans Todesjahr, rund 10 Milliarden DM, in Gesamtdeutschland 1995 knapp 76 Milliarden, 1999 knapp 79 Milliarden und 2021 gut 165 Milliarden Euro ( jeweils inflationsbereinigt ). In den USA stiegen die Bildungsausgaben für die Primar- und Sekundarstufe auf lokaler, bundes- und zentralstaatlicher Ebene kombiniert und inflationsbereinigt von 1977 302 Milliarden US-Dollar auf 2019 718 Milliarden US-Dollar. – Diese wenigen Zahlen sind ein Beispiel für die Tendenz der Zunahme von Staatsgewalt.
Obgleich der Einfluss des Staats auf das gesellschaftliche Leben seit 1972, Goodmans Todesjahr, gewachsen ist – an dem für Goodman wichtigen Parameter der Staatsausgaben für Bildung illustriert –, herrscht jedoch dieses Gefühl vor, der Staat sei schwach, sei geschwächt durch die Kritik. Die Klage über den durch Kritik geschwächten Staat ist in vielen Fällen leicht als Vorwand derer zu erkennen, die eine Zunahme der Ausgaben des Staats oder der staatlichen Regulierungen gesellschaftlicher Verhältnisse zum eigenen Nutzen erreichen wollen. Doch hinterliegt der Klage häufig doch auch das echte Gefühl, dieser oder jener Missstand müsse behoben werden, es sei aber kein Geld da, kein Personal vorhanden, kein gesetzgeberischer Vorstoß möglich, um das zu bewerkstelligen.
Das Paradox des faktisch starken und stärker werdenden Staats und seines gefühlten Schwächerwerdens lässt sich mit Goodmans Theorem von einer « Psychologie des Gefühls der Machtlosigkeit » (1966 ) analysieren. Es gibt eine unscheinbare Wendung von Goodman, die hier wichtige Dienste leistet ; alle Mittel, sagte er, seien vom System « mit Beschlag belegt ».
GOODMAN, 1960: « Das System belegt die verfügbaren Mittel und das verfügbare Kapital mit Beschlag, kauft so viel Intelligenz wie möglich auf und dämpft abweichende Stimmen. Und dann behauptet es unwiderleglich, dass es selber die einzig mögliche Art der Gesellschaft darstelle und nichts anderes zu denken sei.» 21
Die Zentralgewalt des Staats belege Räume im physischen und im übertragenen Sinne sowie Finanzmittel « mit Beschlag » und schränke damit den Platz für im Kontakt und im Konflikt entstehende kreative Anpassungen ein. Bezogen auf das Thema Schule, aus dessen Kontext das Zitat stammt, lautete Goodmans Aufruf, der individuellen Initiative, dem pädagogischen Freiraum, der lokalen Verfügung über die Finanzmittel mehr Bedeutung einzuräumen.
Welcher Rat lässt sich für heute ableiten? Für mich ist es vor allem : Nicht aufgeben. Der zweite Rat lautet, nicht zu meinen, jemand oder, Gott bewahre!, man selber sei so schlau, die Welt retten zu können – dass man die Welt könne retten, wenn einem nur genügend Staatsgewalt zur Verfügung stünde. In einem Interview 1986 erinnerte sich Pauls Bruder Percival Goodman, Paul habe dessen Wunsch, noch einmal ( nach « Communitas », 1947 ) gemeinsam ein Buch zur Stadtplanung zu verfassen, mit folgenden Worten abgelehnt :
GOODMAN, 19??: « Planung ist schier nonsense. Immer wenn jemand etwas plant, wird es noch schlimmer als erwartet. […] Die Idee zentraler Planung [master planning ] von irgendetwas, ausgenommen in den kleinsten Einheiten, führt immer ins Desaster.» 22
Der Mensch ist eine problemlösendes Tier, aber ausschließlich in dem Bereich, in dem er Erfahrung macht, mithin in dem Bereich direkten Kontakts. Jeder Einsatz von intermediären Zwischenstufen reduziert den Kontakt, macht die Erfahrung flacher und die Lösungen unpassender. Jeder Einsatz von Gewalt bei der Durchsetzung der Pläne verschiebt den Kontakt in Richtung Projektion, blockiert Erfahrung und Kreativität. Jede Konstruktion einer Erzählung, die schrecklichen Probleme der Gegenwart wären durch nichts anderes als durch die Inter nationalisierung der Staatsgewalt lösbar, lässt alle Einzelnen ohnmächtig dastehen – dastehen in ohnmächtiger Wut, die sich in Hass gegen jeden entlädt, der zu der einen oder anderen in Frage stehenden Katastrophe eine abweichende Auffassung vertritt.
Die Betonung von Gemeinschaft, Kontakt und kreativen Lösungen, die Ablehnung von zentralstaatlichen, gewaltsamen und bürokratischen Lösungen, zieht das Konzept der Politik in Zweifel, das (gewaltsam) verwirklicht wurde : das Konzept, die gesellschaftliche Ordnung erwachse aus staatlich erzwungener Verbindlichkeit. Diesem Konzept stellte Goodman entgegen, auf das Ansinnen zu verzichten, eigene Ideen oder Lösungen durch etwas anderes als Zustimmung umzusetzen. Ordnung und Verbindlichkeit entstehen aus dem Wechselspiel zwischen Tradition und Neuerung ; Aggression im Sinne der Gestalttherapie spielt bei diesem Prozess eine Rolle, ausgeschlossen ist Zentralgewalt. Um mit der Gemeinschaft und ihrer Verwirklichung zu beginnen, ist es nach Goodman nicht nötig (und nicht sinnvoll ), auf die vollständige gesellschaftliche Umwälzung und die große Revolution zu warten, sondern zu tun, was man tun kann, und dann erst in einen Konflikt mit der Staatsgewalt einzutreten, wenn sie diesen Freiraum in einem konkreten Fall einschränkt.
Für Goodman ging es nicht darum, eine Therapieform ins Leben zu rufen, die behilflich ist, jene kranken Körper und Seelen derer ruhig zu stellen und wieder für ein Funktionieren im System flott zu machen, welche das System als unbrauchbar ausgespuckt hat, sondern darum, eine Möglichkeit zu kreieren, mit dem Dilemma zwischen krankmachender Unterwerfung und ebenso krankmachender Opposition fertig zu werden. In einem von denjenigen Essays, die die beiden Perls veranlassten, ihn als ihr Sprachrohr zu nutzen, erklärte Goodman es zum an archistischen ( libertären) 23 Programm, in der gegenwärtigen Gesellschaft so weit wie möglich zu leben, als sei sie eine freie.24 Mit dem Roman «The Empire City » verlieh er diesem Programm, wie eingangs skizziert, einen literarischen Ausdruck. Um das Dilemma auszuhalten – bedarf es der Gestalttherapie. Entzieht man ihr aber diesen Auftrag, den ihr Goodman mit auf den Weg gab, bedeutet sie nichts als nur irgendein weiteres Anpassungsinstrument, das keine Eigenständigkeit und keine überzeitliche Bedeutung hat, vielmehr eine der Modewellen ist, die sich in ihrer Bedeutungslosigkeit abwechseln.
