Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach sieben Jahren hat die Prometheus die Erde endlich erreicht. Doch bei einer ersten Expedition, die Jannis, Jala, Sergej, Alice und Hiroto mit dem Shuttle unternehmen dürfen, geraten sie augenblicklich in Konflikt mit der Unterwasserwelt Europolis, einem Ableger der europäischen Zivilisation, die sich auf den Grund des Atlantiks zurückgezogen hat. Von dort aus versucht man, das Festland, das zur Heimat der Nicht-Europäer geworden ist, mit einer neuen rabiaten Erfindung zurückzugewinnen. Während in der Atlantik-Metropole der alte Kriegsgeist Europas überlebt hat, stoßen sie im zerstörten Paris auf allerhand unterschiedliche ideologische Glaubensgemeinschaften, die in den Trümmern der einstigen Stadt hausen und sich gegenseitig bekämpfen. Gemeinsam mit Thelonious Arden begeben sie sich inmitten dieses postapokalyptischen Umfelds auf die Suche nach dem Poetikon. Dabei führt sie ihr Weg von der Stadt an der Seine nach St. Petersburg, wo wieder ein Zar regiert, sie stoßen auf eine junge widerspenstige Schauspieltruppe, die im ehemaligen Fabergé-Museum lebt, unternehmen eine Reise zu den Sens, einem von den Europäern ausgebeuteten Volksstamm in Afrika, müssen die Wächterin des Svalbard Global Seed Vault auf Spitzbergen und ihre bösartigen Jötunn von ihren guten Absichten überzeugen und erfahren durch Zufall von der Galeasse, einem ehemaligen NASA-Raumschiff, in welchem die Kollektoren die großen Bibliotheken der Erde untergebracht haben sollen, um sie nicht nur im Poetikon, sondern auch physisch für die Nachwelt zu erhalten. Doch die Suche nach der Galeasse stürzt die Besatzung der Prometheus schon bald in das größte Abenteuer ihrer Reise, denn niemand an Bord ahnt, wie sich das literarische Erbe an Bord in der Gravitationsanomalie einer Einstein-Rosen-Brücke verhalten wird, einem Wurmloch, durch das Jala das alte Bibliotheksschiff geradewegs hindurchsteuern soll. (Bd.3 der Jannis-Frank-Reihe) "Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen."
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 612
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ben Castelle
Jannis Frank
und
Das Poetikon
Roman
Die Jannis-Frank-Reihe
Jannis Frank und Das Dunkelschiff
Jannis Frank und Die Leerzeit
Jannis Frank und Das Poetikon
Jannis Frank und Die Kinder von Maa
Impressum
© 2024 Ben Castelle
Umschlag, Illustration unter Verwendung eines Bildes von CaryllN unter der Lizenz von iStock.com.
ISBN
Softcover: 978-3-384-24899-2
Hardcover: 978-3-384-24900-5
E-Book: 978-3-384-24901-2
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Eifeler Presse Agentur, Abteilung »Impressumservice«, Keldenicher Straße 19, 53925 Kall, Deutschland.
Über dieses Buch:
Nach sieben Jahren hat die Prometheus die Erde endlich erreicht. Doch bei einer ersten Expedition, die Jannis, Jala, Sergej, Alice und Hiroto mit dem Shuttle unternehmen dürfen, geraten sie augenblicklich in Konflikt mit der Unterwasserwelt Europolis, einem Ableger der europäischen Zivilisation, die sich auf den Grund des Atlantiks zurückgezogen hat. Von dort aus versucht man, das Festland, das zur Heimat der Nicht-Europäer geworden ist, mit einer neuen rabiaten Erfindung zurückzugewinnen. Während in der Atlantik-Metropole der alte Kriegsgeist Europas überlebt hat, stoßen sie im zerstörten Paris auf allerhand unterschiedliche ideologische Glaubensgemeinschaften, die in den Trümmern der einstigen Stadt hausen und sich gegenseitig bekämpfen. Gemeinsam mit Thelonious Arden begeben sie sich inmitten dieses postapokalyptischen Umfelds auf die Suche nach dem Poetikon. Dabei führt sie ihr Weg von der Stadt an der Seine nach St. Petersburg, wo wieder ein Zar regiert, sie stoßen auf eine junge widerspenstige Schauspieltruppe, die im ehemaligen Fabergé-Museum lebt, unternehmen eine Reise zu den Sens, einem von den Europäern ausgebeuteten Volksstamm in Afrika, müssen die Wächterin des Svalbard Global Seed Vault auf Spitzbergen und ihre bösartigen Jötunn von ihren guten Absichten überzeugen und erfahren durch Zufall von der Galeasse, einem ehemaligen NASA-Raumschiff, in welchem die Kollektoren die großen Bibliotheken der Erde untergebracht haben sollen, um sie nicht nur im Poetikon, sondern auch physisch für die Nachwelt zu erhalten. Doch die Suche nach der Galeasse stürzt die Besatzung der Prometheus schon bald in das größte Abenteuer ihrer Reise, denn niemand an Bord ahnt, wie sich das literarische Erbe an Bord in der Gravitationsanomalie einer Einstein-Rosen-Brücke verhalten wird, einem Wurmloch, durch das Jala das alte Bibliotheksschiff geradewegs hindurchsteuern soll.
„Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen.“
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
für Martina und Anna
1
Weil der Aufzug wieder einmal defekt war, nahm Sergej die Metalltreppen bis in die unteren Decks. Er wollte unbedingt, dass es die gesamte Maraldi-Klasse von ihm erführe. Also jagte er die Stufen hinab wie jemand, der von einem Monster gejagt wurde. Ting-ting-ting-ting-ting, hallte es durch den tiefen Treppenschacht.
Sergej hatte schon gut zehn Decks zurückgelegt und mittlerweile in einen Rhythmus gefunden, der sich ihm von selber aufgedrängt hatte. Den Auftakt machte stets das Ting-ting-ting-ting-ting, das von seinen Tritten auf den Metallstufen herrührte, dann landete er mit einem Riesensprung, bei dem er drei Stufen überflog, auf dem nächsten Treppenabsatz und erzeugte dabei ein tiefes basslastiges Bumm, machte sodann einen großen Schritt nach rechts, um in entgegengesetzter Abwärtsrichtung erneut das Ting-ting-ting-ting-ting ertönen zu lassen.
So ein Rhythmus ist an sich eine gute Sache, alles geht einem leichter von der Hand, oder wie in diesem Fall, von den Füßen. Aber einen Rhythmus zu halten, ist zuweilen gar nicht so einfach, vor allem, wenn man glaubt, man könne ihn beliebig beschleunigen. In solchen Fällen bricht oft das ganze System auseinander, und man gerät im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Takt. So ging es auch Sergej auf Deck 14, als er am Ende eines Absatzes versuchte, vier statt drei Stufen zu überspringen. Er strauchelte, stürzte und holte sich, nachdem er gegen das Sicherheitsgitter geknallt war, eine blutige Stirn. Verärgert wischte er sich ein wenig Blut mit dem Handrücken fort, atmete einmal tief ein und aus und nahm seinen alten Rhythmus wieder auf. Ting-ting-ting-ting-ting ... bumm!
Warum mussten seine Mitschüler auch ausgerechnet heute in einem der unteren Decks erklärt bekommen, wie man den Treibstoff für den Fusionsreaktor herstellt? Und warum hatte er ausgerechnet heute seinen Gesundheitscheck bei Dr. William Hunter? Andererseits hätte er es gar nicht als Erster erfahren, wenn er nicht beim Doktor gewesen wäre. Denn Dr. Hunter wusste es von Pieter De Jong, der eine Viertelstunde vor Sergej wegen einem eingewachsenen Zehnagel vorstellig geworden war, und der sich wiederum auf der Brücke befunden hatte, um dort mit der Kommandantin ein paar Umbauarbeiten zu besprechen, als der Erste Offizier Balram Brown es verkündete. Noch also wussten es nur wenige, doch jeden Moment konnte es eine Durchsage in den Bordlautsprechern geben, und dann wussten es alle, und Sergejs Nachricht war nichts mehr wert und seine ganze unmenschliche Anstrengung nur noch lächerlich.
Also weiter. Noch zehn Decks, dann die knapp zweihundert Meter bis zum Heck des Schiffes, die Tür aufgerissen und die Neuigkeit verkündet. Sergej erinnerte sich an diesen alten griechischen Läufer, von dem er im Szientikon gelesen hatte. Nach dem Sieg der Athener in der Schlacht von Marathon soll er die vierzig Kilometer bis nach Athen zurückgerannt sein, um dort als Erster die Botschaft »Wir haben gesiegt« zu überbringen. Danach war er allerdings, so hieß es, tot umgefallen.
