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Ist die Psychoanalyse, in ihrer ursprünglichen Formulierung durch Sigmund Freud, überhaupt noch aktuell? Nicht längst überholt, sowohl durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse als auch durch gesellschaftliche Entwicklungen, die ihre Unzulänglichkeit erweisen? Ich werde zeigen, dass sie aktuell, mehr noch: brisant ist. Dies erweist sich in ihrer Fähigkeit, erschreckende Ereignisse der jüngsten Zeit zu erklären, das Versinken des vorderen Orients in Krieg und in Terror, die Wiederkunft des gewalttätigen religiösen Fanatismus, die Hilflosigkeit in der vielgerühmten »westlichen Welt« (gar das »Abendland« wird wieder bemüht), die Faszination der Gewalt. Freuds Aktualität, bezogen auf solch erschreckende Ereignisse, ist brisant, weil sie weder in einer einfachen Bestätigung der Richtigkeit westlicher Politik mündet, noch einen anderen einfachen politischen Populismus präsentiert. Die Gestalttherapie kommt ins Spiel, weil sie als gleichsam illegitimes Kind der Psychoanalyse etwas von der Ungezogenheit und Sperrigkeit gegenüber den wie selbstverständlich akzeptierten, krankmachenden Bedingungen einer überregulierten »organisierten Gesellschaft« bewahrt hat. Die Besinnung auf Freud und die Entwicklung der ursprünglichen Gestalttherapie ist keine historische Fingerübung. Er steht, wie die Bemerkungen am Anfang deutlich machen, im Dienst an der psychologischen Aufklärung gegenwärtiger sozialer Probleme. Der Text wird abgerundet mit Auszügen aus dem Traumtagebuch, das der Autor parallel zur Relektüre von Freuds »Traumdeutung« 2014-2016 geführt hat. Mit etwa 50 Träumen bietet es reichhaltiges Anschauungsmaterial.
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Seitenzahl: 155
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Stefan Blankertz | 1956 | »Wortmetz« | Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.
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Hinweise zur Text-Entstehung
Aus meinem Traumtagebuch 1: Statt Vorwort
Die Geburt der Gestalttherapie aus dem Geiste der Psychoanalyse Sigmund Freuds
Aus meinem Traumtagebuch 2: 2 Notizen
Freuds »Traumdeutung«, Königsweg zur Gestalttherapie
Aus meinem Traumtagebuch 3: »Träume sind der Königsweg ins Unbewusste«
»Traumdeutung«: Was zu beweisen wäre
Aus meinem Traumtagebuch 4: Ein Traum von Theodor W. Adorno
Wie barbarisch ist der Monotheismus? Freuds Mose-Studien
Aus meinem Traumtagebuch 5: Einladung zu »wilder« Deutung
Aus meinem Traumtagebuch 6: Statt Nachwort
Personenregister
Ein »Traumtagebuch« führte ich parallel zur (Re-) Lektüre von Freuds »Traumdeutung«, schwerpunktmäßig im Herbst 2014. Ich danke meiner Frau, Gabriele, dass sie mit der Veröffentlichung einverstanden ist.
»Die Gebut der Gestalttherapie aus dem Geiste der Psychoanalyse Sigmund Freuds« basiert auf einem Vortrag, den ich am 23. 01. 2015 im »Berliner Gestaltsalon« gehalten habe zum Auftakt unseres »Freud-Jahres«. Der Abschnitt über Franz Werfel ist ein Teil eines Kommentares, den ich für »eigentümlich frei«, online, Ende 2015 verfasste. Er ersetzt hier die Beschäftigung mit dem Roman »Der Krieg am Ende der Welt« (1988) von Mario Vargas Llosa, auf den ich bereits in »Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie«, Berlin 22015, edition g. 107, eingegangen bin.
»Freuds Traumdeutung, Königsweg zur Gestalttherapie« enthält einen Vortrag vom 11. 09. 2015 auf der Tagung der Gestalt-Institute Köln & Kassel in Wuppertal. Das Material stammt, wie das der übrigen Texte, aus dem Blog, den ich auf der Seite des »Berliner Gestaltsalons« das Jahr 2015 über schrieb. Einige Passagen von »Wie barbarisch ist der Monotheismus? Freuds Mose-Studien« mopste ich aus »Minimalinvasiv«, Berlin 22015, edition g. 101.