Gestalttherapie ist ein einzigartiges psychotherapeutisches Konzept – Menschen in ihren seelischen Nöten beizustehen und sie beim Zurückfinden zur Lebendigkeit zu unterstützen, ohne sie in die Tretmühle der Allkläglichkeit zu re-integrieren. Sinnvolle, für sie hilfreiche und nicht selbstzerstörerische Rebellion mit der für den Organismus gerade noch akzeptablen sozialen Anpassung zu vereinbaren, ist ein hartes Brot. Sowohl ihrem Ursprung als auch ihrem Herzen nach ist die Gestalttherapie ein anarchistischer Ansatz. Das bedeutet, dass sie bloß außerhalb des staatlichen Gesundheitssystems überleben kann. In ihrer gegenwärtigen historischen Phase steht sie vor der Wahl, sich entweder instrumentalisieren zu lassen oder stand zu halten. Um dem Standhalten eine Aussicht einzuräumen, schreibe ich dies Buch.
Für wen ist diese Entwicklungsgeschichte der Gestalttherapie geschrieben? – Wer sich für die Entwicklungsgeschichte der Gestalttherapie interessiert, hat vermutlich ein gewisses Vorverständnis davon, was Gestalttherapie sei. Aber auch, wer sich ohne ein solches Vorverständnis in diese Seiten verirrt, wird es erfahren, wenn auch nicht im Sinne eines Lehrbuches. Mein Vorgehen ist die Kombination von biographischem mit ideengeschichtlichem Aspekt. Diese Aspekte zu unterscheiden, ist bezogen auf Fritz Perls wichtig. Denn es wurde bereits auch von anderen Beobachtern der Gestalttherapie angesprochen, dass seine Behauptungen, der eine oder andere Philosoph oder Psychologe sei für die Konstitution der Gestalttherapie wichtig gewesen, höchst unzuverlässig sind – unzuverlässig in jenem Sinne, kein stimmiges Ganzes zu ergeben. Für einen Vertreter einer ganzheitlichen Denkungsweise ist das kein gutes Zeugnis. Dazu richte ich an den alten Fritz einen Brief.
Dear Fritz, was hast du uns denn da für ein Ei ins Nest gelegt? mit dem Vortrag Gestalttherapie und Kybernetik. 1959. Kybernetik 25 war en vogue. Du wolltest ja schon immer Anschluss an das Neueste, was im akademischen Bereich Rang und Namen hat. Aber dazu hättest du irgendetwas über Kybernetik und die Anschlussfähigkeit (du verzeihst mir sicher diesen anachronistischen neudeutschen Ausdruck ; um soetwas wie linguistische Konsistenz hast du dich eh nie geschert ) der Gestalttherapie sagen müssen. Stattdessen reduzierst du die Kybernetik auf den Allerweltssatz, dass es um Rückmeldung und -kopplung gehe – doch selbst bezogen auf diese Trivialität zeigst du nicht, inwiefern sie in der spezifischen Form, wie sie im Modell der Maschinensteuerung verwandt wird, für deine Gestalttherapie wichtig ist.
Oder wolltest du uns provozieren im Sinne von Theodor W. Adorno, welcher die Kritik am Behaviorismus als ausgelaugten Humanismus geißelte,26 weil sie den Begriff der Subjekthaftigkeit des Menschen bemühe, die es unter dem Druck der Verhältnisse (noch?) gar nicht geben könne. Nein, ich finde keinen Anhaltspunkt für dialektische Ironie in deinem Text, der solch eine subtile Argumentation tragen könnte.
FRITZ PERLS, 1959: «Obgleich wir in der Gestalttherapie eine Feedback-Technik [1] verwenden, die auf den ersten Blick der klientenzentrierten Therapie [2] von Rogers 27 ähnelt, findet sich doch zu dieser ein fundamentaler Unterschied : wir reformulieren [3] nämlich nicht die Sätze des Patienten […], sondern wir sind darauf bedacht, sorgfältig nur seine eigenen Worte und Bilder zu verwenden und zwar wortwörtlich [4] [...]. Durch Interventionen wie ‹ In welcher Richtung gehen wir weiter?› […] fördern [wir, Phantasien zu verbalisieren] [5].» 28
[1]+[2] Den kybernetischen Soll-Ist-Abgleich bezeichnest du als der Rogers-Methode ähnlich ; nicht nachvollziehbar.
[3]Du unterstellst, die Rogers-Methode würde darin bestehen, Klientenstatements zu re-formulieren (zu re-framen?) – das scheint mir unzutreffend (und unkybernetisch) zu sein.
[4]Dagegen setzt du wörtliches Spiegeln als Gestaltmethode, was doch für die Rogers-Methode kennzeichnend ist.
[5]Deine Beispielintervention hat nun allerdings weder etwas mit Feedback [1], noch mit einer Rogers unterstellten Reformulierung [3], noch mit der von dir der Gestalttherapie zu geschriebenen wörtlichen Spiegelung [4] zu tun.
An einer anderen Stelle in deinem Vortrag behauptest du dies :
FRITZ PERLS, 1959 : «Vom philosophischen Standpunkt aus betrachten wir uns als Existentialisten [1], wobei wir besonders auf Gedanken von Buber [2], Marcel,29Friedlaender [3] und auf Husserls Phänomenologie [4] zurückgreifen. Wir sind der Auffassung, dass alle metaphysischen und metapsychologischen Spekulationen, die unseren eingeschlossen, lediglich den Bedürfnissen der Individuen entsprechen, die sie erschaffen [5]. Indes, wir sind keine puristischen Phänomenologen [6], da wir annehmen [!], dass der Organismus als Ganzes arbeitet, als eine Einheit [7].» 30
[1]+[4] Hier setzt du Existentialisten mit Phänomenologen gleich. Höchst zweifelhaft.
[2] Buber mag man bei den Existentialisten einordnen ( wie es Adorno tat ), aber er war bestimmt kein Hauptvertreter der Richtung.
[3] Friedlaender war nie Existentialist. Dadaist, Expressionist, zeitweise Nietzscheaner, später dogmatischer Kantianer.31
[4]Auch Husserl war kein Existentialist, sondern Phänomenologe.
