Nachtfalter - Ben Castelle - E-Book

Nachtfalter E-Book

Ben Castelle

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Beschreibung

Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau verlässt ein Mann sein Zuhause und unternimmt auf einer längeren ziellosen Wanderung den Versuch einer späten Selbstfindung. In acht langen Briefen und einem Stoß Karten, die er an seine Tochter schreibt, erinnert er sich an deren einstige Drogenkarriere, spricht erstmals über den Unfalltod seiner Frau und denkt vor allem zurück an eine in der Kindheit erlebte Bombennacht im Zweiten Weltkrieg, an deren katastrophalen Verlauf er eine Mitschuld trägt, die er sein ganzes Leben lang erfolgreich verdrängt hat. Die späte Selbstfindung des Mannes wird dabei zunehmend identisch mit dem Versuch, eine andere Sprache zu sprechen, um so zu einem anderen Bewusstsein über sich selbst und über sein Leben zu gelangen. Nachtfalter werden dabei Anlass der unmittelbaren Lebenserinnerung und verweisen gleichzeitig auf die andere Seite der Sprache, auf ihre Metaphorizität und Intentionslosigkeit, in die zurück- oder heimzukehren mehr und mehr das eigentliche Ziel des Wanderers zu werden scheint.

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Ben Castelle

Nachtfalter

Roman

Über dieses Buch:

Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau verlässt ein Mann sein Zuhause und unternimmt auf einer längeren ziellosen Wanderung den Versuch einer späten Selbstfindung. In acht langen Briefen und einem Stoß Karten, die er an seine Tochter schreibt, erinnert er sich an deren einstige Drogenkarriere, spricht erstmals über den Unfalltod seiner Frau und denkt vor allem zurück an eine in der Kindheit erlebte Bombennacht im Zweiten Weltkrieg, an deren katastrophalen Verlauf er eine Mitschuld trägt, die er sein ganzes Leben lang erfolgreich verdrängt hat.

Die späte Selbstfindung des Mannes wird dabei zunehmend identisch mit dem Versuch, eine andere Sprache zu sprechen, um so zu einem anderen Bewusstsein über sich selbst und über sein Leben zu gelangen. Nachtfalter werden dabei Anlass der unmittelbaren Lebenserinnerung und verweisen gleichzeitig auf die andere Seite der Sprache, auf ihre Metaphorizität und Intentionslosigkeit, in die zurück- oder heimzukehren mehr und mehr das eigentliche Ziel des Wanderers zu werden scheint.

Impressum

© 2018 Ben CastelleUmschlag, Illustration: Ben Castelle unter Verwendung von zwei Zeichnungen aus: W. Furneaux, F.R.G.S.: Butterflies and Moths. London/New York, 1894. (gemeinfrei)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

978-3-7469-0454-2 (Paperback)978-3-7469-0455-9 (Hardcover)978-3-7469-0456-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d–nb.de abrufbar.

Will you spell the words for meWill you spell the words for me to hearNibelungenNibelungenNibelungen land

(NICO)

Verschollene Gedanken tauchen als Melodien wieder auf;Versäumte Gedanken werden in Erinnerung gedacht

(ELAZAR BENYOËTZ)