Mitten im Satz beginnt der Traum: »… glaubst du etwa, die Indios seien nicht gewaltsam umgekommen1?« Szene: An einer Klippe hängen Menschen vor einem Geländer, Frauen, Kinder, Männer, junge, alte, die Gesichter schmerzverzerrt. Ab und zu fällt einer, der sich nicht mehr zu halten vermag. Manche schreien. Manche jammern. Mancher fällt still. Auf einer Balustrade sieht das Herrscherehepaar (¿Aussehen wie die Assads?) dem Treiben (sic!) zu und macht sich über die Schreienden lustig; beschwert sich über sie und deren Feigheit, deren Mangel an Disziplin. Da muss etwas geschehen, denkt die Person des Erzählers, die ich sein könnte. Wenn das Ehepaar stirbt, übernimmt ihr Sohn die Farm und der ist in Ordnung. Oder war es eine Verschwörung, mit mehreren Beteiligten? Der Erzähler müht sich, gleichsam aus dem Off, den Herrschern einen Tritt in den Hintern zu verabreichen. Beim ersten Mal klappt es nicht, doch ein zweiter Tritt erreicht sein Ziel, und sie stürzen über die Reling in den Tod. Der Sohn rettet die Überlebenden. Nicht bloß das, er verkündet auch das Ende der Sklaverei. Allerdings stößt (!) das bei den nicht versklavten Arbeitern auf eine tiefe Skepsis. Der Traum endet mit der Vorbereitung des Sohns zu einer Rede, die das Ende der Sklaverei begründet. Sie wird ihr Ziel sicherlich erreichen.
Im Halbschlaf Analyse des Traumes. Die Wunscherfüllung, die Freud einem jeden Traum zuschrieb,2 wo steckt3 sie? Ah, klaro, in der Omnipotenzfantasie. Die Gewalttätigkeit, die die Grausamkeit beendet, geschieht fast beiläufig [!] und ist moralisch nach jedem denkbaren Maßstab gerechtfertigt. Auf gerade dieser Ebene erfüllt der Traum auch noch einen weiteren Wunsch. Er kann unproblematisch veröffentlicht werden. Er ist nicht peinlich – weder für den Träumenden noch für jemand anderen. Ein (manifester) sexueller Inhalt ließe sich allenphalls in der Omnipotenzfantasie erkennen, der Stelle, wo der Traum im Dunklen verschwindet.4 Doch der Volksmund (!) hat die Omnipotenzfantasie erfolgreich von ihrem sexuellen Inhalt abgekoppelt. Also. Keine Gefahr nirgends.
Und dann noch ein Gedanke, der das Herrscherpaar betrifft. Widerlegung des jugendlichen Traumas, Frauen seien die besseren Menschen und der Brutalität nicht fähig.
Ein zweiter Traum spielt in einem großen Konferenzsaal,5 Tische in U-Form, viele Teilnehmer. Einer (V.?) sagt, es sei erwiesen, dass die Entscheidungen einer Bürokratie meist identisch ausfielen mit den Ergebnissen, die bei freiwilliger Interaktion entstünden, die Libertären sollten sich nicht so haben, da gäbe es keine Probleme. Ich will antworten. Nach einigem Hin und Her, weil jemandem Anderen zuerst das Wort erteilt wird, der jedoch verzichtet, soll ich sprechen. Aber die Teilnehmer quatschen untereinander; es ist zu laut, man hört mich nicht. Es wird beschlossen, eine kurze Pause einzulegen. In der Pause gehe ich über einen sonnigen Weg und mache mir Gedanken über die Antwort, ich berede sie mit jemandem; bald wird die Konferenz weitergehen und ich habe eine gute Antwort.
Freud sagt, alle Träume einer Nacht seien aus einem Stück, folgten dem gleichen Traumgedanken.6 Wo könnte dieser zweite, harmlose, mit dem brutalen, ersten, einen gemeinsamen Traumgedanken haben? Erfolg? Omnipotenzfantasie? Diese Träume müssen an den Anfang des Buches, sie sind für das Buch geträumt. Dann müssen es, natürlich (!), 6 Kapitel »aus meinem Traumtagebuch« werden. Idee mit der leeren Seite am Schluss.
1 Statt durchgestrichenem »gestorben«. | Die fast letzte Eintragung in mein Traumtagebuch, als das vorliegende »Dossier« bereits weit gediehen war. Darum diese (a)chronologische Zählung der Fußnoten; s. a. S. →.
