Anderwelt - W. Berner - E-Book

Anderwelt E-Book

W_Berner

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Beschreibung

Anderwelt ist der Titel diese Bandes voller Kurzgeschichten der XUN-Autoren W. Berner und A. T. Legrand. Dieser Titel erweist sich als äußerst zutreffend, denn mit ihren Geschichten entführen die beiden Autoren die Leser in andere Welten! Das können ferne Planeten und fremde Galaxien sein. Aber auch die Welt der Fantasy, des Steampunk, der Mystery, des Horrors oder die Abgründe der menschlichen Psyche. Veröffentlicht wurden die Beiträge in verschiedenen Anthologien der FRX, aber auch in Büchern anderer Verlage. Hier sind sie nun erstmals zusammengefasst.

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2022

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In liebevollem Andenken an Roselinde Dombach. Das Titelbild dieses Taschenbuchs war ihre letzte Arbeit für die Freie Redaktion XUN. Es erreichte uns kurz vor ihrem plötzlichen und völlig unerwarteten Tod. Roselinde, wir haben dich nicht vergessen! Du fehlst!

Vorwort des Herausgebers

‚Anderwelt‘ ist der Titel diese Bandes voller Kurzgeschichten der XUN-Autoren W. Berner und A. T. Legrand.

Dieser Titel erweist sich als äußerst zutreffend, denn mit ihren Geschichten entführen die beiden Autoren die Leser in andere Welten!

Das können ferne Planeten und fremde Galaxien sein.

Aber auch die Welt der Fantasy, des Steampunk, der Mystery, des Horrors oder die Abgründe der menschlichen Psyche.

Veröffentlicht wurden die Beiträge in verschiedenen Anthologien der FRX, aber auch in Büchern anderer Verlage.

Hier sind sie nun erstmals zusammengefasst.

Viel Spaß bei der Lektüre!

Ihr

Bernd Walter Herausgeber, Freie Redaktion XUN

Inhalt:

W. Berner

Ætherraunen

Exodus

Sein letzter Fall

Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein

Hinter dem Horizont

Mind Traveling

Sternenflüstern

Humaner Strafvollzug

Es brausen die Winde

Rosa Elfen

In einem Augenblick

Zeiten, Gezeiten

A. T. Legrand

Im Bann des Vollmonds

Alexandra

Der Unfall

Kreaturen der Dunkelheit

Was im Dunkeln geschieht

Anderwelt

Willkommen zurück!

Monster

Bis der Mensch zerbricht

Haltet den Dieb!

Alles Liebe zum Jubiläum!

W. Berner

Ætherraunen

„Hamish John August Belmor … wann arbeitest du endlich was Sinnvolles?“

Jonathan Belmor, der II., stand mit hochrotem Gesicht, und die Fäuste in die äußerst umfangreichen Hüften gestemmt, wie ein zorniger Rachegott auf der Türschwelle zwischen Salon und Vestibül des Herrensitzes Belmor Hall. Er schien aus seinen vor Ärger weit aufgerissenen Augen feurige Blitze auf seinen Sohn abschießen zu wollen, dem Objekt seines aufgestauten Ärgers, der prompt eingeschüchtert das Genick einzog, während er eilig in seinen Gehrock schlüpfte und nach dem schwarzen Samtzylinder griff.

„Meine Arbeit ist sinnvoll, Vater!“, wagte er dennoch einen Widerspruch, wozu er seinen Zylinder mit einem halbwegs energischen Klapps auf seinem Kopf zurechtrückte.

„Pah! Dass ich nicht lache!“, echauffierte sich Hamish‘ Vater weiter. „Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, dieser Scharlatan von einem Doktor, bei dem du dich dauernd rumtreibst, und dem du dein Erbteil in den Rachen wirfst, betriebe ernsthafte Arbeit! Diese … Wissenschaft … ist doch nur Hokus Pokus und Brimborium! Ihr werdet euch beide noch in die Luft jagen!“

„Großvater hat mir das Geld hinterlassen, damit ich meinen Träumen und Interessen folge, Vater“, entgegnete Hamish mit Nachdruck. „Er hat sich genauso für Wissenschaft und Technik interessiert wie ich.“

„Papperlapapp!“, fuhr Jonathan Belmor seinem Sohn unwirsch über dem Mund. „Diese Experimentiererei bringt doch nichts!“

„Die bringt sehr wohl was, Vater! Es brachte uns das Radio, den pferdelosen Dampfwagen, die Ætherschiffe, mit denen wir zum Mond fliegen …“

„Überflüssiger Tand!“, wischte Belmor II. die Argumente seines Sohns beiseite. „Ich habe nie verstanden, warum wir Maschinen benutzen, wenn Pferde den gleichen Zweck erfüllen. Und was sollen wir auf dem Mond? Soweit ich weiß, gibt es da nichts als Staub zu holen. Und wenn ich Musik hören möchte, werfe ich das Grammophon an. Dazu brauche ich wenigstens keine kleine Dampfmaschine um Elektrizität zu erzeugen. Da reicht eine simple Kurbel!“

Hamish' verdrehte die Augen, hielt aber seinen Mund, denn er wusste, dass sein Vater, speziell in diesem Zustand, vorgetragenen Argumenten nicht sonderlich zugänglich war. In Hamish besonderem Fall wäre jede Diskussion sowieso fruchtlos gewesen, denn sein Vater hatte nicht die Absicht, seine gefasste Meinung jemals zu ändern.

„Ich muss jetzt gehen, Vater. Doktor Gelmenstein wartet auf mich“, sagte der junge Mann deswegen kurz angebunden, drehte sich um und floh geradezu aus dem Haus, bevor sein Vater zur nächsten Schimpftirade ansetzen konnte.

Draußen atmete er erst einmal tief durch und schüttelte den Kopf. Diese täglichen Dispute mit seinem Vater ermüdeten ihn. Hätte er nicht die Flucht ergriffen, wäre als nächstes die üblichen Lobpreisungen seines älteren Bruders erfolgt. Der wäre schließlich ein erfolgreicher Kaufmann und hätte es schon zu was gebracht. Doch Hamish dagegen … es schmerzte, dass sein Vater ihn als Versager sah. Hätte er wenigstens einmal im Leben richtig zugehört oder sich wirklich mit seinem jüngsten Sohn befasst, wüsste er, dass Hamish sein ererbtes Geld mittlerweile vervierfacht hatte. Als Assistent des Erfinders Dr. Gelmenstein besaß er Anteile an dessen gewinnbringenden Erfindungen: die elektrische Schnell-Schwebebahn, die Dampf-Luftschiffe, die Transkontinental-Æthergondeln – all das brachte jede Menge Geld ein und machte ihn schon jetzt reicher, als es sein Vater jemals gewesen war.

