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Die Reise in der Prometheus geht weiter. Der Kontakt zum Planeten Maa ist mittlerweile abgerissen und die Erde noch lange nicht in Sicht. Um das Leben an Bord erträglicher zu machen, wird für die Schülerinnen und Schüler ein Wettbewerb veranstaltet. Als erster Preis winkt die Landung auf einem fremden Planeten. Doch während Jala alles daran setzt, mit ihrem Team zu siegen, verliebt sich Jannis in June Farrow aus der Ardeshir-Klasse und findet neue Freunde, die aus dem Medizinlager Morelight forte gestohlen haben. Das Psychopharmakon war von den Humanökologen für die schwierige Phase der Leerzeit gedacht, wird jedoch von Thelonious Arden unter Verschluss gehalten. Jannis' zunehmende Drogensucht und seine Auseinandersetzungen mit Damion Dagwood, dem Freund von June, wird mehr und mehr zur Belastungsprobe seiner Freundschaft mit Jala, Alice, Sergej und Hiroto. Doch noch weitaus größere Probleme bereitet schon bald der fremde Planet, der ein Bakterium beherbergt, das Halluzinationen hervorruft. Professor Sterling kann es nicht lassen, Proben dieses Bakteriums auf der Prometheus zu analysieren, und bringt dadurch die gesamte Besatzung an Bord in Lebensgefahr. Selbst der Dronka Donovan bleibt nicht unempfänglich für das neue Bakterium. Währenddessen gelingt es Jala, herauszufinden, dass die Kommandantin einen geheimen Auftrag befolgt und die Prometheus zu einem nicht auf der Route liegenden Feld steuern möchte, in dem sie die überaus wertvollen Überbleibsel einer Neutronenstern-Kollision vermutet. Während Jorge Stankow und Roberto Rammon Damion Dagwood für ihren Rachefeldzug gegen die Humanökologen zu gewinnen versuchen, erklärt Thelonious Arden Jannis, was es mit dem geheimnisvollen Poetikon auf sich hat, und er entschließt sich, den Kindern die von den Humanökologen verbotene Handschrift zu lehren. "Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen."
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Seitenzahl: 434
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Ben Castelle
Jannis Frank
und
Die Leerzeit
Roman
Die Jannis-Frank-Reihe
Jannis Frank und Das Dunkelschiff
Jannis Frank und Die Leerzeit
Jannis Frank und Das Poetikon
Jannis Frank und Die Kinder von Maa
Impressum
© 2024 Ben Castelle
Umschlag, Illustration unter Verwendung eines Bildes von CaryllN unter der Lizenz von iStock.com.
ISBN
Softcover: 978-3-384-21607-6
Hardcover: 978-3-384-21608-3
E-Book: 978-3-384-21609-0
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Eifeler Presse Agentur, Abteilung »Impressumservice«, Keldenicher Straße 19, 53925 Kall, Deutschland.
Über dieses Buch:
Die Reise in der Prometheus geht weiter. Der Kontakt zum Planeten Maa ist mittlerweile abgerissen und die Erde noch lange nicht in Sicht. Um das Leben an Bord erträglicher zu machen, wird für die Schülerinnen und Schüler ein Wettbewerb veranstaltet. Als erster Preis winkt die Landung auf einem fremden Planeten. Doch während Jala alles daran setzt, mit ihrem Team zu siegen, verliebt sich Jannis in June Farrow aus der Ardeshir-Klasse und findet neue Freunde, die aus dem Medizinlager Morelight forte gestohlen haben. Das Psychopharmakon war von den Humanökologen für die schwierige Phase der Leerzeit gedacht, wird jedoch von Thelonious Arden unter Verschluss gehalten. Jannis‘ zunehmende Drogensucht und seine Auseinandersetzungen mit Damion Dagwood, dem Freund von June, wird mehr und mehr zur Belastungsprobe seiner Freundschaft mit Jala, Alice, Sergej und Hiroto. Doch noch weitaus größere Probleme bereitet schon bald der fremde Planet, der ein Bakterium beherbergt, das Halluzinationen hervorruft. Professor Sterling kann es nicht lassen, Proben dieses Bakteriums auf der Prometheus zu analysieren, und bringt dadurch die gesamte Besatzung an Bord in Lebensgefahr. Selbst der Dronka Donovan bleibt nicht unempfänglich für das neue Bakterium. Währenddessen gelingt es Jala, herauszufinden, dass die Kommandantin einen geheimen Auftrag befolgt und die Prometheus zu einem nicht auf der Route liegenden Feld steuern möchte, in dem sie die überaus wertvollen Überbleibsel einer Neutronenstern-Kollision vermutet. Während Jorge Stankow und Roberto Rammon Damion Dagwood für ihren Rachefeldzug gegen die Humanökologen zu gewinnen versuchen, erklärt Thelonious Arden Jannis, was es mit dem geheimnisvollen Poetikon auf sich hat, und er entschließt sich, den Kindern die von den Humanökologen verbotene Handschrift zu lehren.
„Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen.“
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Anmerkungen:
Die Jannis-Frank-Reihe:
für Martina und Anna
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Professor Guntram Sterling saß mit Thelonious Arden bei einer Tasse Tee. Die beiden Herren genossen durch die großen Bordfenster einen herrlichen Blick in die Tiefe des Weltraums, wo sich seit Tagen ein farbenprächtiger Spiralnebel näherte.
»Du weißt, ich bin kein Feind der Wissenschaft«, sagte Thelonious Arden, »aber ich glaube, dass unsere Forschung und Lehre schon seit Jahrhunderten stagniert. Diese Überzeugung teile ich im Übrigen mit Jorge Stankow, wenn wir ansonsten auch nur wenig Gemeinsamkeiten haben.«
Thelonious Arden nahm einen Schluck von dem Tee, der den hochtrabenden Namen Earl Grey trug, obwohl es sich nur um etwas Wasser handelte, das zuvor eine Umkehrosmose durchlaufen hatte, und danach mit einem Geschmacksstoff versehen worden war, von dem man glaubte, er komme dem Aroma der alten Teesorte nahe.
»Stankow wünscht sich oft, er hätte im 19. Jahrhundert auf der Erde gelebt, denn da habe es noch Forschungs- und Tatendrang gegeben. Wenn du mich fragst, ist das Unsinn. Wir sind vielmehr an einem Punkt angekommen, wo es rein biologisch gesehen mit uns nicht mehr vorangeht«, sagte Professor Sterling, während er statt seiner Teetasse den Spiralnebel ins Auge fasste. »Unser geistiges Vermögen kann sich quasi nicht weiterentwickeln, weil das biologische System, in dem es steckt, alt ist und sich nicht so rasch anpassen kann. Wir müssen also Geduld haben.«
»Gerade das bezweifele ich«, erwiderte Thelonious Arden, der seine Teetasse zurück auf den Unterteller stellte und sein Gegenüber streng fokussierte. »Ich bezweifele, dass es sich um eine biologische Angelegenheit handelt. Es ist vielmehr eine Angelegenheit unseres Denkens. Ja, die Art und Weise, wie wir denken, führt zur Stagnation und diesem beständigen Auf-der-Stelle-Treten.«
»Wie sollten wir denn anders denken, wenn nicht wissenschaftlich?« fragte Professor Sterling, der von dem gedämpften Licht der Notbeleuchtung seitlich angestrahlt wurde und dessen linke Gesichtshälfte im Schatten verschwand.
»Es fehlt uns an Phantasie, mein Lieber. Ich sage dir, das ist das größte Problem, das wir haben. Wir sind unfähig geworden, unsere strengen wissenschaftlichen Raster zu sprengen, den Quantensprung zu wagen, das Bekannte einfach mal beiseitezulassen und frohgemut etwas Neues zu versuchen.«
»Womit man schnell mitten im Unsinn steckte«, erwiderte Professor Sterling.
»Ja, aber das ist es, es fehlt uns an Unsinn, der ja nur in Bezug auf unser Wissenschaftsverständnis Unsinn ist. Doch so ein Unsinn, ganz für sich gesehen, enthält doch oft eine viel tiefere Wahrheit als unser eindimensionales wissenschaftliches Gerede.«
»Dann treib mal etwas Unsinn, damit ich dir das Gegenteil beweisen kann«, forderte Professor Sterling Thelonious Arden auf und warf einen Blick unter die nur schwach beleuchtete Decke, wo sich zwei Konstruktionsstreben der Prometheus kreuzten, wie in einem alten Kirchenschiff.
