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Fabian Abendroth betreibt in einer kleinen mitteldeutschen Stadt ein Antiquariat, das er allerdings nicht so sehr als Geschäft, sondern mehr als Arche begreift, in der bedeutende Bücher vor der Sintflut sprachlicher Belanglosigkeit gerettet werden sollen. Seine Bücher stehen daher mehr unter Schutz als zum Verkauf. Als ein Investor die ganze Stadt zum Sport-Outlet machen möchte und dafür reihenweise Ladenlokale erwirbt, fühlt sich Fabian Abendroth plötzlich von allen Seiten bedrängt, sein Geschäft aufzugeben. Und als ihn dann auch noch die Vergangenheit einholt, scheint sein ungewöhnliches Antiquariat endgültig dem Untergang geweiht. »Ein Roman, der sich nicht zuletzt auch als kritische Parabel auf unsere moderne Mediengesellschaft und unsere zunehmende Bewusstlosigkeit im Umgang mit Sprache lesen lässt.«
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Seitenzahl: 297
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Ben Castelle
Antiquariat Abendroth
Roman
Über dieses Buch:
Fabian Abendroth betreibt in einer kleinen mitteldeutschen Stadt ein Antiquariat, das er allerdings nicht so sehr als Geschäft, sondern mehr als Arche begreift, in der bedeutende Bücher vor der Sintflut sprachlicher Belanglosigkeit gerettet werden sollen. Seine Bücher stehen daher mehr unter Schutz als zum Verkauf. Als ein Investor die ganze Stadt zum Sport-Outlet machen möchte und dafür reihenweise Ladenlokale erwirbt, fühlt sich Fabian Abendroth plötzlich von allen Seiten bedrängt, sein Geschäft aufzugeben. Und als ihn dann auch noch die Vergangenheit einholt, scheint sein ungewöhnliches Antiquariat endgültig dem Untergang geweiht.
»Ein Roman, der sich nicht zuletzt auch als kritische Parabel auf unsere moderne Mediengesellschaft und unsere zunehmende Bewusstlosigkeit im Umgang mit Sprache lesen lässt.«
Impressum
© 2022 Ben Castelle
Umschlag, Illustration unter Verwendung eines Bildes von Guilherme Rossi/Pexels.
ISBN
Softcover:
978-3-347-59546-0
Hardcover:
978-3-347-59547-7
E-Book:
978-3-347-59548-4
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
für Martina und Anna
1
Pünktlich um zehn Uhr stieg Fabian Abendroth die schmale Wendeltreppe aus seinen hellen Wohnräumen hinab in die dunklen Verkaufsräume seines Antiquariats. Sein Ziel war die gläserne Eingangstür, die er stets um diese Zeit für die Kunden aufschloss.
Vor der Tür stand ein Paket. Der Postbote war also schon dagewesen. Fabian Abendroth hob den Karton von der Gummimatte empor, blickte einmal über die Straße und grüßte den Caféhausbesitzer Krüger, genannt Printen-Krüger, der gerade eine gelbe Markise über Tische und Stühle im Außenbereich seines Cafés entrollte und so tat, als ob er Fabian Abendroth nicht sähe. Dann nahm er das Paket mit ins Haus und stellte es auf einen schwarz geölten mit Türornamenten versehenen Eichenholzschreibtisch im hinteren Teil seines Ladens.
Das Paket war vollgestopft mit Zeitungspapier. Fabian Abendroth warf die zerknüllten Papierfetzen in den Bastkorb, der unter dem Schreibtisch stand, und legte schließlich drei Bücher frei. Hamanns Aesthetica in nuce von 1760 in einer Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert, Wilhelm von Humboldts Schriften zur Sprache in einer Leseclub-Version aus der Neuzeit, und den ersten Band aus Bruno Liebrucks sechsbändigem Werk Sprache und Bewusstsein aus den 1960er Jahren.
Bevor Fabian Abendroth für jedes der Bücher eine blaue Karteikarte auszufüllen gedachte, nahm er jeden Band einmal kurz in die Hand, blätterte ihn wie ein Daumenkino an und hielt seine Nase über die Seiten. Jedes Buch hatte seinen eigenen Duft. Und dieser Duft konnte viel über die Vorbesitzer verraten. Alte Bücher, die stets trocken gelagert worden waren, dufteten zuweilen nach Schokolade. Doch über diesen Grundduft legten sich gern Fremddüfte. Hamanns Aesthetica beispielsweise wies einen dezenten Fliedergeruch auf, und sogleich dachte Fabian Abendroth an eine alte Schlossbibliothek, in der zuletzt eine gehbehinderte aristokratische Dame die Bücher regelmäßig entstaubt hatte, bevor sie starb und ihr Nachlass von den Enkelkindern im Internet veräußert worden war. Humboldt hingegen atmete einen leichten Zigarrenduft. Wahrscheinlich hatte er jahrelang bei einem Professor in der Studierstube gestanden und mit ansehen müssen, wie der Professor vom Jungordinarius zum Emeriten wurde. Nach rein gar nichts hingegen roch das dunkelgrüne Buch von Bruno Liebrucks. Fabian Abendroth wunderte sich und ließ seine Nase ein zweites Mal über die Seiten gleiten. Nichts.
Alle drei Bücher hatten den Test auf jeden Fall bestanden. Das war nicht immer so. Manchmal roch ein Buch so streng nach Zigarettenqualm, dass es für drei Wochen auf den Dachboden verbannt werden musste, um dort quasi in strenger Quarantäne auszulüften. Fabian Abendroth hatte auch schon Bücher erstanden, die nach Krankenhaus und Tod gerochen hatten. Auch diese mussten zunächst auf den Dachboden. Waren sie nach drei Wochen immer noch olfaktorisch ungenießbar, kamen sie in die Grabbelkiste, die vor dem Laden stand, um der Laufkundschaft angedient zu werden. In dieser Angelegenheit war Fabian Abendroth gnadenlos. Ein schlecht riechendes Buch war etwas ganz und gar Unmögliches. Er glaubte, einmal gelesen zu haben, dass im Hebräischen die Worte Geist und Duft denselben Wortstamm besaßen. Seither fühlte er sich in seiner Radikalität, was das Aussortieren übelriechender Bücher anging, nur noch mehr bestätigt.