2 Siehe unten Seite →f; fast auf S. →, ¿welch ein Zufall!
3 Durchgestrichenes »ist« überschrieben.
4 Vgl. das Freud-Zitat unten auf S. → (Fn. 067).
5 Szenen aus Konferenzen, Seminaren und Vorträgen sind wiederholte Motive in meinen Träumen, vgl. unten etwa S. →f, →f, →, →f.
6 Siehe unten S. →f. ¿Das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile?
Ist die Psychoanalyse, in ihrer ursprünglichen Formulierung durch Sigmund Freud, überhaupt noch aktuell? Nicht längst überholt, sowohl durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse als auch durch gesellschaftliche Entwicklungen, die ihre Unzulänglichkeit erweisen? Ich werde zeigen, dass sie aktuell, mehr noch: brisant ist. Dies erweist sich in ihrer Fähigkeit, erschreckende Ereignisse der jüngsten Zeit zu erklären, das Versinken des vorderen Orients in Krieg und in Terror, die Wiederkunft des gewalttätigen religimösen Fanatismus, die Hilflosigkeit in der vielgerühmten »westlichen Welt«(gar das »Abendland« wird wieder bemüht), die Faszination der Gewalt. Freuds Aktualität bezogen auf solch erschreckende Ereignisse ist brisant, weil sie weder in einer einfachen Bestätigung der Richtigkeit westlicher Politik mündet, noch einen andren einfachen politischen Populismus präsentiert.
Die Gestalttherapie kommt ins Spiel, weil sie als gleichsam illegitimes Kind der Psychoanalyse was von der Ungezogenheit und Sperrigkeit gegenüber den wie selbstverständlich akzeptierten, krankmachenden Bedingungen einer überregulierten »organisierten Gesellschaft«7 bewahrt hat. Die Besinnung auf Freud & die Entwicklung der ursprünglichen Gestalttherapie ist keine historische Fingerübung. Er steht, wie die Bemerkungen am Anfang deutlich machen, im Dienst an der psychologischen Aufklärung gegenwärtiger sozialer Probleme. Aktuell bleibt insbesondere Freuds 1930 formulierte Theorie von einem »Unbehagen in der Kultur«. Die Triebversagung – Verweigerung der Befriedigung von Bedürfnissen –, welche die »organisierte Gesellschaft« anscheinend notwendig verlangt, führe zu einem Unbehagen, das sich in masochistischen – selbst-zerstörerischen – oder sadistischen – andere verletzenden – Akten Bahn bricht, sei es im Alltag, sei es auf der Bühne der Politik.
»Das Unbehagen in der Kultur«, den ersten Weltkrieg und die russische Oktoberrevolution mit den unvorstellbaren Grausamkeiten im Rücken, die Machtübergabe8 an die Nationalsozialisten und den zweiten Weltkrieg im Anzug, endet Freud mit der Feststellung: »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressionsund Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.«9 Ich lese diese Zeilen mit Erschütterung und Gänsehaut. Klingen sie denn nicht, als seien sie eben im Hinblick auf die jüngsten Ereignisse geäußert worden? Gleichwohl haben jene Zeilen etwas Vertrautes und Beruhigendes. Sie setzen die »Kulturentwicklung« zum »Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb« in einen klaren Gegensatz. Damit mögen wir uns bestätigt fühlen, dass »wir« kultiviert sind, die Gewalttäter dagegen kulturlose Barbaren. All ihren Mühen zum Trotz habe die »Kulturbestrebung« bisher nicht sehr viel erreicht, die »grausame Aggression« durch »Nächstenliebe« zu ersetzen, heißt es an anderer Stelle.10 Eine erste Beunruhigung will uns beschleichen angesichts der Aufzählung (oder der Gleichsetzung?) von dem »Aggressions-« mit dem »Selbstvernichtungstrieb«. Aggressiv sind die bösen Feinde, die sich nicht den Regeln der Kulturnationen unterwerfen; wer um Gottes Willen hat jedoch einen »Selbstvernichtungstrieb«? Wir etwa? Die Feinde etwa?