»Nur zu gern«, sagte dieser. »Neulich fiel mir Folgendes auf: Ich kann sprachlich über etwas Nichtexistierendes sprechen, doch gerade dadurch, dass ich seine Nichtexistenz zur Sprache bringe, ist die Angelegenheit auf einmal in der Welt.«
Professor Sterling schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, worauf Thelonious Arden hinauswollte.
»Pass auf, mein Freund«, fuhr dieser fort, »ich kann beispielsweise folgenden Satz sagen: »In einem nichtexistierenden Land lebt ein nichtexistierender reicher Mann, der lauter nichtexistierende Dinge schafft, die er für viel Geld an nichtexistierende Menschen verkauft.«
»In der Tat der komplette Unsinn«, stimmte Professor Sterling zu.
»Und doch, wenn du diese Sätze hörst, siehst du diesen Mann dann nicht leibhaftig vor dir, wie er all diesen Unsinn werkelt und davon immer reicher wird?«
»Die Vorstellung kann ich nicht leugnen. Ja, ich sehe ihn vor mir. Er sieht witzigerweise ein wenig aus wie Adalbert Clint, der Bauleiter unserer Prometheus.«
Die beiden alten Herren kicherten.
»Und nun musst du nur noch zugeben, dass also Dinge existieren, und sei es nur als Vorstellung in unserem Hirn, die wissenschaftlich betrachtet nicht existieren können. Wie kann es einen solchen Widerspruch geben?«
»Die Sprache reizt halt zu Vorstellungen, wir können nicht von ihrer Bildhaftigkeit abstrahieren, deshalb stellen wir uns ja auch immer ein leeres Zimmer vor, wenn in der Physik vom leeren Raum die Rede ist. Obwohl ein solcher leerer Raum eben keinerlei räumliche Existenz hat, schon gar nicht die eines gepflegten Altherren-Zimmers.«
Wieder kicherten die beiden.
»Du sagst zurecht, dass sich die Bildhaftigkeit der Sprache niemals ausblenden lässt, dass es uns also niemals gelingt, eine ganz und gar von allen Bildern gereinigte Sprache zu sprechen, die wir aber eigentlich sprechen müssten, wenn wir behaupten, wissenschaftlich eindeutig zu sprechen.«
»Ich bin verwirrt, und das, ohne zu Kunst-Alkohol gegriffen zu haben.«
»Warum drehen wir die Angelegenheit nicht einfach mal um und sprechen eine durch und durch bildhafte Sprache, die überhaupt kein Interesse daran hat, irgendetwas Eindeutiges sagen zu wollen oder die auf irgendetwas außerhalb von ihr Bezug nehmen möchte, die also Satz für Satz nur Bezug auf sich selber zu nehmen gedenkt?«
»Wäre das nicht Wahnsinn?«
»Nein, das wäre Poesie.«
Professor Sterling kräuselte die Stirn. Er hielt sich zwar für einen aufgeklärten Menschen, aber dieses verbotene Wort ließ ihn noch immer erschrecken.
»Ja, das ist es, was uns fehlt: Poesie«, fuhr Thelonious Arden fort. »Deshalb kommen wir nicht mehr vom Fleck. Es liegt nicht an der Biologie oder überhaupt an irgendeiner Wissenschaft. Nein, wir begrenzen uns von der anderen Seite her.«
»Jetzt ahne ich, worauf du hinaus willst«, sagte Professor Sterling. »Du denkst an das Poetikon. Und du möchtest diese Reise nutzen, um in den Besitz desselben zu gelangen.«
»Sagen wir, es ist eine von mehreren Intentionen«, gestand Thelonious Arden, »aber sie ist nicht so stark, dass ich deswegen das Wohl der Kinder in Gefahr bringen würde. Nein, ich hoffe vielmehr, dass ich mir das Poetikon ganz ohne große Mühe aneignen kann, quasi im Vorbeigehen, um es dann, wenn es meine Zeit noch erlaubt, nach Maa zu bringen.«
»Und eine Revolution anzuzetteln?«
»Oh«, erwiderte Thelonious Arden und sah mit schmalen Augen in den fernen Spiralnebel, »da habe ich also noch etwas mit Jorge Stankow gemeinsam.«
2
»Das interessanteste Objekt in dieser Spiralgalaxie ist nach wie vor der Stern 352/92«, sagte Kommandantin Jennifer Orlanda, die den ganzen Vormittag die Daten studiert hatte, die in den letzen vierundzwanzig Stunden von einer Raumsonde an die Prometheus gefunkt worden waren. »Nur liegt dieser Stern genaugenommen gar nicht mehr im Einflussbereich des Spiralnebels. Oder was meinen Sie, Offizier Brown?«
Der Erste Offizier, Balram Brown, starrte auf ein dreidimensionales Abbild der Sterngalaxie, das sich über der Empore auf der Brücke ausdehnte. »Hier im sichtbaren Bereich des Halos haben wir eine große Anzahl von Kugelsternhaufen und einige sehr alte Sterne, alles Überbleibsel aus der Zeit, als sich das ursprüngliche Gas bei der Entstehung der Galaxie in der Scheibe sammelte«, erklärte Brown umständlich und streckte seine linke Hand dabei fast senkrecht nach oben. »Der hauptsächliche Bestandteil des Halos dürfte aus Dunkler Materie bestehen. Soweit nichts Ungewöhnliches. Und bei der Gaskorona kann man ohne Frage mit Millionen Grad heißem Aerosol rechnen. Die Sternproduktion ist quasi immer noch im vollen Gange. Was Ihren Stern 352/92 betrifft, so gebe ich Ihnen Recht. Aufgrund der Tatsache, dass er extrem metallarm ist, würde man ihn eigentlich mehr in der Bulge, also der Mitte der Spiralgalaxie erwarten. Merkwürdig, dass er von dort so weit herausgeschleudert wurde.«
»Ja, sonderbar, aber noch sonderbarer dürfte der Zwergplanet sein, der ihn umkreist.«
»Ein Zwergplanet?«
»Ja, schauen Sie mal genau hin.«
Offizier Brown sah sich die Datensammlung an, weil die Bildauflösung im freien Raum nicht hoch genug war.
»In der Tat, ein substellares Objekt, bei dem keine Kernfusion gezündet hat und das über ein hydrostatisches Gleichgewicht zu verfügen scheint. Sehr ungewöhnlich.«
»Noch ungewöhnlicher ist die Oberflächentemperatur. Sie liegt, wenn auch nur knapp, im positiven Bereich.«
»Dafür dürfte Ihr schöner Stern verantwortlich sein, er verfügt immerhin noch über eine halbe Sonnenleuchtkraft und befindet sich nur siebzig Millionen Kilometer von diesem Zwergplaneten entfernt.«
»Damit wäre der Planet ideal.«
»Ideal wofür?«
»Für einen kleinen Ausflug.«
»Sie werden da nichts Interessantes finden, wenn ich die Daten hier richtig interpretiere, außer eine zerklüftete Gebirgslandschaft, die mit pulvrigem Regolith bedeckt ist. Ein Alptraum für Menschen mit einer Stauballergie.«
Kommandantin Orlanda lachte, da Brown nur selten Scherze machte, und sagte dann: »Es dürfte dennoch eine unvergessliche Erfahrung sein, einen fremden Planeten zu betreten.«
»Mir reicht bereits der Anblick.«
»Ich meine auch nicht für Sie, sondern für die Kinder.«
»Kinder? Auf dem Raumschiff gibt es keine Kinder mehr. Was glauben Sie, warum Patti Middler und Francis Lafrance die Gemeinschaftsduschen abgeschafft haben?«
»Ein Fehler, wenn Sie mich fragen. So etwas führt nur zu Verklemmtheiten und dann genau zu dem Verhalten, das man vermeiden möchte.«
»Und was sollen die jungen Leute auf diesem Zwergplaneten?« fragte Balram Brown, der offensichtlich das Thema wechseln wollte.
»Ihre Kenntnisse anwenden, damit sie nicht das Gefühl haben, alles, was sie lernen, sei nur graue Theorie.«
»Ein Motivationsschub also?«
»Ganz genau, das ist es, was man in der Leerzeit benötigt, damit man nicht ins Grübeln kommt. Wir werden einen Wettbewerb veranstalten. Die Gewinnergruppe darf mit dem Prometheus-Shuttle den Zwergplaneten besuchen.«
»Und der Rest?«
»Darf im Gemeinschaftssaal live dabei sein.«
3
Alice verbrachte neuerdings jede freie Minute bei ihrem Onkel Pieter De Jong. Sie entpuppte sich als gute Zeichnerin und schien darüber hinaus ein Faible für Innenarchitektur zu besitzen. Gemeinsam mit ihrem Onkel entwarf sie Pläne für die neuen Gruppenräume. Aber auch die Schlafräume empfand sie als langweilig und von der Aufteilung her für überholt. Besonders die Schlafboxen waren ihr ein Ärgernis, doch sah sie ein, dass man ohne diese Boxen so gut wie keine Intimsphäre mehr haben würde.
