Jannis Frank und Das Dunkelschiff - Ben Castelle - E-Book

Jannis Frank und Das Dunkelschiff E-Book

Ben Castelle

0,0

Beschreibung

Seit Mitte des 21. Jahrhunderts gibt es eine Kolonie auf dem Planeten Maa. Die Menschen, die hier leben, haben das selbstzerstörerische Dasein auf der Erde hinter sich gelassen. Man ist stolz darauf, dass sich alles Handeln wissenschaftlich begründen lässt. Religion ist verboten, ebenso Literatur und Kunst. Als die Politik beschließt, wieder in Kontakt mit der Erde treten zu wollen, werden dreihundert Kinder, darunter Jannis Frank und seine vier Freunde, ausgewählt, um mit der Prometheus und ihrer Besatzung eine siebenjährige Reise zum einstigen Heimatplaneten zu unternehmen. Während der langen Zeit im Weltraum sollen die jungen Leute in der Raumschiffschule zu Wissenschaftlern, Technikern und Lehrern ausgebildet werden. Ihre Aufgabe ist es, den Erdbewohnern, die man nach klimatischen und kriegerischen Katastrophen wieder in einer frühzeitlichen Entwicklungsphase glaubt, die Frohe Botschaft eines auf Wissenschaft basierenden Lebens zu überbringen. Dazu möchte man ihnen ein Szientikon schenken, einen kleinen Glaswürfel, der alles Wissen der Welt enthält, und der den Erdbewohnern einen zivilisatorisch-technischen Quantensprung ermöglichen soll. Doch nach einer Verhaftungswelle auf Maa, von der auch Jannis' Großvater betroffen ist, beginnen Jannis und seine Freunde, an der friedlichen Absicht der Mission zu zweifeln. Eine neue Schulleiterin an Bord macht ihnen zudem schon bald das Leben schwer und unterwirft sie einem militärischen Drill. Gleichzeitig beginnen die fünf nachzuforschen, was es mit den verbotenen und verschwundenen Texten auf sich hat, die ihre Vorfahren in einer mysteriösen Glasperle, dem Poetikon, gespeichert haben wollen. Und sie finden heraus, dass die Prometheus ein dunkles Geheimnis birgt. "Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 437

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ben Castelle

Jannis Frank

und

Das Dunkelschiff

Roman

Die Jannis-Frank-Reihe

Jannis Frank und Das Dunkelschiff

Jannis Frank und Die Leerzeit

Jannis Frank und Das Poetikon

Jannis Frank und Die Kinder von Maa

Impressum

© 2024 Ben Castelle

Umschlag, Illustration unter Verwendung eines Bildes von CaryllN unter der Lizenz von iStock.com.

ISBN

Softcover: 978-3-384-12762-4

Hardcover: 978-3-384-12763-1

E-Book: 978-3-384-12764-8

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Eifeler Presse Agentur, Abteilung »Impressumservice«, Keldenicher Straße 19, 53925 Kall, Deutschland.

Über dieses Buch:

Seit Mitte des 21. Jahrhunderts gibt es eine Kolonie auf dem Planeten Maa. Die Menschen, die hier leben, haben das selbstzerstörerische Dasein auf der Erde hinter sich gelassen. Man ist stolz darauf, dass sich alles Handeln wissenschaftlich begründen lässt. Religion ist verboten, ebenso Literatur und Kunst. Als die Politik beschließt, wieder in Kontakt mit der Erde treten zu wollen, werden dreihundert Kinder, darunter Jannis Frank und seine vier Freunde, ausgewählt, um mit der Prometheus und ihrer Besatzung eine siebenjährige Reise zum einstigen Heimatplaneten zu unternehmen. Während der langen Zeit im Weltraum sollen die jungen Leute in der Raumschiffschule zu Wissenschaftlern, Technikern und Lehrern ausgebildet werden. Ihre Aufgabe ist es, den Erdbewohnern, die man nach klimatischen und kriegerischen Katastrophen wieder in einer frühzeitlichen Entwicklungsphase glaubt, die Frohe Botschaft eines auf Wissenschaft basierenden Lebens zu überbringen. Dazu möchte man ihnen ein Szientikon schenken, einen kleinen Glaswürfel, der alles Wissen der Welt enthält, und der den Erdbewohnern einen zivilisatorisch-technischen Quantensprung ermöglichen soll. Doch nach einer Verhaftungswelle auf Maa, von der auch Jannis‘ Großvater betroffen ist, beginnen Jannis und seine Freunde, an der friedlichen Absicht der Mission zu zweifeln. Eine neue Schulleiterin an Bord macht ihnen zudem schon bald das Leben schwer und unterwirft sie einem militärischen Drill. Gleichzeitig beginnen die fünf nachzuforschen, was es mit den verbotenen und verschwundenen Texten auf sich hat, die ihre Vorfahren in einer mysteriösen Glasperle, dem Poetikon, gespeichert haben wollen. Und sie finden heraus, dass die Prometheus ein dunkles Geheimnis birgt.

„Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen.“

für Martina und Anna

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

1

Es war das erste Mal, dass die Gruppenräume in Lageeso für die Eltern und ihre Kinder geöffnet wurden. Das Inventar strömte noch immer einen durchdringenden Neugeruch aus. Mandy Frank setzte sich mit dem kleinen Jannis direkt auf das Sitzkissen neben dem Türeingang und wartete ab. Andere Eltern schienen weniger schüchtern zu sein, gaben ihre Kinder sofort in die kreisförmige Spielzone, die sich mitten im Raum befand, und unterhielten sich lautstark miteinander. Neben Mandy Frank ließ sich eine Mutter nieder, die ihr Kind ebenfalls noch bei sich trug.

»Ist hier frei?« fragte sie.

»Selbstverständlich«, antwortete Mandy Frank, lächelte einladend und stellte sich vor.

»Mein Name ist Malaika Nalangu, und das hier ist Jala«, erwiderte Mandy Franks Gegenüber. »Eigentlich hätte meine Tochter auch Malaika heißen müssen, so will es die Tradition, aber ich habe mit der Tradition gebrochen. Ich hätte sie gern Nalutuesha genannt, weil es während ihrer Geburt geregnet hat, aber mein Mann meinte, der Name sei zu kompliziert.«

»Also Jala«, sagte Mandy Frank, »das kann sogar ich mir merken. Der junge Mann hier heißt Jannis.«

Malaika Nalangu warf einen Blick auf Jannis: »Dass er bei dem Lärm schlafen kann.«

»Er kann immer schlafen«, antwortete Mandy Frank, »das hat er leider von seinem Vater.«

Mittlerweile befanden sich fast alle Kinder bis auf Jala und Jannis in der Spielzone. Einige krabbelten auf allen vieren, andere versuchten, sich an einem großen roten Quader hochzuziehen, der vielerlei unterschiedliche geometrische Öffnungen aufwies: Dreiecke, Quadrate, Rechtecke, Sechsecke sowie Sterne und Kreise in verschiedenen Größen. Jede Öffnung besaß darüber hinaus eine andere farbliche Umrandung.

Einige Kinder griffen mit ihren Händen in die Öffnungen und testeten, ob ihre Kraft ausreichte, um sich hochzuziehen und hinzustellen. Sobald sie es geschafft hatten, standen sie eine Weile wacklig auf ihren krummen Beinen, wippten von den Fersen auf die Zehenspitzen und landeten kurz darauf wieder unsanft auf ihrem dicken Windelhintern.

»Sind Sie berufstätig?« fragte Malaika Nalangu.

»Nein, das kann man so nicht sagen«, antwortete Mandy Frank, »ich bin Yogalehrerin.« Aus Verlegenheit strich sie sich eine lose Haarsträhne zurück hinters Ohr. Yoga galt schließlich nicht als seriöse Beschäftigung, sondern als nutzloser Zeitvertreib.

»Yoga wollte ich immer schon mal ausprobieren«, gestand Malaika Nalangu: »Wenn etwas die Menschheit seit so vielen Jahrhunderten begleitet, dann kann es doch nichts Schlechtes sein. Aber mein Mann sagt, Yoga habe esoterische Wurzeln und gehöre verboten.«

»Das Yoga, das wir auf Maa praktizieren, wurde von allen religiösen und nebulösen Bestandteilen gereinigt«, konterte Mandy Frank, als ob sie ein Produkt verkaufen wollte, bei dem man die Schadstoffe entfernt hatte. »Es dient einzig und allein der Gesunderhaltung.«

»Ich weiß«, sagte Malaika Nalangu, während sie verlegen einen ihrer Fingerringe drehte, der von einer durchsichtigen kugelrunden Perle geschmückt wurde, die Mandy Frank direkt ins Auge sprang, »man kann nur hoffen, dass die Wirkung nicht in diesen Bestandteilen steckte, dann ist sie nämlich futsch.«

Mandy Frank war über diese Äußerung verwundert und wollte gerade etwas erwidern, als eine junge Frau mit zwei großen Plastikeimern in den Gruppenraum eintrat und sich in die Spielzone zwischen die Kinder stellte.