Noch beunruhigender tönt es einige Zeilen vor der soeben zitierten Passage aus Freuds »Unbehagen in der Kultur«: »Ich kann wenigstens ohne Entrüstung den Kritiker11 anhören, der meint, wenn man die Ziele der Kulturstrebung und die Mittel, deren sie sich bedient, ins Auge fasst, müsse man zu dem Schlusse kommen, die ganze Anstrengung sei nicht der Mühe wert und das Ergebnis könne nur ein Zustand sein, den der Einzelne unerträglich finden muss.«12 Hier ist nichts mehr zu finden von einer klaren Entgegensetzung zwischen Kultur und »Barbarei«.13 Die Kultur erheischt eine Kritik, weil sie zu einem für den Einzelnen unerträglichen Zustand führt. Diese Kritik fügt sich zu Freuds Einsicht, »in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist«,14 darauf aufbaut, was Freud »diese Kulturversagung«15 nennt. Freud ist nicht einverstanden mit der Schlussfolgerung jenes ungenannten Kritikers, die Kulturstrebung über Bord zu werfen; die Grundlage seiner Kritik bezweifelt er nicht; er hat sie ihm geliefert.
Bei »Triebverzicht« denkt mann, gerade wenn es um Freud sich dreht, spontan an die Sexualität. Der Standardeinwand lautet, seit Freud haben sich die gesellschaftlichen Sitten und Werte gewandelt, das Problem heute sei nicht Unterdrückung der Sexualität, vielmehr eher zu große sexuelle Freizügigkeit. Keiner, der die Fallgeschichten von Freud und besonders von Wilhelm Reich liest, kann umhin, den Fortschritt der sexuellen Befreiung zu bewundern, den wir im Wesentlichen der Psychoanalyse zu verdanken haben. Dennoch haben sich die Versprechen nicht bewahrheitet, welche die Psychoanalyse an die sexuelle Befreiung knüpfte – ein besseres, friedlicheres Sozialleben mit weniger Neurosen und anderen psychischen Problemen herbeizuführen. Schon 1951 schrieb Paul Goodman im Buch »Gestalt Therapy«, dem Gründungsdokument der Gestalttherapie: »Die quantittetive Zunahme an ziemlich uneingeschränkter Sexualität [wird] von abnehmender Erregung und Tiefe der Lust begleitet.« Und fragte beunruhigt: »Warum gibt es weniger Befriedigung usw.?«16 Es geht also nicht darum zu sagen, Freud habe sich geirrt, mann müsse halt umkehren in die gute alte Zeit, in welcher Disziplin, Selbstbeherrschung und Keuschheit zentrale Werte eines gesitteten Charakters darstellten. Vielmehr scheint Freud etwas übersehen zu haben: einen Mechanismus, der die »befreite« Sexualität daran hindert, sich sozial und individuell wohltuend in dem Maße auszuwirken, wie es zu erwarten war. Den Mechanismus der Hemmung macht die Gestalttherapie bei der Hemmung der Aggression aus; sie formuliert eine besondere und dem Mainstream widersprechende Theorie positiver Aggression. Hiermit schließt sie enger an Freud an als bislang vermutet.
Bereits nach Freud ist es nicht bloß die Sexualität, sondern auch die Aggressivität, die der »Kulturversagung« unterliegt. »Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, dass es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden.«17 Damit ist präzisiert, warum es keine klare Entgegensetzung von Kultur und »Barbarei« oder Gewalt gibt. Wie notwendig oder zumindest wünschenswert die gesellschaftliche Aggressionshemmung auch sein mag, sie erzeugt ein unglückliches Bewusstsein.18 Aus diesem ergibt sich erneute Aggression, etwa als Ressentiment, als Selbstzerstörung oder als scheinbar sinnlose Lust an der Gewalt, gar an deren Exzessen.