»Wenn wir die Schlafboxen abschaffen, dann müssen wir auch die Schlafräume geschlechterspezifisch aufteilen«, erklärte Pieter De Jong. »Oder möchtest du deinen drei männlichen Mitbewohnern demnächst beim Schnarchen zuhören?«
Alice sah ein, dass es Probleme schaffen würde, wenn man auf die Boxen verzichtete und beharrte schließlich nicht weiter auf ihren Vorschlag, zumal sie es schon seit Lageeso gewohnt war, mit Jannis, Sergej und Hiroto in einem Raum zu schlafen, und sich auch gar nicht vorstellen konnte, dass dies einmal nicht mehr so wäre.
Sergej war jetzt sehr häufig mit Donovan bei Jannis‘ Großvater. Die beiden stellten zahlreiche Untersuchungen mit dem Vierbeiner an. Professor Frank wusste zwar viel über Dronkas, aber längst noch nicht alles. Er begeisterte sich vor allem dafür, dass die Karnidonaren als ortsfeste Art sich mit den Dronkas quasi ein bewegliches Standbein geschaffen hatten. »Diese Kopplung aus Verwurzelung und Mobilität ist einzigartig«, schwärmte er, während Sergej mehr der Ansicht war, dass sich die Dronkas mit den Karnidonaren eine Pflanze ausgesucht hatten, um sich mit Mimese und Thanatose einen Evolutionsvorteil zu verschaffen.
»Es ist die alte Frage«, erklärte Professor Frank, »die Frage nämlich, was zuerst da war, das Huhn, das aus dem Ei schlüpfte, oder das Ei, aus dem das Huhn schlüpfte?«
Sergej vermochte die Frage nicht zu beantworten, zumal er auch nicht ahnte, was ein Huhn sein sollte.
»Wir dürfen nicht den Fehler machen, aus der heutigen Entwicklungsstufe die evolutionäre Leiter herabzuschauen und zu denken, dass die Hühner immer schon aus Eiern schlüpften oder Eier legten«, versuchte Professor Frank zu erklären. »Denn am Anfang war da weder ein Huhn noch ein Ei, sondern die Generationenfolge kam ganz ohne Eier aus. Du musst wissen, die Vorfahren der Hühner waren Landwirbeltiere, die wiederum aus süßwasserlebenden Knochenfischen entstanden, die eines Tages an Land gingen, um ...«
»... aber verschieben Sie das Problem jetzt nicht nur?« fragte Sergej, »denn nun könnte man fragen, was war zuerst, der Knochenfisch oder der Laich, aus dem er sich entwickelte?«
»Ja, aber nur, wenn wir an dieser Stelle haltmachen. Wir können aber weiter fragen, woher kamen die Knochenfische, und so werden wir uns schließlich immer tiefer bis in die molekularen Strukturen der Ursuppe hineinarbeiten, aus der letztlich alles Leben stammt.«
»Und dabei weiterhin die Frage nicht klären können, woher das Leben selber stammt, wenn man es nicht nur als eine chemische Verbindung betrachten will, die sich in dieser Ursuppe zufällig ergeben hat.«
Professor Frank gab einen tiefen Schnaufer von sich.
Jalas Interesse galt in diesen ersten Monaten vor allem der Mathematik. Sie wollte unbedingt wissen, wie man das Ziel der Mission, nämlich die Erde, von Maa aus als Route hatte berechnen können, wenn es doch mittendrin die Leerzeit als mathematische Leerstelle gab, über die man gar nichts wusste. Dabei musste sie zu ihrem Erstaunen feststellen, dass diese Berechnung eigentlich gar nicht möglich war. Vielmehr besaßen die Ergebnisse eine Streuweite, die dem Durchmesser der Milchstraße noch übertraf, das hieß, der errechnete Zielpunkt konnte vom eigentlichen Zielpunkt gut zweihunderttausend Lichtjahre abweichen. Darüber hinaus schienen ihr die zugrundegelegten Wahrscheinlichkeitsrechnungen teilweise nicht ganz schlüssig. Gemeinsam mit Marie Martinez und deren Wissen über das Verhalten von Elementarteilchen, versuchte sie, die Streuungsrate des Zielpunkts weiter einzugrenzen.
»Wir dürfen auch den Planeten Maa nicht als festen Punkt in unserer Berechnung betrachten, sondern müssen ihn als Möglichkeitsfeld beschreiben«, erklärte Marie Martinez. »Also sollten wir die Wahrscheinlichkeit mit einberechnen, dass jemand der sich einige tausend Lichtjahre von Maa entfernt befände, mit der errechneten Route zur Erde näher an sie herankäme als wir, für die die Rechnung erstellt wurde.«
Für Jala war das alles Neuland. Begeistert ließ sie sich von Marie Martinez in die Theorie der Wahrscheinlichkeitswelle einführen. Und oft steckten die beiden bis tief in die Nacht die Köpfe zusammen und fanden in ihren Berechnungen einfach kein Ende.
Hiroto hingegen trieb sich gern bei den Shuttle-Piloten herum. Das Shuttle der Prometheus war zwar anders als die Argo nur für Kurzstrecken geeignet, verfügte dafür aber über eine ungeheure Wendigkeit, die es ermöglichte, rasche Ausweichmanöver zu fliegen und so auch tiefer in Regionen vorzudringen, die beispielsweise aufgrund von umherwirbelnden Gesteinsbrocken für die Prometheus nicht zugänglich waren.
Da Hirotos Interesse für dieses Fluggerät sich auch nach mehreren Wochen nicht legen wollte und er die beiden Piloten, die tägliche Wartungsarbeiten im Terminal durchzuführen hatten, mit seinen Fragen löcherte und ermüdete, wurde nach Rücksprache mit Thelonious Arden beschlossen, eine Flugschule zu gründen, an der noch weitere interessierte junge Leute teilnehmen durften. Insgesamt fanden sich zwölf Schülerinnen und Schüler ein, die davon träumten, das Shuttle einmal selbst fliegen zu dürfen.
Und Jannis? Auf der einen Seite genoss Jannis die neue Zeit auf der Prometheus, die von weitaus mehr Respekt und Freundlichkeit geprägt war und jedem an Bord deutlich mehr Freiheiten ließ. Auf der anderen Seite wusste er nicht viel mit seiner neuen Freiheit anzufangen. Manchmal besuchte er Alice und schaute ihr eine Weile zu, wie sie unter Anleitung von Pieter De Jong irgendwelche Zeichnungen für Räume anfertigte, die schon bald errichtet werden sollten. Aber kurz darauf war ihm wieder langweilig. Während Sergej sich nur noch um seinen Dronka kümmerte und Jala an gigantischen Gleichungen arbeitete, deren Bedeutung er nicht ansatzweise erfassen konnte, blieb ihm zuweilen nur noch ein Besuch bei Hiroto. Doch auch dessen Begeisterung für die Fliegerei vermochte Jannis nicht zu teilen. In einem Shuttle wurde ihm grundsätzlich etwas übel, und je heftiger die Flugmanöver wurden, desto schneller drehte sich ihm der Magen um. Zwar traf er seine Freunde noch jeden Tag im Schulsektor. Doch auch der Schulunterricht hatte sich verändert. Statt auf Vorträge setzte man dort immer mehr auf das Selbstlernen, wofür man ein eigenes Selbstlernzentrum errichtet hatte, das zwar vielerlei Annehmlichkeiten bot, aber auch deutlich weniger soziale Kontakte bereithielt als das gemeinsame Lernen in der Klasse.