Fabian Abendroth setzte sich an seinen Schreibtisch, zog eine der schwergängigen Schubladen ein Stück weit heraus und entnahm dort drei Karteikarten. Er griff zu einem angespitzten Bleistift und wollte gerade die Namen der Neuerwerbungen eintragen, als die Türglocke kräftig anschlug. Am Klingeln erkannte er, dass es Bella war, die italienische Eisverkäuferin, die ihr Eiscafé drei Häuser weiter betrieb. Alle normalen Menschen verursachten beim Betreten des Antiquariats nur ein leises und dezentes Klingelgeräusch, das durch eine kleine japanische Glocke ausgelöst wurde, die an der Eingangstür hing. Bella hingegen erzeugte stets ein volltöniges Festtagsgeläut, als ob sie die Tür beim Eintreten kräftig durchrüttelte.
Fabian Abendroth sprang auf und verschwand rasch in den hinteren Bereich seines Antiquariats, um den Anschein zu erwecken, er sei dort mit irgendeiner wichtigen Arbeit beschäftigt. Kaum hatte Bella den Laden betreten, da rief sie auch schon: »Wo hältst du dich versteckt, du gottverdammter Bücherwurm? Hat dich beim Staubwischen endlich eine Goethe-Gesamtausgabe unter sich begraben oder machst du mit runtergelassenen Hosen den Adler in der Jung- und Freud-Abteilung?«
Fabian Abendroth fragte sich, ob Bella ganz bewusst einen schlüpfrigen Scherz gemacht hatte oder ob ihr dieser nur so herausgerutscht war. Bestimmt war er ihr nur herausgerutscht, dachte er, denn es erforderte ja schon einiges an rascher metaphorischer Imaginationsleistung, wenn man die Namen Adler, Jung und Freud in ihrer Vieldeutigkeit zu erkennen und dann auch noch scherzhaft anzuwenden vermochte, mal abgesehen davon, dass es im gesamten Antiquariat kein einziges Buch dieser drei Herren gab.
Obwohl er keinen Mucks von sich gab, ließ Bella sich nicht so leicht abwimmeln. Mit der Stimme einer Psychopathin flüsterte sie singend: »Ich weiß, dass du hier bist«, während sie Schritt um Schritt näherkam. Schließlich hatte sie Fabian Abendroth am Regal für russische Literatur des 19. Jahrhunderts aufgespürt, zu dem er blindlings gehechtet war.
»Ach Bella, hallo, ich habe dich gar nicht reinkommen hören«, sagte Fabian Abendroth, als ob das Verrücken von Büchern ihm eine dermaßen hohe Konzentrationsleistung abverlangte, dass er die Welt um sich herum einfach vergessen hatte. Bella fiel auf diese Masche nicht herein, sondern kam direkt zu ihrem Anliegen: »Da sind ein paar seltsame Typen in der Stadt, einer mit ner Bibelverkäufer-Visage, der andere so mehr Marke Prochnow, dazu ne Ablenkungs-Blondine im Ultraminirock. Ich sag dir, die führen nichts Gutes im Schilde. Waren die schon bei dir?«
Während Fabian Abendroth verneinte und Turgenjew mit Dostojewski die Plätze tauschen ließ, nur um Tätigkeit vorzutäuschen, echauffierte sich Bella immer mehr: »Ich sage dir, da läuft irgendetwas Schräges. In der letzten Stadtratssitzung gab es jede Menge Tagesordnungspunkte, die nicht öffentlich waren, und alle betrafen sie die Zukunft unseres Städtchens. Es ging um Dinge wie Aufwertung der Verweilqualität, Erhöhung der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer, Vorstellung eines neuen gastronomischen Konzepts für die Innenstadt und vor allem um Ideen für ein zukünftiges Stadtmarketing.«
»So, so, sehr interessant«, erwiderte Fabian Abendroth, während er Turgenjews Väter und Söhne in der linken Hand und Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus in der rechten Hand hielt. Seine lapidare Antwort reizte Bella nur noch mehr.
»Während du hier mit Altpapier spielst, wird draußen die Stadt verkauft. Wann wirst du endlich wach und hilfst, das zu verhindern?«
Fabian Abendroth antwortete, dass er zurzeit hellwach sei, ihre Ausführungen jedoch sehr ermüdend fände. Daraufhin griff Bella zu Gontscharows tausendseitiger Schlucht und wollte dieses Mammutwerk allem Anschein nach mit Schwung auf Fabians Schädel niedersausen lassen, doch konnte dieser mit seinem Slawophilen und seinem Westler in der Hand noch rasch Gegenwehr leisten und den Schlag abwehren, was allerdings dazu führte, dass die Schlucht sich öffnete und zu Boden fiel, wobei einige Seiten arg geknickt wurden.