»Ich darf Sie alle recht herzlich begrüßen«, sagte die Frau, während sie die Eimer auf den Boden stellte. »Heute ist ein großer Tag, denn es ist das erste Mal, dass unsere Kinder aufeinandertreffen, hier und in zwölf weiteren Gruppenräumen. Insgesamt sind es dreihundert Kinder, auf die das große Los entfallen ist. Bei diesem ersten Treffen wollen wir aber gar nicht viel reden, sondern die Kinder einfach spielen lassen und dabei ganz am Rande ein kleines Experiment veranstalten. Wir sind gespannt, was dabei herauskommt. Lassen Sie Ihren Nachwuchs bitte frei umherkrabbeln, und halten Sie sich soweit wie möglich zurück!«

Die junge Frau nahm jetzt einen der Eimer und verteilte den Inhalt in der Spielzone. Es waren lauter geometrische Körper in verschiedenen Farben. Einige der Kinder griffen direkt danach und versuchten, sie in den Mund zu stecken, um daran zu lecken oder hinein zu beißen.

»Lass das sein, Sergej!« rief ein Vater von der anderen Seite des Stuhlkreises, da sein Sohn die geometrischen Körper als Wurfgeschosse nutzte. Schon weinte ein Mädchen, weil es eine kleine rote Pyramide an den Kopf bekommen hatte.

»Ich denke, die Sache ist einfach«, war Mandy Frank sich sicher, »bestimmt sollen die Kinder die geometrischen Körper in den großen Quader einfüllen. Also die Pyramiden in die dreieckigen Löcher, die Zylinder in die runden und so weiter.«

»Oder aber es hat etwas mit der Farbe zu tun«, wandte Malaika Nalangu ein, »also die roten Körper in die roten Aussparungen, die blauen in die blauen etc.«

»Ich fürchte, ich werde Jannis nicht dazu bringen, bei dem Spiel mitzumachen«, klagte Mandy Frank. »Wenn er einmal schläft, dann ist er nicht wach zu bekommen. Aber ich sehe, Ihre Tochter ist auch nicht sehr motiviert.«

»Sie denkt nach«, sagte Malaika Nalangu und schien das ernst zu meinen. In der Tat schaute sich die kleine Jala die Vorgänge in der Spielzone mit großen schwarzen Augen an. Eines der Mädchen versuchte gerade, einen grünen Würfel in die Öffnungen zu stecken, die ebenfalls grün waren. Doch vergeblich. Ein anderes Mädchen hatte mehr Glück und versenkte auf Anhieb eine gelbe Kugel und einen schwarzen Kegel in die passenden, aber andersfarbigen Aussparungen. Kaum fielen die Körper in den roten Quader, gab es eine kleine Glockenmelodie, die die Kinder anspornte, weitere geometrische Körper in den Quader zu stopfen.

Während die Jungen noch immer nicht begriffen, worum es eigentlich ging, und einer von ihnen einen Volltorus als Beißring benutzte, hatten sich zwei Mädchen auf die Trial-and-Error-Methode spezialisiert und drückten und drehten die verschiedenen Körper reihum solange vor jeder Öffnung, bis sie Erfolg hatten.

Von dem Lärm aufgeweckt, öffnete Jannis jetzt doch die Augen und sah seine Mutter ein wenig vorwurfsvoll von unten an. »Ah, du bist wach, mein Kleiner. Dann komm und spiel ein wenig mit den anderen Kindern«, sagte Mandy Frank, hob Jannis in die Höhe, trug ihn zur Spielzone und setzte ihn dort ab, nicht, ohne ihm noch rasch einen kleinen Vorteil zu verschaffen, indem sie ihm unbemerkt eine violette Kugel in die Hand drückte. Dann setzte sie sich wieder.

»Und?« wandte sie sich an ihre Nachbarin, »denkt Ihre Tochter immer noch nach?«

»Oh ja«, behauptete Malaika Nalangu. »Man muss nur Geduld mit ihr haben.«

Irgendjemand hatte Jannis die violette Kugel entrissen. Er schrie plötzlich auf und heulte Rotz und Wasser.

»Oh, nicht doch«, stöhnte Mandy Frank, »so wird das nichts mit dir.«

»Wollen Sie ihn nicht zurückholen?« fragte Malaika Nalangu. »Er scheint sich nicht wohl zu fühlen.«

»Da muss er durch«, antwortete Mandy Frank hart, obwohl sie wusste, dass es für sie viel schwerer war, die Heulattacke zu ertragen, als für ihren Sohn. Zu Hause konnte Jannis ein so aufgewecktes Kind sein und jetzt, wo man gern mal seine Fähigkeiten demonstriert hätte, versagte er auf ganzer Linie.

Mandy Frank hatte nun doch ein Einsehen, stand auf und holte Jannis zurück. Kaum hatte sie sich wieder gesetzt und der Schreihals sich ein wenig beruhigt, da begann Jala auf allen vieren in die Mitte der Spielzone zu krabbeln. Mandy Frank sah ihr mit einem verblüfften Ausdruck hinterher. Jala erreichte eine Ansammlung von Oktaedern, Kegeln und Pyramiden, setzte sich auf den Boden und schob im Sitzen den bunten Haufen mit den Füßen bis zum roten Quader in der Mitte des Raumes. Dort griff sie mit der linken Hand in eine der Öffnungen, zog sich in die Höhe und stand plötzlich auf zwei Beinen. Nun bückte sie sich, ohne ihren Griff zu lockern, und nahm wahllos mit der rechten Hand einen der geometrischen Körper vom Boden auf und steckte ihn durch ein kreisförmiges Loch. Die kleine Glockenmelodie erklang. Sie beugte sich erneut hinab, nahm eine Pyramide und steckte sie durch dasselbe Loch. Wieder erklang die Melodie. So machte sie es mit einem halben Dutzend weiterer geometrischer Körper. Ohne sie anzuschauen, steckte sie sie alle durch dasselbe Loch. Und die Glocke hörte nicht auf, ihr Liedchen zu bimmeln.

»Nun schau dir das an«, sagte der Ausbilder Francis Lafrance im Beobachtungsraum unterhalb der Spielzone zu seiner Kollegin Patti Middler, die neben ihm saß und sich Notizen machte. Sie hatten die Kinder auf mehreren breiten Monitoren im Blick. »Die Kleine hat als Einzige begriffen, dass es weder auf Farben noch auf Formen ankommt, sondern nur auf den Umfang der Öffnung, in die man die farbigen geometrischen Körper versenken möchte.«

»Beeindruckend«, gab Patti Middler zurück und unterstrich eine unleserliche Zeile in ihrem Beobachtungsbogen.

»Wer ist denn das Mächen?« wollte Francis Lafrance wissen.

»Jala Nalangu. Der genetische Stammbaum ihrer Eltern geht laut Auskunft unserer Genealogieabteilung bis auf die Massai zurück, eine Volksgruppe, die einst auf der Erde im Süden Kenias und im Norden Tansanias beheimatet war«, antwortete Patti Middler und legte den Beobachtungsbogen zur Seite.

»Das sagt mir rein gar nichts«, gab Francis Lafrance zu und zuckte mit den Achseln, »aber wer zum Teufel ist diese Heulboje am anderen Ende der Skala?«

»Jannis Frank«, sagte Patti Middler.

»Und warum wurde der ausgewählt?«, wollte Lafrance wissen und rümpfte die Nase.

»Sein Großvater ist Professor Darian Frank«, flüsterte die Frau, als ob sie ein Geheimnis verriete.

»Professor Frank, der Biologe?« zeigte sich Francis Lafrance erstaunt. »Na, dann will ich nichts gesagt haben. Der Mann ist eine Legende. Habe während des Studiums einige interdisziplinäre Vorlesungen bei ihm gehört. Es heißt, er stünde den Autocogitanten nahe, aber das sind wohl nur Gerüchte.«

»In der Tat«, bestätigte Patti Middler, »ansonsten wäre er ja wohl kaum Professor.«

2

Die Kinder und ihre Eltern lebten erst seit kurzer Zeit in Lageeso, einem neuen Stadtteil der Metropole Xaalina, der eigens für das Jahrhundertprojekt der Reise erbaut worden war. In der Weltraumwerft von Lageeso sprühten schon seit Jahren Tag und Nacht die Funken. Der Klang gegeneinanderschlagender Metallplatten, das zischende und pfeifende Geräusch ihrer Formung durch gebündelte Lichtstrahlen, die knisternden Blitze über der gesamten Anlage, all das diente nur einem einzigen Zweck: dem Bau der Prometheus, einem gewaltigen Schiff mit 38 Decks, das einmal hunderte von Menschen beherbergen sollte. Das Schiff wurde selbstverständlich nicht auf Maa fertiggestellt. Dazu war es viel zu groß und zu schwer. Niemand hätte es nach dem Zusammenbau in den Weltraum transportieren können. In Lageeso wurden nur Einzelteile gefertigt, die dann mit Transport-Shuttles ins All verbracht wurden, wo man sie in der Schwerelosigkeit zu einem gewaltigen Raumschiff zusammenschweißte.