In der Mitte des neuen Selbstlernzentrums hatte das Szientikon seinen Platz gefunden. Jannis ertappte sich immer wieder dabei, dass er den Lichtwürfel wahllos nach etwas durchsuchte, das fähig wäre, ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Es gab so viele Themen, von denen er keine Ahnung hatte. Er ließ sich daher gern von einer Terra incognita zur anderen treiben. So kam er beispielsweise von der Proton-Proton-Reaktion zum Bethe-Weizsäcker-Zyklus und von dort zur alten Kosmos-Theorie vom Urknall. Aber nichts davon konnte ihn längere Zeit faszinieren. Jannis fragte sich oft, ob man all diese Dinge wirklich wissen musste, um eines Tages den einzig wahren Blick auf die Wirklichkeit zu besitzen, oder ob es nicht doch eine andere Möglichkeit gab, die Wahrheit dieser Wirklichkeit zu erkennen, ohne durch all dieses Wissen hindurchgehen zu müssen.
Manchmal begab er sich zu Margret De Jong und hoffte, dass sie ihn mit weiteren Gedichten vertraut machte. Aber Margret teilte ihm mit, dass ihre Gedichte nicht zur Weltflucht geeignet seien. Er müsse vielmehr begreifen, dass sie ihm nur einen anderen Zugang zum Dasein ermöglichten. Bevor er das nicht verstünde, hätte es keinen Sinn, ihm weitere Verse zu offenbaren.
Die Einzige, bei der sich Jannis jederzeit wohlfühlte, war die Frau, die er im Wieler-Viertel kennengelernt hatte. Sie hieß Alena oder vielleicht nannte sie sich hier auf dem Schiff auch nur so und bat Jannis inständig, niemanden davon zu erzählen, woher er sie kannte. Alena war jetzt bei den Näherinnen untergekommen, wo sie sich rasch Respekt erarbeitet hatte, da sie viel Geschick darin zeigte, zerrissene Kleidung wieder zu zusammenzunähen, und folglich die täglichen Anforderungen mit Leichtigkeit meisterte.
»Wie verrückt doch das Leben ist«, sagte Alena, während Jannis ihr bei der Arbeit zusah, »da findet man sich eines Tages in einem Raumschiff wieder, und was macht man? Man stopft kaputte Overalls für ein paar Rotznasen, während draußen unbesehen die größten Wunder der Schöpfung vorbeiziehen.«
»Warum schaust du nicht einfach mal aus dem Fenster?« wollte Jannis wissen.
»Weil ich keine Zeit habe hindurchzusehen. Da müsstet ihr euch schon pfleglicher um eure Kleidung kümmern«, tadelte Alena ihn.
»Ich gelobe Besserung«, erwiderte Jannis.
»Nicht nötig«, sagte Alena, »weißt du, es ist ja eigentlich immer so im Leben. Auch Maa war doch eine Art Raumschiff, mit dem wir durch den Kosmos gefahren sind. Und die Erde war auch eines. Aber was haben die Menschen auf der Erde gemacht? Statt sich täglich bewusst zu werden, dass sie sich einmal am Tag um sich selbst und einmal im Jahr um die Sonne drehten, dass also Tag für Tag Unglaubliches mit ihnen geschah, haben sie lieber darüber nachgedacht, wie sie ihrem Nachbarn am besten den Schädel einschlagen könnten, um sich sein Hab und Gut unter den Nagel zu reißen. Und später dann auf Maa, hat man uns sogar verboten, die Welt als das zu sehen, was sie ist, nämlich ein Wunder, und uns gezwungen, alles mit kaltem nüchternen Blick zu betrachten, da in jeder Emotion bereits die Keimzelle zur Revolution stecken könnte.«
»Was willst du machen, wenn wir auf der Erde angekommen sind?« fragte Jannis Alena eines Tages.
»Na, was schon? Glaubst du, auf der Erde gibt es keine zerrissenen Hosen?«
4
Jennifer Orlanda, Thelonious Arden und mehrere Professoren und Lehrer saßen zusammen in einer der neuen Versammlungshallen, die Pieter De Jong bereits fertiggestellt hatte, und diskutierten schon seit einer Stunde über die Idee der Kommandantin, die Siegergruppe eines Wettbewerbs auf den neu entdeckten Planeten entsenden zu wollen.
»Warum sollten wir die jungen Leute einer Gefahr aussetzen, die völlig unnötig ist?« fragte Thelonious Arden jetzt schon zum dritten Mal, da ihm diese Idee in keiner Weise zusagte.
»Es ist wichtig, dass wir den Schülerinnen und Schülern in dieser dunklen Zeit Anreize schaffen, die sie motivieren, das Lernen nicht aufzugeben«, ergriff Francis Lafrance das Wort, der von Anfang an ein Befürworter des Wettbewerbs gewesen war.
»Ich kann mich dem Kollegen nur anschließen«, sagte Jorge Stankow, der mittlerweile seine Ministerrolle ganz abgelegt hatte und sich nur noch als einfacher Lehrer verstanden wissen wollte. »Die Auszubildenden brauchen die Herausforderung, das wahre Leben. Theoretisches Wissen ist ohne Frage sehr wichtig, aber es verliert an Bedeutung, wenn man es nicht auch in der Praxis anzuwenden weiß. Und seien wir ehrlich, wozu wurden die Kinder schon auf Maa auf einen Außeneinsatz vorbereitet, wenn dieser eigentlich nie vorgesehen war?«
»Für den Notfall, mein Lieber, für den Notfall«, erwiderte Thelonious Arden, »dafür wurden sie geschult, aber doch nicht für ein Spiel, das über die Langeweile hinweghelfen soll.«
»Was kann denn schon geschehen?« fragte die Kommandantin. »Die Kinder, pardon, die jungen Leute bleiben ja in unserem Einflussbereich. Zwei meiner besten Piloten werden den Einsatz begleiten, und wenn Sie wollen, dann stelle ich noch mehr Leute beim Betreten des Planeten zur Verfügung. Gern auch mit geladenen Lichtpistolen.«
Die Kommandantin lachte, als ob der Einsatz von Lichtpistolen auf einem fremden Planeten so unsinnig wäre wie eine Taschenlampe bei der Untersuchung einer Sonne.
»Ich glaube, Sie sind nicht ehrlich zu uns«, sagte Thelonious Arden jetzt und sah die Kommandantin an. »Ihre Begeisterung für eine Aktion, die letztlich doch nur Ihren strengen Zeitplan durcheinanderbringen würde, scheint mir ein wenig fremdgesteuert. Wollen Sie sich nicht erklären?«
Jennifer Orlanda errötete. »Ich wusste, dass ich Ihnen nichts vormachen kann«, gab sie schließlich zu. »Ja, ich gestehe es, ich wurde vom Obersten Rat angewiesen, während der Reise zur Erde mindestens zwölf Planeten auf Bodenschätze hin untersuchen zu lassen. Sie wissen, dass wir auf Maa sehr streng mit den Bodenschätzen haushalten müssen. Aus diesem Grund hätte der Oberste Rat gern einen unbewohnten und unbedeutenden Planeten, den er, den er ...«
»... den er vollständig ausschlachten kann, ohne dabei seine eigene ökologische Grundhaltung zu verraten«, vervollständigte Thelonious Arden den Satz.
»So ist es, ja.«
»Und was geschieht mit Ihnen, wenn Sie diesen Befehl nicht befolgen?«
»Zunächst gar nichts, aber gesetzt den Fall, ich kehre eines Tages nach Maa zurück und habe keine zwölf Planeten analysiert, dann würde man mich dafür wegen subordinationswidrigem Verhalten zur Verantwortung ziehen.«
»Lassen Sie sich eines gesagt sein«, ergriff jetzt Jorge Stankow das Wort, »sollten wir eines Tages nach Maa zurückkehren, dann werden sich ganz andere Leute ihrer Verantwortung stellen müssen. So wahr Sie alle hier mein Zeuge sind, ich werde nicht eher ruhen, bevor ich den Präsidenten mit eigenen Händen erwürgt habe.«
»Ich verstehe die Angst, die aus den Worten der Kommandantin spricht und bitte sie dennoch, nicht aus Kleinmut zu handeln. Die Folgen für die Schüler könnten unberechenbar sein. Und ich verstehe den Hass, der aus Ihren Worten spricht, Jorge«, sagte Thelonious Arden und wandte den Blick dabei von Jennifer Orlanda ab und richtete ihn auf Jorge Stankow. »Aber geben Sie dem Leben eine Chance, lassen Sie sich verändern. Wenn Sie eines Tages zurückkehren sollten, dann werden Sie nicht mehr der sein, der Sie heute sind. Auch der Präsident wird nicht mehr derselbe sein. Eine veränderte Ausgangslage wird jedoch eine veränderte Handlungsweise erfordern. Ich empfehle Ihnen daher, sich nicht jetzt schon auf etwas festzulegen, was später einmal unnötig und eventuell sogar dumm sein könnte.«
Jorge Stankow brummte widerwillig.