Vorbemerkung der Herausgeberin

Fast zwanzig Jahre ist es her, dass mir mein Vater die hier vorliegenden Briefe geschickt hat. Es waren die letzten Mitteilungen von seiner Hand, die mich erreichten. Ich muss gestehen, dass mich diese Briefe damals nicht sehr erfreut, sondern weit mehr verärgert haben. Denn nicht alles, was mein Vater darin erinnert, ist mit meiner Erinnerung identisch. Ich hätte ihm daher gern so manches Mal widersprochen, nur nannte er mir keine Adresse, an die ich meinen Widerspruch hätte senden können. Heute, nach so vielen Jahren, bin ich nachsichtiger geworden. Ich will daher die Veröffentlichung dieser Briefe nicht für eine späte Richtigstellung oder gar Rechtfertigung nutzen. Ich habe die Briefe auch in keiner Weise manipuliert, was der Leser allein daran erkennen dürfte, dass mein Vater nicht immer gerade Schmeichelhaftes über mich zu berichten weiß. Wenn ich diese Briefe daher veröffentliche, so nur aus dem einen Grund, meinem Vater ein Andenken zu bewahren. Denn da es kein Grab gibt, das ich oder jemand anderes, der ihn gekannt hat, für ein stilles Erinnern aufsuchen kann, so mögen diese letzten Zeugnisse seines Lebens diesen Ort des Gedenkens ersetzen. Zugegeben, vielleicht ist es vermessen zu glauben, dass die Briefe neben meiner Person auch noch für andere Menschen von Bedeutung sein könnten. Freunde, die ich diesbezüglich um Rat gefragt habe, ermunterten mich jedoch fast einstimmig dazu, die Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nur wenige rieten mir ab, da sie glaubten, in diesen Briefen eine beginnende Altersverwirrtheit meines Vaters zu erkennen, die man nicht öffentlich ausstellen sollte, um den Schreiber nicht posthum vorzuführen. Ich sehe das freilich nicht so. Mein Vater war nicht verwirrt. Er war vielmehr auf der Suche nach etwas, das sich jenseits seiner Alltagswirklichkeit befand, und das er behutsam Schritt um Schritt, Wort um Wort, Satz um Satz freizulegen versuchte. Für ihn waren Sprache und Bewusstsein weitgehend identisch, und so versuchte er, sein Bewusstsein zu ändern, indem er sich um eine andere Form des Sprechens bemühte. Das gelang ihm nur bruchstückhaft, und ich muss gestehen, dass ich einige seiner Texte, in denen er sich langsam vom Briefschreiber zum Lyriker entwickelte, wieder habe streichen lassen, nachdem ich sie bereits in die Druckbögen aufgenommen hatte. Ich glaube, es wäre im Sinne meines Vaters gewesen, da er sie selbst an einer Stelle nur als ungenügende Versuche bezeichnete, als Ausdruck eines Wunsches, anders zu sprechen, jedoch nicht auch als Ausdruck eines Vermögens.

Der Leser wird fragen wollen, warum es kein Grab meines Vaters gibt. Ich will es erklären: Gut zwei Wochen, nachdem mein Vater mir seine letzten Aufzeichnungen geschickt hatte, fand man in einem Waldstück in der belgischen Provinz Luxemburg seinen Rucksack. Die Polizei ermittelte mich über ein Adressbuch, das in diesem Rucksack steckte. Ich machte mich sogleich auf den Weg zu einem kleinen Ort namens Mormont, wo ich ein Pensionszimmer nahm und wo mein Vater zum letzten Mal lebend gesehen worden war. Von dort durchwanderte ich tagelang das Waldgebiet zwischen Mormont, der Siedlung Môchamps und dem größeren Ort St. Hubert. Doch mein Vater blieb verschwunden. Sofort nachdem der Rucksack gefunden worden war, hatte die belgische Gendarmerie das Waldgebiet mit einer Wärmebildkamera überflogen und mit einer Hundestaffel durchsucht, jedoch erfolglos.

Am dritten Tag meines Aufenthalts in Mormont gesellte sich mitten im Wald ein verängstigtes schwarzes Hündchen zu mir. Da ich glaubte, dass es der Hund war, von dem mein Vater in seinen Briefen schrieb, nahm ich ihn mit mir. In Mormont konnte mir jedoch niemand von denen, die meinen Vater zuletzt gesehen hatten, bestätigen, dass er mit diesem oder überhaupt mit einem Hund unterwegs gewesen war. Allerdings wurde der Hund auch von niemandem in der Gegend vermisst, so dass ich ihn behalten durfte. Von meinem Vater fand sich in all den Jahren nie wieder eine Spur.

Der kleine Hund – wir nannten ihn Gilli – hat noch viele Jahre in meiner Familie gelebt, bevor er vor einigen Jahren sanft eingeschlafen ist und meine Kinder ihn im Garten begruben, direkt neben einer hölzernen Bank, auf der mein Vater nach dem Tod meiner Mutter gern an lauen Abenden in der Sonne saß und nachdachte.

Köln, im Januar 2018Janine S.