Die Prometheus sollte die Kinder weit zurückbringen, zurück zu dem Ort, von dem ihre Vorfahren einst vor vielen Generationen aufgebrochen waren, einen Ort, den man in der neuen Welt immer noch mit einer gewissen Sehnsucht in der Stimme Erde nannte. Auch wenn schon seit ewigen Zeiten niemand mehr auf Maa lebte, der die Erde noch aus eigener Anschauung kannte, so stand ein jedes menschliche Lebewesen auf diesem Planeten doch noch immer in einer Art mystischem Kontakt zu ihr.

Jede dieser Familien, die sich kurz vor der Geburt ihrer Sprösslinge in Lageeso niederzulassen hatten, bewohnte ein sechseckiges Wabenhaus. Alle Wabenhäuser waren durch eine oder mehrere Seiten miteinander verbunden. Die Außenmauern waren allerdings so dick, dass sich in ihnen Gänge befanden, über die man, wenn auch zuweilen auf sehr komplexen Zickzack-Wegen, von einem Haus zu einem anderen gelangen konnte. Über dem sechseckigen Grundriss jedes Hauses wölbte sich ein Glasdach, so dass man Tag und Nacht in unmittelbarer Beziehung zum Himmel stand. Nachts leuchteten die fernen Sterne und Monde in den Schlafraum hinein, tagsüber schienen zwei Sonnen, deren Strahlung allerdings nicht sehr stark war, so dass das gewölbte Glasdach gewissermaßen die Funktion eines Brennglases übernahm, welches die Lichtstrahlen bündelte und intensiver machte.

Die Wabenhäuser standen auf Säulen, so dass so wenig Fläche wie nötig verbraucht wurde. Unter den Häusern wuchsen ein paar spärliche Pflanzen, und es tauchten dort manchmal die Dronkas auf, kleine Wesen mit flauschigem Fell aber scharfen Raspelzähnen, die sogar Metall durchtrennen konnten, die aber sehr scheu und nicht zu zähmen waren. Einige nannten diese Vierbeiner auch »Geisterwesen«, weil sie manchmal plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten und ebenso rasch wieder verschwunden waren. Auch wenn die Dronkas viel Unsinn anstellten, so war es verboten, sie zu verjagen oder gar zu töten.

Bis zur Abreise seines Enkelkindes besuchte Professor Darian Frank regelmäßig seine Familie in Lageeso. Als Jannis alt genug war, um es zu verstehen, erzählte er ihm viele Geschichten von der Erde, und stets klang es so, als ob er selber dort eine Weile gelebt hätte. Doch das war Unsinn. Generationen waren bereits wieder zu Staub zerfallen, seitdem die ersten Menschen ihren Fuß auf Maa gesetzt hatten. Niemand konnte sich daher noch aus eigener Kraft an den Heimatplaneten erinnern. Alles, was man wusste, bezog man aus wissenschaftlichen Werken, die die Erstankömmlinge in einem winzigen Lichtspeicherwürfel, dem Szientikon, mitgebracht hatten. Dieses Szientikon enthielt das gesamte Wissen der Menschheit, auf dem die Zivilisation von Maa gründete.

3

»Du musst wissen, Maa ist ungefähr zehn Mal so groß wie die alte Erde«, erzählte der Großvater, während er zusammen mit Jannis auf dem Fußboden saß und Kräutertee trank, oder besser das, was man auf Maa Kräutertee nannte und was vorwiegend aus ionisiertem Wasser bestand, dem man einige künstliche Geschmacksstoffe zugesetzt hatte.

Es war bereits früher Abend und über den beiden am Boden Sitzenden zeigten sich oberhalb der Glaskuppel die ersten Sterne, während der Mond Bluluna sich – wie stets zu dieser Stunde – in ein azurblaues Licht hüllte.

»Es gibt auf Maa Kontinente, die noch immer nicht erforscht sind, undurchdringliche Wälder, in denen wilde Tiere hausen, denen man besser nicht begegnet. Es soll in Faraday beispielsweise fledermausähnliche Vögel geben, die einen Infraschall erzeugen können, der dich auf der Stelle töten würde.«

Jannis wollte wissen, ob sein Großvater schon einmal in Faraday gewesen war, doch der Großvater winkte ab: »Ich habe mehrfach bei der Regierung eine Expedition zu diesem Kontinent beantragt, aber man hat sie mir nie bewilligt. Bei meinen Expeditionen nach Newton gab es nie Probleme. Dort war ich bereits sechs Mal. Aber Faraday scheint mit einem Tabu belegt zu sein.«

Jannis glaubte seinem Großvater alles, was dieser erzählte, und beschloss, all diese unentdeckten Landstriche eines Tages, wenn er von der Reise zur Erde zurückkäme, zu erforschen, sich die merkwürdigen Tiere anzusehen und als ihr Entdecker in die Geschichte einzugehen wie dieser alte Abenteurer namens Alexander von Humboldt, von dem der Großvater immer gern sprach. Und gern erinnerte er daran, dass es die Humboldt gewesen sei, mit der die Kolonisten damals auf Maa gelandet waren.

Das Kuriose auf Maa war, dass man dort alles, was man nicht kannte, mit dem verglich, was man ebenfalls nicht kannte und was nur durch die wissenschaftlichen Bücher im Szientikon vermittelt wurde, jenem Lichtspeicherwürfel, zu dem jeder Bewohner des Planeten Maa Zugang über eine Glastafel besaß. Wenn der Großvater also sagte »fledermausähnliche Vögel«, dann ging er davon aus, dass Jannis wusste, wie eine Fledermaus aussah. Eine Fledermaus kannte Jannis aber nur aus den Büchern, die er auf seiner Glastafel anschauen durfte, er hatte noch nie eine im wirklichen Leben gesehen, weil es diese Spezies auf Maa nicht gab. Und auch sein Großvater hatte noch nie eine gesehen. Große Gewächse verglichen sie einfach mit den Bäumen in ihren Büchern und nannten sie folglich Bäume, selbst das Wort Wald war ein altes Menschenwort. Und indem sie es seit Generationen auf das übertrugen, was auf Maa einem Wald ähnlich sah, hatten sie sich die Welt ein Stück weit vermittelbar gemacht. Auch wenn die Gewächse auf diesem Planeten in Wahrheit alles andere als Bäume waren, es gab sogar hundert Meter große Gebilde auf Newton, von denen selbst Professor Frank nicht genau sagen konnte, ob es sich um eine Pflanze oder nicht doch eher um ein ortsfestes Tier handelte.

Professor Frank bedauerte manchmal, dass sein Sohn schon früh die akademische Laufbahn an den Nagel gehängt und eine Ausbildung zum Lebensmitteltechniker absolviert hatte. Seine Schwiegertochter Mandy war da schon ein wenig anders. Vielleicht lag es an ihrer Yogapraxis, dass man mit ihr, anders als mit seinem Sohn, auch Gedanken austauschen konnte, die am Rande des Erlaubten angesiedelt waren. Natürlich nicht überall in der Wohnung, sondern nur in den Räumen, für die man eine Genehmigung erhalten hatte. Aufgrund einer kürzlichen Novelle galten allerdings auch manche bis dato privaten Wohnräume fortan als öffentlicher Raum, wenn man nämlich dort in der Woche mehr als drei Personen empfing, und sie durften dementsprechend abgehört werden. Um also rein private Gespräche zu führen, machte man am besten einen Spaziergang auf der Planetenoberfläche von Maa, auch wenn solche Spaziergänge vom Gesundheitsministerium mit einer nervtötenden Penetranz als ungesund und lebensgefährlich behauptet wurden.