So schlecht war es dann doch nicht um Sergejs Kondition bestellt. Er bewältigte den Rest der Treppe ohne weitere Blessuren, eilte im Laufschritt bis zum Heck des Schiffes, schob kraftvoll die Tür auf und wollte der Maraldi-Klasse, die sich gerade ansah, wie einer der Techniker Wasser und Gesteinsmehl zusammenrührte, seine Sensationsnachricht mit lauter wenngleich auch atemloser Stimme zurufen, da knackte es in den Bordlautsprechern, ein Gongschlag ertönte und die Kommandantin sagte: »Eine wichtige Durchsage an alle. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass wir Sichtkontakt haben, Sichtkontakt mit der Erde.«
2
Thelonious Arden lag in seiner Schlafbox. Der Rollladen war hochgeschoben, und er blickte hinaus in die Sterne. Es waren Monate vergangen, seitdem der Erste Offizier Balram Brown die Zwerggalaxie Aquarius II am Hochzeitstag von Patti Middler und Francis Lafrance entdeckt hatte. Mittlerweile waren sie längst in das einzige Sternsystem eingetreten, das zu Recht den Namen Galaxie trug, weil die alten Griechen ihm den Namen galaxías gegeben hatten, ein Wort, das abgeleitet war von den Begriffen gála und gálaktos, die beide »Milch« bedeuteten.
Thelonious Arden erinnerte sich an die antike griechische Sage, wonach Zeus seinen Sohn Herakles, den er mit der Sterblichen Alkmene gezeugt hatte, heimlich bei Nacht an der Brust seiner schlafenden Frau Hera trinken ließ, damit der Mischling göttliche Kräfte tanke. Aber Herakles saugte so ungestüm, dass Hera aus dem Schlaf erwachte, das fremde Kind bemerkte und es mit Gewalt von sich wegstieß. Dabei spritzte ein Strahl ihrer Milch über den ganzen Himmel hinweg, und die Galaxie war geboren.
Thelonious Arden dachte darüber nach, dass die alten Griechen instinktiv erahnt haben mussten, dass die Milchstraße sich nicht über viele Milliarden Jahre zusammengeballt haben konnte, sondern dass sie mit einer Art Explosion aus dem Nichts entstanden sein musste. Hunderte von Milliarden Sternen mit dem Gewicht von über eintausendfünfhundert Milliarden Erdensonnenmassen waren quasi in einer Sekunde aus der Brust einer Göttin gespritzt, nur so konnte man sich das Unbegreifliche begreiflich machen, nicht mit Wissenschaft, sondern mit einer Geschichte.
Thelonious Arden fragte sich, wie oft das Universum schon kollabiert war und alle Materie darin sich auf die Größe eines Atoms zusammengeballt hatte, um sodann wieder auseinander zu krachen und die gesamte Evolutionsgeschichte von vorne beginnen zu lassen. Und er fragte sich, ob dabei jedes Mal dieselben Prozesse abliefen, so dass er vielleicht schon Millionen Mal hier in seinem Bett gelegen und zum Fenster hinausgeblickt hatte. Ja, schlimmer noch, war er vielleicht auch schon Millionen Mal zur Erde geflogen, und war seine Lebensgeschichte nichts weiter als ein festgeschriebener Ablauf von Ereignissen, die das Universum seit ewigen Zeiten reproduzierte und die es in- und auswendig kannte, während diese Ereignisse für ihn immer wieder neu und überraschend und mit unbekanntem Ausgang schienen?
Oder waren es nie dieselben Prozesse, die nach dem Urknall einsetzten, sondern nur ähnliche, so dass sich das Universum jedes Mal ein wenig anders entwickelte, vielleicht nicht im Großen und Ganzen, aber dafür im Kleinen und kaum Beachteten. Konnte es also doch sein, dass das Universum zum ersten Mal so etwas wie Menschen hervorgebracht hatte und dass vielleicht Äonen vergehen würden, bevor sich jemals wieder ein Mensch aus der Ursuppe entwickelte? Oder lernte das Universum bei jedem Durchlauf etwas dazu? Und würde es vielleicht nach dem nächsten Urknall darauf achten, dass der Mensch nicht mit diesem kriegerischen und egoistischen Charakter ausgestattet würde und sich friedlicher und freundlicher zu allem verhielte, was mit ihm gemeinsam das Licht der Welt erblickt hatte? Oder war es am Ende doch nur menschliche Hybris, zu glauben, das Universum interessiere sich auch nur einen Deut für den Menschen? Im ganzen Kosmos herrschte doch ebenso Krieg. Planeten krachten ineinander, Sonnen explodierten, rissen dabei ganze Galaxien in die Dunkelheit und schleuderten alle Gestirne aus der Umlaufbahn ins kalte Nirgendwo. Auch die Sonne, die die Erde erwärmte, würde eines Tages kollabieren und mit ihr das gesamte Sonnensystem. Kein Atom blieb auf dem anderen, alles war im permanenten Wandel begriffen. Was heute noch fest und wie für die Ewigkeit gefügt erschien, war morgen schon ein galaktischer Trümmerhaufen.