Und nun sollte der nächste Coup folgen: die Bild- und Tonübertragung mittels Ætherwellen!

Seit Wochen arbeiteten Dr. Gelmenstein und Hamish an diesem außergewöhnlichen Projekt, das, wollte es funktionieren, beide reicher machen würde, als sie es sich jemals vorstellen konnten.

Der junge Mann passierte ein Häuschen, in dem es ratterte und schnaufte, und aus dessen Ventilationsöffnungen dicke Dampfwolken quollen. Das war einer der Dampfgeneratoren, die die Schwebebahn mit Elektrizität versorgten. Ein kleines Stück dahinter führte eine Treppe nach oben zur Plattform. Hamish sprang beschwingt die Stufen nach oben, und kaum dort angekommen, kam auch schon die Bahn angerattert, ein zigarrenförmiges Ungetüm aus Glas, Messing, Eisen und Kupfer. Quietschend kam es zum Stehen und entließ aus seinem Bauch ein Dutzend Passagiere, bevor es die neue ‚Fracht‘ verschluckte und ruckelnd wieder Fahrt aufnahm.

Nur eine halbe Stunde später kam Hamish ins Labor von Dr. Gelmenstein gestürmt.

„Sind sie da?“, rief er seinem Freund und Förderer schon von der Tür aus ein wenig atemlos entgegen. „Die Kristallscheiben – sind sie eingetroffen?“

Der Wissenschaftler tauchte hinter einer Ansammlung von Apparaturen auf und sein rundes, gerötetes Gesicht strahlte von einem Ohr zum anderen.

„Ja, mein Junge, die Scheiben sind da“, lautete die erhoffte Antwort. „Allerbeste Qualität. Wir können gleich damit beginnen, sie in das Gerät einzubauen!“

„Oh, wie schön!“, freute sich Hamish, warf seinen Gehrock auf den Kleiderständer, seinen Zylinder hinterher und schlüpfte in den nicht mehr ganz so weißen Laborkittel. Anschließend rannte er in den angrenzenden Raum, in dessen Mitte sich ein mechanisches Ungetüm aus Spulen, Isolatoren, Spannungsreglern, Kristalloszillatoren, armdicken Kabeln, Spannungskugeln und vielen anderen Dingen befand, die den kleinen Raum fast gänzlich ausfüllten. Das Auffälligste waren jedoch zwei kupferne Rahmen von zwei Metern Höhe und eineinhalb Metern Breite. Sie standen nebeneinander in der Mitte eines vier Meter durchmessenden und 20 Zentimeter hohen Podests, welches mit nicht elektrisch leitenden Keramikfliesen ausgelegt worden war.

Die beiden Rahmen sollten die speziell gefertigten Kristallscheiben aufnehmen, die, noch in ihre hölzerne Transportkiste verpackt, an der einzigen freien Wand des Versuchsraums lehnten.

Schon kam Dr. Gelmenstein herbei, ein großes Brecheisen in der rechten Hand schwenkend und rief: „Lass uns die Scheiben gleich auspacken, mein Junge! Aber vorsichtig! Der Spezial-Kristall ist sündhaft teuer!“

„Aber das weiß ich doch!“, entgegnete Hamish mit leichter Entrüstung. Als ob er das nicht wüsste – schließlich hatte er die Hälfte der Kosten dafür übernommen.

Er nahm das Brecheisen vom Doktor entgegen und trat mit vor Aufregung glühenden Backen an die große, 2.20 x 2.00 Meter messende Transportkiste heran. Sorgfältig suchte er die Stellen, an denen der Deckel mit dem Rand vernagelt worden war. Dann setzte er an einem dieser Punkte sein Brecheisen an und begann damit, den hölzernen Deckel aufzustemmen.

Holzwolle quoll ihm dabei entgegen, und als er endlich zusammen mit dem Doktor den Deckel beiseite gehoben hatte, zog er diesen Transportschutz mit beiden Händen heraus. Endlich lagen die Kristallscheiben matt im Gaslicht des Versuchsraums schimmernd vor den beiden freudig erregten Männern. Sorgfältig musterten diese die erste Scheibe, überprüften jeden Zentimeter auf Schäden, Eintrübungen oder Risse. Diese Prozedur führten sie auch bei den beiden anderen Scheiben durch. Zu ihrer großen Erleichterung waren alle drei Exemplare absolut perfekt. Die Kristallschleiferei von Blotts & Sons hatte beste Arbeit geleistet.

Dieser spezielle Kristall wurde in tiefen Bergwerken gebrochen, sodann zusammen mit einer von Dr. Gelmenstein entwickelten Rezeptur aus verschiedenen Mineralien-Beimengungen zermahlen, eingeschmolzen und in Scheibenform gegossen. Diese mussten dann langsam und kontrolliert abkühlen. Es durften keine Lufteinschlüsse und Risse entstehen. Auch der Einschluss von Fremdkörpern, seien sie auch noch so klein, würde eine Scheibe unbrauchbar machen. Deshalb musste beim Herstellungsprozess höchste Sorgfalt walten.

Vom so erzeugten Spezialkristall erhofften sich Hamish und Dr. Gelmenstein besondere Eigenschaften. Unter gezielter Anregung durch elektrische Ladungen sollte die besondere Kristallstruktur derart zu Schwingungen angeregt werden, dass man über den Ætherraum statische- und bewegte Bilder auf den Kristallscheiben übertragen konnte. Sollte es den beiden Forschern gelingen, wäre dies eine Weltsensation. Und es sollte nicht wundern, würden sie von der Queen daraufhin zu Rittern geschlagen, wäre doch eine solche Erfindung ein Beleg für die Vormachtstellung des Empire in der Welt!

Sorgfältig säuberten die beiden Männer die erste Scheibe mit in Alkohol getränkten Tüchern, wobei sie Baumwollhandschuhe trugen, um nicht erneut Fingerabdrücke auf dem Kristall zu hinterlassen.

