Antigone - Slavoj Žižek - E-Book

Antigone E-Book

Slavoj Zizek

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Beschreibung

Das erste Theaterstück von Slavoj Žižek! Auf Grundlage des Theaterstücks von Sophokles legt der bekannte Kulturkritiker und Philosoph Slavoj Žižek hier seine Version der Antigone vor: als eine ethisch-politische Übung im Stil der Lehrstücke von Brecht, als ein Theaterexperiment mit drei möglichen Schlüssen. Eine Lösung des klassischen Konflikts, so zeigt Žižek, wirft uns auf uns selbst zurück und wird uns in unserer humanitären Selbstzufriedenheit erschüttern. Ein großes Schauspiel um Schuld und Gerechtigkeit, Liebe und Tradition, Gesetz und Glauben. »Der wilde Denker hilft uns, aus unseren Träumen zu erwachen und dem Alptraum unserer Zeit ins Auge zu sehen. […] wohl einer der letzten großen Realisten.« Cornelius Janzen, 3sat (Kulturzeit)

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Seitenzahl: 63

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Slavoj Žižek

Die drei Lebender Antigone

Ein Theaterstück

Deutsch von Frank Born

FISCHER digiBook

Inhalt

Vorwort: Antigone renntDie drei Leben der Antigone. Ein Theaterstück

Vorwort: Antigone rennt

Der einzigartige Film Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer (The Fast Runner, 2001) erzählt die Geschichte einer alten Inuit- (Eskimo-)Legende nach und wurde auch tatsächlich von kanadischen Inuit gedreht; Regisseur Zacharias Kunuk entschied sich allerdings dafür, den Schluss zu verändern, und ersetzte das Gemetzel des Originals, in dem alle Beteiligten umkommen, durch ein versöhnlicheres Ende. Als ihm daraufhin von einem kultursensiblen Journalisten vorgeworfen wurde, er verrate die authentische Tradition, um sich dem heutigen Publikumsgeschmack anzubiedern, bezichtigte Kunuk den Kritiker im Gegenzug der kulturellen Ignoranz: Die Bereitschaft, die Geschichte den heutigen Bedürfnissen anzupassen, beweise gerade, dass die Autoren noch immer Teil der alten Inuit-Tradition seien, denn eine solch »opportunistische« Überarbeitung sei ein Merkmal vormoderner Kulturen, während allein schon die Idee der »Originaltreue« anzeige, dass man sich bereits im Raum der Moderne befinde und den unmittelbaren Kontakt mit der Tradition verloren habe.

In diesem Sinne sollten wir auch die zahlreichen Neuinszenierungen klassischer Opern verstehen, die nicht nur die Handlung in eine andere (meist zeitgenössische) Epoche verlegen, sondern auch wesentliche Elemente der Erzählung selbst verändern. Es gibt dabei kein abstraktes Kriterium, das uns im Vorhinein das Scheitern oder Gelingen eines solchen Ansatzes beurteilen ließe: Jeder Eingriff dieser Art ist ein riskantes Unterfangen und muss nach seinen eigenen, immanenten Maßstäben bewertet werden. Oft gehen solche Experimente nach hinten los und wirken lächerlich, aber nicht immer, und es gibt keine Möglichkeit, im Voraus darüber zu entscheiden – man muss das Risiko eingehen. Im Grunde ist ein solches Wagnis sogar die einzige Möglichkeit, einem klassischen Werk treu zu bleiben – es zu scheuen und am traditionellen Buchstaben zu haften, ist dagegen der sicherste Weg, um den Geist des Klassikers zu verraten. Mit anderen Worten, die einzige Möglichkeit, ein klassisches Werk am Leben zu halten, besteht darin, es als »offen« zu behandeln, als in die Zukunft weisend oder, um eine Metapher Walter Benjamins zu gebrauchen, als sei das klassische Werk ein Film, für den die nötige Entwicklerflüssigkeit erst später erfunden wurde, so dass wir das Bild erst heute vollständig sehen können.

Zwei Wagner-Inszenierungen stechen als Beispiele solcher geglückten Veränderungen hervor: Jean-Pierre Ponnelles Bayreuther Version des Tristan, in der der Titelheld im dritten Aufzug alleine stirbt (Isolde ist bei ihrem Mann, König Marke, geblieben, und ihr Erscheinen am Ende der Oper ist lediglich eine Halluzination des sterbenden Tristan), und Hans-Jürgen Syberbergs Verfilmung des Parsifal (in der Amfortas’ Wunde als ein Partialobjekt behandelt wird, eine Art unaufhörlich blutende Vagina, die auf einem Kissen außerhalb seines Körpers getragen wird, und der Knabe, der den Parsifal gespielt hat, im Moment seiner Einsicht in Amfortas’ Leiden und seiner Zurückweisung Kundrys durch ein kühles, junges Mädchen ersetzt wird). In beiden Fällen hat die Veränderung eine große Offenbarungskraft: Man kann sich des starken Eindrucks nicht erwehren, dass »es wirklich genau so sein sollte«.