Am meisten ärgerte sich Professor Frank darüber, dass die Menschen solche Behauptungen einfach so hinnahmen. Kaum noch jemand übte Kritik an dem, was die Regierung verlauten ließ. Indem die Politiker behaupteten, sämtliche ihre Entscheidungen beruhten auf wissenschaftlichen Fundamenten, hatten sie sich unantastbar gemacht. Selbst Jannis‘ Eltern taten so, als ob das, was ihren Sohn erwartete, die normalste Geschichte von der Welt wäre. Eine Reise, deren Hinfahrt allein sieben Jahre seines Lebens in Anspruch nehmen sollte, war aber doch alles andere als alltäglich. Nur, weil die Politik verlauten ließ, man habe diese Reise bis ins Kleinste geplant, so dass nichts Unvorhersehbares geschehen könne, waren die Eltern doch nicht von ihren Ängsten und Sorgen entbunden. Er zumindest konnte sich nicht so einfach damit begnügen, dass die Regierung schon alles bestens geplant haben würde, sondern gerade als Wissenschaftler hielt er es für möglich, dass es Dinge gab, die eben nicht berechenbar waren und die nach Gesetzen vor sich gingen, die strenggenommen gar nicht Gesetze genannt werden durften, sondern eher den Namen Wahrscheinlichkeiten verdienten.

Aber Jannis‘ Eltern rechneten bereits aus, dass, wenn ihr Sohn nur zwei Jahre auf der Erde bliebe, er bei seiner Rückkehr gerade einmal seinen zweiundzwanzigsten Geburtstag feierte. »Da fängt das Leben ja erst an«, scherzte sein Vater, der weiter ausrechnete, dass er und seine Mutter dann erst um die fünfzig Jahre alt wären. »Jung genug, um noch deine Hochzeit und einige Enkelkinder mitzuerleben«, stieg seine Mutter stets in die gespielte Fröhlichkeit mit ein, so als ob die beiden noch nie etwas davon gehört hätten, dass die Zeit für Menschen in einem Raumschiff, das mit enormer Geschwindigkeit durch das Universum jagt, nicht identisch ist mit der Zeit, die auf dem Planeten vergeht, von dem aus sie gestartet sind.

Ein Jahr auf Maa, das sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnt werden, dauerte darüber hinaus deutlich länger als auf der Erde, so dass ein Sechsjähriger auf Maa bereits deutlich mehr Lebenszeit hinter sich gebracht hatte als ein Sechsjähriger auf dem alten Mutterplaneten. Das absolute Alter der Kinder, das hatte schon vor langer Zeit auf der Erde der Physiker Einstein erkannt, ließ sich also gar nicht exakt angeben, sondern es ließ sich nur in Relation zu einem Beobachter definieren. Und so wird man sich vielleicht hier und da wundern, dass die Kinder von der Art ihrer Sprache her schon viel älter sein müssten als angegeben. Dieses Problem stellt sich jedoch nur, wenn man die Jahre auf Maa mit denen auf der Erde gleichsetzt, ja mehr noch, wenn man auch die Schulausbildung beider Planeten in Relation setzt.

Doch als Kind hat man so oder so kein Verhältnis zur Zeit, und erst recht nicht, wenn man sie mit Lebensjahren auf einem anderen Planeten vergleicht. Sechzehn Jahre schienen Jannis manchmal eine Ewigkeit und dann wieder nur ein Wimpernschlag zu sein. Hätte er diese Reise allein unternehmen müssen, ihm wäre sicherlich angst und bange geworden. Aber da waren glücklicherweise noch all die anderen Kinder. Und zu zwei von ihnen hatte er mittlerweile eine enge Bindung geknüpft, nämlich zu dem klötzchenwerfenden Sergej und zu der hochintelligenten Jala.

4

Einmal am Tag versammelten sich die Kinder im Ausbildungssektor. Allerdings nicht alle dreihundert gleichzeitig. Jannis‘ Gruppe bestand nur aus etwa fünfundzwanzig jungen Leuten, denen man im wahrsten Sinne des Wortes »spielend« Wissen vermitteln wollte. Eines der Spiele sah so aus: Auf einem unbekannten Landstrich von Maa galt es, eine große Siedlung zu errichten. Für jeden Eingriff in die Natur musste man auf einer filigranen Waage, die aus einer planen Ebene bestand und ausbalanciert auf einer Stange ruhte, einige Spielsteine auf den Rand der Ebene legen, die sich sodann zu einer Seite absenkte. Der nächste Spieler hatte zu überlegen, ob eine weitere Baumaßnahme, für die er weitere Spielsteine auf den Rand der Ebene hätte legen müssen, noch möglich war, oder ob die Ebene dadurch in eine gefährliche Schieflage geriet. War ihm das Risiko zu groß, so konnte er beispielsweise im Hinterland einige baumartige Gebilde anpflanzen und so der Ausbreitung der Guari-Wüste Einhalt gebieten. Dafür durfte er dann einige Spielsteine auf den anderen Rand der Ebene legen, so dass die Ebene wieder ins Gleichgewicht zurückwippte. Das kostete jedoch Zeit. Gespielt wurde dabei nicht gegeneinander, sondern zusammen als Team gegen andere Teams irgendwo in Lageeso. Sieger wurde die Gruppe, die am schnellsten eine Siedlung errichtet hatte, ohne dass die Waage umkippte und die Spielsteine durch den Raum rollten. Bei alldem kam es auf den Einfallsreichtum an. So konnte man, um den Flächenverbrauch zu reduzieren, Häuser auf Säulen stellen, so wie es in Lageeso längst Praxis war. Das brachte viele Punkte ein. Ebenso die Idee, die Fäkalien der Stadt mit Hilfe von Mikroorganismen zu fermentieren und für den Anbau von Karnidonaren zu nutzen, einer Pflanze, die überlebenswichtig war für die Kolonisten, da sie eine wesentliche Rolle bei der Produktion von künstlichem Fleisch und damit bei der Proteinversorgung spielte.

Was die Kinder nicht ahnten: Bei all ihren als harmlos erscheinenden Spielen wurden sie beobachtet. Nicht nur von ihren Erziehern, sondern auch von Wissenschaftlern, die fern von Lageeso in Xaalina saßen und sie bei jeder Tätigkeit kontrollierten, Punkte verteilten, Physio- und Psychogramme erstellten und beständig das gesundheitliche Befinden der Probanden überwachten. Selbst die täglichen Ausscheidungen wurden analysiert, um auf mögliche Erkrankungen oder einfach nur auf falsche Ernährungsgewohnheiten zu schließen. Bei alldem ging es darum, festzustellen, für welche zukünftigen Aufgaben die Kinder am besten geeignet wären. Das Projekt, für das man sie ausgesucht hatte, durfte nicht scheitern. Daher wollte man alle möglichen Risiken nach Möglichkeit von vornherein ausschließen und frühzeitig allen Fehlentwicklungen gegensteuern. So bekamen die Kinder individuelle Ernährungsvorschriften, die direkt an die jeweilige Quadranten-Küche weitergeleitet wurden. Wenn sie sich ihr Essen holten, geschah es nicht selten, dass sie etwas ganz anderes auf dem Teller hatten als ihre Eltern. Zudem bekamen sie zu jeder Mahlzeit farbige Säfte, die zwar nicht schlecht schmeckten, von denen sie aber nicht ahnten, wofür oder wogegen sie die Säfte trinken sollten.

Einmal in der Woche mussten sie nackt in einen winzigen Raum eintreten, dort still stehenbleiben und abwarten, bis ihre kleinen Körper von verschiedenfarbige Lichtern überlaufen worden waren. In dem Raum roch es, wahrscheinlich aufgrund von freigesetztem Ozon, immer so, als ob ein Gewitter bevorstünde, und Jannis bekam stets eine Gänsehaut, wenn die Lichter ihn berührten.

Mehrmals in der Woche standen sportliche Betätigungen auf dem Stundenplan. In einer großen Halle war dazu meist ein riesiges Tohuwabohu angerichtet, als ob dort das Innere eines abgestürzten Raumschiffs zusammengetragen worden wäre. Kopfstehende Frachtcontainer bildeten meterhohe Hindernisse, dahinter türmten sich scharfkantige Bleche, Eisenträger, Wandverkleidungen und Deckenelemente chaotisch übereinander. Aus dem Boden ragten durchtrennte Kabelstränge, manche funkten und knisterten und zeigten so, dass sie noch unter Spannung standen. Die Beleuchtung befand sich im Notfallmodus, und überall auf dem gewaltigen Schrottplatz blinkten Hunderte von kleinen Kontrolllämpchen. Zu allem Überfluss heulte noch eine Sirene, und man hörte aus unsichtbaren Lautsprechern Geschrei und unklare Befehle.