Nach dieser Prozedur hoben sie die erste Scheibe vorsichtig an, trugen sie zu einem der beiden Kupferrahmen auf dem Podest und schoben sie dann seitlich in das auf einer Seite offene Rahmengestell. Als die große Scheibe richtig saß, montierten sie das fehlende Seitenteil des Rahmens. Danach zogen sie die insgesamt 12 Spannschrauben vorsichtig an, sodass die Kristallscheibe einerseits nicht wackelte, aber andererseits nicht zu fest eingespannt war, um nicht zu zerbrechen. Wichtig war ein gleichmäßiger, guter Kontakt mit dem umgebenden Kupferrahmen.

Auch mit der zweiten Scheibe verfuhren sie auf die gleiche Art und Weise. Das dritte Exemplar diente als Reserve, für den Fall, dass an einer Scheibe Mängel vorhanden gewesen oder eine der Scheiben bei der Montage zu Bruch gegangen wäre. Da nichts dergleichen geschehen war, standen Hamish und Dr. Gelmenstein nach etwa zwei Stunden Arbeit vor der Plattform und betrachteten zufrieden das Ergebnis ihrer Arbeit.

„Sieht perfekt aus!“, freute sich Hamish, und sein Förderer und Arbeitgeber nickte zustimmend dazu.

„In der Tat – man möchte gleich mit dem Experiment beginnen“, sagte er und rieb sich in Vorfreude die Hände. „Aber gemach, gemach – erst müssen sich die Scheiben vollständig dem Raumklima angepasst haben. Daher werden wir das erste Experiment erst am morgigen Tag durchführen.“

„Ob ich es so lange aushalte? Ich bin schon ganz hibbelig!“

„Die Ungeduld der Jugend!“, lachte Dr. Gelmenstein und klopfte dem angehenden Wissenschaftler väterlich auf die Schulter. „Aber wir gewinnen nichts, wenn wir die Sache überstürzen!“

Natürlich hatte der Doktor recht. Trotzdem würde es Hamish schwerfallen, bis zum nächsten Tag abzuwarten. Doch was tat man nicht alles im Namen der Wissenschaft.

Am nächsten Tag wachte Hamish bereits vor dem Morgengrauen auf und verließ eiligst und in aller Frühe das elterliche Heim. Er konnte es nicht erwarten, mit dem Experiment zu beginnen, und so schien es ihm, als würde die elektrische Schwebebahn viel zu langsam dahinschleichen. Was natürlich Unsinn war, da sie sich mit demselben Tempo fortbewegte, wie an allen anderen Tagen zuvor.

Endlich im Labor angekommen, fand er Doktor Gelmenstein in aller Ruhe am Schreibtisch seines Büros sitzend und eine Tasse Tee genießend vor.

„Dass Sie so ruhig eine Tasse Tee trinken können?“, meinte Hamish kopfschüttelnd. „Ich habe vor Aufregung die halbe Nacht kein Auge zugetan!“

„Ich denke, das ist der Ungestümheit der Jugend zuzuschreiben“, erwiderte sein Mentor nachsichtig schmunzelnd. „In der Ruhe liegt die Kraft. Aber jetzt, wo ich meinen Tee ausgetrunken habe, können wir mit dem Experiment beginnen. Dann leg mal ordentlich Kohlen auf, mein Junge, und heize den Dampfkessel kräftig an, damit die Spulen des Generators auf Hochtouren laufen. Wir werden jedes Quäntchen elektrischen Strom brauchen, welches wir kriegen können!“

Das ließ sich Hamish natürlich nicht zweimal sagen. Nicht lange danach loderte das Kohlenfeuer unter dem großen und stabilen Dampfkessel im Kesselraum des Labors, dass es eine Pracht war. Die Nadel im Druckanzeiger stieg unaufhörlich nach oben, und kurz vor dem Erreichen des Höchststandes legte der Jungwissenschaftler einen Hebel um. Dampf strömte durch die Leitung und setzte die Schaufelräder des Generatorantriebs in Bewegung. Schneller und schneller drehte sich die kupferne Spule in ihrem Gehäuse, und die Leistungsanzeige für den so produzierten elektrischen Strom sprang fast aus dem Stand in den grünen Bereich.

Nun beeilte sich Hamish, in den Raum mit der experimentellen Anordnung zu kommen. Dort hantierte der Doktor bereits am Schaltpult herum, welches die Stromzufuhr zu den beiden Kristallscheiben regelte.

„Wir werden nun versuchen, ein Bild von einer Scheibe zur anderen zu übertragen“, sagte Doktor Gelmenstein zu seinem Gehilfen.

„Gut, ich baue auf, was wir vorbereitet haben!“

Hamish holte einen kleinen, hölzernen Schemel aus einem Wandregal. Den stellte er vor die linke der beiden Kristallscheiben. Auf dem Schemel platzierte er eine mit bunten Blumen gemusterte Vase. Darum herum drapierte er noch ein paar Birnen und Äpfel, einen Zinnbecher und ein kleines Porzellanfigürchen eines aufsteigenden Pferdes. Dann leuchtete er das Arrangement so aus, dass es sich gut im glänzenden Kristall widerspiegelte.

„Fertig!“, rief er dem Doktor zu, nachdem er sein Werk sorgfältig begutachtet hatte.

„Wunderbar!“ Dr. Gelmenstein rieb sich die Hände.

„Dann werde ich jetzt mal Spannung auf die Scheiben geben, um die Oszillation der Kristalle anzuregen. So langsam bin ich auch aufgeregt, das muss ich zugeben!“

Der Gelehrte legte einen großen Schalthebel an der Steuerkonsole um. Die Kupferrahmen begannen laut zu summen, und die Zeiger der Anzeigen auf der Konsole sprangen in die Höhe oder zuckten hin und her.

„Sieht man schon was, Hamish?“, erkundigte sich Dr. Gelmenstein bei seinem Assistenten.

„Es hat sich ein leichter Schleier über die Scheibe gelegt, aber sonst ist noch nichts zu sehen“, antwortete der, ohne dabei seinen Blick von der Kristallscheibe zu nehmen.

„Dann werde ich die Einstellungen verändern. Vielleicht tut sich dann etwas!“

„Gut, Doktor. Ich behalte die Scheibe im Auge!“

Dr. Gelmenstein drehte an Knöpfen und legte verschiedene Schalter um. Das elektrische Summen veränderte sich, wurde höher und ein wenig lauter. Die beiden Kristallscheiben begannen aufzuleuchten. Mehr tat sich im Moment nicht, und für die beiden Männer wurde die Spannung schier unerträglich.

„Jetzt geschieht etwas, Doktor!“, schrie Hamish plötzlich auf und deutete aufgeregt auf die Scheibe, vor der er stand.