1 Mondvogel

Nein, Janine, ich werde Dir meine Adresse nicht verraten. Wenn ich sie Dir auch vorhin am Telefon beinahe genannt hätte, so betrachte ich es doch jetzt als einen Wink des Schicksals, dass mir das Kleingeld ausging, bevor ich redselig werden konnte. Du wärest wohl sonst längst auf dem Weg hierher, um mich in Dein Auto zu komplimentieren und mich wieder nach Hause zu bringen. Ich habe nämlich Deinen Worten, in denen Du mehrfach von großer Unvernunft, kindischem Gebaren und unreflektierter Entscheidung sprachst, entnommen, dass Du nicht ansatzweise bereit bist, mich zu verstehen. Aber bevor Du nicht davon ablässt, mich wie ein stures Kind zu behandeln, dem man notfalls mit Gewalt zu seinem Glück verhelfen muss, wird es besser sein, wir werden uns eine Zeitlang nicht sehen. Zumindest solange nicht, bis Du erkennst, dass auch ich ein Recht darauf habe, mein Leben so zu leben, wie ich es für richtig halte.

Du sagtest, Du würdest Dir ernsthaft Sorgen um mich machen. Mein Verhalten entspräche nicht im geringsten meinem Charakter. Ich hätte mich zum Vollstrecker einer fixen Idee gemacht. Dein Bild von mir wäre mit meiner unüberlegten Handlungsweise nicht in Einklang zu bringen. Aber das ist es ja, Janine, Dein Bild! Du willst mich zurück in den Rahmen, zurück an den Platz, wohin ich Deiner Meinung nach gehöre. Und Du willst Dich nicht damit abfinden, dass ich meinen Rahmen zerbrochen habe, um mir einen anderen zu suchen oder fortan sogar auf jedes Begrenztsein zu verzichten.

Als ich vorhin von der Telefonzelle zurück auf mein Zimmer ging, musste ich lachen, weil es mir so vorkam, als ob wir unsere Rollen vertauscht hätten. Die Vorwürfe, die Du mir machtest, Deine ganze Art der Argumentation, diese pontifikalen Herablassungen von der Plattform der Vernunft aus, auf der Du Dich neuerdings eingerichtet zu haben vorgibst – das alles erinnerte mich daran, wie ich Dich früher zu maßregeln versuchte, als Du noch jung warst und mir Deine täglichen Provokationen auf die Nerven fielen, weil sie beständig all das in Frage stellten, was ich als das Selbstverständliche zu betrachten mir angewöhnt hatte.

Heute weiß ich, dass ich damals nichts weiter wollte als meine Ruhe. Geradezu zwangsläufig musste ich mich daher gegen jeden Deiner ruhestörenden Gedanken sperren und ihm von vornherein die Existenzberechtigung absprechen, war er doch – so mutmaßte ich – in einem Gehirn erzeugt worden, das noch nicht ausgereift genug war, um überhaupt einen Gedanken fassen zu dürfen. Es war mir damals eine recht bequeme Art, von Deiner körperlichen Unreife auf Deine geistige zu schließen, und solange ich dieses Vorgehen nicht hinterfragte, hatte ich in der Tat meine Ruhe.

Aber ich muss zugeben, dass ich heute, wo zwischen uns doch fast wieder alles ganz reibungslos funktioniert, dennoch manchmal mit etwas Wehmut auf unsere alten Streitigkeiten zurückblicke. Deine jugendliche Rebellion gegen mich und Deine daran anschließende kurze aber steile Drogenkarriere waren doch in Wahrheit nicht bloß Schiffbrüche auf einem ewig stürmenden Meer, sondern nach jeder Katastrophe erreichten wir stets auch wieder eine Insel, an deren Strand wir vorübergehend so etwas wie Rettung und Besinnung fanden.

Damals in Rom zum Beispiel, als Du Dein ganzes Geld und Deine Papiere verloren hattest, buchstäblich auf der Straße lagst und mich eines Abends anriefst, damit ich Dich holen käme. Zwölf Stunden später trafen wir uns an der Portugiesischen Treppe. Du konntest Dich kaum noch auf den Beinen halten. Ich wusste nicht und wollte auch nicht wissen, was Du angestellt hattest, um Dich in diesen erbärmlichen Zustand zu bringen. Ich brachte Dich in eine kleine Pension. Eine reichlich heruntergekommene Kaschemme. Das WC lag auf dem Flur. In unserem Zimmerchen hatten sich einige Tapetenbahnen gelöst, und über den Sockelleisten wuchsen braun-grüne Schimmelflecken. Von den Mücken und Fliegen will ich gar nicht reden. Das Zimmer roch, als ob zuvor jemand darin Sellerie gekocht hätte. Der winzige Balkon, der zum Marktplatz hin lag, war mit einer rostigen Kette abgesperrt – Einsturzgefahr. Du legtest Dich aufs Bett und schliefst sofort ein. Ganz friedlich lagst Du da, und wenn Du nicht mit offenem Mund geschnarcht hättest, wäre Dein Anblick fast schön zu nennen gewesen. Ich habe dann die Zimmertür abgeschlossen und bin hinaus auf die Straße gegangen. Ich war entsetzlich müde, genoss aber dennoch den warmen Sommerabend. Und das Merkwürdige war, dass ich mich glücklich fühlte. Am Tiefpunkt unserer Beziehung angekommen, verspürte ich, was ich später, als Dein Leben in geordnete Bahnen einbog, nie wieder auf so starke Weise empfunden habe, nämlich Liebe.