[5]Diese von dir genannte Auffassung ist weder phänomenologisch noch existentialistisch. Wir könnten sie womöglich in Nietzsches Perspektivismus, im Utilitarismus, im philosophischen Egoismus (Stirner) oder auch im Pragmatismus verorten.
[6]Dagegen kennzeichnest du diese Auffassung als puristisch phänomenologisch. Völlig daneben.
[7]Die Entgegensetzung zur « puristischen Phänomenologie » hat nun weder etwas mit Phänomenologie zu tun ( auch nicht als Verneinung, als Antithese ) noch etwas mit der in [5] formulierten Auffassung, sondern stellt vielmehr einen ganz anderen Aspekt dar.
Mein Gott, Fritz!, hättest du doch Wittgenstein beherzigt und darüber geschwiegen, wovon du nichts verstehst, anstatt einen solchen elephant shit zu produzieren. Glaubst du, wir würden dich nicht genauso (nein, was mich betrifft in Wirklichkeit : viel mehr) lieben, wenn du dich als das dargestellt hättest, was du bist : Als der nach Freud genialste Psychotherapeut? Mit herzlichen Grüßen aus dem Hier und Jetzt in Vergangenheit und Zukunft, dein Stefan.
Der Titel dieses Buchs ist eine Anlehnung an Goodmans Satz «The Society I Live In Is Mine », Titel einer 1962 erschienenen Sammlung seiner Briefe an Vertreter von Politik und Medien : Ich behandle sie, sagte Goodman, als seien sie meine Angestellten ( obwohl er wusste, dass dem nicht so ist ). Der Satz besteht aus drei Anapästen. Die Übertragung in drei Daktylen war eine mühsame Arbeit von mehreren Wochen und einigen Schluck Whisky sowie viel Kopfschütteln meiner Frau. Auch der Untertitel gelang dann in einer daktylischen Form, was im trochäischen Deutschen kein einfach zu erzielender Versfuß ist, wie jeder leibhaftig spüren kann, wenn er die Voß’sche Homer-Übersetzung vom Ende des 18. Jahrhunderts liest.
Die Fließtext-Schrift ist die Adobe Caslon von Carol Twombly, die auf der von William Caslon entworfenen, ersten Schriftfamilie englischen Ursprungs basiert. In ihr wurde die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gesetzt – und Goodmans Roman «The Empire City ». Für die Headlines verwandte ich den Google Font Protest Riot von Octavio Pardo.
Was die Auswahl an Themen und an Autoren betrifft, halte ich mehr davon, wichtige Hinsichten eingehender zu untersuchen, als Namen ohne eine weitere Erklärung aneinander zu reihen mit dem Vermerk, dieser oder jener sei auch noch zu bedenken oder habe auch noch eine Rolle für die Eltern der Gestalttherapie gespielt. Meine Kriterien der Auswahl waren erstens Aktualität, zweitens systematischer Status in der Theorie der Gestalttherapie sowie drittens der biographische Bezug zu den Eltern. Anscheinend hat jeder Text, wie Judith Butler sagt, « mehr Quellen, als er in seiner eigenen Begrifflichkeit rekonstruieren kann ».32
Und das Titelbild? Der Straßenjunge. Horatio. Und sein Freund. Oder Bruder? Eine Gesellschaft, die ihre ist. Beim Essen. Das Ich, der Hunger und die Aggression. Trauben und Melone. Messer. Zähne. Genuss. Freundschaftliches Teilen.
3 Terry Knapp, Ralph F. Hefferline : The Other Gestalt Therapist, in The Gestalt Journal, 20. Jg. (1997) Nr. 1, S. 121-135.
4 Im Interview mit Dan Rosenblatt von 1972, zwei Jahre nach Fritz’ Tod, sprach Laura über ihre Beteiligung an « Ego, Hunger, and Aggression » und « Gestalt Therapy » ohne Groll (Wildnis, a. a. O., S. 82f und S. 95). Milan Sreckovic verweist auf eine persönliche Mitteilung von ihr an ihn : « Jeder wusste, dass ich es nicht mag, im Zentrum oder on the top zu stehen ; ich stehe lieber am Rande » (in Reinhard Fuhr u. a. [Hg.], Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen 1999, S. 137). Der einzige Groll ist zu spüren in ihrer Bemerkung, Goldstein und ihr Doktorvater Adhémar Gelb hätten ihre Dissertation für eigene Publikationen ausgeschlachtet (Wildnis, S. 38 ).
5 Paul Goodman, Compulsory Mis-education, 1964. Dt. Das Verhängnis der Schule, Frankfurt/M. 1975.
6 Stefan Blankertz, Utopie oder Aggression? Goodmans Sozialpsychologie in «Gestalttherapie », in Integrative Therapie, Beiheft 10, hg. v. Hilarion Petzold u. Christoph J. Schmidt, Paderborn 1985, S. 43-57. Die Tagung fand Ende September 1984 in Oberwesel statt, und dies war mein erster öffentlicher Vortrag überhaupt. Bemerkenswert, dass schon da die gestalttherapeutische Aggressionstheorie im Zentrum meiner Rezeption stand.
7 Goodman : «Wie St. Thomas sagt, ist die hauptsächliche menschliche Absicht des sexuellen Kontaktes, sich kennenzulernen.» (Das Verhängnis der Schule, S. 87.) Anmerkung 75 (S. 116 ): «Thomas von Aquin (1193 [1224] - 1274); vergl. J. Fuchs, Die Sexualethik des heiligen Thomas von Aquin, Köln 1949, S. 134 u. 290 ; eine charakteristische Wendung von Thomas dazu lautet : ‹ magis conju [n] ctus magis amatur › (Fuchs, S. 134 ).»
8 Um die Verwirrung von politischer und psychoanalytischer Bedeutung des Begriffs Widerstand zu umgehen, greife ich für die psychoanalytische Bedeutung nach Möglichkeit auf den Begriff Abwehr zurück. Zuordnung siehe Sachindex.
9 Mit vollem Namen : Horatio Alger. Damit ist die Allusion auf den gleichnamigen Autor von Groschenromanen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts perfekt, in denen die Möglichkeiten des amerikanischen Traums beschworen werden. Paul Goodman liebte diese Geschichten und bedauerte, dass der Traum im Laufe des 20. Jahrhunderts erledigt wurde.
10 «What he really wants is to use the City as a school. Back to Socrates.» Paul Goodman, The Empire City (Teil «The Grand Piano »), New York 1959, S. 120 f. ( In der separaten Erstveröffentlichung von The Grand Piano, New York 1942, S. 177.)
11 «The Dilemma of our Society: If we conformed to the mad society, we became mad ; but if we did not conform to the only society that there is, we became mad.» Paul Goodman, The Empire City (Teil «The Dead of Spring»), New York 1959, S. 407. (The Dead of Spring, Glen Gardner, NJ 1950, S. 180.)