Tatsächlich hatte die Kristallscheibe zu flimmern begonnen. Außerdem begann sie, zu summen und zu rauschen. Es hörte sich wie ein Ætherraunen an. Ein schwarzer Punkt war auf der flimmernden Fläche erschienen, zunächst unscharf und wabernd, doch er wuchs heran, und das Bild stabilisierte sich immer mehr. Schließlich erschien klar und scharf gezeichnet …

„… der Schemel, Doktor! Ich sehe den Schemel, und zwar mit allem, was wir darauf arrangiert haben!“

„Das will ich sehen!“ Dr. Gelmenstein verließ sein Kontrollpult und kam zu Hamish. Gemeinsam bestaunten sie das Abbild des Schemels mit den verschiedenen Gegenständen darauf. Begeistert beglückwünschten sie sich gegenseitig zu ihrem Erfolg, bis Hamish plötzlich etwas auffiel.

„Doktor …“, sagte er gedehnt, und zeigte auf die Scheibe mit der Bildwiedergabe. „ … das ist zwar unser Stuhl – aber er scheint nicht in unserem Labor zu stehen. Seltsam … wie kann das sein?“

„Was sagst du da?“ Der Doktor klang überrascht, rückte seine Brille zurecht und starrte das Bild auf der Scheibe an.

In der Tat sah auf den ersten Blick alles normal aus: Schemel, Äpfel, Zinnbecher und Porzellanfigürchen. Doch sah man genauer hin, so stand der Schemel nicht im Labor der beiden Männer, sondern in einem Raum, welcher mehr einer Bibliothek ähnelte.

„Merkwürdig, merkwürdig …“, murmelte Gelmenstein, nahm die Brille ab, reinigte sie mit einem Tuch aus seiner Kitteltasche und setzte sie wieder auf.

„Wie kann so was sein?“, wollte Hamish verwirrt von dem Gelehrten wissen. „Ob das ein Fehler in den Kristallscheiben ist?“

„Ehrlich gesagt – ich bin ratlos“, gestand der Doktor ein. „Was wir da sehen, ist eigentlich unmöglich. Und doch …“

Gelmenstein gab sich einen Ruck und stürmte an sein Kontrollpult zurück.

„Ich werde die Einstellungen verändern. Mal sehen, was sich dann tut!“

Hektisch begann er damit, an Hebeln, Drehschaltern und Knöpfen zu hantieren. Das Summen der elektrischen Wandlerspulen änderte sich, ein lautes Knistern ertönte, und plötzlich …

„Er ist weg!“, schrie Hamish überrascht auf und zeigte mit fuchtelndem Arm auf die zweite Kristallscheibe.

„Wer ist weg?“, wollte der Doktor wissen und kam sogleich angerannt.

„Der Stuhl ist verschwunden“, erklärte der junge Mann neben ihm aufgeregt. Man sieht nur noch diese seltsame Bibliothek. Und die dafür gestochen scharf!“

„Hmm…“ Gelmenstein kratzte sich ratlos am Kopf, dann setzte er seine Brille ab, um sie mit einer Ecke seines weißen Kittels zu reinigen.

„Also, ich habe nicht die geringste Ahnung, woran das liegen könnte …“, gestand er ein, nachdem er sich seine Brille wieder auf die Nase gesetzt hatte. „Und noch weniger, woher dieses Bild dort im Kristall stammen könnte.“

Der Wissenschaftler ließ einen tiefen Seufzer folgen, hieß das doch, dass sie ihre gesamte Arbeit von vorne bis hinten nochmals bis aufs Kleinste überprüfen mussten.

„Was immer das ist – man sieht das komische Zimmer so klar, als bräuchte man bloß durch die Scheibe treten und wäre da!“, meinte Hamish fasziniert und ging auf die Scheiben zu, um sich die Sache näher anzuschauen.

Gerade, als er das 20 Zentimeter hohe Podest mit den Kristallrahmen darauf erklimmen wollte, geschah es! Er rutschte mit dem Schuh von der Kante ab, geriet dadurch ins Straucheln und stürzte mit einem leisen Aufschrei haltlos auf die Kristallscheibe vor ihm zu – und hindurch!

Hamish wurde davon derart überrascht, dass er einige Momente lang stocksteif auf dem Boden liegen blieb, unfähig sich zu rühren, während sein Herz wie wild pochte, und das Blut in seinen Ohren rauschte.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wich die Schockstarre von dem jungen Mann, und er stieß mit einem lauten Ächzen die angehaltene Luft aus seinen Lungen aus. Was nun folgte, das war grenzenlose Verwirrung, weil gerade etwas geschehen war, das eigentlich überhaupt nicht geschehen konnte. Ging er tatsächlich gerade durch die Kristallscheibe, wie Alice durch den Spiegel ins Wunderland?

Hamish bemühte sich, das wirre Gedankenkarussell in seinem Kopf in den Griff zu bekommen und rappelte sich mit zittrigen Gliedern auf, um sich dann in seiner Umgebung umzusehen.

Er stand in einem nur spärlich durch trübe, orangefarbene Lampen an der Decke erhellten, großen Raum. Boden, Decke, Wände und die einzige Tür des Zimmers bestanden aus dunkelrotem, stark gemaserten Holz, wie auch die lückenlos bestückten Buchregale, welche die Seitenwände fast vollständig ausfüllten. Aber so vertraut die Umgebung auf den ersten Blick scheinen mochte, etwas war anders.

Erst konnte Hamish nicht verstehen, was ihn an dem Bild störte. Doch dann merkte er es: Die Proportionen stimmten nicht!

Regalbreite- und Höhe, der Raum selbst, die Tür, ja selbst die Bücher – all das wirkte falsch, verzerrt und fremdartig.

Langsam drehte er sich um seine Achse, bis sein Bild auf das aufrecht stehende Rechteck der Kristallscheibe fiel. Es wirkte wie eine Tür im Raum, die weder Rahmen noch räumliche Tiefe besaß. Und in dieser Tür hüpfte ein aufgeregter Doktor Gelmenstein auf und ab, raufte sich den verbliebenen Haarkranz und redete mit hochrotem Kopf auf Hamish ein. Der allerdings verstand kein Wort. Überhaupt drang kein Geräusch von der anderen Seite, die ihr Labor zeigte, zu dem jungen Mann in die seltsame Bibliothek.

Der Forscher rang mit sich, was er als nächstes tun sollte. Vernünftig wäre es wohl gewesen, gleich ins Labor zurückzukehren. Doch bei jungen Männern ist es eben mit der Vernunft oft nicht so weit her.