Wenn man die Geschichte des Menschen aus der Perspektive des Universums betrachtete, dann war sie einfach nur jämmerlich. Wie absurd war es, in diesem unendlichen Kosmos mit all seinen möglichen und erst noch zu entdeckenden Welten der Frage nachzugehen, wie man seinem Nachbarn am besten den Schädel einschlagen und seine Reichtümer an sich bringen konnte? Aus der kosmischen Perspektive war der Mensch nicht mehr als eine Bakterie, und dennoch war er die einzige Bakterie, die Sprache besaß, um dem Universum ein Bewusstsein seiner selbst zu geben. Niemand sonst in dieser ganzen Unendlichkeit, so weit man sie überblickte, war dazu in der Lage. Niemand konnte die Sonne, den Mond und alle Sterne beim Namen nennen. Denn es war ja nicht so, dass der Mensch sich mit anderen Menschen geeinigt hatte, dies Ding so und das Ding so zu nennen, damit man sich sodann leichter über die Gegebenheiten in der Welt verständigen konnte. Nein, das waren Ammenmärchen. Es war ja von Anfang an nie nur um Bezeichnung gegangen, sondern darum, den Dingen in der Sprache eine Bedeutung zu geben. Aber seitdem die Menschen im 19. Jahrhundert die Zeitungen erfunden hatten, war die Empfindsamkeit für das Bedeutende immer mehr aus der Welt verschwunden, bis der überwiegende Teil der Menschheit wirklich glaubte, dass die Art und Weise, wie in diesen Blättern von der Welt gesprochen wurde, die Tatsachen dieser Welt verbürgten, weil sie nicht begriffen, dass auch Tatsachen in Wahrheit nur Sprachsachen waren. In diesem Moment hatte eine geistige Degenerierung ihren Anfang genommen, in deren Folge die Menschen sich von einem großen Krieg in den anderen stürzen ließen, weil sie nicht mehr begriffen, dass sie ihr Sprachbewusstsein verloren hatten und damit das, was sie im gesamten Universum als einzigartig auszeichnete.
Es klopfte an die Tür, und als Thelonious Arden bat, man möge eintreten, erschien Patti Middler.
»Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte Patti Middler. »Ich werde Sie nicht lange stören. Ich möchte Sie nur um etwas bitten.«
Thelonious Arden durchbrach nur langsam das dichte Gedankengestrüpp, in dem er sich verheddert hatte, richtete sich mühselig im Bett auf und bat seinen Gast, sich doch auf die Bodenkissen zu setzen. Patti Middler sagte jedoch, dass sie gerade ein wenig Probleme habe, sich so tief herabzulassen, was Thelonious Arden, nachdem er sie einmal kurz in Augenschein genommen hatte, mit den Worten quittierte: »Ah, verstehe.« Er bat sie also, sich auf die Kante seines Bettes zu hocken. Er selber könne ruhig ein wenig stehen, er habe genug herumgelegen und sinniert, Zeit, dass er sich ein wenig die Beine vertrete und ins Leben zurückkehre.
Patti Middler hockte sich gern auf die Bettkante und seufzte dabei tief, als ob sie der kurze Gang zu Thelonious Arden sehr ermüdet hätte. »Es ist so ... wie soll ich sagen ...?« fing sie an.