»Scheiße, das wollte ich nicht«, sagte Bella versöhnlicher und hob das Werk sogleich vom Boden auf, um die Seiten wieder zu glätten. »Lass nur«, erwiderte Fabian Abendroth, »ich mach das nachher in Ruhe, habe ja sonst nichts zu tun.«
»Im Ernst«, erwiderte Bella, während sie das Buch auf eine Ablage legte, »ich habe da ein ganz mieses Gefühl.«
»Was soll schon sein?« versuchte Fabian Abendroth sie zu beruhigen, während sein Blick zugleich sorgenvoll zu Gontscharow glitt, »wahrscheinlich suchen diese Leute nur ein Ladenlokal für ihr neues Gastronomiekonzept zwecks Erhöhung der Verweilqualität.«
Davon wollte Bella nichts wissen. »Wir haben hier genug Restaurants und Cafés«, zeterte sie los, »am Ende ist für niemanden mehr etwas zu holen.«
Fabian Abendroth überlegte, ob er den Satz »Konkurrenz belebt das Geschäft« äußern sollte, unterließ es aber, da ihm dieser zu phrasenhaft erschien, zum anderen aber hatte er Angst, Bella könne erneut handgreiflich werden. Also riss er sich zusammen und sagte stattdessen: »Du solltest dir nicht zu viele Sorgen machen. Vorhaben, die noch nicht oder nur ungenügend zur Sprache gekommen sind, interpretiert man meistens falsch.«
Bella sah ihn fragend an und verdrehte die Augen. »Gut«, sagte sie schließlich, »dann warte mal schön ab, bis dir der Untergang unseres Städtchens als Roman vorliegt und du dir einen Reim darauf machen kannst. Ich werde lieber versuchen, eine der Hauptrollen in diesem Krimi zu spielen und alles tun, damit die Geschichte am Ende nicht böse ausgeht.«
Fabian Abendroth machte eine galante Bewegung, die sowohl: »Mach das, meinen Segen hast du«, heißen konnte, als auch: »Wie kann man nur so grundlos aufgeregt sein?«
Doch bevor Bella Fabian Abendroth in Ruhe ließ, nahm sie ihm noch das Versprechen ab, ihr sofort Bescheid zu geben, sobald das Trio Infernale auch seine staubige Lokalität heimgesucht haben würde. »Und schau den Typen in die Augen«, sagte sie schon halb auf der Straße, »und nicht nur der Blondine auf den Hintern!«
2
Die plötzliche Ruhe nach Bellas Abgang umspülte Fabian Abendroth wie das Wasser in einem Freibad, das den Körper nach einer vorangegangenen kalten Dusche plötzlich angenehm warm zu umschmeicheln scheint. Er atmete auf und trug Gontscharow hinüber zum Schreibtisch, um nachzusehen, wie schwer das Buch beschädigt war. Aber der Russe schien hart im Nehmen. Dank seines enormen Eigengewichts übernahm er selbst die Glättung seiner verknickten Seiten.
Fabian Abendroth erinnerte sich daran, dass die Schlucht der letzte große Roman von Gontscharow gewesen war. In seinen noch folgenden einundzwanzig Lebensjahren hatte er der Literatur den Rücken gekehrt und nur noch seine Memoiren geschrieben. Und das nur, weil die Kritiker seine Schlucht mit Sprachmüll gefüllt hatten. Man warf ihm vor, von einem Liberalen zum Konservativen geworden zu sein. Dieser banale Vorwurf, der rein politisch motiviert und mit einem literaturkritischen Urteil rein gar nichts zu tun gehabt hatte, reichte offensichtlich aus, um diesen Mann zum Schweigen zu bringen. Der Autor selbst war also nicht so hart im Nehmen gewesen wie sein Buch. Allerdings wurde sein Buch noch immer gelesen, während sich an die Kritiker von damals nur noch einige Experten erinnerten. Literatur, so dachte Fabian Abendroth, hat grundsätzlich immer einen längeren Atem als ihre Kritiker, weil sie, wie nur der Lesende weiß, in Wahrheit nichts von alldem sagt, was manche Rezensenten ihr als politische Meinung unterstellen.
Fabian Abendroth füllte gewissenhaft die drei blauen Karteikarten für die Neuzugänge aus und sortierte zwei von ihnen in das für sie vorgesehene Regal ein. Mit dem Hamann-Buch begab er sich sodann in die hinteren Räumlichkeiten seines Antiquariats, wo sich ein kleines Sprossenfenster befand, durch das man einen schönen Ausblick auf das mittelalterliche Bild der Stadt hatte, genauer auf die kleinen bunten Fachwerkhäuser mit ihren Ladenlokalen sowie auf das glattgetretene Kopfsteinpflaster, das in der Ferne in das Halbrund des Marktplatzes mündete. Mitten durch die Stadt floss seit jeher der Fluss, der neben der Hauptdurchgangsstraße sein tiefergelegtes Bett besaß, nur noch an wenigen Stellen zu Tage trat und statt frei zu rauschen nur hier und da in der Tiefe gurgelte. Legte man den Kopf etwas in den Nacken, dann konnte man über die Fachwerkhäuser hinweg auf den alten Wehrgang der Stadtmauer blicken, auf dem manchmal ein paar Touristen unterwegs waren, die mit ihren Smartphones Bilder von den bunten Dächern des Städtchens machten. Und wenn man den Kopf noch etwas höher hob, dann sah man die alte Burg, die über allem thronte und bei Nacht mit modernen LED-Scheinwerfern angestrahlt wurde. Wenn man genau hinsah, dann erkannte man aber, dass der größte Teil der Burg nur aus grauen Betonklötzen bestand, die das alte efeuumwachsene Gemäuer zu stützen und auszufüllen versuchten, da von diesem nicht mehr allzu viel vorhanden war.