Vielleicht hing dies mit meinem schlechten Gewissen zusammen. Damit, dass ich mit Margret und unserem Hausarzt Dr. Geerdes diesen unsinnigen Therapieplan ausgeheckt hatte. Wir hatten Dich angelogen, Dir von Dr. Geerdes Freunden erzählt, die in der Schweiz ein Pferdegestüt unterhielten und damit gerade in großen Schwierigkeiten steckten. Angeblich fanden sie nicht genügend Personal. Mehrere Mitarbeiter hätten zeitgleich gekündigt, um ein eigenes Gestüt zu eröffnen. Und so weiter und so fort. Unser ganzes Geschwätz zielte nur darauf ab, Dich für dieses Gestüt zu interessieren. Und es gelang.

Als Dir dann nach einigen Monaten, die Du dort gearbeitet hattest, jemand steckte, dass der Gestütbesitzer in Wahrheit von mir bezahlt wurde, damit Du in seinem Stall arbeiten durftest, warst Du Hals über Kopf abgereist. Zwei Wochen hörten wir nichts von Dir. Und auf der Fahrt nach Rom schließlich habe ich mir hunderte von Entschuldigungen einfallen lassen, weil ich glaubte, Du würdest mir – wäre ich erst in Rom angekommen – die schlimmsten Vorhaltungen machen. Aber erstaunlicherweise bekam ich von Dir nicht ein einziges Wort der Klage zu hören. Du hattest Dich wieder in Deine Drogenwelt geflüchtet, und was man Dir angetan hatte, war Dir längst wieder gleichgültig geworden.

Und auch daran erinnere ich mich noch: Als ich hundemüde und rotweinselig zurück auf unser Hotelzimmer komme, stehst Du auf dem winzigen Balkon. Du hast die Absperrkette überstiegen, und unter Dir flackert das nächtliche Rom in einem ockergelben Licht. Ich trete zu Dir auf den Balkon, wohl nur deshalb, weil mich Rotwein stets etwas leichtsinnig werden lässt. Wir fallen uns in die Arme, und schweigend bleiben wir so eine lange Zeit stehen, während sich der Nachtverkehr mit ungebremster Euphorie durch die Straßen hupt.

Aber das sind alte Geschichten, und Du hast nicht Unrecht, wenn Du glaubst, dass ich sie nur anführe, um von meinen derzeitigen Problemen abzulenken. Es ist nur, dass ich erst jetzt manches zu verstehen in der Lage bin, was ich damals nicht verstehen wollte. Es will mir oft so erscheinen, als ob mir damals alles nur zugestoßen wäre und mein Bewusstsein in einem Sparmodus gearbeitet hätte. Noch heute kann ich mich zwar an viele Begebenheiten erinnern, aber was sie hätten bedeuten können, beginnt mir erst jetzt langsam zu dämmern.

Nun erst weiß ich, dass ich für Dich nur ein kleiner Beamter war, der von morgens bis abends irgendwelche Anträge bearbeitete, und der von seiner Tochter erwartete, dass sie darüber in Begeisterung geriet. Du hieltest mich schlicht für einen Langweiler, für jemanden, der sein Leben verschenkte, weil er eigentlich nichts Rechtes damit anzufangen wusste, für einen Mann ohne Utopie, für eine selbstgenügsame Staatsmarionette, die noch dankbar war für die Fäden, an denen sie hing, ja für einen bleistiftkauenden Wichtigtuer, der sich auf seine Kompetenz in Sachfragen berief, weil er vergessen hatte, dass hinter jeder Sachfrage ein menschliches Schicksal steckt.