Was ist die »Aggressionsneigung« oder der »Aggressionstrieb«?19 Freud meint, »dass sich ein Anteil des [Todes-] Triebes20 gegen die Außenwelt« wende und sodann als ein »Trieb zur Aggression und Destruktion zum Vorschein« komme. Auf solch eine Weise werde der Todestrieb dadurch »in den Dienst des Eros gezwängt«, dass »das Lebewesen anderes, Belebtes wie Unbelebtes, statt seines eigenen Selbst vernichtet«. Aber umgekehrt steigere »die Einschränkung dieser Aggression nach außen die ohnehin immer vor sich gehende Selbstzerstörung«.21
Zunächst scheint Freud hier kein »eigentliches«, kein sinnvolles, kein organisches, kein natürliches Ziel der Aggression anzunehmen. Die »Lust« in der Aggression22 ist Ausdruck des libidinösen Anteils; Lust kann kein Ziel des Aggressionstriebs sein. »An jeder Triebäußerung« ist »Libido beteiligt, aber nicht alles an ihr« muss »Libido« sein.23
Auch wenn Freud in dieser Passage nicht klärt, was das Ziel der Aggression sei, stellt er ein durchaus problematisches Verhältnis dar zwischen der individuellen Aggression sowie der kollektiven Aggression, die die individuelle Aggression hemmt. Eine für die Gestalttherapie prägende Formel findet sich schon bei Freud, nämlich »dass jedes Stück Aggression, dessen Befriedigung wir unterlassen, vom Über-Ich übernommen« werde »und dessen Aggression (gegen das Ich) steigert«.24 1938 – man beachte das Jahr – hielt Laura Perls in ihrem Johannesburger Exil einen Vortrag zum Thema »Erziehung zum Frieden«. Darin sagte sie, was eine Freud-Paraphrase ist, »dass die Verdrängung der individuellen Aggression unweigerlich zu einem Anstieg der universellen Aggression führt«.25
Die uns beruhigende anfängliche Unterstellung, dass die barbarische individuelle Aggression oder diejenige von unzivilisierten, eventuell fanatischen Kleingruppen durch die Kultur gebändigt werden müsse oder auch nur könne, gerät immer mehr ins Wanken. Steht denn nach Freud aber nicht fest, dass die völlige Hemmung der Aggression wenigstens erstrebenswert wäre? Nein. Schlicht und ergreifend: Nein. Der Aggressions- und gar Destruktionstrieb ist »unerlässlich« wie der Eros. »So ist z.B. der Selbsterhaltungstrieb gewiss erotischer [libidinöser] Natur, aber grade er bedarf der Verfügung über die Aggression, wenn er seine Absicht durchsetzen soll. Ebenso benötigt der auf Objekte gerichtete Liebestrieb eines Zusatzes vom Bemächtigungstrieb, wenn er seines Objektes überhaupt habhaft werden soll.«26 Deshalb »handelt es sich […] nicht darum, die menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen«.27
Dies nun ist die zentrale Aussage der gestalttherapeutischen Aggressionstheorie und sie steht so wortwörtlich bei Freud; wohlgemerkt nicht in »Das Unbehagen in der Kultur«, sondern zwei Jahre danach, 1932, in dem langen Brief an Albert Einstein. Er hatte Freud gebeten, die Frage zu beantworten: »Warum Krieg?«
Im Buch »Gestalt Therapy« von 1951 heißt es: »Vernichten, Zertrümmern, Antrieb und Wut sind Funktionen guten Kontakts, für jeden Organismus notwendig, um in einem schwierigen Feld sich zu nähren und zu schützen und Spaß zu haben.«28
Mit dem Aggressionstrieb, wie Freud ihn fasst, sind wir jedoch noch nicht fertig. Immer wieder assoziierte er ihn mit Destruktion und Selbstzerstörung, stellt er eine Beziehung zu einem ominösen »Todestrieb« her. Bei Freud hat der Destruktions-, Selbstzerstörungs- oder Todestrieb »das Bestreben«, das Leben »zum Zerfall zu bringen«, es »zum Zustand der unbelebten Materie zurückzuführen«.29 Den Grundstein dieser Vorstellung legte Freud mit »Jenseits des Lustprinzips« von 1920, also kurz nach dem ersten Weltkrieg. Es ist Freuds düsterstes Stück; gegen »Jenseits des Lustprinzips« klingt »Das Unbehagen in der Kultur« heiter, geradezu von überschäumendem Optimismus geprägt. Das Leben sei entstanden, so lesen wir es in »Jenseits des Lustprinzips«, durch »unvorstellbare Krafteinwirkung« auf die »unbelebte Materie«;30 gleichsam eine »Störung« der Ruhe31 stelle das Leben dar. Den Todeswunsch bezeichnet Freud jetzt als den »ersten [ursprünglichen] Trieb«; der Lebenstrieb sei bloß infolge einer Umlenkung des Todeswunsches nach Außen denkbar, also einer Umlenkung des Todestriebs in den Aggressions- und Destruktionstrieb. Im »Prozess der Kulturentwicklung«32 werde dieser dann erneut »verinnerlicht«.