Also hob er beschwichtigend die Hände und rief in Richtung des Doktors: „Ich möchte nur noch schnell etwas nachschauen“.

Dann huschte er zur Tür hinüber, der runde Knauf befand sich etwa auf seiner Stirnhöhe. Da dieser doppelt so breit wie seine Hand war, benötigte er beide Hände. Außerdem noch eine gehörige Portion Kraft. Aber Hamish schaffte es, die Tür zu öffnen.

Zuerst drückte er sie nur einen Spaltbreit auf und spähte hinaus. Er erblickte einen breiten, hohen und leeren Gang. Doch nicht nur das!

„Ein Fenster!“, flüsterte er erfreut.

Schnell drückte er die Tür weiter auf, schlüpfte auf den Gang hinaus und huschte zu dem Fenster hinüber, um hinausschauen zu können. Was er sah, verschlug ihm den Atem!

Ein blassgrüner Himmel war nur das eine – der riesige Ringplanet dagegen etwas ganz anderes! Außerdem erkannte er noch mindestens zwei weitere Monde am Firmament. Diese atemberaubende Szenerie überspannte die Silhouette einer Stadt, wie sie Hamish noch nie zuvor gesehen hatte! Wolkenkratzer, die kilometerweit in den Himmel ragten, teilweise verbunden durch grazil anmutende Konstruktionen. Er sah eine unglaubliche Anzahl tropfenförmiger Fahrzeuge in der Luft und am Boden.

Benutzt wurden diese von menschenähnlichen Kreaturen. Diese waren mindestens 2.50 Meter groß, überschlank, mit langen Armen und Beinen und von hellgrauer Hautfarbe. Der Kopf war kugelrund, kahl und wurde von zwei riesigen, pechschwarzen Augen dominiert, gegen die Mund und Nase lächerlich klein wirkten. Mehr Einzelheiten konnte der aufgeregte Engländer aus der Entfernung nicht erkennen.

Sein Herz schlug so schnell und heftig, dass er meinte, es müsse jeden Moment aus seiner Brust springen.

„Das muss ich unbedingt dem Doktor erzählen!“, schoss es ihm durch den Kopf, er wandte sich vom Fenster ab und spurtete so hastig los, dass er fast erneut über seine eigenen Füße stolperte.

Zurück in der Bibliothek fand er das Kristallportal zu seiner großen Beruhigung an der Stelle, wo er es zurückgelassen hatte – mit einem entnervt und verzweifelt wirkenden Dr. Gelmenstein auf der anderen Seite.

Voller Anspannung trat er vor die Fläche und streckte seine Hand langsam danach aus. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung verspürte er keinen Widerstand, sondern er fühlte die von der Dampfmaschine im Labor erzeugte Wärme. Aufatmend machte er einen großen Schritt und stand wieder im Labor, vor Dr. Gelmenstein, dem sichtlich ein Stein vom Herzen fiel. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, wurde er von Hamish mit einem Schwall von Wörtern eingedeckt, die in dessen Begeisterung über das Erlebte wie ein Wasserfall aus ihm hervorsprudelten. Das ging ohne Punkt, Komma oder Luftholen, sodass der gute Doktor kein Wort von dem verstand, was Hamish ihm berichten wollte.

„Langsam, langsam, mein Junge“, versuchte der Wissenschaftler deshalb seinen Assistenten und Partner zu bremsen. „Was ist passiert? Und wo warst du? Jedenfalls hast du mir einen Heidenschreck eingejagt, als du so plötzlich in der Kristallscheibe verschwunden bist!“

Daraufhin versuchte sich Hamish etwas zu beruhigen, atmete ein paar Mal tief durch, und sagte dann mit ungebremster Begeisterung: „Doktor Gelmenstein – wir haben nicht nur ein Bild projiziert, nein, viel besser: Wir haben ein Fenster in eine andere Welt geöffnet!“

„Ein Fenster in eine andere Welt?“ Der Doktor wirkte irritiert. „Aber wie … wo … was meinst du damit?“

„Unsere Anordnung muss ein Portal durch den Æther geschaffen haben“, überlegte Hamish laut. „Die Oszillation unserer Scheiben erzeugten eine Art Ætherraunen. Die von uns geschaffenen Ætherwellen wurden durch Raum und Zeit gebeugt und haben eine Brücke zu einer fremden Welt geschlagen. Doktor – ich habe einen grünen Himmel gesehen, mit einem riesigen Ringplaneten am Firmament, und mehreren Monden. Eine große, futuristische Stadt und Wesen darin, die uns zwar auf gewisse Weise ähnlich sind, und doch völlig fremdartig aussehen. Es ist … so überwältigend, dass ich es gar nicht beschreiben kann! Ich muss unbedingt wieder zurück und weitere Erkundungen anstellen!“

Der Doktor machte ein verblüfftes Gesicht. „Das ist in der Tat unerwartet. Ein Tor in eine andere Welt? Eigentlich müsste das unmöglich sein … und doch … wir stehen erst am Anfang der Erforschung des Ætherraumes. Aber dorthin zurück? Das kann gefährlich werden, mein Junge!“

In die wissenschaftliche Neugier des Gelehrten mischte sich nun Besorgnis über den ungestümen Wissensdurst Hamish'.

„Ach, was ist nicht gefährlich?“, wischte der den Einwand beiseite. „Garantieren Sie mir, dass uns nicht eines Tages unsere Dampfmaschine um die Ohren fliegt, wenn wir sie wie so oft bis an die Grenze belasten?“

Gelmenstein schüttelte den Kopf.

„Sehen Sie, Doktor? Absolute Sicherheit gibt es nirgends. Und ich will, nein ich muss, wieder zurück in diese andere Welt! Da gibt es so viel zu entdecken. Was könnten wir dort nicht alles lernen! Dinge, an die wir vielleicht noch nicht einmal im Traum gedacht haben!“

„Schön, mein Junge – aber du weißt eben auch noch nichts von dort“, gab Gelmenstein zu bedenken. „Was, wenn das Essen und Trinken da drüben für dich giftig ist? Oder, wenn seine Bewohner dich als gefährlichen Eindringling betrachten, den es zu beseitigen gilt. Und – wenn du dorthin gehen kannst, dann können sie wohl auch auf unsere Seite kommen. Hast du das alles bedacht?“

„Das ist alles richtig, Doktor“, stimmte Hamish dieser Argumentation rundheraus zu. „Aber das wird mich nicht von meinem Entschluss abbringen. Da gibt es eine neue, unbekannte Welt, ein Terra Incognita, und ich will sie entdecken. Denken Sie nur an den Ruhm, den ich ernten könnte. Vielleicht erhebt mich unsere Königin sogar in den Ritterstand! Mein Vater würde vor Neid platzen!“

Der Doktor musterte sein Gegenüber einen Moment lang stumm und sah das Feuer der Begeisterung in dessen Augen nicht nur brennen, sondern lodern. Nein, mit Argumenten würde er dem nicht beikommen können.