Aufgabe war es, durch das aufgeschichtete Chaos zu einem bestimmten Punkt zu finden, entweder zu einem wichtigen Sauerstoffventil oder zu einem Abriegelungsschalter, mit dem eine Raumschiffeinheit vom Rest des Schiffes abgekoppelt werden konnte. Dabei kletterten die Kinder über die Container, schlängelten sich reptiliengleich durch die losen Kabelstränge oder tasteten sich vorsichtig über die scharfkantigen Bleche. Manchmal waberten auch Rauchschwaden durch das Chaos, oder der gesamte Raum kippte plötzlich um fünfzehn Grad nach unten ab. Die Ausbilder ließen sich stets etwas Neues einfallen. So konnte es auch schon mal sein, dass der Raum auf weit über vierzig Grad aufgeheizt wurde, oder es herrschte eiskalter Frost, der alles mit feinem Raureif überzog, so dass man aufpassen musste, nichts zu berühren, was aus Metall war, da man ansonsten daran kleben blieb.

Je öfter die Kinder sich verletzten, desto aufmerksamer wurden sie. Die Ausbilder achteten allerdings darauf, dass die Verletzungen niemals einen gewissen Grad überschritten. Auch hatten sie die Fähigkeit, kleinere Wunden rasch zu heilen und ließen die Kinder nur so lange leiden, bis sie ihre Fehler eingesehen hatten. Zwischen Mädchen und Jungen wurden bei der Ausbildung keine Unterschiede gemacht. Von allen Kindern verlangte man dasselbe, auch wenn die Mädchen den Jungen in allen Bereichen deutlich überlegen waren. Sie waren, bis auf wenige Ausnahmen, intelligenter, verfügten über mehr Körperbewusstsein, besaßen eine raschere Auffassungsgabe und kassierten quasi jeden Tag aufs Neue das komplette Lob, das die Ausbilder zu vergeben hatten. Jannis‘ Mutter tröstete ihren Sohn, indem sie ihm erklärte, dass gleichaltrige Mädchen fast immer den Jungen überlegen seien, weil sie sich schneller entwickelten. Das Ungleichgewicht würde sich später wieder auswachsen. Er sollte einfach abwarten.

Jala und Sergej waren mittlerweile Jannis‘ beste Freunde. Auch wenn die beiden zusammen wie Feuer und Eis waren, so mochte er doch auf keinen von beiden verzichten. Jala konnte wunderbar rechnen, hatte einen blitzschnellen Verstand, und ohne sie und ihre Kombinationsfähigkeit wäre ihr Team-Wettkampf im Siedlungsbau lange nicht so erfolgreich gewesen. Sergej hingegen war ein Spötter, der alles lustig fand. Mit ihm waren Niederlagen nur halb so schlimm, weil er den Gegner so lächerlich erscheinen lassen konnte, dass man ihm den Sieg aus reinem Mitleid gönnte. Überhaupt sorgte Sergej dafür, dass Jannis nicht alles, was von ihm verlangt wurde, zu ernst nahm. Sergej tat immer so, als ob es sich bei der großen Mission, auf die die Kinder vorbereitet wurden, nur um einen Sonntagsausflug handelte, den sie allein zu ihrem Vergnügen unternahmen.

»Wann begreift ihr beiden endlich, dass man mit Terra preta Punkte gewinnen kann?« echauffierte sich Jala, nachdem sie heute beim Siedlungsbauspiel deutlich schlechter abgeschnitten hatten als gewöhnlich.

»Wir begreifen das ja durchaus, aber wir wollen dafür überhaupt keine Punkte«, erwiderte Sergej und grinste dazu breit und provokativ.

»Und warum, bitteschön, nicht?« wollte Jala wissen, die immer, wenn sie sich aufregte, leicht zu schwitzen begann und bemüht war, sich ungesehen die Schweißperlen von der Stirn zu wischen.

»Wir wollen nicht mit Scheiße gewinnen«, sagte Sergej, und Jala raufte sich ihre schwarzen Locken.

»Das ist doch nur eine von vielen Zutaten«, erklärte sie. »Es kommt weitmehr auf ein ausgewogenes Verhältnis von Asche, Biomasse, pyrogenem Kohlenstoff, Mikroorganismen, Knochen und Dung an, um so einen fruchtbaren Boden aufzubauen«, dozierte sie genervt, weil sie es Sergej schon mehrfach vergeblich zu erklären versucht hatte.

»Trotzdem«, knurrte Sergej. »Und übrigens: Dung ist auch Scheiße.«

»Das ist ein völlig infantiles Gehabe, das du hier an den Tag legst«, wies Jala Sergej zurecht.

»Jetzt beruhigt euch doch wieder«, ging Jannis dazwischen. »Jala hat ja Recht. Wir werden beim nächsten Mal zuerst ein Terra-preta-Feld anlegen, bevor wir die Anlage für Umkehrosmose in Betrieb nehmen, um damit nicht erneut das ökologische Gleichgewicht zu kippen.«

»Aber nur, wenn ich niemals etwas essen muss, was auf diesem Feld gewachsen ist«, ließ Sergej nicht locker.

»Das ist nur ein Spiel, du dummer Dronka, wann kapierst du das endlich?« entfuhr es Jala, während ein paar kleine Schweißperlchen jetzt auch an ihren Nasenflügeln auftauchten.

»Nenn die Dronkas niemals dumm, sie sind scheu, ja, scheu sind sie, aber keineswegs dumm. Ihr werdet sehen, eines Tages werde ich mir einen Dronka zähmen. Vielleicht nehme ich ihn sogar mit auf die Reise.«

»Träum weiter!« zischte Jala. »Das werden sie dir nie erlauben.«

5

Als die Kolonisten von der Erde aufbrachen, mussten sie sehr genau überlegen, was sie in ihre ungewisse Zukunft mitnehmen wollten. Es gab nicht viel Platz an Bord der Humboldt, einem von mehreren Auswandererschiffen, mit denen es nur wenigen Menschen gelang, die immer lebensfeindlichere Erde zu verlassen und irgendwo im Weltraum eine neue Bleibe zu suchen. Jeder Quadratzentimeter in diesen Schiffen war kostbar, und niemand hätte es geduldet, hätte man auch nur einen Sitzplatz mit einem Stapel Bücher belegt. Aber das war auch gar nicht nötig. Als die Menschen an Bord der Humboldt aufbrachen, konnten bereits alle wissenschaftlichen Bücher und Studien, die jemals veröffentlicht worden waren, in einem winzigen Würfel aus Licht gespeichert werden, dem bereits erwähnten Szientikon. Die Lichtspeicherung machte es möglich, das gesamte schriftlich fixierte wissenschaftliche Menschheitserbe an Bord der Humboldt zu bringen, ohne dass es überhaupt jemandem auffiel. Man hätte noch hundert Mal soviel Wissen transportieren können, wenn es denn hundert Mal soviel Wissen gegeben hätte, und man hätte dafür nicht mehr Platz benötigt, als in einem Nasenloch zu finden ist.

Die Raumschiffe, es waren bis zur Abreise der Humboldt bereits mehrere tausend, verließen die Erde in unterschiedliche Richtungen. Es war nicht bekannt, ob es noch anderen Schiffsbesatzungen außer den Kolonisten, die auf Maa gelandet waren, gelungen war, einen neuen Planeten zu finden, der die optimalen Voraussetzungen für eine Besiedlung aufwies. Man befürchtete allerdings, dass die meisten Schiffe wohl nie irgendein Ziel erreicht haben dürften. Und die, die eventuell doch einen Hafen fanden, dürften, falls sie kein Szientikon mit an Bord führten, wohl kaum lange überlebt haben.

Auf Maa ging man also davon aus, dass die Kolonisten dort die einzigen Überlebenden der Spezies Mensch waren, mit Ausnahme derjenigen, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer auf der Erde existierten. Denn dass die Menschen dort ausgestorben sein sollten, war für den Obersten Rat von Maa keine ernstzunehmende Option. Wie die zurückgebliebene Menschheit allerdings überlebt haben könnte, dazu gab es zahlreiche unterschiedliche Theorien. Die von den meisten Wissenschaftlern vertretene These besagte, dass die Menschheit um viele Jahrtausende zurückgeworfen worden sein musste, dass man in quasi frühsteinzeitlichen oder bestenfalls mittelalterlichen Verhältnissen lebte und Kultur und Technik unter den Widrigkeiten eines kollabierenden Ökosystems und eines andauernden fatalen Weltkriegszustands verschüttet und vergessen worden waren. Der Menschheit auf der Erde ihre Wissenschaft und Erfahrung von Jahrtausenden zurückzubringen und dadurch einen evolutionären Quantensprung in ihrer zivilisatorischen und technischen Entwicklung auszulösen, war die eigentliche Aufgabe, die den jungen Leuten in der Prometheus gestellt war.