Vor dem kleinen Sprossenfenster standen ein Tisch und ein Stuhl. Fabian Abendroth setzte sich und schlug das Buch auf. Er blätterte ein wenig darin herum. Er hatte dieses Buch vor einigen Jahren schon einmal in einer Taschenbuch-Ausgabe gelesen, die aber eines Tages doch noch überraschend einen Abnehmer gefunden hatte. Während er einige Sätze las, erinnerte er sich wieder an den besonderen Tonfall Hamanns. Da gab es Sätze, die man auch nach zehn Mal lesen nicht verstand, und andere, die man nie im Leben wieder vergaß. Zum Beispiel den Satz: »Rede, dass ich dich sehe!« Über diesen Satz hatte Fabian Abendroth schon sehr oft nachgedacht. Zuletzt als er vor einigen Jahren die Bekanntschaft mit Bella Mancini gemacht hatte. Er hatte die Italienerin zunächst nur von weitem gesehen, als sie mit ihrem Mann Raffaele das Eiscafé einrichtete. Sie trug enge Jeans und darüber ein rotes Holzfällerhemd, die langen dunkelbraunen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten. Und obwohl sie von ihrer Kleidung her geradezu unscheinbar erschien, war Fabian Abendroth sogleich von ihrem Äußeren begeistert gewesen. Ihre Art, eine Leiter zu tragen oder einen schweren Farbeimer, hatte ihn so begeistert, als ob er einer Schauspielerin auf der Bühne zusah, die jede Bewegung bewusst und nach einer festgelegten Choreografie ausführte. Dann wurde das Eiscafé eröffnet und Bella Mancini hatte sich dazu kräftig mit Designergarderobe und Schminke herausgeputzt, was ihre angeborene Schönheit wohl noch betonen sollte. Doch für Fabian Abendroth war das zu viel des Guten gewesen, so als ob man ein Meisterwerk der Malerei mit einem von Ornamenten überbordenden goldenen Rahmen ausstaffiert oder in einem Buch bedeutende Sätze dick unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen versehen hätte. Das Offensichtliche sichtbar zu machen, empfand er als geschmacklos. Ein paar Tage später stand Bella dann plötzlich in seinem Laden. Damals war sie das erste und letzte Mal leise eingetreten, fast wie in eine Kirche, und stand da wie ein schüchterner Teenager, der sich um eine Praktikumsstelle bewerben möchte und nicht weiß, was er sagen soll. Ein wenig erschrocken blickte sie auf all die Bücher, die in den Regalen standen oder zu Türmchen gehäuft am Boden und auf Tischen lagen. Verlegen strich sie sich dabei durchs Haar. Fabian Abendroth stand von seinem Platz hinter seinem Schreibtisch auf und ging ihr entgegen. Er fühlte, wie sein Herz schlug, denn dieser erste sprachlose Moment zwischen ihnen beiden war so überwältigend, dass er für einen Moment fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Doch traf das nur auf ihn zu, weil für ihn gewissermaßen aus allen nichtgesagten Worten ein irisierendes Universum an Möglichkeiten aufleuchtete. In dem Moment aber, da Bella zu sprechen begann, implodierte dieses Universum, schrumpfte zusammen und verschmolz rasch zu einer Wirklichkeit, der alle Farben auf einen Schlag entwichen waren.
»Hier riecht es nach Staub«, sagte Bella, »vielleicht kann man mal ein Fenster öffnen? Sind Sie auch gerade erst eingezogen? Glauben Sie mir, wenn der Plunder erstmal raus ist, sind diese alten Dunkelkammern gar nicht so schlecht. Wir haben einen Durchbruch gemacht, das hat Platz gegeben. Was wollen Sie denn hier eröffnen? Ach, ich vergaß, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Bella Mancini, wir sind jetzt Nachbarn. Mein Mann und ich haben das Eiscafé eröffnet. Kommen Sie uns doch mal besuchen. Ich lade Sie herzlich ein. Mein Mann ist ein echter Eiskünstler. Wir haben Superfood-Eis, Gurkeneis mit Dill und Austernwasser, Eis mit Brunnenkresse, Matcha-Tee-Eis und für exquisite Feinschmecker sogar Gefrorenes mit Büffelmozarella.«
»Auch Schokoladeneis?« fragte Fabian Abendroth kaum hörbar.
»Selbstverständlich auch Schokoladeneis.«
»Dann komme ich vielleicht demnächst mal vorbei«, versprach Fabian Abendroth, obwohl er schon seit zwanzig Jahren kein Eis mehr gegessen hatte.
»Sehr schön, ich freue mich«, sagte Bella Mancini, und da sich zwischen ihr und dem merkwürdigen Fremden keine weitere Unterhaltung entspinnen wollte und sie auch nicht mehr ganz sicher war, ob die Bücher nicht doch mehr bedeuteten als ein Haufen Restmüll vom Vormieter, gab sie Fabian Abendroth einmal kurz die Hand und verabschiedete sich wieder.
»Rede, dass ich dich sehe!« las Fabian Abendroth jetzt nochmals und musste lächeln. Zu Beginn, dachte er, besteht ein uns unbekannter Mensch also aus lauter Möglichkeiten, positiven wie negativen, doch dann sagt er ein paar Sätze und die vielen Möglichkeiten gerinnen zu einer einzigen sichtbaren Wirklichkeit, so wie beim Bleigießen, wenn das siedende Blei, aus dem alles werden könnte, im kalten Wasser nur eine einzige zufällige Form annimmt und darin erstarrt. Manchmal allerdings, so muss man zugeben, ist die Form auch überraschend und man schämt sich fast, diese mögliche Gestalt zuvor nicht in Betracht gezogen zu haben.
Seit diesem ersten Treffen war Bella Mancini für Fabian Abendroth nur noch eine Nachbarin, die ihm zuweilen auf die Nerven fiel. Das hieß nicht, dass er sie nicht mochte, aber da war nichts mehr von dem Zauber, der sie am Anfang umgeben hatte, ein Zauber, den er sich natürlich selbst geschaffen hatte und für dessen Verschwinden Bella Mancini nicht im Geringsten verantwortlich war. Denn nicht Bella Mancini hatte ihn enttäuscht, er hatte sie enttäuscht, und zwar in seinem eigenen Kopf. Wobei er sich fragte, warum er mit einer Enttäuschung nicht besser zurechtkam als mit einer Täuschung. Ja, eine Enttäuschung ist doch eigentlich etwas Positives, dachte er, weil sie einen von etwas befreit, das nur Lug und Trug ist.