„Also gut ...“, gab er sich deshalb mit einem Seufzer geschlagen. „Da ich dich nicht davon abhalten kann, dich kopfüber ins Abenteuer zu stürzen, und weil ich, zugegebenermaßen auch neugierig bin – streng wissenschaftlich natürlich! – werde ich dich unterstützen. Aber ...“

„Ich danke Ihnen, Doktor!“, rief Hamish erfreut aus, ergriff Gelmensteins rechte Hand und schüttelte sie überschwänglich.

„Aber ...“, fuhr sein Freund und Förderer nachdrücklich fort, „… ich bestehe darauf, dass wir zuerst testen, ob wir das Portal ab- und wieder anschalten können. Dann vereinbaren wir Zeitfenster, in welchen ich das Tor nach dort drüben für kurze Zeit öffnen werde. Und wir rüsten dich für deine Expedition aus, dass du in der Lage bist, dich eine gewisse Zeit selbst zu versorgen. Sind wir uns da einig, junger Mann?“

„Aber ja, natürlich bin ich einverstanden!“, stimmte der junge Mann sofort zu.

Also gingen die beiden sogleich ans Werk. Zu Hamish' Freude schafften sie es tatsächlich, das Kristallportal nach Belieben an- und wieder abzuschalten. Und nur zwei Stunden später stand der aufgeregte Abenteurer und Forscher wieder auf der Plattform vor der Kristallscheibe, welche wieder die Bibliothek in der anderen Welt abbildete. Hamish trug nun zweckmäßigere Kleidung: einen dunkelgrauen, robusten Overall. Dazu festes Schuhwerk und einen derben Expeditionshut.

Auf dem Rücken saß ein prall gefüllter Rucksack, der überwiegend Wasser, Nahrungsvorräte, ein paar Hygieneartikel und eine Handfeuerwaffe enthielt. Darüber hinaus hatte Hamish auch noch Schreibstifte und Notizblöcke darin verstaut, um seine Beobachtungen und Forschungsergebnisse auch niederschreiben zu können. Eben gab er dem Doktor einen Zettel mit einer kurzen Nachricht an seine Eltern. Er erklärte darin mit wenigen Worten, dass er zu Forschungszwecken kurzfristig zu einer Reise aufgebrochen wäre. Das sollte genügen, damit so bald keine Nachforschungen zu seinem Verbleib angestellt werden würden. Schließlich wusste er noch nicht, wann er von seinem Ausflug auf die andere Seite wieder hierher zurückkehrte.

„Lass uns noch mal die Uhren vergleichen, Hamish“, forderte der Doktor den Jungforscher auf. „Wir haben heute den 17. August, und es ist mittlerweile 17.00 Uhr.“

„Korrekt, unsere Uhren stimmen überein“, bestätigte Hamish nach einem Blick auf seine Taschenuhr, die er anschließen wieder in einer Overall-Tasche verstaute.

„Gut. Ich werde jeden Tag um 17.00 Uhr für eine Viertelstunde das Kristallportal öffnen. Immer unter der Voraussetzung, die Bibliothek da drüben ist leer. Alles klar?“

„Alles klar, Doktor. Täglich, jeweils um 17.00 Uhr!“

„Und du hast es dir wirklich gut überlegt, mein Junge?“, wollte Gelmenstein, immer noch besorgt um Hamish, noch einmal von diesem wissen.

„Absolut, Doktor. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde wohlbehalten zurückkehren!“

Der Gelehrte atmete noch einmal tief durch und klopfte dann seinem jungen Freund aufmunternd auf die Schultern.

„Na dann – Hals- und Beinbruch! Ich wünsche dir alles Gute. Und komm gesund zu uns zurück!“

„Das werde ich, Doktor Gelmenstein. Das werde ich!“

Hamish wandte sich mit strahlendem Gesicht dem Kristallportal zu. Er verspürte Neugierde, Aufregung, Abenteuerlust und vielleicht auch ein Quäntchen Angst. Doch das würde ihn nicht vor dem Schritt durch das Æthertor abhalten können. Vor ihm lag eine neue, fremdartige Welt, die vermutlich zum ersten Mal von einem Menschen der Erde besucht wurde. Und diese Welt lag ihm zu Füßen, bereit, von ihm erkundet zu werden.

Einmal atmete er noch tief durch, schloss kurz die Augen, und als er diese wieder öffnete, war er bereit. Und Hamish tat den Schritt, der ihn ins Neuland brachte …

W. Berner

Exodus

Heftiges Husten drang in der nächtlichen Stille durch die Wohnung der Familie Aschos, die am äußeren Großring von Zentralstadt gelegen war. Das trockene Geräusch wurde immer wieder von kindlichem Schluchzen und „Mama“- Rufen unterbrochen.

Schon öffnete sich die Tür zum elterlichen Schlafzimmer, und Enide Aschos, die gerufene Mutter, stürmte mit wehendem Morgenrock über den Korridor zum Zimmer ihrer jüngsten Tochter Anisha.

„Kind, was hast du bloß“, rief sie besorgt, während sie sich neben dem Kinderbett auf die Knie niederließ und ihrer Tochter besorgt über die schwarz gelockten Haare strich.

Das kleine, fünf Jahre alte Mädchen hustete und hustete, und dazwischen rang es mühsam, mit hochrotem Kopf nach Luft. Die Mutter tat alles, um ihre Tochter zu beruhigen, ihr die Angst zu nehmen. Sie streichelte sie und redete beruhigend auf sie ein. Doch das Mädchen war völlig aufgelöst. Panische Angst stand in ihren dunklen, weit aufgerissenen Augen zu lesen. Tränen kullerten ihr daraus über das in Luftnot verzerrte Gesicht. Hilfesuchend klammerte sie sich an ihre Mutter, während sich ihr kleiner Körper unter quälenden Hustenattacken krümmte. Anisha hatte zwar schon Zeit ihres kurzen Lebens Probleme mit ihren Atemwegen, aber so schlimm wie in dieser Nacht hatte sich das zuvor noch nie ausgewirkt.