Jahrelang glich unser Austausch von Gedanken daher nur einer oberflächlichen Karambolage. Wie Billardkugeln prallten sie aufeinander, um sich gegenseitig eine andere Richtung aufzudrängen. Immer wieder schlugen meine Überzeugungen in das lose Gedanken-Cluster Deiner Ideale ein, um es zu zerstören und Deine Ideenkugeln in den schwarzen Löchern des Alltags verschwinden zu lassen, während wiederum Deine Überzeugungen an der Stabilität meiner Gedanken – als ob sie von jenem Hilfsdreieck umspannt wären, das man vor dem Billardspiel benutzt, um die Kugeln in ihre Ausgangslage zu bringen – nur zurückprallten.

Ich weiß nun auch, dass Du damals gern einen anderen Vater gehabt hättest. Jemanden, der unberechenbarer war in seinen Meinungen und Weltanschauungen, der sich die Mühe machte, zu denken, bevor er sprach, der auch einfach einmal seine Sprachlosigkeit eingestand, statt auf alle Fragen und Probleme eine fertige Antwort parat zu haben, der, um die Billardkugeln wieder ins Spiel zu bringen, nicht nur auf den Impulserhaltungssatz schwor, sondern auch die Reibung entschieden ernst nahm und sie nicht für eine zu vernachlässigende Größe hielt. Du vermisstest an mir schlicht die Fähigkeit, mich irritieren zu lassen, von etwas überrascht zu sein, Begeisterung zu zeigen, irgendetwas zu tun, das jenseits des bloß Konventionellen und Erwartbaren lag. Wenn ich nach meinem Bürokratenfeierabend wenigstens ein leidlicher Jazzmusiker gewesen wäre oder ein besessener Fallschirmspringer ...

Aber vielleicht hast Du es auch nicht so gemeint. Vielleicht wolltest Du keinen anderen Vater, sondern Deinen Vater nur anders. Vielleicht ahntest Du sogar als einzige, dass hinter meiner festgefügten Gedankenwelt, die nur dazu gut schien, Stöße zu erhalten und in Gegenstöße umzuwandeln, ein autarker Bewegungsmechanismus schlummerte, der, wäre er nur erst aktiviert – das Hilfsdreieck also gewissermaßen entfernt – die Gedanken beim leisesten Impuls auf ihre ureigensten Bahnen schickte.

Doch obwohl sich unsere Kommunikation manchmal nur auf den Versuch gegenseitiger Beeinflussung beschränkte, haben wir sie niemals gänzlich abgebrochen. Etwas zwischen uns blieb bestehen, ohne je zerstört zu werden. Manchmal zeigte sich dieses Etwas in einem fast wortlosen Einvernehmen, das wir bestimmten Dingen gegenüber an den Tag legten. Denn war es nicht so, dass jedes Mal, wenn wir etwas auszudrücken versuchten, es uns regelmäßig misslang, und wir meist in einen Streit fanden, der – so wenigstens will es mir heute in der Erinnerung erscheinen – nichts weiter als ein Streit um Worte war? Ja, ich glaube, wir führten oft nur einen sinnlosen Zweikampf mit unterschiedlichen Meinungen, dogmatisierten Überzeugungen und mit zu Plattitüden geschrumpften Idealen, die wir wie Schwerter gegeneinanderschlugen, bis die Funken stoben. Denn fanden wir auch nur einmal in eine Sprache, die den anderen nicht gleich überwältigen, überzeugen und überreden wollte? Auf dem Balkon in Rom damals haben wir geschwiegen. Keine Vorwürfe, keine Drohungen, keine Bezichtigungen, und doch schien alles gesagt. Aber weißt Du noch, wie unser Schweigen dann endete? Ich sagte: – Hier zu stehen ist übrigens sehr gefährlich. Und Du antwortetest grob: – Dann bring’ dich doch in Sicherheit! Damit war unser schweigendes Einvernehmen erneut dahin, und wir begannen wieder damit, die Worte als Waffen zu gebrauchen.