Können wir uns eine ähnliche Veränderung auch in der Inszenierung der Antigone vorstellen, einem der Gründungsnarrative der abendländischen Tradition? Den Weg dazu hat kein Geringerer als Sören Kierkegaard gewiesen, der in dem Kapitel »Der Reflex des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen« im ersten Band seines Werkes Entweder – Oder seine Vorstellung einer modernen Antigone schildert.[1] Der Konflikt ist hier vollkommen nach innen gewandt: Kreon wird nicht mehr benötigt. Zwar bewundert und liebt Antigone ihren Vater Ödipus, den Helden des Volkes und Retter Thebens, doch kennt sie auch die Wahrheit über ihn (sie weiß von seinem Vatermord und seiner Inzestheirat). Ihr Dilemma ist, dass sie ihr verfluchtes Wissen nicht teilen kann (wie Abraham, der den göttlichen Befehl zur Opferung seines Sohnes auch niemandem mitteilen konnte). Sie kann nicht klagen oder ihre Sorge und ihren Schmerz mit anderen teilen. Im Unterschied zur Antigone des Sophokles, die handelt (indem sie ihren Bruder beerdigt und damit ihr Schicksal aktiv annimmt), ist sie unfähig zu handeln und auf ewig zu ungerührtem Leiden verdammt. Die unerträgliche Last ihres Geheimnisses, ihres zerstörerischen agalma, treibt sie schließlich in den Tod, in dem allein sie den Frieden findet, den ihr das Symbolisieren oder Mitteilen ihrer Schmerzen und Sorgen gebracht hätte. Kierkegaard argumentiert, dass diese Situation nicht mehr wirklich tragisch zu nennen ist (so wie auch Abraham keine tragische Figur ist).

Dieselbe Verschiebung können wir uns auch in Abrahams Fall vorstellen. Der Gott, der ihm gebietet, seinen Sohn zu opfern, ist der Über-Ich-Gott, der seinen Knecht zum eigenen perversen Vergnügen der schwersten Prüfung unterzieht. Der Grund, warum Abrahams Situation nichttragisch ist, ist, dass Gottes Forderung nicht öffentlich gemacht, nicht mit der Gemeinschaft der Gläubigen und damit dem großen Anderen geteilt werden kann; der erhabene tragische Augenblick ereignet sich dagegen genau dann, wenn der Held sich in seiner Not an das Publikum wendet und seine Zwangslage in Worte fasst. Die Aufforderung an Abraham ähnelt, um es kurz und unmissverständlich zu sagen, dem geheimen »schmutzigen« Befehl eines Herrschers, ein Verbrechen zu begehen, welches für den Staat unabdingbar ist, aber nicht öffentlich zugegeben werden kann. Als Königin Elizabeth I. im Herbst 1586 von ihren Ministern gedrängt wurde, der Hinrichtung Maria Stuarts zuzustimmen, erwiderte sie das Gesuch mit der berühmten »Antwort ohne Antwort«:

»Wenn ich sagen wollte, daß ich das, was ihr bittet, nicht thun werde, so würde ich vielleicht mehr sagen, als ich denke; wenn ich es zu thun verhieße, so könnte ich mich in’s Verderben stürzen, was ihr nach eurer Klugheit gewiß nicht wünscht.«[2]

Die Botschaft war eindeutig: Sie war nicht bereit zu sagen, dass sie Marias Hinrichtung nicht wünschte, denn das wäre »mehr […] als ich denke« gewesen; natürlich wollte sie ihren Tod, aber sie wollte diesen Justizmord nicht öffentlich auf sich nehmen. Die implizite Botschaft ist somit ebenfalls eindeutig: Wenn ihr meine treuen und ergebenen Diener seid, dann begeht dieses Verbrechen für mich, tötet sie, ohne mich dafür verantwortlich zu machen, gestattet mir, meine Unkenntnis zu beteuern und sogar einige von euch zu bestrafen, um den falschen Schein zu wahren … Kann man sich nicht auch Gott selbst mit einer ähnlichen Antwort vorstellen, wenn er von Abraham öffentlich, vor den anderen Ältesten gefragt würde, ob er wirklich seinen einzigen Sohn töten solle? »Wenn ich sagen würde, dass ich nicht will, dass du Isaak tötest, so würde ich vielleicht mehr sagen, als ich denke. Und wenn ich es zu tun verhieße, so könnte ich mich ins Verderben stürzen (indem ich als ein böser, barbarischer Gott erschiene, der von dir verlangt, gegen meine eigenen heiligen Gebote zu verstoßen), was du, mein getreuer Diener, nach deiner Klugheit gewiss nicht wünschst.«

Insofern Kierkegaards Antigone eine paradigmatisch moderne Figur ist, sollten wir sein Gedankenexperiment weiterführen und uns eine postmoderne Antigone vorstellen, die natürlich noch eine stalinistische Note enthalten müsste. Anders als die moderne Version würde sie sich dann in einer Lage befinden, in der, um Kierkegaard selbst zu zitieren, das Ethische selbst die Versuchung wäre. Eine Variante wäre zweifellos, dass Antigone ihren Vater (oder auch ihren Bruder Polyneikes) öffentlich abweisen, anprangern und seiner schrecklichen Sünden beschuldigen würde, und zwar aufgrund ihrer bedingungslosen Liebe zu ihm. Der Haken daran ist, im Sinne Kierkegaards, dass Antigone durch solch einen öffentlichen Akt noch isolierter, ja vollkommen allein wäre; niemand – mit Ausnahme von Ödipus selbst, wenn er noch am Leben wäre – würde verstehen, dass ihr Verrat der höchste Akt der Liebe ist … Ist dieses Verhängnis der »postmodernen« Antigone nicht auch das des Judas, dem insgeheim von Christus aufgetragen wurde, ihn öffentlich zu verraten und den vollen Preis dafür zu zahlen? Eine solche Version wäre ein echtes künstlerisches Ereignis, weil sie unsere Wahrnehmung der Geschichte komplett verändern würde.