Der keuchende Husten und die Atemnot jagten nun Enide Aschos große Angst ein.

Ein Rascheln, welches von der Tür zum Kinderzimmer her erklang erregte für einen Moment ihre Aufmerksamkeit. Enide wandte den Kopf ein wenig und sie konnte ihren Mann Garzin erkennen, der unter dem Türrahmen in seine Kleidung schlüpfte.

„Ich hole den Wagen. Wir werden mit Anisha in die Medoktur fahren!“, sagte er auf den fragenden Blick seiner Frau hin leise.

Diese nickte nur sacht. Bei der Heftigkeit des Hustenanfalls, der den kleinen, schmächtigen Körper ihrer Tochter so quälend durchschüttelte, war dies sicher das Vernünftigste, was sie tun konnten.

Nur wenige Minuten später saßen Garzin, seine Frau Enide und Anisha in dem altersschwachen Elektrorollmon, den die Familie ihr Eigen nannte und den sie nur mit Mühe hatten ergattern können, nachdem die planetare Regierung alle Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor verboten hatte. Garzin steuerte das Gefährt mit verbissenem Gesicht durch die Nacht und hoffte, dass der Elektroantrieb nicht ausgerechnet jetzt wieder einen seiner berüchtigten Aussetzer bekommen würde.

Enide wiegte derweil die in einer Decke gehüllte Anisha in ihren Armen, um ihre Tochter zu beruhigen. Diese hustete immer noch fast ununterbrochen, doch die Anfälle hatten ein wenig an Heftigkeit verloren und das nach Atem ringen schien auch nicht mehr ganz so schlimm zu sein. Trotzdem gab das kleine Mädchen unentwegt ein ängstliches Wimmern von sich, was ihr aber niemand verdenken konnte. So ein Erstickungsanfall würde jedem Angst einjagen!

Das vierte Familienmitglied, Anishas älterer Bruder Menfad, war als einziger zu Hause zurück geblieben. Garzin hatte seinen Sohn jedoch geweckt und ihm alles Nötige mitgeteilt, bevor er mit seiner Frau und seiner Tochter zur Medoktur der Stadt aufbrach. Menfad wollte eigentlich auch mitkommen, aber Garzin meinte, es reiche, wenn sie sich zu dritt auf den Weg machten und versprach, seinen Jungen sofort anzurufen, wenn sich irgendetwas ergeben würde.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die fünf runden Türme der zentralen Medoktur sich aus dem Gewimmel der vielen meist filigranen Stadttürme heraus schälten und langsam immer näher rückten. Endlich leuchtete das helle Rechteck der Tür zur Notaufnahme neben dem Elektrorollmon auf. Garzin parkte auf einer gekennzeichneten Fläche, dann stürmten er und seine Frau mit ihrer Tochter auf dem Arm zum Annahmeschalter im Foyer. Nachdem die Anmeldeformalitäten erledigt waren, wurden sie gebeten, für einen Moment im Wartebereich Platz zu nehmen. Obwohl mitten in der Nacht, wimmelte es dort von Leuten, wie Garzin erstaunt feststellte. Und wenn er so die Gesprächsfetzen und das Verhalten der Anderen mitverfolgte, schienen die meisten von ihnen wie die kleine Anisha mit Erkrankungen der Atemwege kämpfen zu haben.

Zum Glück mussten sie nicht allzu lange warten, bis man sie in einen der Behandlungsräume bat. Kinder bekamen in den Medoktur seit jeher eine bevorzugte Behandlung.

Ein Medokteur mittleren Alters, in der typisch hellvioletten Kombination des ärztlichen Standes bekleidet, empfing die Aschos und bat sie, Anisha auf die Untersuchungsliege zu legen. Sofort nahm der Medokteur seine Arbeit auf. Er maß Anishas Atemwerte, horchte die Lungen ab, analysierte den Atem, nahm eine Blutprobe für das Labor und ließ sich von Enide und Garzin die bisherigen Probleme des Mädchens schildern. Anschließend bat er beide Elternteile noch um ein kleines bisschen Geduld, bis die Auswertung der Proben aus dem Labor vorlagen.

Endlich war es so weit. Doch bevor er eine Erklärung abgab, hielt er Anisha erst einmal ein kleines, Diskusförmiges Gerät hin und bat sie, dass daran befindliche Mundstück zwischen ihre Lippen zu nehmen.

„Dann zähle ich auf Drei und bei Drei holst du so tief Luft, wie du nur kannst. Meinst du, du bekommst das für mich hin, Anisha?“

Das fünfjährige Mädchen nickte tapfer und auf Drei holte es tief Luft, während der Medokteur gleichzeitig auf den Auslöseknopf des Dispensers drückte, der einen Medikamentennebel freisetzte. Anisha verzog ein wenig ihr Gesicht, denn das Medikament schmeckte bitter in ihrem Mund. Aber gleich darauf hörte der Husten auf und sie atmete das erste Mal seit Stunden wieder tief durch.

„Besser?“, wollte der Medokteur wissen.

Das kleine Mädchen nickte ihn dankbar an.

„Gut. Dann macht es dir doch sicher nichts aus, ins Zimmer nebenan zu meiner Mediktrice zu gehen. Sie freut sich, wenn du kurz bei ihr vorbeischaust. Sie hat bestimmt eine kleine Süßigkeit für dich übrig, meine Kleine. Ich unterhalte mich nur noch ganz kurz mit deinen Eltern und dann könnt ihr auch schon wieder nach Hause fahren!“

Der Medokteur wartete, bis Anisha zu seiner Assistentin verschwunden war und wandte sich dann den Eltern des Mädchens zu.

„Was fehlt unserer Anisha?“, erkundigte sich Enide Aschos sogleich bei dem Arzt, denn sie spürte, dass wohl keineswegs gute Nachrichten auf sie warteten.

„Wir nennen das eine atmosphärisch bedingte Reizlunge“, kam dieser auch ohne Umschweife auf den Punkt.