In diesem Moment sah Fabian Abendroth, wie das Trio Infernale aus einem der gegenüberliegenden Häuser trat. Es kam aus dem kleinen Haushaltsgeschäft von Frau Peters, die dort seit ewigen Zeiten und von Jahr zu Jahr weniger erfolgreich Töpfe, Pfannen, Gläser, Mixer in angestaubten Kartons und ab und an sogar noch eine Espressomaschine aus Aluminium verkaufte. Das Trio blieb stehen, lächelte und klatschte sich dann ab, wie Fußballspieler, die sich darüber freuen, einen Ball im gegnerischen Tor versenkt zu haben. Bella hatte Recht gehabt: Der eine von ihnen sah mit seinem weichen Gesicht und den großen Kulleraugen aus wie ein Bibelverkäufer. Der andere, der Bella wohl aufgrund seines männlich verwitterten Gesichts an den Schauspieler Prochnow erinnert hatte, war ebenfalls mit dieser Bezeichnung hinreichend beschrieben. Und als Fabian Abendroth beim Betrachten der jungen Frau schließlich auch noch an Bellas Bezeichnung Ablenkungs-Blondine im Ultraminirock denken musste, lachte er einmal laut auf und kam anschließend aus dem Kichern gar nicht mehr heraus, so dass er es nicht mehr schaffte, sich erneut in den Hamann-Text zu vertiefen.
3
Das Antiquariat Abendroth war kein gewöhnliches Antiquariat. Das lag zum einen daran, dass man nicht genau abschätzen konnte, wie groß es eigentlich war. Früher einmal war in diesem Haus Wein verkauft worden. Das Haus stand an einem Felshang, und es gab einen tief in den harten Fels geschlagenen Weinkeller, über dessen Größe in der Stadt nur Gerüchte im Umlauf waren, weil seit der Bombardierung durch die Alliierten niemand mehr in diesem Keller Schutz gesucht hatte. Und diejenigen in der Stadt, die sich an den Keller noch erinnern konnten, waren mittlerweile sehr alt und rar geworden.
Es gab aber bis heute zuweilen allerhand Vermutungen darüber, welche Bücher Fabian Abendroth in der einstigen Weinhöhle wohl aufbewahrte. Allerdings zeugten diese Vermutungen meist nur von einer banalerotischen Phantasie, da diejenigen, die diese Überlegungen meist nach dem Genuss von ein paar Gläsern Bier anstellten, keinerlei Ahnung von der Literaturgeschichte hatten und somit auch nicht von Büchern, die ihnen auch im nüchternen Zustand rote Ohren verschafft hätten. Auch hieß es zuweilen, dass manche Kunden, die sich zu weit ins Innere des Antiquariats vorgewagt hätten, nie wieder herausfanden, aber das war selbstverständlich Unsinn. Zum anderen aber war das Antiquariat Abendroth ungewöhnlich, weil es wenig Interesse daran zu haben schien, die Bücher, die es beherbergte, auch zu verkaufen. Der Besitzer selbst verglich das Antiquariat gern mit einer Arche, in der ausgewählte Buchexemplare vor der globalen Sintflut bedeutungsloser Information gerettet werden sollten. Während die Welt draußen in einem Meer der Sprachlosigkeit ertrank, an ihren Tatsachen und Fakten, ihren Phrasen, Behauptungen und all dem Gestammel in den sogenannten sozialen Netzwerken, kurz: an ihrer bewusstlosen und instrumentalisierten Logorrhöe, fanden sich im Antiquariat Abendroth jene Bücher wieder, die diesem Gerede mit jedem Satz entgegenwirken wollten. Doch in einer Welt, in der alles redete und keiner mehr zuhörte, blieb ihnen nur, auf bessere Tage und jenen Regenbogen zu warten, der ihnen das Ende der Flut verhieß. Alles in allem war das selbstverständlich ein aussichtsloses Unterfangen, das früher oder später zu einem katastrophalen Schiffbruch würde führen müssen. Doch darüber dachte der Kapitän dieser eigenwilligen Arche, die seit vielen Jahren positionslos in den Fluten der sie umgebenden Sprachbewusstlosigkeit kreuzte, nur ungern nach.
Wenige Ausnahmen abgerechnet waren immer dieselben Bücher an Bord des Antiquariats Abendroth.Ging ein Exemplar von ihnen über Bord, das heißt: wurde es doch eines Tages verkauft, so besorgte der Kapitän sogleich ein neues, ein Unterfangen, das sich allerdings von Jahr zu Jahr als schwerer herausstellte, da die bedeutenden Bücher nach und nach aus der Welt verschwanden und nicht wieder aufgelegt wurden. Sie eigneten sich nicht zum kulturindustriellen Massenprodukt oder, wie ein gelernter Buchhändler sich ausdrücken würde, mit ihnen war keine lohnenswerte Marge zu erzielen.