12 «An Urban Pastoral Romance (after Longus )». Der Hinweis geht auf den griechischen Schriftsteller Longos, der vermutlich im zweiten Jahrhundert nach Christus die Abenteuer- und Liebesgeschichte um die Findelkinder Daphnis und Chloe schrieb.
13Empire City, a. a. O., S. 388. (Dead of Spring, S. 155.)
14 Ebd., S. 395. (Dead of Spring, S. 163.)
15 «The Dead of Spring » ist ein makaberes Wortspiel. Idiomatisch bedeutet die Phrase « mitten im Frühling »; als Horatio seine Schwester, die sich erhängt hat, auffindet, trägt sie ein Schild um den Hals mit dem Text : «The Dead of Spring », die Frühlingstote.
16Empire City, S. 153-161. (State of Nature, New York 1946, S. 10 -23.)
17 Die Sätze, die Orwell analysierte, stammen aus The Political Meaning of Some Recent Revisions of Freud, erschienen 1945 in der Zeitschrift « Politics » von Orwells (und Goodmans) Freund Dwight Mac Donald. Orwell erklärte den Essay für « schlicht ohne Sinn » (Horizon, 13. Jg. [1946] Nr. 76, S. 260 ), vermutlich, weil er kein Wort begriff. (Goodmans Text ist in Nature Heals, New York 1977, S. 42-70, dt. in Natur heilt, Köln 1989, S. 71-99, enthalten.) 1 Zu denken wäre beispielsweise an David Foster Wallace’ « Unendlicher Spaß » (1996 ) mit den essayistischen Einlagen und den wenig verknüpften Erzählsträngen.
18 Hilarion Petzold, Zwischen Gestalttherapie und Integrativer Therapie : Ein Interview, in Psychologische Medizin 3 (2011), S. 14-44 ; Zitat in der pdf-Fassung des FPI-Textarchivs auf S. 22.
19 Arnold R. Beisser (1925-1991), ein Schüler von Fritz Perls, formulierte aufgrund eigener Erfahrung als nach einer Polio-Infektion Querschnittsgelähmter das für die Gestalttherapie wichtige « Paradox der Veränderung »; es besagt, Veränderung finde erst statt, wenn man den Status quo akzeptiert hat. Vgl. Wozu brauche ich Flügel? (1989 ), Wuppertal 1997.
20 Paul Goodman, Making Do, New York 1963, S. 9 : «The police of Vanderzee, and of New York across the river, of Paris, Madrid, Warsaw, Moscow, were the instruments of the worldwide system of States in which a man was hounded from one baroque jurisdiction to another baroque jurisdiction, and he had no asylum or even exile.» – Vanderzee ist der fiktive Ort, vermutlich Hoboken gegenüber von Manhattan an der anderen Uferseite des Hudson in New Jersey, in welchem ein Teil des Romans spielt.
21 Paul Goodman, Growing up Absurd : Problems of Youth in the Organized Society (1960 ), New York 1962, S. x.
22 Interview von Dennis L. Dolens 1986 in Peter Parisi (Hg.), Artist of the Actual : Essays on Paul Goodman, Metuchen, NJ 1986, S. 150.
23 Goodman verwandte die Adjektive weitgehend synonym. Zur Begriffsgeschichte des Libertarismus vgl. Stefan Blankertz, Einladung zur Freiheit : Werkbuch libertäre Theorie und Praxis, Berlin 2020, S. 222-226.
24 « Free action is to live in the present society as though it were a natural society.» Paul Goodman, Reflections on Drawing the Line (1945), in Drawing the Line, New York 1962, S. 11. ( In Art and Social Nature, New York 1946, S. 1. In Drawing the Line, New York 1977, S. 3. In Drawing the Line once again, Oakland, CA 2010, S. 26.)
25 Die Kybernetik beschreibt Steuerungsprozesse durch Soll-Ist-Abgleich mittels einer automatisierten Rückkopplung in Technik, Institutionen und Organismen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, wurde sie vom Ende der 1950 er an bis hinein in die 1970 er Jahre zur Allheillehre stilisiert.
26 Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung (1957), in Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1972, S. 87.
27 Carl Rogers (1902-1987) begründete zeitgleich mit der Gestalttherapie die Personenzentrierte oder Nichtdirektive Gesprächstherapie. – Die Betonung der Beziehungsqualität zwischen Klienten und Therapeuten und der notwendigen Empathie der Therapeuten für die Klienten steht der Gestalttherapie nahe. Die Technik, Gefühle der Klienten zu spiegeln und zu bestärken, wird jedoch als zu eng und in gewissen Fällen als wenig hilfreich angesehen. Es kann unter Umständen auch angeraten sein, die Klienten zu konfrontieren oder gar zu provozieren.
28 Friedrich S. Perls, Gestalttherapie und Kybernetik (1959 ), in Gestalt – Wachstum – Integration : Aufsätze, Vorträge und Therapiesitzungen, Paderborn 1980, S. 128.
29 Gabriel Marcel (1889 -1973), ein französischer Vertreter des christlichen Existenzialismus, der oft in die Nähe von Martin Buber gestellt wird. In der Theoriegeschichte der Gestalttherapie griff man allerdings fast ausschließlich auf Buber zurück. Sreckovic (1999 ) erwähnt Marcel zweimal im Vorübergehen (S. 32 und S. 45), Clarkson und Mackewn (1993) einmal (S. 92), Bocian (2007) gar nicht. Dies schließt nicht aus, dass es lohnend wäre, sich mit ihm zu befassen ; ein biographischer Einfluss lässt sich nicht erkennen.
30Gestalttherapie und Kybernetik, a. a. O., S. 120 f.
31 Salomo Friedlaender, Kant gegen Einstein (1932), Gesammelte Schriften, Bd. 1, Herrschen 2008. Zu Friedlaender vgl. weiter hinten S. 113-120.
32 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (1990 ), Frankfurt/ M. 1991, S. 12.