»So sehr ich dich schätze, mein lieber Thelonious«, ergriff jetzt Professor Guntram Sterling das Wort, »aber mir scheint, du triffst hier im Namen der jungen Leutchen Entscheidungen, die sie besser selber treffen sollten. Deine Fürsorge werden sie ja nicht auf ewig genießen können. Einmal müssen sie ins kalte Wasser springen. Und da ist es doch besser, wir können ihnen im Notfall noch eine Schwimmweste reichen, als dass sie sich gleich beim ersten Mal ohne jegliche fremde Hilfe über Wasser halten müssen.«
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Noch wussten die Schülerinnen und Schüler nichts davon, dass es einen Wettkampf geben sollte. In einer abschließenden Abstimmung war Thelonious Arden zwar mit einfacher Mehrheit überstimmt worden, doch hatte seine Stimme immer noch so viel Gewicht, dass es niemand wagen würde, ohne sein Einverständnis mit den Vorbereitungen zum Wettkampf zu beginnen.
Um die ganze Angelegenheit zu beschleunigen, setzte Francis Lafrance daher auf eine gezielte Indiskretion, indem er zwei Schülern aus der Vitruvius-Klasse die Idee mit dem Wettkampf steckte. Die beiden hatten daraufhin, wie erwartet, nichts Besseres zu tun, als ihr Wissen durch den gesamten Schulsektor zu tragen, bis der geplante Wettkampf das große Thema in jedem kleinen Gespräch war.
Obwohl noch gar nicht klar schien, wie der Wettbewerb überhaupt aussehen, geschweige denn, wann er stattfinden sollte, verspürten die Lehrer bei den Schülern bereits nach wenigen Tagen den Motivationsschub, den sie sich erhofft hatten.
Schließlich war die Begeisterung in der Schülerschaft so groß, dass Thelonious Arden sich davon massiv unter Druck gesetzt fühlte, so dass er nicht mehr anders konnte, als der Veranstaltung widerwillig zuzustimmen.
Rasch wurde für den Wettbewerb ein Komitee gegründet, dem Patti Middler vorsaß und bei dem das Lehrerpersonal seine Prüfungsaufgaben einreichen konnte. Am Ende wurden drei Aufgaben ausgewählt, von denen man glaubte, dass sie die unterschiedlichen Fähigkeiten der Teilnehmer besonders widerspiegelten und herausforderten.
Nur die festen Lerngruppen, wie sie sich bereits auf Maa gebildet hatten, sollten gegeneinander antreten dürfen. Für die Lösung der einzelnen Aufgaben würde man verschiedene Punktezahlen vergeben. Die Gruppe mit der höchsten Punktezahl habe dann die Erlaubnis, auf dem Zwergplaneten zu landen und eine Erkundung vorzunehmen.
»Klar, dass wir gewinnen werden«, sagte Jala bei einer Team-Besprechung ihrer Gruppe. »Wir dürfen uns nur nicht nervös machen lassen.«
»Hier gibt es jede Menge starker Lerngruppen«, erinnerte Jannis daran, dass andere ihnen den Sieg streitig machen könnten.
»Genau daran solltest du nicht einmal mehr im Traum denken«, erwiderte Jala. »Es gibt nur uns, und fertig!«
»Ich glaube, Jala meint, wir müssen unbedingt auf uns konzentriert bleiben und dürfen uns keine Gedanken über die anderen Gruppen machen, wenn wir gewinnen wollen«, versuchte Alice Jalas Worte zu übersetzen.
»Schon klar«, sagte Sergej, »wenn jeder mit dem glänzt, was er drauf hat, dann ist die Sache schnell in trockenen Tüchern.«
»Trockene Tücher?« fragte Hiroto.
»Sagt mein Vater immer«, erwiderte Hiroto. »Keine Ahnung, was das heißen soll.«
»Es geht um ein frisch geborenes Kind«, erklärte Jannis, »sobald es in trockenen Tüchern ist, ist die Geburt vorbei.«
»Solch nutzloses Wissen wird uns bestimmt den Sieg einbringen«, sagte Jala abschätzig.
»Das ist gemein«, protestierte Alice, »vergiss nicht, dass es bei unserem letzten Erkundungsgang Jannis war, der Sergej aus der Knochenhöhle geholt hat.«
Jannis warf ihr eine Kusshand zu.
»Ja ich weiß«, lenkte Jala ein, »es ist nur so, die Chancen, dass wir irgendwann mal die Erde erreichen, sind nicht allzu hoch. Die Routenberechnungen sind eine einzige Katastrophe. Sie enthalten so viel Unbekannte, dass ich mich ernsthaft frage, wie man auf diesen miserablen mathematischen Ergebnissen die größte Mission der Menschheit gründen konnte. Möglich also, dass wir das irgendwann einsehen und uns erfolglos auf die Rückreise begeben müssen, ohne jemals einen anderen Planeten gesehen, geschweige denn betreten zu haben.«
»Wir werden alle unser Bestes geben. Wenn es reicht, ist es gut. Wenn es nicht reicht, ist es gut«, sagte Hiroto, und Jannis fragte sich, ob dies auch einer der alten Sprüche war, die Hirotos Großmutter in ihrem Inneren aufbewahrt hatte oder ob Hiroto selbst diesen merkwürdigen Gedanken gefasst hatte.
6
Da man immer noch nichts Genaues über den Wettbewerb verlauten ließ, und Jannis wenig Lust hatte, auf Verdacht irgendetwas zu lernen, was Jala nicht ohnehin besser wüsste, nahm er sein altes Leben wieder auf und besuchte Alena.
»Ich hätte nicht das geringste Interesse daran, meinen Fuß auf einen wildfremden Planeten zu setzen«, sagte Alena, nachdem Jannis ihr die Idee des Wettbewerbs nahegebracht hatte. »Man weiß doch gar nicht, was einen dort erwartet. Am Ende wird man von einigen Wilden massakriert und aufgefressen.«
Jannis lachte. »Die Chancen, außermenschliche Lebewesen zu entdecken, sind so gering, dass es wahrscheinlicher wäre, in der Prometheus auf eine Goldader zu stoßen.«
»Die habt ihr doch schon gefunden«, erwiderte Alena und kniff Jannis ein Auge zu, »oder etwa nicht?«
»Ja, zugegeben, ohne die Besatzung aus dem Dunkelschiff wäre das Leben hier deutlich glanzloser.«
»Du musst sehr glücklich sein, deinen Großvater wiedergefunden zu haben.« Alena nahm sich ein neues Wäschestück aus einer Blechkiste und kontrollierte es auf Schäden.
»Ja, das bin ich, obwohl ich ihn nur sehr selten zu Gesicht bekomme. Gleichzeitig aber bin ich traurig, dass meine Eltern nicht wissen, dass mein Großvater hier ist, und ich es ihnen auch nicht mitteilen kann. Sie werden sich Sorgen machen, jahrelang.«
»Nichts im Leben verläuft optimal, Jannis, wenn du etwas gewinnst, dann verlierst du auch immer etwas, und sei es nur die Aufmerksamkeit für das, was vorher schon da war.«
»Du willst sagen, dass ich meine Freunde vernachlässige?« Jannis sah Alena fragend an.
»Es ist nicht gut, dass du dich so viel hier unten aufhältst«, antwortete sie. »Ich bin nicht der richtige Umgang für dich. Wenn jemand herausfindet ...«
»Die anderen sind alle beschäftigt, sie haben ihre Interessen. Und ich weiß leider nicht, was meine Interessen sind.«
»Sie liegen sicherlich nicht hier unten in der Nähabteilung, oder möchtest du wissen, wie man Socken stopft?«
»Nein, gewiss nicht«, sagte Jannis und versuchte zu lachen. »Ich rede nur gern mit dir.«
»Ich weiß«, erwiderte Alena, »ich bin nur leider zu jung, um deine Mutter, und zu alt, um deine Freundin zu sein.«
»Um eine Freundin zu sein, ist man nie zu alt«, sagte Jannis.
»Alter Charmeur.«
»Junger Charmeur«, protestierte Jannis. »Aber du hast Recht, ich sollte mich mal wieder auf den Weg machen. Jala ist bestimmt schon sauer, weil ich noch immer nicht den Inhalt eines Sterntetraeders berechnen kann.«
Jannis verabschiedete sich von Alena und beschloss, aus sportlichen Gründen über die Metalltreppen zurück auf Deck 1 zu gehen. Er hatte gerade zwei Decks zurückgelegt, da kam ihm June Farrow aus der Ardeshir-Klasse entgegen. Sie war auf dem Weg in die Tiefe und schien bester Laune zu sein.
