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Meister Eckhart (1261-1328) zählt zu den größten deutschen Mystikern. Seine tiefe Spiritualität lädt zur Meditation ein und lässt sich fruchtbar machen für all jene, die Nahrung für die Seele suchen. Berater*innen, Therapeut*innen und Seelsorger*innen finden bei Meister Eckhart Gedanken, die starke heilende Kräfte entfalten. In dem vorliegenden Band versammelt Stefan Blankertz kurze, prägnante Originaltexte des Mystikers und bezieht sie auf existenzielle Fragen unseres Lebens heute.
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Seitenzahl: 142
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Stefan Blankertz, 1956, beschäftigt sich seit seiner Jugend mit mittelalterlicher Philosophie und mit der Theorie der Gestalttherapie. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur politischen Philosophie, Gestalttherapie und von Mittelalterromanen. www.stefanblankertz.de
therapeutenadressen service
Praxisadressen von GestalttherapeutInnen. Infos siehe letzte Buchseite
Einleitung
Unaussprechlich:Gott
Alles um seiner selbst willen tun:So lebenswert ist das Leben
Wie gesund ist gesund?Du sollst kein Maß haben
Das Wirken der Seele:Das Leibselbst
Die Gnade der Gelassenheit:Das Paradox der Veränderung
Feuer und Axt fürs Werden:Aggression
Nicht beten und nicht feiern:Deflektion
Wie ich nicht werde, der ich bin:Introjektion
Du machst dir ein Bild:Projektion
Unterscheiden tut weh:Konfluenz
Leiden:Retroflektion
Die Fruchtbarkeit der Jungfrau:Die Seele als Mann und Frau
Die Kraft des ewigen Nun:Hier-und-Jetzt
Von Engeln und Menschen:Urbild und Abbild
Meister Eckhart
Literatur
Meister Eckhart, 1260-1328, hat vor Beginen (Laienschwestern), Nonnen, Mönchen, Studenten gepredigt, hat seine Predigten in Kirchen und auf Plätzen vor versammeltem Volke gehalten. Es ist üblich geworden, historische Autoren nur noch im Kontext ihres gesamten Werkes, im Kontext der Zeit und im Kontext ihrr »vollständigen Rezeptionsgeschichte« lesen zu dürfen. So beschränkt sich die Auseinandersetzung mit historischen Autoren auf wenige Spezialisten. Meister Eckharts heilsame Gedanken sind aber zu kostbar, um auf diese Weise beschränkt zu werden – und er hat sie so auch nicht gemeint. Erst am Schluss des Buches finden Sie eine Übersicht über Leben und Werk des Meisters.
Wie gegenwärtig der Meister Eckhart uns heute noch ist, wenn auch indirekt, kann man daran ersehen, dass wir ihm einige häufig verwendete Worte unserer (Alltags-)Sprache verdanken, darunter Wirklichkeit, Gelassenheit und Entfremdung.
Die von Stefan Blankertz einfühlsam ausgewählten Texte aus Meister Eckharts mittelhochdeutschen Predigten regen dazu an, sich mit seinen tiefen und heilenden Gedanken auseinander zu setzen. Es geht um die Frage: Was sagen uns diese Gedanken heute? Mehr noch: Was sagen sie mir? Die auf jeden der Textausschnitte folgenden Meditationen von Stefan Blankertz können dabei unterstützen. Sie sind keine historisierenden oder wissenschaftlichen Interpretationen, sondern stellen Versuche der Aneignung in einem ganz anderen Kontext als der Entstehung der ursprünglichen Gedanken dar.
Um die Fremdheit und Nähe, mit denen die Eckhartschen Texte uns gegenübertreten, deutlich zu machen, ist zu jedem ins Neuhochdeutsche übertragenen Textausschnitt das mittelhochdeutsche Original1 gesetzt worden. Die Übertragungen versuchen, sich sowohl hinsichtlich der Wortwahl als auch hinsichtlich der Grammatik so eng wie möglich an das Original zu halten, an manchen Stellen jedoch sind Umstellungen, Wortergänzungen oder sogar vorsichtige Interpretationen unumgänglich geworden, um den problemlosen Lesefluss sicherzustellen.