Und noch einmal haben wir geschwiegen, lange geschwiegen. Nach Margrets Tod. Eine Woche lang bliebst Du bei mir, bezogst wieder Dein altes Kinderzimmer und halfst mir, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden. Was hätten wir damals alles sagen können über die Frau, die uns so viel bedeutet hatte? Doch, anstatt auch nur ein Wort zu sagen, schwiegen wir beide, als ob wir beschlossen hätten, den Rest unseres Lebens als Trappisten zu verbringen. Diese langen stummen Spaziergänge am Fluss. Diese Stille während der Mahlzeiten. Das Klappern des Geschirrs. Das Ticken und Schlagen der Standuhr. Jede akustische Kleinigkeit ging damals über das hinaus, was wir zu ertragen fähig waren. Nur am Abend wurde diese Stille durchbrochen, dann nämlich sprach der Fernseher für uns, obwohl uns beiden das Geschwätz, das uns von dort entgegenschallte, unsagbar pietätlos erschien, so als ob jedes Wort aus dem Fernseher versuchte, unsere Trauer zu bagatellisieren. – Ja, als spottete man dort unserer Verzweiflung und als machte man sich lustig über unsere Sprachlosigkeit, die uns voneinander trennte, als ob ein jeder von uns in einer undurchdringbaren Vakuumblase gefangen gehalten würde.

Als wir dann aber doch wieder zu sprechen begannen, langsam, zunächst nur die alltäglichen Verrichtungen kommentierend, war ich immer mehr erschrocken über den Grad Deiner Vernunft, unter dem Du nun begannst, sachliche Erwägungen anzustellen. Dass das Leben weitergehe, dass ich jetzt aufpassen müsse, keine Verlustdepression zu bekommen, dass ich auf jeden Fall – einige Wochen Erholung zugebilligt – wieder ins Büro müsse, um den Anschluss an das alltägliche Leben nicht zu verlieren, dass ich meine Trauer zu verarbeiten hätte – zu was nur, fragte ich mich – ja, dass ich mir die Fähigkeit erwerben müßte, zu vergessen. – Dies waren nur einige Deiner Ratschläge, deren Abgeklärtheit mich zutiefst verwunderte. Meine Tochter, die schon mit siebzehn der Gefühlskälte Mitteleuropas entfliehen wollte, um in der angeblichen Bewusstseinssonne Indiens zu rösten, meine Tochter, die von einem Vernunftwahn der Deutschen sprach, der diese geradewegs in zwei Weltkriege geführt hatte, meine Tochter, Befürworterin der Urschreitherapie und vertraut mit Schwingpendel und Auramesser, meine Tochter gab mir den Ratschlag, so schnell wie möglich in den abstumpfenden Alltagstrott zurückzufinden, Vergessen zu lernen und das Schicksal mit Vernunft und Anstand zu tragen.

Heute kann ich es Dir eingestehen: ich hätte mir gewünscht, Du hättest gesagt, trauere, trauere aus ganzem Herzen, weine, schreie, nimm in Deinem Schmerz auf niemanden Rücksicht, quäle Dich mit Deinen Erinnerungen, vergiss nichts, versuche gar nicht erst, stark zu sein, sei schwach, reiß dich nicht zusammen, sondern auseinander, leg dich selbst offen, seziere dich, scheue dich nicht vor Selbstmitleid, heule, bis du keine Tränen mehr hast. Doch stattdessen behandeltest Du meine Trauer wie eine infektiöse Erkrankung der Atmungsorgane, gegen die Du allerlei lindernde Arzneien verordnetest.

Damals hatte ich einen merkwürdigen, vielleicht sogar albernen Traum. Mir träumte, Du wolltest Dich nicht so einfach mit Margrets Tod abfinden. Und so hattest Du für uns zwei Flugtickets nach Südamerika gelöst, um dort einen Indiostamm aufzusuchen, von dem Du glaubtest, dass er uns helfen könnte. Man hörte sich auch dort unsere Probleme an und brachte uns in eine Hütte, in der auf einer offenen Flamme ein sirupdicker Sud aus Baumwurzeln und Früchten kochte. Durch diesen Trunk sollten wir befähigt werden, Einlass in das Reich der Toten zu erhalten und von dort zurück ins Leben mitzunehmen, wen immer wir wollten. Ich trank als erster einen kräftigen Schluck von dem Sud, der merkwürdigerweise nach Selleriesaft schmeckte. Doch kaum hatte ich getrunken, musste ich mich grässlich übergeben. Und auch den zweiten tiefen Schluck, den ich auf Dein Geheiß zu mir nahm, spie ich sogleich wieder von mir.

– So lange du dich wehrst, sagtest Du daraufhin verärgert zu mir, wirst Du nie den Weg zu Margret finden.