»Hi, Jannis«, sagte sie, »alles klar mit dir?«
»Was soll sein?« fragte Jannis zurück.
»Du siehst traurig aus.«
Jannis schüttelte den Kopf.
»So ist es mir auch gegangen, wochenlang«, erzählte sie freimütig. »Ich habe den Kopf gar nicht mehr freibekommen. Es ist diese Leerzeit. Sie macht irgendetwas mit einem. Damion sagt, es seien irgendwelche Teilchenströme, die das Gehirn beeinflussten.«
Damion Dagwood war Jalas größter Widersacher. In Sachen Intelligenz konnte er es locker mit ihr aufnehmen. Wenn jemand ihr den Planetenbesuch streitig machen könnte, dann wäre es Damion und seine Mannschaft, zu der auch June Farrow gehörte. Während Damion Dagwood ein arroganter Angeber war, war June das genaue Gegenteil. Jannis mochte sie, seitdem er sie das erste Mal gesehen hatte. Wenn sie ihn sah, grüßte sie ihn immer und lächelte ihn an. Das gefiel ihm. Zudem hatte sie ein sehr hübsches Gesicht und trug ihre blonden Haare so kurz, dass diese niemals ihr Gesicht verdeckten. Auch das gefiel ihm.
»Hast du nicht Lust, mitzukommen?« fragte June jetzt. »Ich treffe mich mit Freunden auf Deck 17. Wir haben uns dort einen geheimen Raum eingerichtet, um etwas ungestört abzuhängen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Jannis.
»Keine Sorge, Damion ist nicht dabei, nur Azadeh aus der Ardeshir und Jerome und Finnen aus der Vitruvius.«
»Da wäre ich ja das fünfte Rad am Wagen«, sagte Jannis.
»Wie bitte, was?«
»Entschuldigung, das habe ich von Sergejs Vater.«
»Also was ist jetzt?«
»Ja, ich komme mit, habe eh nichts anderes vor.«
»Eine gute Wahl. Mit uns kannst du nämlich Sonne tanken und den düstren Trip hier für eine Weile vergessen.«
June schlängelte sich an Jannis vorbei. Sie duftete nach irgendetwas Süßlichem.
»Ich geh dann mal voran«, sagte sie. Jannis nickte und folgte ihr.
Auf Deck 17 gab es ein Materiallager, in dem unter Verschluss Sprengstoff gelagert worden war, was erst publik wurde, nachdem man ihn benötigt hatte, um das Dunkelschiff von der Prometheus zu trennen. Jetzt war das Lager leer und es zu verschließen war überflüssig geworden. In dem dunklen Raum hatten sich die vier ein paar Sitzkissen in eine Ecke gelegt, die sie aus einem der Klassenräume entwendet haben mussten. Die Kissen waren kreisförmig um drei nur noch schwach leuchtende Notlichter angeordnet. Azadeh, Jerome und Finnen waren schon vor Ort.
»Schaut mal, wen ich mitgebracht habe«, sagte June und zog Jannis an der Hand in das Lager. Die drei sahen auf und grüßten Jannis vergnügt.
»Setz dich zu mir«, sagte Azadeh, und rückte sogleich ein Stück zur Seite. Und Finnen sagte: »Willkommen im Sonnentempel!«
Jannis wunderte sich über so viel Freundlichkeit. Er kannte zwar alle drei Schüler, doch hatte er noch nie viel mit ihnen geredet.
»Warum habt ihr so gute Laune?« fragte er.
»Alles eine Frage der inneren Einstellung«, antwortete Finnen, und alle vier griemelten vor sich hin.
»Weißt du«, sagte June, »man kann die Dunkelheit einfach heroisch ertragen, man kann die Zähne zusammenbeißen und sich durchkämpfen, oder man kann es sich ein wenig leichter machen.«
»Inwiefern leichter?« wollte Jannis wissen.
»Erzähl du es ihm!« forderte June Finnen auf.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass einige unserer Lehrer in der letzten Zeit verdammt gute Laune haben?« fragte er Jannis.
»Ja, ich denke, das hat damit zu tun, dass sie Carpenter und ihre schräge Truppe losgeworden sind«, antwortete Jannis.
»Ohne Frage, das ist ein Grund«, bestätigte Finnen, »aber längst nicht der einzige. Vor ein paar Wochen habe ich bemerkt, dass Francis Lafrance uns im Unterricht immer mal wieder allein ließ, um in die Tiefe des Schiffs zu verschwinden, wo er angeblich etwas zu regeln hatte. Eines Tages bin ich ihm aus purer Neugier gefolgt. Er ging runter bis zum 30. Deck, wo er eine mit einem elektronischen Nummernschloss verriegelte Tür öffnete und eine Weile in einem der Lagerräume für die medizinische Abteilung verschwand. Das wiederholte sich von da an in regelmäßigen Abständen. Ich habe die Sache dann Damion erzählt. Du musst wissen, Damion ist ein Meister im Türschlossknacken. Er brauchte nur wenige Augenblicke, schon stand die Tür offen. Das Problem war nur, wir wussten nicht, was Francis Lafrance regelmäßig im Medizinlager anstellte. Da er sich dort mit keiner Frau traf, schien es naheliegend, dass er Medikamente entwendete, aber welche? Wir hatten leider keine Chance, das herauszubekommen. Es standen einfach zu viele Kisten und Schachteln herum, deren Inhalt uns nicht das Geringste sagte.«
Finnen verstummte, als ob die Geschichte damit zu Ende wäre. Was sie aber nicht war, denn jetzt ergriff June das Wort.
»Der Zufall wollte es, dass ich mir im Chemieunterricht eine Schnittwunde zuzog, nachdem ich versucht hatte, die Einzelteile eines heruntergefallenen Reagenzglases ohne Schutzhandschuhe aufzusammeln. Ich musste daher auf Deck 2 zur Unfallstation, wo man die Schnittwunde säuberte und wieder zusammenklebte. Während der mich behandelnde Arzt mit meiner Hand beschäftigt war, hörte ich, wie sich im Nebenraum zwei Ärzte unterhielten. Sie sprachen davon, dass die Depressionsrate bei den Schülerinnen und Schülern stark zugenommen habe. Und sie empörten sich darüber, dass Thelonious Arden sich dennoch weiterhin weigere, Morelight forte flächendeckend verabreichen zu lassen. Der Alte sitze auf den Vorräten und wolle sie nicht herausrücken, angeblich weil es nicht genügend Studien über die Nebenwirkung gegeben und der Pharmahersteller nur eine bedingte Zulassung für das neuartige Medikament bekommen habe. Die beiden Ärzte machten sich über Thelonious Arden lustig. Er würde überall Gefahren wittern, aber die eigentliche Gefahr, die drohe, nämlich eine komplett depressive Schülerschaft, die würde er nicht erkennen. Erst wenn der erste junge Mensch im Treppenschacht hänge, würde der alte Zausel vielleicht wach werden.«
»Jetzt war uns klar, wonach dem lustigen Francis Lafrance auf Deck 30 der Sinn stand«, übernahm Jerome das Wort. »Nachdem wir uns noch einmal ins Medizinlager begeben hatten, fanden wir dann rasch große Bestände dieses Medikaments. Und vorsichtshalber nahmen wir ein paar Packungen mit.«
June fasste jetzt in die Brusttasche ihres Overalls, holte eine schmale Schachtel heraus und legte sie vor Jannis auf den Boden. Auf der Schachtel war eine gelbe Sonne gemalt, die ein paar düstre Wolken mit aufgeblasenen Backen hinwegpustete. Die Aufmachung war so infantil, dass man glauben konnte, es handele sich um eine Süßigkeit für Kinder statt um ein neuartiges Psychopharmaka.
»Wenn du willst, dann darfst du gern mal probieren«, sagte June. »Das Zeug ist wirklich sensationell. Kein Wunder, dass die Lehrer es lieber für sich allein behalten wollen.«
Jannis nahm die Schachtel in die Hand. Außer der Sonne, den Wolken und der Aufschrift Morelight forte enthielt sie keine weiteren Hinweise, weder zum Verwendungszweck noch zur Dosierung.
»Wenn Thelonious Arden das Mittel nicht freigegeben hat, dann wird er schon seine Gründe haben«, sagte Jannis.