Zugegeben, das war eine sehr große Aufgabe für einige hundert Kinder. Aber diese Kinder würden in den sieben Jahren ihrer Reise nicht nur erwachsen werden, man würde sie auch während der langen Zeit entsprechend ausbilden. Dafür waren neben den Technikern und der Navigationseinheit Dutzende von Lehrern mit an Bord. Denn die Prometheus war gewissermaßen nichts anderes als eine durch den Raum gleitende Schule, die just dann am Ziel ankommen sollte, wenn die Schülerinnen und Schüler ihr Abgangszeugnis in Händen hielten. Hätte man die jungen Leute auf Maa ausgebildet und erst danach auf die Reise geschickt, es wäre viel Zeit verlorengegangen. Und wer weiß, ob mancher von ihnen es sich im fortgerückten Alter nicht noch anders überlegt und sich geweigert hätte, nach der Schulentlassung ins Raumschiff zu steigen. So aber blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als an der Mission teilzunehmen.

6

An einem der seltenen freien Tage, die man den Kindern gönnte, kam Jala zu Jannis nach Hause. Sie war sehr aufgeregt. »Jannis«, sagte sie, »du weißt, dass mein Onkel als Regierungssekretär arbeitet. Dort will er gehört haben, dass man unsere Mission um ein halbes Jahr vorziehen möchte. Es sind ja bald wieder Wahlen, und da will man bei den Wählern vorab noch mit einem erfolgreichen Missionsstart punkten.«

»Aber der Flug ist genau berechnet, man kann nicht einfach ein halbes Jahr früher starten«, gab Jannis zu bedenken. »Es gibt Hindernisse wie den Glasian-Nebel, der aus Milliarden winziger Materieklümpchen besteht, jedes mit einer enorm hohen Dichte. Kollidiert das Schiff nur mit einem Stückchen so groß wie ein Fingernagel, dann kann es bereits schwere Schäden davontragen. Man muss also warten, bis der sich um einen Planeten drehende Glasian-Nebel die Durchreise nicht behindert.«

»Das weiß ich doch alles«, unterbrach Jala das altkluge Gerede von Jannis. »Und das ist ja gerade das, was mich aufregt, denn wir sollen die Zeit, die wir früher starten, später im Raum dann wieder vertrödeln, damit wir wieder ins alte Zeitschema zurückfinden.«

»Du meinst, wir parken gewissermaßen am Rande des Glasian-Nebels, weil wir zu früh dort eintreffen werden, und warten sechs Monate ab, bis er sich verzogen hat?«

»Du hast es kapiert.«

»Und das nur, weil ein paar Politiker ein Erfolgserlebnis benötigen, um wiedergewählt zu werden?«

»Richtig.«

»Das ist ja unglaublich, ich werde es gleich unseren Ausbildern mitteilen.«

»Lass das nur ja bleiben, die wissen ja längst davon, nur ist es ihnen bei Strafe verboten, darüber zu sprechen.«

»Aber man kann uns doch nicht für so einen Unsinn ein halbes Jahr unseres Lebens stehlen.«

»Genau das ist es, was mir seit gestern Sorgen macht. Wer sagt uns, dass diese sieben Jahre dauerende Reise nicht auch nur ein Coup ist, um jeden Tag etwas Erfolgreiches über uns berichten zu können, etwas, das niemand nachprüfen kann. Vielleicht gibt es die Erde gar nicht mehr, und wir werden niemals irgendwo ankommen. Vielleicht kommt sogar eines Tages eine andere Partei an die Macht, die vergisst, dass es uns da draußen noch gibt, oder die sich denkt, was geht das uns an, wir haben niemanden auf diese Reise geschickt.«

»Jetzt übertreibst du aber, Jala. So ein Gerede kenne ich eigentlich nur von Sergej. Der hat bekanntlich zu viel Phantasie und denkt sich auch immer irgendwelche Horrorgeschichten aus. Neulich sagte er, in Wahrheit sei das Schulschiff eine Militärakademie, und wir würden sieben Jahre lang an den neusten Waffen geschult, um schließlich die Erde anzugreifen und zu erobern.«

»Was wollen wir denn mit der Erde?«

»Ich glaube, er sprach davon, dass unsere Politiker scharf auf die Wasservorräte der Erde wären, mit ihnen könnten sie auf die komplizierte Umkehr-Osmose verzichten, die hier auf Maa betrieben werden muss.«

»Und wie kommt das Wasser von der Erde nach Maa? Sollen wir eine Wasserleitung durch den Raum verlegen? Oder transportieren wir das Wasser in Eimern von A nach B?«

Sie mussten beide lachen und amüsierten sich über Sergejs Dummheit. »Jeder von uns füllt auf der Erde einen Bottich mit Wasser, und dann geht es wieder zurück nach Maa«, spottete Jannis. »Das ist unsere Mission.«

»Aber bitte unterwegs nichts verschütten«, prustete Jala hervor.

»Und, oh weh, auf der Hälfte der Rückreise stellt Sergej fest, dass sein gezähmter Dronka den Wassereimer ausgesoffen hat ...«

»... und kurz darauf sein Beinchen am Fusionsreaktor hebt.«

Jannis gab noch lautmalerisch einen Kurzschluss zum Besten, dann beruhigten sie sich langsam wieder.

»Nein, mal ernsthaft, was machen wir denn jetzt?« fragte Jannis wenig später.

»Ich werde mit Thelonious Arden sprechen«, entschied Jala.

Thelonious Arden war der oberste Ausbildungsleiter und Lehrer der Kinder. Seine offizielle Bezeichnung lautete Magister Primus, und er stand in einer langen Kette von Magistern, die sich seit der Ankunft auf Maa um schulische Angelegenheiten gekümmert hatten und eine gewisse Narrenfreiheit genossen. Er verfügte über gute Kontakte zu den Räten von Maa und fungierte als Bindeglied zwischen den jungen Leuten und der Politik. Thelonious Arden war schon sehr alt. Manche behaupteten, er habe noch auf der Erde gelebt. Aber das war aus bereits mitgeteilten Gründen selbstverständlich Unfug. Man sah ihn nur selten, aber wenn man ihn erblickte – man erkannte ihn oft schon von weitem an seiner blitzenden Glatze – dann grüßte er stets freundlich. Traf eines der Kinder ihn allein an, sagte er oft merkwürdige Dinge, zum Beispiel: »Wie froh wäre ich, wenn ich mit euch jungen Leuten tauschen könnte. Eine lange Reise machen, weg von diesem langweiligen Planeten mit seinen Ökowächtern und moralischen Wichtigtuern, mit all diesen superkorrekten, sprachgereinigten Philistern, die sich für modern, offen und tolerant halten und in Wahrheit so jämmerlich bieder sind, dass man glaubt, mit lauter verkalkten Großväterchen zusammenzuleben.«

Die Kinder wussten zwar nicht, was Philister waren, ahnten aber, was Thelonious Arden sagen wollte. Nur konnten sie sich nicht vorstellen, dass er es mit seinem Gerede ernst meinte. Wahrscheinlich versuchte er nur, sie auf den Arm zu nehmen und sie ein wenig zu foppen, da er und sie doch selbst zu den Leuten gehörten, die er zu verachten vorgab.

»Stell dir vor«, sagte er eines Tages zu Jannis, als dieser ihm allein auf einem der vielen Wandelgänge im Inneren der Wabenhäuserwände begegnete, »stell dir vor, man soll jetzt nicht mehr vom Heimatplaneten Erde sprechen. Denn das Wort Heimatplanet impliziere, dass wir auf Maa nicht zu Hause, sondern dass wir hier nur Gäste seien. Wir befänden uns aber schon so lange auf Maa, dass uns der Planet mit allem, was sich darauf befinde, gehöre. Daher sei es wichtig, dass die Menschen sich nicht mehr wie Gäste, sondern wie Besitzer benähmen und endlich ihre Scheu vor den unentdeckten Landstrichen verlören und den Planeten zur Gänze eroberten. Nur so könne man wichtige Entdeckungen machen, die für uns alle das Überleben einfacher gestalteten. Ja, mein Kleiner, einige von diesen Wirrköpfen sind sogar der Meinung, dass man Maa umbenennen solle in Erde und die Erde fortan Maa nennen solle. Was hältst du davon?«

Jannis war sehr verlegen darüber, dass Thelonious Arden ihn ansprach. Die Hälfte des Vortrags hatte er daher vor Aufregung gar nicht mitbekommen. Deshalb erwiderte er nur kurz und knapp: »Maa ist Maa, und Maa ist unser Heimatplanet, wir haben keinen anderen. Dennoch sollte man ihn achtsam behandeln, so, als ob man ein Gast wäre und nicht sein Besitzer. Da ist doch nichts Schlechtes daran.«

»Gut gesprochen, mein Kleiner«, sagte Thelonious Arden und klopfte Jannis auf die Schulter, »ich sehe, in euch Kindern steckt mehr Weisheit als in unseren Politikern. Das lässt hoffen.« Der Alte grüßte Jannis erneut, dann ging er seiner Wege.