FRITZ PERLS, 1969 : « Mein Name ist Friedrich Salomon Perls, auf Amerikanisch Frederick S. Perls; meist werde ich Fritz oder Fritz Perls genannt, manchmal Doktor Fritz. Indem ich das schreibe, komme ich mir sehr obenhin und unpersönlich vor. […] Ich entwickele mich zu einer bekannten Persönlichkeit. Aus einem unbedeutenden jüdischen Jungen der unteren Mittelschicht wurde ein mittelmäßiger Psychoanalytiker, möglicherweise der Begründer einer ‹ neuen › Therapieform und Repräsentant einer entwicklungsfähigen Philosophie, die für die Menschheit von Bedeutung sein könnte. […] Am wohlsten fühle ich mich als Prima Donna und wenn ich mit meiner Fähigkeit prahlen kann, innerhalb kürzester Zeit das Wesen eines Menschen und seiner Probleme zu erfassen. […] Ich habe jahrelang mit meiner Frau diese Spiele gespielt : ‹ Bin ich nicht toll? Mich übertriffst du nicht!›, bis ich merkte, dass ich immer den Kürzeren zog und gar nicht gewinnen konnte. Damals glaubte ich noch an den weitverbreiteten Unsinn, dass es wichtig und sogar notwendig ist zu gewinnen.» 33
33 Frederick S. Perls, Gestalt-Wahrnehmung : Verworfenes u. Wiedergefundenes aus meiner Mülltonne (1969 ), Frankfurt/M. 1981, S. 1-3.
Rund um den Stammtisch sitzen Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin « lauter gehaltvolle Männer ». Zu ihnen stößt der junge Arzt Fagott – die übrigen Namen der Groteske sind von ähnlich symbolischer Kraft – und outet sich als Anhänger des Wiener Nervenarztes Sigmund Freud, der bekanntlich alles Handeln aus « geschlechtlichen Dingen » herleitet. Man ist empört und ein jeder der Herrschaften gibt eine Geschichte als Widerlegung Freuds zum Besten. Höhe- und Schlusspunkt bildet der Bericht des Eisenbahners Zwicke. Er erzählt, dass er auf einer Dienstfahrt zufällig einer hübschen Frau gegenübersaß. Natürlich dachte der brave Mann bei ihrem zauberhaften Anblick an nichts Schändliches, als es zu einem Eisenbahnunglück kam. Der Aufprall schleuderte ihn auf die Frau, in der Folge schlingerte der Wagon und, was soll ich sagen?, ohne ein weiteres Zutun kam es – ohne vorherige Entkleidung!? – zum Coitus. Zu allem Überfluss stellte sich heraus, dass die Frau Novizin ist. Der Redner deklamiert am Ende der Anekdote, er verbürge seine Ehre für ihrer beider Unschuld.34 Der olle Freud sieht sich widerlegt. Wer wollte das angesichts solcher Beweise leugnen?
Dies ist die Auftaktgroteske des Buches « Das Eisenbahnglück, oder : Der Anti-Freud », 1925 veröffentlicht von dem Satiriker Mynona, der Salomo Friedlaender (1871-1946 ) hieß, Bohème und Philosoph war sowie einen bedeutenden persönlichen Einfluss auf das Psychoanalytiker-Ehepaar Laura und Fritz Perls ausübte.
In der – zugegebenermaßen spärlichen – Sekundärliteratur findet man Andeutungen, der Autor der Groteske habe ernsthaft Partei für die Zwickes genommen und sich nicht über deren Bigotterie belustigt.35 Und der Gestalttherapeut Claudio Naranjo bescheinigte ihm eine « durchgängige und intelligente Freud-Kritik ».36 Damit bescheinigte er Mynona, kein Satiriker, sondern ein recht verschrobener Idiot zu sein, der meinte, die Dominanz des Geschlechtstriebs durch eine Rückführung des Akts auf äußerliche, mithin ungewollte Mechanik widerlegen zu können, sowie dem Ehepaar Perls, das sich zu genau jener Zeit ihrer Begeisterung für Friedlaender in psychoanalytischer Ausbildung befand, eine geschwollene Geschmacksverirrung. Wie würde man sich hierüber hinaus die Umwandlung jenes Eisenbahnunglücks in dies Eisenbahn-glück erklären? Eisenbahner Zwicke jedenphalls wollte es als Un-glück verstanden wissen, dass er einer angehenden Nonne beywohnte. Er stellte es nicht als eine glückliche Fügung dar. Man kann es bloß als Glück bezeichnen, wenn man das Freud’sche Unbewusste hinzunimmt und Zwicke durchaus unterstellt, die hübsche junge Nonne begehrt zu haben, vorgeblich aber nicht bewusst. Vielleicht sogar auch die Nonne den « gehaltvollen » Mann. Sie nutzten die Gunst der Stunde oder die des Unglücks. Keine Anleitung zum Unglücklichsein. Was wird dann aus seiner – und ihrer – Ehre?
Wie auch immer diese Groteske gemeint gewesen ist, sie macht jedenphalls deutlich, welchem Unbehagen und welchen Missverständnissen Sigmund Freuds kaum ein viertel Jahrhundert alte Psychoanalyse ausgesetzt war, selbst im Kreise der fortschrittlichen Bohème, zu dem ihr Autor sich zählte.
Lange Zeit war die Psychologie ein Teil der Philosophie und als solche galt ihre einzig mögliche Fragestellung dem logischen Aufbau des Bewusstseins. Freud räumte damit auf. Nein, nein, sagte Freud, ein großer Teil der psychischen Aktivität läge im Unbewussten.
Wie in den Grotesken von Mynona angedeutet, eilte Freud der Ruf voraus und tut es immer noch, alles auf Sexualität (und auf die Prägung in der Kleinkindheit) zurückgeführt zu haben. Dieser Ruf lässt sich für jeden leicht durch eigene Lektüre widerlegen. Sei es die berühmte Traumdeutung (1900 ),37 seien es seine eindrucksvollen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916 & 1933) : 38 Freuds Beispiele drehten sich keineswegs bloß um Sexualität (und Kleinkindheit ). Dennoch ist in dem Ruf, der Freud vorauseilt, viel von dem enthalten, was psychoanalytisch erklärt werden kann : Es ist in dem Ruf die ( verständliche ) Abwehr 39 dagegen zu spüren, von Kräften beherrscht zu werden, die man nicht mit seinem Bewusstsein kontrollieren kann. Nehmen wir ein so unverfängliches Beispiel wie die Sprache. Der erste Spracherwerb der Muttersprache liegt weitgehend in der Phase, bevor ein erinnertes Bewusstsein vorhanden war. Die intuitiv erfassten Regeln können befolgt werden, ohne bewusst zu sein. Und außer für Linguisten bleibt die Anwendung der Regeln ein Leben lang unbewusst. – Kunsthistorisch Interessierten empfehle ich Freuds wunderbare Interpretation des Moses von Michelangelo, in der es weder um Sexualität noch um Kindheit geht, sondern um Zorn und um die Möglichkeit, ihn zurückzuhalten (psychoanalytisch : zu « retroflektieren »). Die Statue wurde meist so gedeutet, dass Moses die Steintafeln von Gott erhalten hat, ins Lager der Israeliten zurückkehrt, erfährt, dass sie abgefallen sind, und sich kurz vor seinem Zornesausbruch befindet. Freud sah sie anders :
FREUD, 1914 : « [Der Moses des Michelangelo] wollte es in einem Anfall von Zorn, aufspringen, Rache nehmen […], aber er hat die Versuchung überwunden, er wird jetzt so sitzen bleiben in gebändigter Wut, in mit Verachtung gemischtem Schmerz. […] [Michelangelo] hat das Motiv der zerbrochenen Gesetzestafeln umgearbeitet, er lässt sie nicht durch den Zorn Moses’ zerbrechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, dass sie zerbrechen könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Wege zur Handlung hemmen […] – nicht ohne Vorwurf gegen den Verstorbenen [Papst Julius II, für dessen Grab die Statue vorgesehen war], zur Mahnung für sich selbst, sich mit dieser Kritik über die eigene Natur erhebend.» 40
Diese Interpretation macht die Statue zum Sinnbild dessen, was ich für das Kernstück der Toleranz ( und der Schwierigkeit, sie zu üben ) halte : Es geht ja nicht darum, das zu dulden, was mir gefällt oder gleichgültig ist ( da bräuchte man gar nicht von Duldung zu sprechen ), vielmehr in gebändigter Wut, in mit Verachtung gemischtem Schmerz sich über die eigene Natur erhebend das zu erdulden, was mir im höchsten Maße zuwider ist, den tief eingewurzelten Werten und höchsten Wahrheiten widerspricht. Danke, Sigmund, für diesen Michelangelo.