Fabian Abendroth galt in der Stadt als Sonderling. Beim monatlich von der Stadtverwaltung organisierten Unternehmerfrühstück, das laut dem Bürgermeister der Netzwerkbildung und dem Austausch der Geschäftsleute dienen sollte, traf man ihn nie an. Auch war er Mitglied in keiner Partei, brachte sich nirgends ein, gehörte zu keinem Verein und blieb, was man ihm besonders ankreidete, Jahr für Jahr über die Karnevalstage spurlos verschwunden. Dabei war Fabian Abendroth keinesfalls ein Zugezogener, der mit den Traditionen der Stadt nicht vertraut und daher zum Außenseiter prädestiniert war. Nein, im Gegenteil, er war hier aufgewachsen, hatte seine Kindheit und seine Schulzeit bis zum Abitur in dieser Stadt verlebt, kannte sämtliche alteingesessenen Familien, kannte ihre komplexen Verstrickungen untereinander, wusste Bescheid über die besonderen Ereignisse seiner Vaterstadt, kurz: Er kannte die soziale, politische und kulturelle Geschichte seines Heimatortes weitaus besser, als mancher, der erst kurze Zeit hier lebte und sich bereits als Karnevalsprinz hatte feiern lassen. Aber dennoch löste er sich freiwillig jedes Jahr ein wenig mehr von dieser ihm quasi durch Geburt verliehenen Dazugehörigkeit. Schon von seinem Vater behauptete man, er sei ein merkwürdiger Zeitgenosse gewesen, ein unnahbarer Eigenbrötler, der sein von den Eltern übernommenes Weingeschäft mehr schlecht als recht bis in die Mitte der achtziger Jahre geführt und jede Modernisierung abgelehnt hatte. Auch der Vater war sämtlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen aus dem Weg gegangen. Er galt als verschroben, als jemand, mit dem man nicht richtig warm werden konnte. Zwar war er, genau wie Fabian, im direkten persönlichen Umgang nicht unsympathisch, aber in der Gemeinschaft leider zu nichts zu gebrauchen. Ganz anders Fabians Mutter. Sie war eine ungemein herzliche Frau, die für jeden ein offenes Ohr hatte, der Kirche sehr nahe stand, Wohltätigkeitsveranstaltungen organisierte und alles in allem sehr lebensfroh war. Aber an Fabians Mutter konnten sich heute nur noch die älteren Stadtbewohner erinnern. Frau Peters aus dem Haushaltswarengeschäft beispielsweise, die mit ihr zusammen viele Jahre im Kirchenchor gesungen hatte.
4
Im Eingangsbereich türmten sich in der bereits heißen Sonne des Vormittags Römertöpfe, Auflaufformen, gusseiserne Pfannen, Brotschneidemaschinen und stapelweise Topflappen mit Sprüchen aus der Welt von gestern: Eigener Herd ist Goldes wert. Eine gute Küche ist das Fundament allen Glücks. Die Königin der Kochrezepte ist die Phantasie.
Drinnen machte neben Kaffeetassen mit Goldrand und Desserttellern mit handbemalten Vögelchen, die auf leichten Gartentischchen drapiert waren, vor allem ein buntes Sammelsurium aus feinsten Porzellan-Kaffeekannen auf sich aufmerksam. Museumsstücke in einer Welt der Kaffeevollautomaten. Frau Peters musste irgendein geheimes Zeichen erhalten haben, denn plötzlich flog schwungvoll ein weinroter Vorhang zur Seite und sie stand im blauen Nylonkittel vor Fabian Abendroth.
»Ach du bist es nur«, sagte sie und strich ihre nassen Hände am Kittel ab, »lange nicht gesehen, was macht das Geschäft?«
»Wollen wir auf diese rhetorische Frage nicht verzichten?« fragte Fabian Abendroth und überlegte, ob nicht auch dies bereits eine rhetorische Frage war.
»Ja, gern, dann braucht man auch nicht zu lügen«, antwortete Frau Peters und lächelte charmant.
»Ebendrum.«
»Aber vielleicht wird jetzt alles besser. Waren sie auch schon bei dir?«
»Du meinst dieses Trio, das gerade durch die Stadt schleicht? Genau deshalb bin ich hier.«
»Ja, sehr nette Leute, wollen investieren im ganz großen Stil. Stell dir vor, Fabian, die möchten so viele Ladenlokale wie möglich kaufen oder mieten, um hier in der Stadt Sportartikel mit kleinen Schönheitsfehlern zu verkaufen. Sie nennen das … ja, wie nennen sie das noch gleich? Outbreak?«
»Vielleicht eher Outlet?«
»Ja, richtig, so heißt das. Für mich wäre das ideal. Ich könnte endlich meinen Laden schließen und dafür noch eine monatliche Miete kassieren, um meine kleine Rente aufzubessern. Ich gehe ja schon auf die achtzig zu, da muss man sich langsam Gedanken über seinen Ruhestand machen. Und mal ehrlich, das Zeug in meinem Laden will doch sowieso keiner mehr haben. Ich habe hier Kaffeekannen, die sind noch aus den siebziger Jahren, dekoriert mit Blümchenmuster. Manchmal kommen junge Leute und kaufen so etwas als Scherzartikel für Freunde. Das tut mir dann in der Seele weh.«
»Wenn aber in allen Geschäften Sportartikel verkauft werden, wo kauft man dann die Dinge des täglichen Bedarfs?«
»Im Internet. Da kaufen die Leute doch heute sowieso alles. Sogar alte Bücher, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.«
»Da hast du recht. Aber dennoch stelle ich mir das etwas langweilig vor, wenn in allen Auslagen demnächst das Gleiche ausliegt.«
»Wanderbekleidung, Sportschuhe, Tennisschläger, Eiweißdrinks, Kraftmaschinen, Trikots …«
»Du bist ja bereits gut informiert.«
»Die werden dich bestimmt auch fragen. Überlege es dir. Die zahlen dir mehr Miete, als du jetzt durch den Buchverkauf verdienst. Oder du verkaufst gleich dein ganzes Haus und suchst dir mit dem Geld irgendwo ein schickes Appartement.«
»Für mich ist das alles nichts.«
»Die Chance kommt vielleicht nicht noch einmal wieder.«
»Verpasste Chancen pflastern meinen Weg.«
»Ach du.«
»Mal ehrlich: erst Wein, dann Bücher und demnächst Joggingschuhe?«
»Jeder muss sehen, wo er bleibt.«
»Ich bleibe lieber da, wo ich etwas sehe.«
Frau Peters lachte herzlich. »Als ob dein Vater vor mir stünde. Nur nichts Neues wagen.«
»Oh, ich wage täglich Neues«, erwiderte Fabian Abendroth.