Dann bin ich aufgewacht. Ein alberner Traum, nicht wahr? Aber ich hatte noch weitaus albernere Träume, die ich Dir ersparen möchte. Ich war damals der festen Überzeugung, dass, wenn mir überhaupt jemand helfen könnte, einzig Du dazu imstande wärest. Ich glaubte, Du wüsstest etwas mehr vom Leben als ich, zumindest mehr über all die Dinge, die ich immerzu aus meinem Leben herauszuhalten bemüht gewesen war. Doch sah ich mich von Dir nur vertröstet auf den Lauf der Dinge, auf ein geregeltes, entemotionalisiertes Dasein, in das ich früher oder später wieder hineinfände wie in ein altes ausgelatschtes Paar Hausschuhe, nachdem sich das neue als zu eng erwiesen hatte.

Wenn ich Dich sprechen hörte, war es mir, als ob ich vor einem akustischen Spiegel stünde, aus dem mir meine eigenen alten Worte entgegenkamen. Worte, die auch ich zweifellos jedem anderen in meiner Situation immer noch gesagt hätte, die nur jetzt in meinen Ohren wie Hohn und Spott klangen. Aber anders als Du, die Du stets gegen alle meine Ratschläge rebelliert hast, nahm ich Deine Worte an, beugte mich ihnen und tat genau das, was Du für richtig hieltest.

Nach zwei Wochen war ich wieder im Büro, versah meinen Dienst, verzichtete das erste Jahr sogar auf Urlaub, nur um nicht allein über meine Zeit verfügen zu müssen, lernte, den Haushalt zu führen, auf Vorrat einzukaufen und meine Wäsche und das Haus zu versorgen. Ich hielt meine äußere Ordnung aufrecht, weil ich Dir glaubte, dass davon auch mein inneres Gleichgewicht abhängig sei. Ich gönnte mir Ablenkung, wann immer ich Gefahr lief, meinen Gedanken und Erinnerungen zu erliegen. Überhaupt hielt ich im Denken so strenge Diät, dass man bei mir schon bald eine Art geistige Magersucht hätte diagnostizieren können. Ich wurde wieder, was ich war, nämlich ein reibungslos funktionierendes Rädchen im Staats- und Alltagsgetriebe. Und dafür erhielt ich jetzt ausgerechnet von Dir Lob.

Gut siehst du aus, sagtest Du zu mir, wann immer Du mich sahst. – Ich bewundere deine Selbstbeherrschung. Wie leicht du mit allem fertig wirst.

Nur was dort wirklich so leicht mit allem fertig wurde, das war längst nicht mehr mein Ich, mein Ich hatte sich nämlich verabschiedet. Es hatte bemerkt, dass es bei all den leeren Riten und Zeremonien des Alltagslebens nicht mehr im geringsten gebraucht wurde, und so hatte es sich davongeschlichen und ließ die bewusstlose Gliederpuppe, die von mir übriggeblieben war, allein weiterzappeln.

Wohin mein Ich ging, weiß ich nicht, wo es überdauerte, um eines Tages zurückzukehren – ich habe keine Ahnung. Ich stelle mir aber vor, dass es sich irgendwann wie eine sattgefressene Raupe in eine dunkle Ecke meines Körpers zurückzog. Dort muss es sich dann verpuppt haben und für lange Zeit in eine totenähnliche Starre verfallen sein. Aber seit einigen Tagen habe ich das Gefühl, dass sich eine ganz neue Lebensform aus dieser dunklen Puppe schält, ja dass sich die farbige Spitze eines irisierenden Flügels Stunde um Stunde ein Stückchen weiter ins Licht schiebt.

Du hast Recht, Janine, meine Emphase passt nicht zu mir, aber betrachte sie als ein Ringen um Ausdruck, als den Versuch eines Menschen, endlich eine Sprache zu sprechen, die nichts mehr behaupten und von nichts mehr überzeugen möchte. Du fragst mich nach dem Anlass, Du fragst, warum ich zwei Jahre lang mein Leben fortsetzen konnte ohne einen Zusammenbruch, und warum ich jetzt plötzlich alles hinwerfe und Hals über Kopf verschwinde? Ich will es Dir sagen. Der Anlass für meinen Aufbruch war ein Mondvogel. Doch halte mich nicht für verrückt, bevor Du nicht weißt, was ein Mondvogel ist.