Eine spezielle Abwehr erfährt immer noch der Nachdruck Freuds darauf, dass Sexualität weite Teile des individuellen und gesellschaftlichen Handelns bestimme. Immer noch grassiert die ausgenzwinkernde Klassifizierung von Sex als schönster Nebensache der Welt. Wie das? Nebensache? Ohne Sexualität gäbe es keine höher entwickelten, komplexeren Lebewesen. Vielleicht wäre es ja besser, hätte das Leben sich nicht über das Stadium einer Amöbe hinaus entwickelt ( hierüber spekulierte Freud in seinem pessimistischen Text Jenseits des Lustprinzips, als er 1920 nach dem ersten Weltkrieg an der Destruktivität der Menschen schier zu verzweifeln drohte ). Die Besonderheit der menschlichen Sexualität liegt in ihrer Entgrenzung oder umgekehrt gesagt : darin, dass sie zeitlich und funktional nicht mehr auf die Fortpflanzung eingegrenzt ist.41 Dies hat die entwicklungsgeschichtliche Ursache, dass bei Menschen die Brutpflege über einen sehr langen Zeitraum stattfindet und einer stabilen Familie bedarf. Die Funktion der Sexualität als Bindemittel für die Familie hat übrigens nicht erst Freud entdeckt ; sie wird bereits bei Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert ausführlich beleuchtet.42
GOODMAN, 1963 : « Der hl. Thomas […] stellt heraus, der menschliche Hauptsinn der Sexualität bestehe darin, mit einander in Kontakt zu treten. Ich weiß nicht, ob die Katholiken unter Ihnen mit dieser Interpretation einverstanden sind, aber die Kirche wäre viel besser, wenn sie die Ideen des Aquinaten ernst nähme.» 43
Nun wird Freud von konservativer Seite aus immer noch und gerade auch wieder verstärkt vorgeworfen, die Familie zerstört zu haben : Seine Aufklärung über die Bedeutung der Sexualität und über die Abgründe, die sich in Familien leider allzuoft finden, habe zum Verfall der Familie geführt, zu rebellischen Kindern, zu Müttern und Vätern, die sexueller Befriedigung hinterher hecheln, anstatt ihrer Pflicht nachzukommen. Dieser Vorwurf tut so, als habe Freud sich das, was er über Familie und deren problematische psychische Dynamik sagte, bloß ausgedacht. Wer dies meint, sollte nicht Freud angreifen, sondern zeigen, dass die Familie nur Friede Freude Eierkuchen war und ist. Dass Mütter und Väter vor Freud nur ihrer Pflicht nachgekommen und nie ihrer Lust hinterher gehechelt seien. Dass Kinder nie rebelliert oder nie stumm unter ihren Eltern schwer gelitten hätten. Das ist mehr als unwahrscheinlich.
Ein anderer Freud gern gemachter Vorwurf lautet, er habe die Verantwortung vom Einzelnen auf die Gesellschaft verschoben. Wenn es soziale Vorgänge vor allem in der Kindheit seien, die das Handeln unbewusst motivieren, dann folge daraus, dass nicht der Handelnde schuld ist, wenn etwas schief läuft, sondern die anonyme Gesellschaft. Dies wurde zwar häufig aus Freuds Theorien geschlussfolgert und ist heute weitgehend Standard sowohl in der Rechtspraxis als auch im eingebürgerten Bewusstsein. Aber es ist nicht das, was Freud anstrebte. Sein therapeutisches Ziel war, die Entwicklung des von seinem Unbewussten gesteuerten, in der Kindheit verhafteten Es hin zum aktiven, erwachsenen, Verantwortung übernehmen könnenden und wollenden Ich zu unterstützen.
Der fürs Verständnis der sozio-psychologischen Dynamik der Gesellschaft wichtigste Text Freuds ist « Das Unbehagen in der Kultur ». 1930 erschienen, nach dem katastrophalen ersten Weltkrieg, Kommunismus und Faschismus auf dem Vormarsch, ein neuer Krieg im Anzug, stellte Freud sich die Frage nach dem Warum : Warum sind die Menschen bereit, sehenden Auges die Zerstörung dessen in Kauf zu nehmen, was sie aufgebaut haben und was ihr Leben angenehm macht? Die Analyse der (ökonomischen) Interessen, die die Herrschenden zu solchem Handeln treibt, beantwortet die Frage nicht hinreichend ; denn die Herrschenden mögen zwar Gründe für ihr Handeln haben, aber warum macht die Masse mit? Freud entwickelte in dem kleinen Text die These, dass die sozio-psychologische Dynamik der Gesellschaft vermittels zweier Mächte geprägt werde, von den individuellen Bedürfnissen (vor allem Sexualität und Aggressivität ) sowie von den gesellschaftlichen Bedürfnissen nach Ordnung und Gegenseitigkeit. Um die gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen, ist es – laut Freud – nötig, individuelle Bedürfnisse teilweise einzuschränken : Die individuellen Bedürfnisse können nicht immer, nicht alle und vor allem selten sofort befriedigt werden, ohne dabei die gesellschaftliche Ordnung – oder die Gegenseitigkeit – zu verletzen. Die Frustration der individuellen Bedürfnisse bleibt allerdings nicht ohne Folgen. Die Menschen machen sich gegenüber den eigenen Bedürfnissen taub ; diese rutschen ab ins Unbewusste, sind jedoch dort um so wirksamer. Viele Menschen reagieren mit Selbstschädigung (auf psychischer Ebene Depression,44 auf somatischer Ebene Krankheit ), manche mit ungezügelter Destruktivität. Insgesamt entsteht ein Unbehagen in der Kultur ; die Kultur und ihre Leistungen (Ordnung und Gegenseitigkeit ) werden mithin nicht bloß positiv gesehen, sondern auch negativ erlebt. Die Frustration der individuellen Bedürfnisse, das Unbehagen, kann ein Ausmaß erreichen, dass es in die Bereitschaft mündet, alles kurz und klein zu hauen. Freud, selber bereits schwer krank, war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes pessimistisch, ob es je gelingen werde, ein lebensfähiges Gleichgewicht zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen herzustellen.