»Thelonious Arden ist einer von der alten Generation«, erklärte Jerome, »er glaubt, es würde unserer Charakterbildung mehr dienen, wenn wir unsere Probleme aus eigener Kraft in den Griff bekämen. Er hat keine Ahnung, dass wir dafür gar nicht die Zeit haben. Von uns wird Leistung erwartet, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und irgendwann werden wir auch noch Verantwortung für unser Handeln übernehmen müssen. Wie sollen wir das alles schaffen, wenn wir keine Hilfe bekommen?«
»Was ist die Hilfe wert, wenn man die Nebenwirkungen des Medikaments nicht kennt?« wagte Jannis einen Einwand.
»Es gibt gar keine Nebenwirkungen, oder sagen wir besser, nur ganz geringe. Wenn die Wirkung nachlässt, wird man ein wenig müde und die Konzentration lässt nach. Aber dagegen kann man ja dann was tun«, sagte Azadeh und wies auf die Packung.
»Außerdem wollen wir das Zeug ja nicht ewig nehmen«, erklärte June. »Spätestens, wenn die Leerzeit vorbei ist, werde ich es wieder absetzen.«
»Ich auch«, sagte Finnen. »Aber derzeit hilft es mir außerordentlich. Und ohne meine kleine Pustesonne bräuchte ich beim Wettkampf gar nicht erst anzutreten.«
»Also, greif zu!« sagte June, nahm die Packung und drückte sie Jannis in die Hand. »Ein Geschenk des Hauses.«
7
Die neue Sterngalaxie füllte mittlerweile bereits ein Viertel der großen Bugfensterfront auf der Brücke aus. Zum ersten Mal war jetzt auch der kleine Planet mit bloßem Auge zu erkennen, der um den Stern 352/92 kreiste. Die Lehrer waren der Meinung, dass das neu entdeckte Gestirn unbedingt einen richtigen Namen benötigte. Das würde den Planeten bei den jungen Leuten interessanter machen. Man sann daher unter der Leitung von Francis Lafrance fieberhaft über einen solchen Namen nach und trug allerhand kuriose Vorschläge auf die Brücke, bis der Erste Offizier Balram Brown dem Treiben ein Ende setzte, indem er verkündete, es sei guter Brauch, einen neuen Planeten nach demjenigen zu benennen, dessen Augen als erstes auf ihm geruht hätten.
»Na gut, dann nennen wir ihn halt Brown«, sagte Francis Lafrance und konnte sich vor Lachen kaum halten, »wenn das so Usus unter Raumfahrern ist, dann werden wir uns selbstverständlich dieser alten Sitte beugen.«
»Unfug«, erwiderte Brown, »nicht ich habe den Planeten als Erster entdeckt, sondern die Kommandantin, also nennen Sie ihn gefälligst Orlanda.«
»Orlanda«, sagte Lafrance und schnalzte mit der Zunge, »na das gefällt mir. Ja, das ist geheimnisvoll. Wunderbar, wunderbar. Orlanda, wie schön, wie schön.«
»Sind Sie wahnsinnig?« wies die Kommandantin ihren Ersten Offizier zurecht, nachdem sie von der Namensgebung Wind bekommen hatte. »Naturgemäß sind wir beiden immer die Ersten, die einen neuen Planeten entdecken. Soll der gesamte Kosmos irgendwann nur aus Brown- und Orlandaplaneten bestehen?«
»Ich wollte diesem albernen Treiben nur ein rasches Ende setzen«, erwiderte Balram Brown.
»Was Ihnen auf meine Kosten bestens gelungen ist.«
»Sie hätten selbstverständlich einen schöneren Planeten verdient als diese braune Staubkugel.«
»Die daher mit Ihrem Namen bestens bedient gewesen wäre.«
Der Streit auf der Brücke hatte sich rasch wieder gelegt, zumal es ohnehin keine Möglichkeit mehr gab, am Namen noch eine Korrektur anzubringen, da Francis Lafrance die neue Bezeichnung bereits durchs ganze Schiff posaunt hatte und man sie allseits begrüßte.
»Wer löst das Geheimnis vom sagenumwobenen Planeten Orlanda?« fragte ein völlig aufgekratzter Francis Lafrance mit Singsang in der Stimme die Teilnehmer seines Logikseminars, an dem auch Jala teilnahm, und die die Begeisterung ihres Lehrers auszubremsen versuchte, indem sie fragte, wie man etwas, das man gar nicht kenne, sagenumwoben nennen könne. Und was sagenumwoben überhaupt bedeuten solle. »Handelt es sich hier nicht um ein Wort, das in der wissenschaftlichen Nomenklatur gar nicht erlaubt ist, da es Unschärfe in die Diktion bringt?«
»Ja, ja, aber kannst du dich nicht einfach mal etwas verzaubern lassen?«
»Die Entzauberung der Welt und das Aufzeigen ihrer logischen Strukturen ist die wichtigste Aufgabe unserer Zivilisation«, erwiderte Jala mit strengem Unterton.
»Jala, ich mag dich sehr gern, aber manchmal bist du eine unglaubliche Nervensäge«, retournierte Francis Lafrance und fuhr mit seinem Singsang fort: »Wer lüftet das Geheimnis von Orlandas zerfallener Zivilisation? Wer dringt ein in des Planeten düstre Geschichte und setzt als Erster den Fuß in seinen Staub?«
»Einfach nur albern«, sagte Jala, packte ihre Sachen zusammen und verließ die Klasse.
Schon bald stand der Tag des Wettbewerbs fest. Von den sechzig fünfköpfigen Teams meldete sich nur knapp ein Drittel für das Turnier an. Die anderen glaubten entweder, dass sie ohnehin keine Chance hätten oder aber sie hatten einfach kein Interesse, einen fremden Planeten zu erkunden. Und noch andere waren der Meinung, dass ihnen die Live-Übertragung der Planetenlandung an Nervenkitzel vollständig ausreiche. Dass sich nur so wenige Einsatzgruppen gemeldet hatten, wurde vor allem Thelonious Arden angelastet, der darauf bestanden hatte, dass die Teilnahme unbedingt freiwillig sein sollte und es auch keinerlei Repressalien geben dürfe, wenn jemand nicht bereit sei, beim Wettbewerb mitzumachen. Und da somit in jeder Gruppe ein »Verweigerer« ausreichte, um das ganze Team vom Wettkampf auszuschließen, waren es am Ende nur so wenige Teams, die übriggeblieben waren.
In der Freizeit wurde in den Wettkampfgruppen jetzt freiwillig gelernt, und mancher erinnerte sich an die finstere Zeit, da er auf Maa das Examen ablegen musste. Jala hatte in ihrer Gruppe die Oberaufsicht übernommen und machte Listen, was sich jeder Einzelne genauer ansehen sollte.