7

In Lageeso hatten sie eine neue und ungewöhnlich große Versammlungshalle gebaut. Eines Tages fanden sich alle dreihundert Kinder dort ein. Es war das erste Mal, dass sie aufeinandertrafen. Die Halle schien unendlich weit. An einem Ende saßen hohe Vertreter der Regierung und erhöht in ihrer Mitte der Präsident. Daneben, links und rechts, Angehörige des Wissenschafts- und des Ethikrats. Sie alle trugen die Insignien ihrer Würde. Die Wissenschaftler hatten schwarze Roben und Doktorhüte angezogen, die Ethiker waren ganz in Weiß gekleidet.

Die Kinder hatten in roten Overalls zu erscheinen, auf denen in Brusthöhe ihre Namen aufgenäht waren. An beiden Seiten der Versammlungshalle standen die Fahnen von Maa: Große, grüne Flaggen mit aufgenähten weißen Friedenstauben, die im Schnabel einen spitzen Pfeil trugen.

Es wurde ruhig im Saal. Der Präsident tippte mit dem Zeigefinger auf das Mikrophon vor seinem Platz. Es pochte hart aus den unsichtbaren Lautsprechern, die im Glasdach versteckt waren. Die Kinder blickten unwillkürlich hinauf und schauten in die beiden milchigen Sonnen, die im Zenit standen.

»Meine lieben Kinder«, sagte der Präsident, »wir haben uns heute hier versammelt, um uns vor euch zu verneigen.« Es verneigte sich aber niemand. Stattdessen setzte der Präsident seine Rede fort:

»Vor euch liegt eine große Aufgabe, eine Aufgabe von historischer Dimension. Ich und alle hier Anwesenden sind sich sicher, dass ihr diese Aufgabe bewältigen werdet, weil nichts an eurer Mission dem Zufall überlassen wird. Die klügsten Wissenschaftler sind an eurer Seite, die besten Techniker und Mediziner werden euch begleiten. Noch nie zuvor in der Geschichte von Maa wurde eine Expedition so akribisch geplant wie die eure. Man könnte fast sagen, zu jedem Zentimeter eurer Reise liegen mir ein Kilometer an begleitendem Datenmaterial vor.«

Dies sollte wohl ein Witz sein, denn die Erwachsenen im Raum begannen zu lachen. Die Mitglieder des Ethik- und Wissenschaftsrats lachten besonders laut, und es wirkte sehr aufgesetzt.

»Ich darf also behaupten, dass ihr während der sieben Jahre in der Prometheus sicherer aufgehoben sein werdet als in einer unserer vielen Schulen in Xaalina.« Wieder lachten die Erwachsenen.

»Und so muss ich gestehen, dass ich mir wenig Sorgen über eure Reise mache, nein, solche Sorgen wären ja auch gänzlich irrational, da sie einem Geist entsprängen, der die Erkenntnisse der Wissenschaft leugnete und von krankhaften Vorstellungen getrieben wäre, die ihn ein düstres Unheil sehen ließen, wo nur sauberster Verstand am Werke ist. Davon bin ich weit entfernt. Davon sind wir alle weit entfernt. Nein, meine Sorgen hebe ich mir für den Moment auf, da ihr das erste Mal die alte Erde betreten werdet. Werdet ihr dann stark genug sein, euren Auftrag zu erfüllen? Werdet ihr sieben Jahre lang euren Lehrern genügend zugehört haben, um dann zu wissen, was die Stunde geschlagen hat? Werdet ihr unsere auf Wissenschaft und Wahrhaftigkeit basierende Weltanschauung an die Menschen der alten Epoche zu vermitteln in der Lage sein? Mit anderen Worten: Werdet ihr sieben Jahre lang bereit sein, zu lernen, was ihr zu lernen habt, damit ihr am Ziel nicht versagt? Oder werdet ihr lieber mit Kindereien die Zeit verplempern und am Ende ein jämmerliches Bild unserer alles überragenden Zivilisation abgeben?«

Die Kinder warteten jetzt auf ein Zeichen von ihrem Ausbilder Francis Lafrance. Der stand zusammen mit Patti Middler zwischen einer der vielen Fahnen am Hallenrand, trat jetzt hervor, hob die rechte Hand, und die Kinder sprachen sogleich unisono:

»Wir geloben, unseren Lehrern Gehorsam zu erweisen, zu lernen und zu verinnerlichen, was sie uns zu vermitteln haben. Und wir versprechen, würdige Botschafter unserer Zivilisation zu sein, der einzigen, der Dauer im Universum beschieden ist, die das Gleichgewicht der Kräfte verinnerlicht hat, die alles Dunkle, Magische und Verworrene aus dem menschlichen Geist tilgte, um ein Leben in Frieden und im Einklang mit den kosmischen Kräften zu führen.«

Die Kinder sprachen diese Sätze gemeinsam, so wie es in den einzelnen Gruppen zuvor einstudiert worden war. Jannis bemerkte, wie einige Mütter, die sich im hinteren Teil des Saals befanden, zum Taschentuch greifen mussten, um sich ein paar Tränen aus den Augen zu wischen.

»So können auch wir euch versprechen, dass eure Namen in die große Historie von Maa eingeschrieben werden, direkt neben die Namen der ersten Kolonisten, dass euch bei eurer Rückkehr ein Ehrenplatz in der Gesellschaft sicher sein wird, und dass eure Taten in den Schulbüchern für lange Zeit als vorbildlich genannt werden sollen.«

Die Mitglieder der beiden Räte erhoben sich zeitgleich mit dem Präsidenten. Der Präsident fasste die Kinder streng ins Auge. Dann rief er:

»Widersagt ihr allen nationalistischen Bestrebungen und erkennt ihr unsere Nicht-Nation als wahre moralische Führungsnation an?«

»Wir widersagen und erkennen«, antworteten die Kinder.

»Widersagt ihr dem Irrglauben, es könne mehrere Wahrheiten statt eine geben und erkennt ihr unsere Wahrheit als die einzige und richtige an?«

»Wir widersagen und erkennen.«

»Widersagt ihr der Religion, der Literatur und den Künsten, die euer Hirn vernebeln wollen, und erkennt ihr allein die eindeutigen Fakten als für das Leben entscheidend und bestimmend an?«

»Wir widersagen und erkennen.«

»Widersagt ihr der Hybris, euch zwecks Erkenntnisgewinns des eigenen Verstandes bedienen zu wollen, und erkennt ihr an, dass es geschulte Denker gibt, die jedes Problem bereits weit tiefer erfasst haben als ihr es jemals zu erfassen vermöchtet?«

»Wir widersagen und erkennen.«

»Widersagt ihr euren Eltern, die euch aus egoistischen Gründen lieber nicht auf diese Reise gehen lassen möchten, und erkennt ihr den Staat als einzige Instanz an, der es gelingen kann, eure Anlagen zur vollen Entwicklung zu bringen?«

»Wir widersagen und erkennen«, sagten die Kinder erneut wie aus einem Mund, aber es klang deutlich leiser und asynchroner, so dass der Präsident seine Frage noch einmal stellte, weil er angeblich die Antwort nicht richtig verstanden hatte. Diesmal brüllten die Kinder geradezu: »Wir widersagen und erkennen.«

Nach der Veranstaltung, die nicht die letzte dieser Art vor der großen Reise sein sollte, ging Jannis mit Jala und Sergej zurück nach Hause. Sergej war fürchterlich genervt und hüpfte vor Aufregung vor den anderen beiden her. »Was für ein Theater«, sagte er. »Wie oft sollen wir diesen Unfug denn noch mitmachen?« Dann imitierte er mit tiefer Stimme den Präsidenten: »Widersagt ihr dem abendlichen Herumgammeln mit Freunden und erkennt ihr an, dass nur ein ausgeschlafener Geist unsren verqueren Ideen gewachsen ist?« Daraufhin gab er sich kleinlaut selbst zur Antwort: »Wir versagen und verpennen.«

Jala kicherte, wies Sergej aber trotzdem zurecht. »Mach dich nicht lustig über den Präsidenten, wenn er das herausbekommt, bleibst du hier, und wir gehen ohne dich auf die Reise.«

»Oh nein, lasst mich nur nicht hier zurück bei dieser Bande von moralisch Überheblichen«, zeterte Sergej. »Überall im Weltraum muss es besser sein als an diesem Ort, wo man nicht einmal mehr einen Hund halten darf, weil dieser sich in seiner Freiheit eingeschränkt fühlen könnte.«

»Du meinst einen Dronka«, korrigierte Jala.

»Aber Kinder sieben Jahre lang in ein Raumschiff einzusperren, das ist in Ordnung«, echauffierte sich Sergej weiter.