Meister Eckhart ist ein christlicher Mystiker. Es geht ihm um Gott und darum, wie sich der Mensch mit Gott vereinigen könne. Spiritualität ist heute eine sehr private Sache geworden. Fast ist es, als läge ein Tabu darüber, über den eigenen Glauben zu sprechen, jedenfalls wenn es sich um ein religiöses Erleben handelt und nicht um die kirchen- oder sozialpolitische Dimension der Religion. Es ist allerdings keine Voraussetzung dafür, die heilende Kraft von Meister Eckharts Gedanken in sich fruchtbar werden zu lassen, sich zu einem speziellen Glauben zu bekennen oder überhaupt an einen persönlichen Gott zu glauben. Denn die Themen von Meister Eckhart sind existenzieller Natur. Gott steht für das Unermessliche, von dem kaum einer bestreiten könnte, dass es einen wesentlichen Teil unserer Existenz ausmacht, seien es Liebe, Freude, Schmerz, Trauer, Mitgefühl, Verzweiflung, Hass, seien es Sinn-, Grund- und Wahrheitssuche, seien es schöpferische Kraft, Gnadenerlebnis oder auch Heilung. Die Leichtigkeit des Seins ist nicht weniger spirituell gefärbt als die Schwere des Seins.
Stefan Blankertz’ Hintergrund für die Meditationen zu den Eckhartschen Gedanken ist eine gestalttherapeutische Herangehensweise an die menschliche Existenz und an die Möglichkeit, seelische Heilung zu finden. Das zentrale Konzept der Gestalttherapie ist der Kontakt: Kontakt bedeutet, dass zwei getrennte Elemente sich berühren. In der Berührung bilden sie sowohl eine neue Einheit als sie auch weiterhin ein getrenntes Sein haben müssen, weil sonst der Begriff »Kontakt« keinen Sinn macht. Wenn man in ein halb volles Glas mit Wasser weiteres Wasser hinzugibt, kann man nicht davon sprechen, zwei halbe Gläser Wasser hätten hier »Kontakt«. Es ist ein Wasser geworden, es sei denn, es gäbe eine Differenzierungsmöglichkeit wie unterschiedliche Farbe oder Temperatur. Dort, wo es ihm angebracht erschien, hat Stefan Blankertz in den Meditationen den Bezug zu gestalttherapeutischen Konzepten hergestellt.
Die spirituelle Dimension des Kontakterlebnisses ist in der Gestalttherapie zunächst meist durch die östlichen Philosophien des Buddhismus und des Tao repräsentiert worden. Seit einigen Jahren findet eine zunehmend stärkere Beschäftigung mit Martin Buber (1878-1965) und seiner mystischen Lehre von der Ich-Du-Beziehung statt. Buber selbst ist – vermittelt über seinen am 2. Mai 1919 von rechts-konservativen Freikorps-Leuten bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ermordeten Freund Gustav Landauer – mit den Gedanken von Meister Eckhart vertraut gewesen. Diejenigen, die sich in den östlichen Weisheiten auskennen, werden beim Lesen der Eckhartschen Gedanken vielleicht erstaunt sein, wie ähnlich sich in mancherlei Einsichten beide Welten sind. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich hierbei um nahezu universelle Einsichten handelt.
Die Beschäftigung mit Buber, Landauer und mit unserer eigenen christlichen Spiritualität hat uns dazu geführt, uns mit diesem besonderen Buchprojekt auf die Suche der heilenden Gedanken bei Meister Eckhart zu machen. Ich hoffe, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, durch diese Gedanken eine ebensolche Unterstützung erfahren wie wir.
Erhard Doubrawa
1 Da die Eckhartschen Texte ihre je eigenen, problematischen Überlieferungsgeschichten haben, ist die mittelhochdeutsche Orthografie z.T. unterschiedlich. – in der noch aus dem 14. Jahrhundert, vielleicht schon zu Lebzeiten Meister Eckharts im Erfurter Dominikanerkloster angelegten Sammlung PARADISUS ANIME INTELLIGENTIS (»Paradies der vernünftigen Seele«) sind 31 Predigten enthalten. Da sie im thüringischen Mittelhochdeutsch verfasst sind, kommen sie der Redeweise des Meisters vermutlich besonders nahe, und wir haben sie, so weit das möglich war, zugrunde gelegt. – Anm. v. S.B.
Gott
Wir erheben uns gern über die metaphysischen
Spekulationen vergangener Zeiten. Aber wie steht
es mit der heute gängigen Beschreibung der
Unendlichkeit des Universums als »in sich
gekrümmt«, wo doch »Krümmung« einen endlichen
Raum voraussetzt, in welchem sich ein wiederum
abgegrenztes Etwas befindet, das sich in einem
»krummen« Verhältnis zu den »geraden«
Raumkoordinaten befindet? Dies sei nur ein
unzureichendes Gleichnis für das, was
unaussprechlich sei, erhalten wir zur Antwort.