»Sergej, du vertiefst dich bitte in die Evolutionstheorie. Ich habe das Gefühl, es könnte eine Frage zur natürlichen Selektion oder zur Diversität des Lebens gestellt werden. Alice, deine Kenntnisse des Periodensystems sind noch sehr lückenhaft, also bitte nachbessern. Hiroto, du wirst wahrscheinlich den sportlichen Teil absolvieren müssen, also versuche, körperlich in Höchstform zu kommen. Und Jannis, du bist unser Joker, keine Ahnung wofür wir dich benötigen, aber du hast so eine Art, Probleme mal aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten, die uns schon ab und an geholfen hat.«
Jannis lachte. »Du hältst mich also nicht gerade für einen Spezialisten?«
»Nein, du bist mehr so ein verworrener Denker, der lange und unpräzise überlegt und dann ein großes Streufeld der Erkenntnis schafft. Aber ich habe bei Marie Martinez gelernt, dass so etwas wichtig sein kann.«
»Ist das jetzt ein Kompliment?«
»Wie man’s nimmt. Ich möchte auf jeden Fall nicht auf dich verzichten.«
8
Wenn Jala nicht gerade einen Termin für ihre Lerngruppe anberaumt hatte, machte sich Jannis auf den Weg zum 17. Deck und traf dort June und die anderen. Mittlerweile hatte er eine der bunten Kapseln ausprobiert und war über die Wirkung äußerst verblüfft. Seine ganze Desorientierung und Zukunftsangst war mit einem Schlag verschwunden. Er kannte seine Interessen zwar immer noch nicht, aber es macht ihm nichts mehr aus, sie nicht zu kennen. Er glaubte, eine Perspektive gewonnen zu haben, bei der er das Leben auf der Prometheus von einer höheren Warte aus betrachten konnte und es von dort oben aus überwiegend komisch fand. Denn wie lächerlich war es, inmitten des leeren Weltraums, umgeben von lauter tödlicher Gefahr, ein Schiff aus Metall um sich herum zu haben, in seinem Inneren zu sitzen und zu glauben, man befinde sich in Sicherheit. Jeden Moment konnte man mit einem Asteroiden zusammenkrachen und alles war aus. Oder der Fusionsantrieb streikte und man dümpelte ewig auf der Stelle herum, bis nur noch ein paar hundert Skelette in einem Geisterschiff jahrtausendelang durch den Weltraum schipperten. Das Leben, das sie führten, war absurd. Aber es war grundsätzlich absurd, nicht nur hier auf der Prometheus. Auch auf Maa war es absurd gewesen. Denn auch Maa war, da hatte Alena recht, nichts weiter als ein Raumschiff. Überall, wo der Mensch seinen Fuß hinsetzte, war er ein Spielball kosmischer Kräfte, die ihn jederzeit auslöschen konnten. Nirgendwo gab es Sicherheit, nirgendwo Ruhe. Man bildete sich das nur ein, weil man nicht im Zeitraffer auf die Dinge sehen konnte und so nicht bemerkte, was geschah. Und es geschah überwiegend Zerstörung und Vernichtung. Jede Sonne würde eines Tages implodieren und alle Planeten um sie herum würden erkalten. Und angesichts dieses kosmischen Dramas erschien es doch mehr als fragwürdig, sich mit all den Wissenschaften zu beschäftigen, die die Naturgesetze dieser unausweichlichen Prozesse, die ins Nichts führten, zwar erkennen, aber niemals würden ändern können. Man war eigentlich schon tot, wusste es nur noch nicht, weil man sich aus dieser verengten Menschenperspektive heraus betrachtete. Eine Perspektive, die alles einteilte und ordnete, ohne zu bemerken, dass es keine Einteilung und Ordnung inmitten des Chaos geben konnte. Jede angenommene Systematik war in Wahrheit nur eine zufällige Struktur, die dem Menschen als Ordnung erschien, weil er nur in solchen Ordnungsstrukturen denken konnte. Und das alles war lächerlich, jawohl. Diese Lehrer, die aufgeregt herumwuselten. Diese Schüler, die glaubten, etwas fürs Leben lernen zu können. Aber das Einzige, was sie hätten lernen können, wäre gewesen, dass das Leben jetzt in diesem Moment stattfand. Und dass es immer wieder aus dem Nichts geboren wurde, in jeder Sekunde. Dass man sich aber nicht sicher sein konnte, dass es auch in der nächsten Sekunde noch einmal aus dem Nichts hervorginge. Warum also nicht einfach glücklich sein? Warum nicht angesichts des Unausweichlichen mit dem Hier und Jetzt leben, so lange es noch möglich war?
In diesem Lagerraum auf Deck 17 glaubte Jannis manchmal, etwas von diesem Glück zu spüren, und er versuchte, diesen Zustand solange wie möglich am Leben zu erhalten. Er und seine neuen Freunde fanden es ungerecht, dass nicht alle in den Genuss von Morelight forte kommen durften. Um wie vieles leichter wäre das Leben auf der Prometheus, wenn ein jeder dieses warme Sonnenlicht genießen dürfte.
Aber das Wichtigste war, dass sie hier im Halbdunkel miteinander sprechen konnten, über sich, über ihre Familien, über ihre Träume und Ängste. Und es tat gut, über all das zu sprechen. Es tat gut, zu hören, dass man nicht der Einzige war, der manchmal nachts in seiner engen Schlafbox wach lag und hoffte, dass der Tag bald anbrechen möge, beziehungsweise das, was man auf der Prometheus Tag nannte und was einzig und allein durch das Einschalten der Tageslichtlampen begann und zur Nacht wurde, wenn die Lampen wieder gelöscht wurden.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Jannis eines Abends, an dem es sehr spät geworden war und er Jala, Hiroto, Sergej und Alice schon in ihren Schlafboxen vermutete.
»Kommst du morgen wieder?« fragte June und stand mit ihm zusammen von den Sitzkissen auf, um ihn zur Tür zu begleiten.
»Ich weiß nicht«, sagte Jannis.
»Komm doch bitte«, flüsterte June und küsste ihn sanft auf den Mund.
Jannis war verwirrt. Er wusste nicht, was er sagen sollte und wandte sich ab. Er fühlte, dass ihm die Hitze ins Gesicht schoss, aber glücklicherweise brannten zu dieser Stunde nur noch die blassen Notleuchten im gesamten Treppensektor, so dass es niemand hätte bemerken können.
Er stieg zu Fuß bis hinauf zum obersten Deck und schlich sich atemlos in das Schlafabteil. Er wollte rasch zu Bett gehen, doch plötzlich stand Sergej vor ihm.
»Kannst du mir mal sagen, was mit dir los ist?« zischte dieser ihn an. »Jeden zweiten Abend verschwindest du. Und dann deine gute Laune, die wirkt so aufgesetzt und unehrlich. Erzähl mir endlich, was los ist!«
»Nichts ist los«, sagte Jannis, »ich habe es nur satt, den ganzen Tag in der Schule rumzusitzen und abends noch von Jala gesagt zu bekommen, was ich alles nicht weiß.«
»Und wo treibst du dich rum?«
»Mal hier, mal da.«
»Du lügst.«
»Glaub, was du willst, aber lass mich jetzt in Ruhe, ich muss dringend schlafen.«
9
Am anderen Morgen fühlte sich Jannis, als ob er die ganze Nacht über schwere Werkzeugkisten aus der Bilge an das Oberdeck geschleppt hätte. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh, und seine Muskeln waren hart wie Stein. Er zitterte und schien leichtes Fieber zu haben.
»Du gehörst auf die Krankenstation«, sagte Jala, nachdem sie sich Jannis genauer betrachtet hatte. »Ist wohl gestern wieder spät geworden, wie?«
Jannis winkte ab. Es gehe ihm gut, er müsse nur kurz unter die Dusche.
Doch auch die Dusche brachte wenig Erquickung. Zwar schleppte sich Jannis noch in den Unterricht von Professor Sterling, der einen Vortrag über Bakterien hielt, die sich einzig und allein von Viren ernährten, und der soeben bei Halteria grandinella angelangt war, doch war Jannis nicht in der Lage, auch nur ein Wort von diesem Vortrag zu verstehen.
»Sieht aus, als ob niemand Appetit auf deine Viren hatte«, stellte Professor Sterling fest, nachdem er bemerkte, dass es Jannis nicht gutging. Er legte eine Hand auf dessen Schulter: »Geh in den Krankentrakt und lass dich behandeln, bevor du noch das ganze Schiff ansteckst.«
Jannis stand auf.
»Soll ich dich begleiten?« fragte Alice.
»Danke, ich komme klar«, antwortete Jannis und schwankte zur Tür. Statt zum Krankentrakt ging er jedoch zum Aufzug und fuhr runter bis zum 30. Deck. Er kannte längst die Zahlenkombination für das medizinische Materiallager. Ein paar Minuten später ging es ihm besser. Und nach einer halben Stunde fuhr er wieder nach oben und begab sich zurück in die Klasse.
»Halleluja«, rief Professor Sterling, »ein Lazarus-Effekt, da behaupte noch mal jemand, die Ärzte von heute würden ihr Handwerk nicht mehr verstehen.«
In der Pause wurde Jannis von Alice bedrängt. »Was war denn gerade mit dir los?« wollte sie wissen.
»Alles gut«, sagte Jannis und lachte übertrieben laut, »ich glaube, die Thermolüftung in meiner Schlafbox ist defekt. Sie hat mir die ganze Nacht kalte Luft ins Gesicht geblasen.«
»Was haben sie dir gegeben, dass du so schnell wieder auf die Beine gekommen bist?«
»Keine Ahnung, irgend ein neues Präparat.«
»Klingt zu schön, um wahr zu sein.«
Am späten Nachmittag, die Schule war gerade aus, trommelte Jala ihr Team zusammen. »Kommt mit!« sagte sie, »wir sind heute an der Reihe, um einen Blick auf Orlanda zu werfen.«
»Prima«, sagte Alice, »ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.«
»Orlanda, der Planet, nicht die Kommandantin« wies Jala Alice zurecht, die daraufhin das Gesicht verzog.
Auf der Brücke war nur wenig los. Sie mussten eine Viertelstunde warten, bis die Kommandantin kam.