»Du liest vielleicht täglich ein neues Buch, aber du solltest dir lieber mal eine Freundin zulegen, bevor du zu alt dafür bist.«
»Danke für den Hinweis.«
»Ich meine es nur gut.«
»Ich weiß, aber Frauen kann man nicht einfach so im Internet bestellen.«
»Kann man wohl.«
»Okay, dann versuche ich es mal dort.«
»Im Ernst, Fabian. Uns allen läuft die Zeit davon. Übrigens solltest du mal wieder auf den Friedhof gehen. Das Grab deiner Eltern ist in einem sehr desolaten Zustand. Alle Pflanzen sind vertrocknet. Das macht keinen guten Eindruck.«
»Es ist Sommer, da denke ich naturgemäß nicht an den Friedhof.«
»Na, am Sommer liegt es wohl kaum. Normalerweise gieße ich ja für dich mit, wenn ich meinen Mann besuche, aber augenblicklich schmerzen mir wieder die Knie.«
»Warum sagst du das nicht gleich. Ich erledige die Gießerei. In der Mittagspause setze ich den ganzen Friedhof unter Wasser. Verlasse dich auf mich!«
»Ich nehme dich beim Wort.«
5
Natürlich würden sie ihm die Blondine im Minirock vorbeischicken. Sie würde etwas mit den Augen klimpern und versuchen, ihn um den Finger zu wickeln. Aber darauf würde er nicht hereinfallen. Er begann bereits nach guten Gründen zu suchen, warum er sein Geschäft nicht verkaufen oder vermieten wollte, als ob ein einfaches Nein nicht ausgereicht hätte. Warum sollte er sich rechtfertigen? Vor einem fremden Menschen? Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit. Er würde die Dame direkt wieder hinauswerfen. Warum sollte man Zeit verschwenden? Wer weiß, ob aus dieser fixen Idee überhaupt etwas werden konnte. Die ganze Stadt ein Sport-Outlet. Das war doch albern.
Fabian Abendroth wanderte bereits seit einer guten halben Stunde durch das Antiquariat. Er ging von der Belletristikabteilung bis in die hintersten Reihen der Sprachdenker und -philosophen und wieder zurück, vorbei an den deutschen, englischen, russischen, französischen, polnischen, tschechischen und all den vielen anderen europäischen Autoren, die ihm bei diesem Treiben ungerührt von den Regalbrettern aus zusahen, als ob sie für Fabian Abendroths Probleme nicht das geringste Verständnis aufbrächten. Als ihm bewusst wurde, dass er wie ein Raubtier im Käfig auf und ab ging, dachte er an Rilkes Panther-Gedicht und dichtete einen der bekannten Verse um: »Ihm ist, als ob es tausend Bücher gäbe / und hinter tausend Büchern keine Welt« und ärgerte sich, dass er im Kopf über Dinge nachdachte, die es nicht wert waren, dass man ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte.
In der Mittagspause begab er sich, wie er es Frau Peters versprochen hatte, auf den Friedhof, akquirierte gleich zwei der neongrünen Kannen für sich, ließ sie am Zapfautomaten volllaufen und schleppte sie zum Grab seiner Eltern. Frau Peters hatte Recht, die Pflanzen sahen nicht mehr gut aus. Aber er bezweifelte, dass hier noch Wasser die Rettung bringen könnte. Die Heide war verdorrt. Das kleine japanische Ahornbäumchen hatte seine Blätter verloren, die zusammengerollt zwischen der Heide lagen, und nur der Efeu präsentierte sich im frischen Grün. Allerdings hatten seine lianenartigen Ausläufer den Grabstein gleich mehrfach umwunden, so dass man nicht mehr lesen konnte, wer in diesem Grab seine letzte Ruhe gefunden hatte. Fabian Abendroth borgte sich eine Pflanzenschere, die er hinter einem der Nachbargrabsteine unter einem kopfstehenden Eimer fand, befreite den Grabstein seiner Eltern vom Efeu, entfernte die vertrockneten Ahornblätter, wässerte das Grab sehr ausgiebig, bis das Wasser auf den Gehweg flutete und hoffte, dass die Heide sich noch einmal erholte. Dann ging er erneut mit beiden Kannen zum Wasserspender und füllte sie für das Grab von Herrn Peters. Doch es gab ein Problem. Fabian Abendroth hatte keine Ahnung, wo sich dieses Grab befand. Er schleppte die schweren Kannen von einer Grabreihe zur nächsten. In der Mittagshitze brach ihm der Schweiß aus. Er las so viele Namen, in Stein geschlagen, aus Bronzebuchstaben zusammengesetzt oder tief in Marmorplatten hineingeätzt und geweißt, dass ihm schwindlig wurde. Fast alle Namen klangen ihm vertraut, aber den Namen Peters las er nirgends. Dann plötzlich stand er vor einem sehr schmalen Grab, auf dem ein alter verwitterter Findling lag. Auf dem Stein stand der Name Susanne Sturm. Darunter die Jahreszahlen 1965-1985. Am unteren Ende des Findlings waren die Worte eingraviert: Die Erde verbirgt Dich, aber mein Herz sieht Dich noch immer. Fabian Abendroth wankte, die linke Kanne fiel ihm aus der Hand, schlug in den feinen Kies, der auf dem Weg lag, kippte zur Seite, und das Wasser floss ihm über die Schuhe. Als hätte er eine große Dummheit gemacht, blickte er sich auf dem Friedhof rasch zu allen Seiten um. Doch da war niemand, der sein Missgeschick hätte beobachten können, außer einer alten Dame, die abgeblühte Pflanzen aus der Kompostgrube rettete und keinen Blick für ihn hatte. Er griff nach der umgestürzten Kanne und ging weiter, bis er zu einer Holzbank kam, auf die er sich niederließ. Gut fünf Minuten blieb er dort sitzen und starrte reglos vor sich hin. Dann ging er zu der alten Dame und fragte, ob sie wisse, wo das Grab von Walter Peters wäre. Die alte Dame führte ihn zu dem Grab, und Fabian Abendroth ließ sogleich das Wasser aus der noch vollen Kanne über Pflanzen und Steinumrandung rieseln, bis alles im Sonnenlicht glitzerte.