Wenn man Leben will, Krieg und andere Selbstzerstörungen vermeiden, gilt es, spinnt Freud den Gedanken aus »Jenseits des Lustprinzips« in »Das Unbehagen in der Kultur« und »Warum Krieg?« weiter, den Destruktionstrieb so stark wie möglich abzumildern, umzulenken, seiner im Prozess der Kulturentwicklung »Herr zu werden«;33 das allerdings ist eine Formulierung, die – gestalttherapeutisch gelesen – eine aggressive Komponente im Prozess der Kulturentwicklung verrät. »Diesem Prozess verdanken wir das Beste, was wir geworden sind, und ein gut [!?] Teil von dem, woran wir leiden.«34 »Die Verinnerlichung der Aggressionsneigung« durch Kultur hat nach Freud sowohl »vorteilhafte« als auch »gefährliche Folgen«.35
Dennoch taucht immer wieder auch diese beschwichtigende Formel in dem Text auf: »Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.«36 Woher nimmt er den Optimismus?
Beständig ringt Freud mit dem Widerspruch zwischen einerseits der einfachen Konfrontation von individuell aggressiver Barbarei mit kollektiver Hemmung der Aggression durch die Kultur sowie andererseits der Einsicht, dass die Kultur selber den Keim einer Barbarei auf einer höheren, organisierten Stufe in sich trägt. Er entschuldigt sich bei den Lesern, »dass er ihnen kein geschickter Führer gewesen« sei,37 und Albert Einstein: » Sie sehen, es kommt nicht viel dabei heraus, wenn man bei dringenden praktischen Aufgaben den weltfremden Theoretiker zu Rate zieht.«38
Man kann bei diesem Widerspruch zwischen unkritischer Verherrlichung der Kultur und ihrer Verdammung als die Grundlage eines Rückfalls in Barbarei nicht stehen bleiben. Die einen haben ganz auf die Seite der Kulturentwicklung sich geschlagen, die es gegen die »Barbarei« zu bewahren gelte. Was aber, wenn diese Kulturentwicklung die Barbarei in sich birgt, auf einer höheren Stufe? Freud ist sich sicher »dass die Menschheit zahlreiche, ja unaufhörliche Kleinkriege gegen seltene, aber um so mehr verheerende Großkriege eintauschte«.39 Das religiöse Ziel universeller Liebe (und damit endgültigen Friedens) stellt sich nach Freud als bloße Illusion, gar als Ideologie dar: »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur Andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.«40 Kultur überwindet nicht die Funktion von Sündenböcken, sondern braucht sie zur Sicherung inneren Zusammenhalts. – In »Gestalt Therapy« heißt das dann so: »Die auffälligsten Leiden, die unsere Epoche am meisten kennzeichnen, sind Gewalt und Zahmheit. Es gibt Staatsfeinde und zwischenstaatliche Kriege, die in Ausmaß, Intensität und Atmosphäre des Schreckens unglaublich sind; und gleichzeitig herrscht ein bisher nie dagewesener ziviler Frieden mit einer fast völligen Unterdrückung persönlicher Ausbrüche, begleitet von neurotischem Verlust an Kontakt, gegen das Selbst gerichteter Feindseligkeit und den körperlichen Symptomen von verdrängter Wut (Geschwüre, Karies usw.).«41 N.B.: Zahmheit als Leiden.
1945, zwei Tage vor seinem Tod, beendete Franz Werfel im amerikanischen Exil den Roman »Stern der Ungeborenen«. Unterm Eindruck des Islamischen Staats in Syrien und Irak sowie »Boko Haram« in Nigeria,42 gelesen auf der Folie des »Unbehagens in der Kultur« stellt sich Beklemmung ein.
Der Erzähler wird in eine zukünftige Welt zitiert, hunderttausend Jahre »weiter«. Man schreibt das Jahr 101 945.43 Er steht dort in der Kluft als Soldat des ersten Weltkriegs; sein ebenfalls wiedergeborener Freund, der diese Welt freilich länger kennt, nimmt ihn in Empfang. Langsam wird klar, wer den Erzähler herbeizitierte und weshalb: Er ist die Attraktion einer Hochzeit. Die Menschen dieser Welt sind in einer radikalen Weise befriedet. Es gibt ein Denkmal des Letzten Krieges. Streit, Konflikt, ja jedes laute Wort, körperliche Gewalt sowieso – sind verbannt. Nahrung wird nicht mehr gekaut, sondern nur in konzentrierter, flüssiger Form zu sich genommen. Selbst das Sitzen gilt, der gebrochenen Körperlinie wegen, als aggressiv. Man steht oder liegt. Die Menschen altern nicht und sterben nicht. Wenn sie nach hunderten von Jahren lebensmüde sind, begeben sie sich in den »Wintergarten«, wo sie nach zahlreichen Prüfungen freiwillig