Und wie verhält es sich mit den tiefen Gefühlen
von Liebe und Trauer, angesichts derer wir trotz
Psychologie und Neurologie ins Stammeln geraten
und keine rechten Worte finden?
Sant Augustînus2 sprichet: Waz man von gote sprichet, daz enist niht wâr, und waz man von im niht ensprichet, daz ist wâr. Swaz man sprichet, daz got sî, des enist er niht; waz man von im niht ensprichet, daz ist er eigenlîcher, dan daz man sprichet, daz er sî.3
Der heilige Augustinus sagt: Was man über Gott sagt, das ist nicht wahr, und was man über ihn nicht sagt, das ist wahr. Was immer man auch sagt, was Gott sei, das ist er nicht; was man nicht über ihn sagt, das ist er eigentlicher als das, wovon man sagt, es sei Gott.
MEISTER ECKHART
*
Es ist in Mode, und das nicht erst seit kurzem, die Sprache zu schelten, weil sie uns die Worte nicht gibt, von denen wir meinen, wir sollten sie haben. Der falsche Gegensatz von handelndem Subjekt und erleidendem Objekt sei uns schon in der Grammatik vorgegeben, demgegenüber es doch wahr sei, dass die Dinge in einer gegenseitiger Beeinflussung zueinander stünden und eine höhere Einheit bildeten. Die tiefe Verbundenheit, die wahre Liebe zwischen Menschen stifte, sei nur in allzu dürre und profane Worte zu kleiden. In der Zuweisung eines Geschlechtes zu den Substantiven werde ein überkommenes Rollenverständis übermittelt, sodass die Sprache es uns nicht erlaube, es zu überwinden. Die Mode. Der Gegensatz.
Damit machen wir uns zu Opfern. Die Sprache wird behandelt, als versklave sie uns, während wir mit ihr nichts zu tun haben. Wir nehmen nur ihre Befehle entgegen und führen sie getreulich aus. Dahinter steht die Erfahrung, dass uns die Sprache, obwohl wir wissen, dass sie von uns »gemacht« wird, indem wir sie sprechen, jedenfalls nicht gehorcht. Wie würde sich dies anhören: »die Gegensatzin«? Oder: Ich spreche mich (anstatt die Sprache)? Dann ist uns die umgekehrte Form schon vertrauter: Die Sprache spricht mich.
Verloren haben wir die Einsicht, dass es nicht die Sprache ist, die es uns schwer macht, uns auszudrücken, sondern die Existenz selbst. Das, was man über die Existenz sagt, ist nicht wahr, während das, was man über sie nicht sagt, wahr ist, um Augustinus-Eckhart abzuwandeln. Insofern unsere Existenz über das rein Materielle, über das Konkrete, das Anfassbare, das Gegenwärtige hinausweist, übersteigt sie das Sagbare. Dass wir erleben, die Wahrheit, nach der wir suchen, nicht ausdrücken zu können, ist keine Begrenzung, die uns die Sprache auferlegt, sondern unsere begrenzte Existenz.
Das Unbegrenzte nannte man Gott, bis wir ihn für »tot« erklärten4 und damit nicht nur die vorsichtigen Versuche unterbanden, das Unsagbare wie stammelnd auch immer in Worte zu fassen, sondern auch die Demut verloren, die unserer begrenzten Existenz angemessen ist. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der Begründer der neuzeitlichen Pädagogik, wusste im 18. Jahrhundert noch, dass der sterbliche Mensch, der sich mit seiner sterblichen Existenz abfindet, stärker sei als der Engel, der Gott sein wollte und als Teufel endete. Uns fällt es da gegen schwer, uns mit der Begrenztheit unserer Sprache abzufinden, und stattdessen schelten wir unsere Sprache, in die die Begrenztheit eingeschrieben ist.
Warum müssen wir alles »gut« und »richtig« ausdrücken? Warum braucht unsere Liebe die »richtigen Worte«? Warum muss unsere Anteilnahme an der Trauer eines Mitmenschen »angemessen« ausgedrückt werden? Warum sollten wir uns zwingen, uns »geschlechtsneutral« und »politisch korrekt« zu äußern ohne die Vorurteile, die wir nun einmal haben?
Wie heilsam wäre es doch, von den unmöglichen Forderungen Abstand nehmen zu können und uns abzufinden mit unserer begrenzten Existenz und ihrer begrenzten Sprache!