Dann ging er zurück in sein Antiquariat, ließ sich erschöpft und durchgeschwitzt in einen der vielen Lesesessel fallen, die zwischen den Regalen standen, und saß dort lange Zeit wie versteinert, bis es ihn fröstelte. Er wollte gerade sein Hemd wechseln gehen, als er ein leises Klingeln an der Türglocke vernahm. Sogleich war ihm klar, dass es nicht Bella sein konnte, was ihn zunächst beruhigte, dann jedoch einen Schreck versetzte.
6
»Ich störe doch hoffentlich nicht«, sagte die junge Frau, die Fabian Abendroths Antiquariat betreten hatte und sich ungeniert und neugierig in alle Richtungen umsah.
»Sie wollen also kein Buch kaufen«, stellte Fabian Abendroth sachlich fest.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Nun, man geht nicht in einen Laden und fragt, ob man stört, das ist eine sehr ungewöhnliche Frage.«
»Sie haben mich aber rasch durchschaut.«
»Dann wünsche ich noch einen schönen Tag, denn alles andere außer den Büchern steht hier nicht zum Verkauf. Egal, wie Ihr Angebot aussieht.«
Die junge Frau, die zwei blaue Spangen im Haar trug, um sich ihre langen Haare aus dem leicht verschwitzten Gesicht zu halten, lachte laut und herzlich.
»Sie sind ja ein lustiger Mensch«, sagte sie schließlich. »Man könnte sagen, Sie fallen gleich mit der Tür ins Haus. Allerdings müsste man dann die Tatsache unbeachtet lassen, dass ich es ja war, die bei Ihnen eingekehrt ist.«
»Was Sie übrigens sehr behutsam gemacht haben.«
»Ich wollte mich keinesfalls einschleichen.«
»Nein, so war das auch nicht gemeint.«
»Aber woher wissen Sie, warum ich hier bin?«
»Wir sind eine kleine Stadt …«
»… die überall Ohren hat.«
»Ohren und vor allem Münder, um das Gehörte sogleich weiterzutratschen.«
»Sie mögen Ihre Mitbürger nicht sonderlich?«
»Könnten Sie diese Frage erst ein wenig später stellen?«
»Wann später?«
»Wenn Sie alle anderen gestellt haben, die Sie stellen möchten.«
»Ich glaube, ich störe Sie doch. Ich kann gern in den nächsten Tagen nochmal wiederkommen.«
»Jetzt sind Sie einmal hier, da können wir die Angelegenheit auch gleich aus der Welt schaffen.«
»Sie geben mir ein wenig das Gefühl, als ob ich Ihnen ein Zeitungsabonnement andrehen wollte.«
»Nein, ich weiß, Sie wollen mich retten vor dem Sozialamt, vor dem unausweichlichen finanziellen Niedergang meiner Existenz, und Sie wollen mir eine Perspektive bieten, die mir das Alter als rosig erscheinen lässt, statt es mir noch länger in dieser tristen grauen Farbe vorzustellen.«
»Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich? Mir ist ein wenig flau, ich bin seit heute Morgen auf den Beinen.«
»Ja, natürlich, setzen Sie sich. Da vorne ist ein Tisch. Ich hole rasch ein Glas.« Von einem auf den anderen Moment schien Fabian Abendroth plötzlich besorgt um seinen Besuch. Er verschwand rasch ins obere Stockwerk seines Hauses und kam wenig später mit einer Flasche Wasser, zwei Gläsern und einer Keksdose zurück. Die Frau hatte bereits Platz genommen, die gebräunten Beine übereinandergeschlagen und eine der blauen Spangen aus dem Haar genommen, die jetzt auf dem runden Bistrotisch lag, direkt neben einigen Büchern von Jean-Henri Fabre, die dort auf ihre Einsortierung warteten. Wahrscheinlich lag es an den Büchern des französischen Entomologen, dass Fabian Abendroth die blaue Spange an ein exotisches Insekt erinnerte.
»Ich könnte Ihnen auch einen Kaffee kochen«, sagte er, als er Flasche, Gläser und Keksdose auf den Tisch stellte.
»Danke, ein Glas Wasser reicht mir.«
»Haben Sie heute schon etwas gegessen?«
»Nein, dazu war noch keine Zeit.«
»Und? Wie viele Ladenbesitzer haben Sie bereits in der Tasche?«
Die Frau lachte wieder. »Sie verstehen das ganz falsch. Ich möchte Sie zu nichts überreden. Ich möchte Ihnen nur eine Idee vorstellen, eine Idee, durch die dieses Städtchen wieder mit Leben erfüllt werden könnte. Wenn Sie danach sagen, dass Sie dabei nicht mitmachen möchten, ist das ganz allein Ihre Angelegenheit. Aber vielleicht geben Sie mir eine kleine Chance.«
»Bitte, sprechen Sie, aber fassen Sie sich nach Möglichkeit kurz!«
Die junge Frau war es nicht gewohnt, ihr Anliegen quasi wie in einem Verhör darlegen zu müssen, und begann zu stottern und sehr umständlich zu erklären, warum sie gekommen war. Soviel verstand Fabian Abendroth, dass diese Frau nicht zu den potenziellen Investoren gehörte, sondern quasi nur eine Idee entwickelt hatte, deren Umsetzung jetzt auf Machbarkeit überprüft werden sollte. Sie schien diese Begriffe zu lieben: Umsetzung, Machbarkeit, Projektphase, Kontrollmanagement, Realisierungszeitraum,Metastudie