«Wir alle kommen von Freud » (Laura Perls).45 – Friedrich Perls wurde Ende des 19. Jahrhunderts in eine jüdische Familie der unteren Mittelschicht geboren, der Vater war Weinhändler. Obwohl – oder gerade weil – Fritz kaum etwas Positives über seinen Vater zu sagen hatte, übernahm er einige seiner Eigenschaften, etwa die Neigung zu kurzfristigen sexuellen Affären sowie die Sucht nach gesellschaftlicher Anerkennung. Nathan Perls, der Vater, gründete etliche Freimaurerlogen, nachdem er in seiner ursprünglichen Loge als Jude nicht aufsteigen konnte. Zweimal wurde er aus eigenen Gründungen wegen eines nicht angemessenen Verhaltens ausgeschlossen.46
Fritz studierte Medizin und diente im ersten Weltkrieg als Sanitäter und Arzt. Bei Einsätzen von Giftgas erlebte er den Horror, ohne Raum zum Nachdenken entscheiden zu müssen, welche Betroffenen er mit den knappen Ressourcen wie Sauerstoff versorgt (Triage ).47 Nach dem Krieg assistierte er dem Biologen und Psychologen Kurt Goldstein, der gehirnverletzte Soldaten betreute.
Laut eigener Aussage war Fritz schon als Jugendlicher auf Freuds Theorien gestoßen im Zusammenhang mit seiner Verunsicherung zwischen aufbrechender Sexualität und deren Ablehnung durch die Umgebung :
FRITZ PERLS, 1969 : « In meiner Jugend griff ich Freud als meinen gebrauchsfertigen Erlöser auf. Ich war überzeugt, dass ich meine Erinnerung durch Masturbation zerstört hatte, und Freuds Theorie kreiste sowohl um Sex als [auch] um Erinnerung. Also war ich überzeugt, dass Psychoanalyse das einzige Heilmittel war.» 48
Eine Psychoanalyse, die schnell in Lehrtherapie überging, fing Fritz allerdings erst Mitte der 1920 er Jahre an, als er die verwickelte Beziehung zu einer Frau mit Namen Lucy aufklären wollte, Missbrauchsopfer seines Onkels Hermann Staub.49 Obwohl er bei Goldstein assistierte, erlebte Lore – später : Laura – Posner ihn als in erster Linie mit Psychoanalyse beschäftigt. Goldstein habe er gar nicht begriffen.
LAURA PERLS, 1982 : « Fritz war vor allem psychoanalytisch orientiert. […] Zunächst war ich ja Gestaltpsychologin und wandte mich erst später der Psychoanalyse zu. Fritz dagegen war bereits Analytiker, bevor er sich mit der Gestaltpsychologie befasste. […] Fritz sagte zu mir : ‹Weißt du, ich wünschte, ich hätte Goldstein besser verstanden.› […] Fritz hatte nicht den philosophischen Hintergrund, um die Gestaltpsychologie zu verstehen.» 50
Wenn wir den gehässigen Anteil in dieses Statements abziehen und mit der Bemerkung zusammennehmen, Fritz habe nie viel gelesen,51 erkennen wir hier die Problematik bei der Rekonstruktion, welche wesentlichen theoretischen Einflüsse auf Fritz gewirkt hätten. Er nahm Einflüsse durch rhapsodische Lektüre, durch Atmosphäre, durch Hörensagen auf, und dies synthetisierte er intuitiv zu genialen neuen Gedanken ; jedoch ist es heikel, diese Synthese wieder zurückzuverwandeln in ihre einzelnen Elemente.
Bei den Lehranalysen machte Fritz negative ( im Rückblick meist überbewertete ) und positive ( im Rückblick leider meist unterschlagene ) Erfahrungen. – Wenn Analysen nicht recht funktionieren wollten, wurde das damals entweder auf eine fehlerhafte Technik seitens des Therapeuten oder auf die Abwehr seitens des Patienten geschoben. Die Einsicht, dass es vor allem die zwischen den Klienten und Therapeuten entstehende Beziehungsqualität sei, die über den Erfolg der Psychotherapie entscheidet, formulierte erst später die Gestalttherapie – eine
Einsicht, die von dem herrschenden Gesundheitswesen immer noch ungern zugegeben wird. Man will gern, dass Verfahren und Techniken losgelöst von den beteiligten Personen wirken. Jedenfalls beendete Fritz keine Lehranalyse, was dann beim Gang ins Exil Thema wurde. Bis dahin konnte er ungehindert als Arzt und Psychiater praktizieren. Heute wäre das natürlich undenkbar.
Freud endete « Das Unbehagen in der Kultur » – den ersten Weltkrieg und die russische Oktoberrevolution mit den unvorstellbaren Grausamkeiten im Rücken, die Machtübergabe an die Nationalsozialisten und der zweite Weltkrieg stehen als Bedrohung schon im Raum – mit der Feststellung :
FREUD, 1930 : « Die Schicksalsfrage der Menschenart [sic ] scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressionsund Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.» 52
Diese Zeilen lese ich immer mit Erschütterung. Klingen sie denn nicht, als seien sie eben im Hinblick auf die jüngsten Ereignisse geäußert worden? Gleichwohl haben jene Zeilen auch etwas Vertrautes und Beruhigendes. Sie setzen die Kulturentwicklung zum Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb in einen klaren Gegensatz. Das gesteht uns zu, dass wir kultiviert sind, die Gewalttäter hingegen kulturlose Barbaren. Ein erstes Unbehagen will uns beschleichen angesichts der Aufzählung – oder der Gleichsetzung? – des Aggressions- mit dem Selbstvernichtungstrieb. Aggressiv sind doch bloß die bösen Feinde, die sich nicht den Regeln der Kulturnationen unterwerfen ; wer um Gottes Willen hat einen Selbstvernichtungstrieb? Wir etwa? Die Feinde etwa? Noch angsteinflößender tönt es einige Zeilen vor der zitierten Passage :
FREUD, 1930 : « Ich kann wenigstens ohne Entrüstung den Kritiker 53 anhören, der meint, wenn man die Ziele der Kulturstrebung und die Mittel, deren sie sich bedient, ins Auge fasst, müsse man zu dem Schlusse kommen, die ganze Anstrengung sei nicht der Mühe wert und das Ergebnis könne nur ein Zustand sein, den der Einzelne unerträglich finden muss.» 54
Hier ist nichts mehr zu finden von einer deutlichen Entgegensetzung zwischen Kultur und Barbarei. Die Kultur erheischt eine Kritik, weil sie zu einem für den Einzelnen unerträglichen Zustand führt. Diese Kritik fügt sich zu Freuds Einsicht, « in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist », darin gründet, was Freud als « diese Kulturversagung » 55 bezeichnete. Freud lehnte die Schlussfolgerung des ungenannten Kritikers zwar ab, jene Kulturstrebungen über Bord zu werfen ; die Grundlage von dessen Kritik aber zweifelte er nicht an ; er hatte sie ihm geliefert.