Sant Dionysius5 spricht, »Gott sey nicht«. Das mag man also verstan, das Sant Augustin6 spricht, »Gott sey alle ding, das ist: an gott ist nicht«. Das Sant Dionysius spricht: »Gott enist7 nicht«, das ist, das kein ding bei in selber sind. Herumb so muss der geist ubertreten ding und dinglikeit, forme und formlikeit und wesen und wesenlicheit, den wirt in im geoffenwart das werck der selikeit, das da wesenlich besiczet die wurcklich vernunft.8
Der heilige Dionysius sagt, »Gott sei nichts«. Das kann man in dem Sinne verstehen, wie der heilige Augustin sagt, »Gott sei alles, das heiße: Gott bestehe aus nichts«. Wenn der heilige Dionysius sagt: »Gott ist nichts«, so heißt das, dass er keine Dinge bei sich hat. Deshalb muss der Geist hinausschreiten über Dinge und Dinglichkeit, über formen und Geformtheit sowie über Wesen und Wesenhaftigkeit: Dann wird in ihm das Werk der Seligkeit offenbar, das das Wesen der wirklichen Vernunft besitzt.
MEISTER ECKHART
*
Alles und Nichts sollen das Gleiche sein? Eine kühne Behauptung, eine große Herausforderung. Bedeutet die Liebe alles oder nichts? Alles bedeutet sie, wenn es um die Erfüllung des Lebens geht. Nichts bedeutet sie, wenn wir sie mit den materiellen Maßstäben messen, wenn es um Dinge geht wie Steuererleichterungen, Ehe- oder Scheidungsfolgeverträge, Arbeitsteilung im Haushalt, Formen der »Partnerschaft«, Kinderbetreuung, Evolutionsbiologie und ihre Bestimmung des Wesens der Partnersuche usw. Diese Dinge mögen wichtig sein, aber wenn wir die Liebe ernst nehmen, müssen die Seelen über sie hinaus gehen und sich auf andere, unaussprechliche Weise berühren.
Die Vernunft ist nicht wirklich in der materiellen Betrachtungsweise. Die Wahrheit der Scheidungsstatistik oder der Evolutionsbiologie mag der Liebe entgegenstehen, die Vernunft nicht, wenn sie sich verwirklicht. Solange die Vernunft dinglich gesehen wird, steht sie in einem Gegensatz zum Gefühl. Aber dann ist sie nicht wirklich. Meister Eckhart hat den Begriff »Wirklichkeit« erst in die deutsche Sprache gebracht. Damit zielte er darauf ab, dass die Wahrheit nicht ein Ding sei, sondern ein Vorgang, nämlich etwas, das sich verwirklicht. Die Verwirklichung ist ein schöpferischer Akt, der über das Materielle hinausgeht.
2 Augustinus (354-430): nordafrikanischer Kirchenlehrer mit für die christliche Theologie grundlegender Bedeutung.
3 Aus der Predigt HOMO QUIDAM FECIT CENAM MAGNAM (ein Mensch hatte ein Abendmahl bereitet), Lk 14,16. – Seine Predigten leitet Meister Eckhart meist mit einem lateinischen Bibelzitat ein, das er dann übersetzt. Es hat sich eingebürgert, die Predigten nach diesem Zitat zu benennen, sowie nach der »Kritischen Gesamtausgabe« (hg. von Josef Quint u.a., Stuttgart seit 1936) zu zählen: Predigt Nr. 20a. Eine Chronologie ergibt sich durch die Nummerierung nicht, da für einige der Predigten keine Datierung möglich ist.
4 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), drittes Buch, Nr. 108; Also sprach Zarathustra, zweiter Teil (1883), Abschnitt »Von den Mitleidigen«.
5 Die mittelalterliche Figur des heiligen Dionysius besteht aus, wie man heute weiß, drei Personen: 1. dem Paulus-Schüler und ersten Bischof von Athen; 2. einem Märtyrer des dritten Jahrhunderts und ersten Bischof von Paris; 3. einem bis heute unbekannten Philosophen mit dem Pseudonym Dionysius Areopagites, den z.B. Albertus Magnus (1193-1280) und Meister Eckhart sehr geschätzt haben.
6 Vgl. S. 12, Anm. 1.
7 Die Form der Verbverneinung stellt hier innerhalb von dieser ansonsten eher modernisierenden Textüberlieferung einen Anachronismus dar (die allerdings auch Winkler, S. 335, unangetastet lässt, während er bei »Gott« generell Konjekturen zu »Got« vornimmt, dagegen »selikeit« zu »seligkeit«).
8 Aus dem Traktat »Von dem Schauen Gottes« (nach Johann Wilhelm Preger, Band 1 [1874], S. 484ff). Vgl. aber die textkritischen Anmerkungen von Herman Büttner, Meister Eckeharts Schriften und Predigten (1903), S. 232ff. Nach der Auffassung Kurt Ruhs, Geschichte der abendländischen Mystik, Band III, München 1996, S. 207, ist die Schrift unecht. Eine aktuelle historisch-kritische Edition findet sich bei: Norbert Winkler, Von der wirkenden und möglichen Vernunft: Philosophie in der volkssprachigen Predigt nach Meister Eckhart, Berlin 2013, S. 331ff.