»Hast du nicht gerade gesagt, dass du unbedingt mit auf die Prometheus möchtest, um dich ein wenig freier zu fühlen?« fragte Jannis.

»Ja, selbstverständlich. Aber nur, weil es das kleinere Übel ist. Noch lieber wäre mir, man könnte hier auf Maa seine Freiheit genießen.«

»Was wolltest du denn mit ihr anfangen?« wollte Jannis wissen.

»Ich möchte auf die Südhalbkugel, am liebsten nach Faraday, dort kann man noch echte Abenteuer erleben. Stellt euch vor, dort soll es Wasserfälle geben, die nach oben fließen.«

»Dann wären es ja keine Wasserfälle, sondern Wassersteige«, belehrte ihn Jala.

»Och, genau das meine ich, diese permanente Besserwisserei. Wenn ihr so weiter macht, dann räumt man euch bei unsrer Rückkehr bestimmt ein Plätzchen im Wissenschafts- oder noch schlimmer im Ethikrat ein.«

»Das wäre doch eine hohe Ehre«, bemerkte Jannis.

»Das wäre tödlich langweilig und sonst gar nichts«, konterte Sergej. »Was ist bloß los mit euch? Wollt ihr so werden wie der Präsi und seine verkleideten Schnarchnasen oder wollt ihr das Leben genießen?«

»Du solltest dich dringend in deiner Sprachwahl mäßigen«, sagte Jala. »Wenn du so weiter machst, landest du noch auf Kor.«

Kor war der Ort, zu dem man angeblich alle Abtrünnigen brachte, aber niemand wusste, wo genau sich dieser Ort befand, ja, manche bezweifelten sogar seine Existenz, was übrigens auch ein Grund dafür sein sollte, dass man nach Kor verschleppt werden konnte, quasi als Kor-Leugner. Es hieß, Kor sei ein Gefängnis, aus dem es so gut wie kein Zurück mehr gebe. Ein Gefängnis für Menschen, die die Regeln von Maa missachtet hatten. Hierher kamen diejenigen, die die Regierung kritisierten, die heimlich Literatur lasen, den Gesang pflegten oder sich einer Umweltsünde schuldig gemacht hatten. Wer einen Dronka tötete, Abfälle im Meer entsorgte, Dinge aß, die von der Regierung nicht freigegeben worden waren, rassistische Äußerungen tätigte oder als wissenschaftsfeindlich galt, weil er bestimmte medizinische Eingriffe nicht an sich oder seinen Kindern vornehmen lassen wollte, aber auch, wer einen anderen verletzt, bestohlen oder Schlimmeres getan hatte, der musste damit rechnen, dass man ihm den Prozess machte und ihn aus der Gesellschaft entfernte. In Kor trafen daher die unterschiedlichsten Menschen aufeinander: üble Straftäter, harmlose Regierungskritiker und erkenntnishungrige Wissenschaftler. Nur ganz selten fand jemand aus Kor zurück. Diese Menschen waren gebrochen, sie hatten einen leeren Blick und sprachen ihr ganzes restliches Leben kein einziges Wort mehr. Ihre Entlassung diente nur einem Zweck: Sie sollten in der Gesellschaft Angst und Schrecken verbreiten und als mahnendes Exempel für all diejenigen dienen, die vorhatten, gegen den Staat zu opponieren oder seine Gesetze zu brechen.

8

»Es war ein Fehler«, sagte Jannis‘ Großvater, als sie wieder einmal zusammen Tee tranken und dem azurblauen Mond Bluluna bei seinem Aufgang beobachteten. Ein Schauspiel, das ihnen nie langweilig wurde. Die beiden anderen Monde waren zwar größer und häufiger zu sehen, hatten aber längst nicht die Strahlkraft von Bluluna. Wenn er über dem Horizont erschien, dann sah er zunächst nur aus wie eine dunkle, fast schwarze Kugel, doch je weiter er sich in den Himmel drehte, desto mehr wurde er von einem azurblauen Licht umspült. Die ungewöhnliche Lichtfarbe hatte mit einer komplexen Brechung der reflektierenden und miteinander interferierenden Strahlen der beiden Sonnen zu tun. So erklärte es die Wissenschaft. Schon wenige Minuten nach Blulunas Aufgang begann seine äußere Kreisperipherie hell zu leuchten, dann fraß sich das Licht stets von der oberen rechten Seite zur unteren linken Seite vor, und es sah so aus, als würde die schroffe Mondoberfläche in nur wenigen Augenblicken von einem geheimnisvollen azurblauen Meer überspült.

»Was für ein Fehler?« fragte Jannis, da sein Großvater beim Anblick des Mondes vergessen zu haben schien, was er sagen wollte. Der Großvater wandte den Blick von Bluluna ab und sah Jannis erstaunt an: »Na, dass wir hierher gekommen sind. Wir hätten auf der Erde bleiben sollen. Wir sind Menschen, und daher ist alles, was uns zu erkennen möglich ist, an die Erde gebunden. Die Evolution der Erde hat uns hervorgebracht, um sich ihrer selbst und ihrer Schöpfung bewusst zu werden. Unser Bewusstsein ist nicht dazu gemacht, um eine andere Evolution außerhalb der Erde zu erkennen.«

Jannis verstand nicht, was sein Großvater ihm sagen wollte. Versuchte er, ihn zu trösten? Wollte er ihm vermitteln, dass seine Reise zur Erde diesen Fehler wieder beheben könnte, weil er dahin zurückkehrte, von wo aus seine Vorfahren niemals hätten aufbrechen dürfen?

»Aber sie sind geflohen, weil ein Überleben auf der Erde nicht mehr möglich war«, versuchte Jannis einen Einwand zu erheben. »Ihre Evolutionsgeschichte war quasi zu Ende. Sie haben erkannt, dass sie auf ihrem Heimatplaneten nicht mehr länger existieren konnten. Und dieses Erkenntnisvermögen hat wiederum ihr Überleben gesichert, denn sie suchten sich erfolgreich eine neue Heimat.«

»Nein, sie waren zu dumm, um zu erkennen, dass sie es selber waren, die ihr Leben in Gefahr gebracht hatten.«

»Hat die Evolution also versagt?«

»Die Evolution hat keine andere Möglichkeit, als im fortschreitenden Prozess ihrer eigenen Bewusstwerdung mehr und mehr Verantwortung auf die Schultern der Erkennenden abzuladen. Das ist riskant. Denn je höher sich eine Spezies entwickelt, desto tiefer ist – wenn sie sich ihrer eigenen Entwicklung nicht gewachsen zeigt – ihr Fall. Die Menschen wurden zu Erkennenden, aber sie konnten nicht von ihrem Affendasein lassen, fühlten sich überheblich, wenn sie einen eigenen Baum besaßen, gelaust wurden, sich den Bauch vollschlagen und unbeschwert ihren sexuellen Bedürfnissen nachgehen konnten. Sie nutzten ihre Erkenntnisse quasi nur dazu, um dieses gemütliche Affendasein von Jahr zu Jahr noch perfekter zu gestalten. Hätte die Evolution sie gleichzeitig mit ihrer Bewusstseinsentwicklung von ihren Trieben und schlechten Charaktereigenschaften befreit, die Menschheit könnte heute tatsächlich auf einer neuen Evolutionsstufe stehen, die alle vorangegangenen Evolutionsstufen überstrahlte. So aber fürchte ich, dass die Evolution ihren Testlauf revidieren und mit ein paar neuen Affen versuchen wird, sich endlich zu transzendieren. Vielleicht gelingt es ihr beim zweiten Versuch. Oder beim fünften oder sechsten, denn wir wissen ja nicht, wie oft sie es schon versucht hat.«

Was Jannis‘ Großvater da redete, hätte bei anderen Menschen für eine Hinreise nach Kor ohne Rückfahrschein ausgereicht. Aber Professor Darian Frank genoss ähnlich wie Thelonious Arden eine gewisse Narrenfreiheit, und darüber hinaus besaß er gute Beziehungen bis in die obersten Regierungskreise, so dass er nichts zu befürchten hatte, selbst dann nicht, wenn sein Gespräch in diesem Moment abgehört werden sollte.

»Nun stell dir vor, diese Affen, die nur an ihr eigenes Wohlergehen denken, landen auf einem Planeten, auf dem sich ein weitaus intelligenteres Leben entwickelt hat als das ihre. Wären sie überhaupt in der Lage, es zu erkennen? Oder wären sie nur damit beschäftigt, die fremden Bodenschätze, Pflanzen und Tiere für ihre eigene Optimierung zu nutzen?« Der Großvater philosophierte ungebremst weiter und schien davon auszugehen, dass Jannis alles verstand, was er sagte.