Bei Triebverzicht denkt man, gerade wenn es um Freud sich dreht, spontan an die Sexualität. Der Standardeinwand lautet, seit Freud hätten sich die gesellschaftlichen Sitten und Werte gewandelt, das Problem heute sei nicht Unterdrückung der Sexualität, vielmehr eher zu große sexuelle Freizügigkeit. Keiner, der die Fallgeschichten von Freud und besonders von Wilhelm Reich liest, kann umhin, den Fortschritt sexueller Befreiung zu bewundern, den wir ja im Wesentlichen der Psychoanalyse zu verdanken haben. Dennoch realisierten die Versprechen sich nicht, die die Psychoanalyse an die sexuelle Befreiung knüpfte – ein besseres, friedlicheres Sozialleben mit weniger Neurosen und anderen psychischen Problemen herbeizuführen. Schon 1951 hieß es in « Gestalt Therapy »:
PHG,56 1951 : « Die quantitative Zunahme an ziemlich uneingeschränkter Sexualität wird von abnehmender Erregung und Tiefe der Lust begleitet.» – Hieran schloss sich die beunruhigte Frage an : «Warum gibt es weniger Befriedigung usw.? » 57
Es geht also nicht darum zu statuieren, Freud habe sich geirrt, man müsse halt umkehren in die gute alte Zeit, in der Disziplin, Selbstbeherrschung und Keuschheit zentrale Werte eines gesitteten Charakters darstellten. Nein, Freud scheint etwas übersehen zu haben : einen Mechanismus, der die befreite Sexualität daran hindert, sich sozial und individuell wohltuend in dem Maße auszuwirken, wie es zu erwarten war. Den Mechanismus der Hemmung macht die Gestalttherapie bei der Hemmung der Aggression aus ; sie formuliert eine besondere und dem Mainstream widersprechende Theorie positiver Aggression. Hiermit schließt sie enger an Freud an, als bislang vermutet. Denn bereits laut Freud ist es nicht bloß Sexualität, vielmehr auch Aggressivität, die einer Kulturversagung unterliegt.
FREUD, 1930 : «Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, dass es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden.» 58
Damit ist präzisiert, weswegen es keine klare Entgegensetzung von Kultur zur Barbarei oder Gewalt gibt. Wie notwendig oder zumindest wünschenswert die gesellschaftliche Aggressionshemmung auch sein mag, sie erzeugt ein unglückliches Bewusstsein. Aus diesem ergibt sich erneute Aggression, etwa als Ressentiment, als Selbstzerstörung oder als scheinbar sinnlose Lust an der Gewalt, gar an deren Exzessen.
Was nun ist die Aggressionsneigung oder der Aggressionstrieb? 59 Freud meinte, « dass sich ein Anteil des [Todes-] Triebes gegen die Außenwelt » wende und sodann als ein «Trieb zur Aggression und Destruktion zum Vorschein » komme. Durch diesen Mechanismus werde der Todestrieb « in den Dienst des Eros gezwängt », sodass « das Lebewesen anderes, Belebtes wie Unbelebtes, statt seines eigenen Selbst vernichtet »; hiermit zugleich jedoch steigere umgekehrt « die Einschränkung dieser Aggression nach außen die ohnehin immer vor sich gehende Selbstzerstörung ».60
Zunächst scheint Freud hier kein eigentliches, kein sinnvolles, kein organisches, kein natürliches Ziel der Aggression anzunehmen. Die Lust in der Aggression ist ein Ausdruck des libidinösen Anteils ; Lust kann kein Ziel des Aggressionstriebs sein. «An jeder Triebäußerung » ist « Libido beteiligt, aber nicht alles an ihr » muss « Libido » sein.61 Auch wenn Freud in dieser Passage nicht klärte, was das Ziel der Aggression sei, stellte er ein durchaus gespanntes Verhältnis dar zwischen individueller und kollektiver Aggression, welche die individuelle Aggression hemme. Eine für die Gestalttherapie prägende Formel findet sich bereits bei Freud : « dass jedes Stück Aggression, dessen Befriedigung wir unterlassen, vom Über-Ich übernommen » werde « und dessen Aggression (gegen das Ich) steigert ».62 1938 – man beachte das Jahr – hielt Laura Perls im Johannesburger Exil einen Vortrag zum Thema « Erziehung zum Frieden ». In diesem sagte sie, was eine Freud-Paraphrase ist, « dass die Verdrängung der individuellen Aggression unweigerlich zu einem Anstieg der universellen Aggression führt ».63
Die uns beruhigende anfängliche Unterstellung, dass die barbarische individuelle Aggression oder jene unzivilisierter, eventuell fanatischer Kleingruppen durch die Kultur gebändigt werden müsse oder auch nur könne, gerät nun immer mehr ins Wanken. Steht denn nach Freud aber nicht fest, dass die völlige Hemmung der Aggression wenigstens erstrebenswert wäre? Nein. Der Aggressions- und sogar Destruktionstrieb ist ebenso unerlässlich wie der Eros.
FREUD, 1932 : « So ist z. B. der Selbsterhaltungstrieb gewiss erotischer [libidinöser] Natur, aber grade er bedarf [!] der Verfügung [!] über die Aggression, wenn er seine Absicht durchsetzen soll. Ebenso benötigt der auf Objekte gerichtete Liebestrieb eines Zusatzes [!] vom Bemächtigungstrieb, wenn er seines Objektes überhaupt habhaft werden soll. [… Deshalb] handelt es sich […] nicht [!] darum, die menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen.» 64
Dies nun ist die zentrale Aussage der gestalttherapeutischen