„Atmosphärisch bedingte Reizlunge?“, fragte Garzin Aschos nach. „Aber wie …?“

„Wie so etwas entsteht? Nun, bis vor drei Jahren war diese Art von Krankheit noch auf dem gesamten Planeten völlig unbekannt. Und dann kam Deimordus!“

Garzin horchte auf. „Deimordus, der Asteroid, der von unserer Welt eingefangen wurde und nun als zweiter Mond um uns kreist? Hat der das alles ausgelöst? Man hört so viel im Teleformant, doch da gibt es oft widersprüchliche Informationen.“

Der Medokteur schwieg einen Moment und legte einen Zeigefinger an sein Kinn, so als müsste er nachdenken. Dann räusperte er sich und sprach mit leiser, aber eindringlicher Stimme:

„Deimordus hat uns fast getroffen. Jedes mal, wenn er sich dem Planeten nähert, taucht er tief in unsere Atmosphäre ein und reißt dabei Millionen Kubikmeter Gas aus ihr heraus, die unrettbar verloren sind. Die Anziehungskraft unseres Planeten ist viel zu gering, dem entgegenzuwirken. Es wird noch Jahre dauern, bis sich die Umlaufbahn von Deimordus so weit stabilisiert hat, dass er keine Gefahr mehr für unsere Lufthülle darstellt. Doch dann ist es zu spät. Dann wird kein Leben mehr auf der Oberfläche möglich sein. Schon jetzt ist der Luftdruck signifikant gesunken. Die Todeszone auf unseren Bergen ist um 300 Meter nach unten gerutscht. Dort oben sublimiert das Wasser einfach zu Gas. Am Boden spüren wir die Auswirkungen bereits ebenfalls. Ist ihnen noch nicht aufgefallen, dass unser Klima kälter und kälter wird? Junge, wenig trainierte Lungen, wie die kleiner Kinder, kommen mit den veränderten Druckverhältnissen nicht zurecht. Genauso wie die Alten und Greise. Sie werden krank, bekommen Atemnot ...“ Sein Stimme wurde brüchig, brach ab und er senkte den Kopf.

Garzin und Enide tauschten überraschte Blicke aus. Sie waren schockiert über das, was sie von dem Mediziner zu hören bekommen hatten, und wollten es kaum glauben.

„Aber ...die Regierung ...“, suchte Garzin dann mühsam nach Worten.

„Die Regierung betreibt gezielte Desinformation!“, unterbrach ihn der Medokteur. „Man möchte so lange wie möglich eine Massenpanik verhindern!“

„Eine Massenpanik?“ Enide Aschos starrte den Medokteur aus großen, vor Schreck weit aufgerissenen Augen an. „Aber wieso sollte es eine Massenpanik geben? Besteht denn ein Grund dafür?“

Der Arzt nickte betrübt und als er seinen Kopf hob glänzte es feucht in seinen Augen. „In weniger als zwei Jahren wird an der Oberfläche unseres Planeten kein Leben mehr möglich sein“, berichtete er mit müder Stimme. „Unsere Atmosphäre dünnt immer schneller aus. Die Regierung trifft im Geheimen Vorkehrungen, um einen Teil der Bevölkerung unter der Oberfläche in Sicherheit zu bringen. Tief in unbesiedelten Gegenden der südlichen Hemisphäre arbeitet man an Raumarchen, die einige Zehntausend auf unseren inneren Nachbarplaneten umsiedeln sollen, damit unsere Art überlebt. Die Umsiedler treffen auf einen Planeten, der ein Vielfaches unserer Schwerkraft besitzt und dessen Lufthülle auch wesentlich dichter ist, als es die unserer Welt je war. Niemand wird viel mehr mitnehmen können, als was er auf dem Leibe trägt. Doch diese Welt strotzt vor Leben und bietet wenigstens eine Zukunft. Eine Zukunft im Licht unserer Sonne, nicht eingesperrt in düsteren Kavernen. Doch sie müssen sich rasch entscheiden und sich umgehend für das Programm bewerben!“

Nach dem der Arzt wieder schwieg, herrschte für einige Momente lang betretenes Schweigen. Die Aschos versuchten, das Gehörte zu verstehen und zu verarbeiten und sie suchten ebenso verzweifelt nach Worten.

„Wa... warum?“, brachte Garzin schließlich mühsam hervor, während er sich seine Haare raufte.

„Warum ich Ihnen das alles erzähle, wo es doch geheim ist?“

Garzin nickte nur stumm als Antwort.

„Ich bin im medizinischen Komitee, welches von der Regierung für den Planungsstab der Notfallmaßnahmen einberufen wurde und ja, eigentlich habe ich eine Schweigeverpflichtung abgelegt. Aber ...ihre kleine Tochter … Ich möchte, dass sie eine Zukunft hat ...“

Der Medokteur hob seinen Kopf und schaute die beiden Aischos mit schmerzvollem Gesichtsausdruck an. Aus seinen Augen liefen ihm dicke Tränen über das Gesicht.

„Ich hatte auch eine kleine Tochter ...“, sprach er mit erstickt klingender Stimme weiter. „Sie litt an der gleichen Krankheit wie ihre Anisha. Doch sie war jünger, weniger widerstandsfähig … ich konnte ihr nicht helfen! Sie starb in meinen Armen ...“

Er barg sein Gesicht in seinen Händen und begann hemmungslos zu Schluchzen. Und auch Garzin und Enide stiegen Tränen in die Augen, denn sie konnten seinen Schmerz voll und ganz mitempfinden. Allein, ihnen fehlten die Worte, um zu versuchen Trost zu spenden. Wie konnten sie das auch, angesichts dessen, was ihnen und ihrer ganzen Welt bevorstand. Also nahmen sie rechts und links von dem verzweifelten Medokteur Platz, legten ihre Arme um ihn und teilten seinen tiefen Schmerz.

In dieser Nacht, am folgenden Morgen und den ganzen Tag über diskutierten Garzin und Enide über das, was der Medokteur ihnen offenbart hatte und wie sie als Familie möglicherweise darauf reagieren sollten. Auch ihren Sohn Menfad, mit 16 Jahren schon fast ein Erwachsener, bezogen sie in ihre Überlegungen mit ein. Anisha lauschte den Gesprächen mit großen Augen. Obwohl sie in ihrem Alter noch nicht ganz verstand, um was es bei der hitzigen Diskussion ging, spürte sie doch, dass alles einen ziemlich ernsten Hintergrund hatte. Garzin, ihr Vater, hatte sich sogar bei seiner Arbeitsstelle krank gemeldet, so wichtig war ihm das Gespräch mit seiner Familie.

Nach vielen Argumentationsrunden, dem Abwägen des Für und Wider, dem Berücksichtigen aller Fakten, die ihnen bekannt waren, kam Familie Aschos am Abend zur alles entscheidenden Abstimmung.