So lebenswert ist das Leben
Wozu?, das ist die Frage,
mit der wir uns vom Leben abschneiden.
Wozu?, fragen wir uns,
wenn wir nach Sinn suchen.
Aber mit der Frage finden wir den Sinn nicht,
denn jede Antwort würde ein neues Wozu?
herausfordern.
»Warum (hast du das getan)?«,
wird das Kind gefragt.
»Darum!«,
antwortet das Kind trotzig.
Dieses trotzige Kind
hätte Meister Eckhart
den »wahren Menschen« genannt.
Weniger »Wozu?« und »Warum?«,
mehr Leben, das ist das Motto,
das wir von ihm lernen können.
Swer daz leben vrâgete tûsent jâr: war umbe lebest dû?, solte ez antwürten, es spræche niht anders wan: Ich lebe dar umbe daz ich lebe. Daz ist dâ von, wan leben lebet ûzer sînem eigenen grunde und quillet ûzer sînem eigen; dar umbe lebet ez âne warumbe in dem, daz ez sich selber lebet. Swer nû vrâgete einen wârhaften menschen, der dâ würket ûz eigenem grunde: war umbe würkest dû dîniu werk?, solte er rehte antwürten, er spræche niht anders dan: Ich würke dar umbe, daz ich würke.9
Wer das Leben tausend Jahre lang fragte: Wozu lebst du?, dann spräche es, wenn es denn antworten würde, nichts anderes als: Ich lebe, um zu leben. Das ist so, weil das Leben aus seinem eigenen Grund lebt und aus seinem Eigenen quillt; deshalb lebt es ohne Warum, indem es sich selbst lebt. Wenn einer nun einen wahren Menschen, der da aus seinem eigenen Grunde heraus handelt, fragte: Warum tust du deine Taten?, und wenn der aufrichtig antworten sollte, dann spräche er nichts als: Ich tue sie, damit ich sie tue.
MEISTER ECKHART
*
Die Erfahrung von Glück, über die wir verfügen, sei es in Liebe, Arbeit oder »Freizeit«, haben einen gemeinsamen Nenner: Während des Tuns fragen wir nicht nach dem Wozu? Warum? Weshalb? Wir tun, was wir tun, und eins ergibt sich problemlos aus dem anderen. Damit ist nicht in Frage gestellt, dass wir beim Tun ein Ziel verfolgen. Denn ohne Ziel ist unser Tun sinnlose Bewegung. Vielmehr bedeutet, etwas um seiner selbst willen zu tun, dass wir das Ziel nicht in Frage stellen. Das Ziel motiviert uns und hilft uns, Hürden und Schwierigkeiten zu überwinden. Aber sobald wir nach dem Warum des Ziels fragen, unterbrechen wir unser Tun und bekommen Zweifel an dem Sinn.
Die Formulierung, dass all unser Tun dem Zwecke dient, ein Bedürfnis zu befriedigen, ist eigentlich eine Tautologie. Denn jedes Bedürfnis entzieht sich der Frage nach dem Warum. Ein Bedürfnis ist ein Bedürfnis ist ein Bedürfnis. Man kann es nicht auf seinen Zweck hin befragen, ohne es damit in Frage zu stellen.
Radikaler noch: Durch die Frage nach dem Warum des Bedürfnisses stellen wir es eigentlich in Abrede.
In letzter Konsequenz dient das Bedürfnis der Erhaltung des (guten) Lebens. Das, was jemand als sein Bedürfnis bezeichnet, kann dann auf seinen Zweck hin befragt werden, wenn es das Ziel nicht erreicht und dieser Jemand durch es sein erbärmliches Leben verewigt. Dann ist es sinnvoll, nachzuschauen, warum er meint, etwas tun zu sollen, das seinem (guten) Leben nicht dient. Diese Frage kann ihm helfen zu erkennen, dass es sich im Grunde genommen nicht um sein Bedürfnis handelt, sondern dass es eine Fehlinterpretation seines Bedürfnisses ist, die ihn antreibt.
Eine Begründung für das eigene Handeln, die sich in den letzten Jahren fest etabliert hat, ist das Ziel, »Spaß zu haben«.
»Warum tust du das?«
— »Um Spaß zu haben.«
»Warum lebst du?«
— »Um Spaß zu haben.«