»Nur frei heraus mit der Sprache«, ermunterte sie Thelonious Arden, der sich jetzt mit dem Rücken zum Bordfenster gestellt hatte und dessen Haupt von einem fernen Sternennebel wie von einem Heiligenschein umgeben war, »ich ahne bereits, dass es sich um Ihren Zustand, oder sagen wir besser, Umstand handelt.«
»In der Tat, ja, Sie haben es schneller bemerkt als Francis.« Patti Middler lachte. »Ich weiß bereits nach meinem letzten Besuch bei Dr. William Hunter, dass es ein Junge wird, deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie etwas dagegen hätten, wenn ich ihn ... nun, Sie können ruhig nein sagen ... ich meine, ich verstehe, wenn Ihnen das ein wenig unangenehm ist, aber ... ich hatte gedacht, weil ... im Grunde genommen könnte es natürlich auch jeder andere Name ... aber da wir uns so gut kennen und Sie auch diese schöne Hochzeitsrede gehalten ... also, wie denken Sie darüber?«
Thelonious Arden war ein wenig verwirrt. Was genau wollte die Frau von ihm? Hatte er das richtig verstanden, dass sie ihrem Sohn seinen Namen geben wollte?
»Haben Sie sich das gut überlegt?« fragte er und sah geradezu besorgt aus.
»Ich habe seit Tagen über nichts anderes nachgedacht ... weil, es ist ja sehr wichtig ... ich meine, so ein Name, der kann ...«
»Nun, es ehrt mich, aber wollen Sie Ihrem Sohn wirklich einen so altertümlichen Namen wie Thelonious geben?« Thelonious Arden fand das Ansinnen sehr sonderbar. Er kannte niemanden, der seinen Namen trug, und er selber hätte, wenn er jemals Vater gewesen wäre, keinem seiner Kinder diesen Namen gegeben.
»Was? Ach nein, ich meinte nicht Thelonious, ich meinte Arden. Ich möchte unseren Sohn gern Arden nennen. Im Szientikon steht, das sei Hebräisch und bedeute so viel wie Vergnügen, Schönheit, Paradies und Wonne. Ich frage Sie, kann man einem Kind einen schöneren Namen geben?«
Thelonious Arden lachte herzlich. »Nein, in der Tat, etwas Schöneres lässt sich schwerlich ausdenken. Aber ich fürchte, Sie haben meinen Namen mit dem Namen Eden verwechselt. Arden kommt aber nicht von Eden. Arden kommt wohl eher aus dem Lateinischen von ardens, das bedeutet so viel wie feurig, mitreißend, heftig, leidenschaftlich.«
Patti Middler stutzte, dann überlegte sie und lächelte schließlich. »Der Leidenschaftliche, der Mitreißende, der Feurige, also das gefällt mir sogar noch besser. Mein größter Wunsch ist, dass der kleine Arden auf der Erde das Licht der Welt erblickt.« Patti Middler streichelte ihren Bauch.
»Da wird er sich aber noch ein wenig gedulden müssen, wir wollen mal hoffen, dass er nicht allzu neugierig ist und es ihm im Mutterbauch zu langweilig wird.«
»Aber wir haben doch bereits Sichtkontakt«, erwiderte Patti Middler.
Thelonious Arden verstand nicht, was sie damit meinte und ob sie vielleicht von ihrer letzten Ultraschalluntersuchung sprach.
»So, so Sichtkontakt«, murmelte er daher nur.
»Haben Sie etwa noch nichts davon gehört, es kam doch vor einigen Stunden durch alle Bordlautsprecher.«
»Entweder ist mein Lautsprecher defekt oder ich war in Gedanken woanders.«
Jetzt lachte Patti Middler. »Sie wollen sagen, Sie wissen als einziger Mensch auf diesem Schiff noch nicht, dass wir Sichtkontakt zur Ede haben?«
Thelonious Arden musste sich an der Brüstung des Bordfensters festhalten. »Was sagen Sie da?«
»Der Erste Offizier hat bereits Bilder angefertigt, noch ist da selbstverständlich wenig zu sehen, nur ein kleiner blauer Punkt, aber in gut sieben Monaten dürfte man schon die fünf Kontinente erkennen können.«
3
Die Nachricht vom Sichtkontakt hatte auf dem gesamten Schiff für helle Aufregung gesorgt. Zum ersten Mal rückte das Ziel der Erdmission in unmittelbare Nähe, wenngleich sieben oder acht Monate auch noch immer eine sehr lange Zeit waren, aber verglichen mit den Jahren, die hinter den Reisenden lagen, schien die Zeitspanne, die jetzt noch zu bewältigen war, überschaubar.
Jeder wollte in den nächsten Stunden unbedingt einmal die winzigkleine blaue Kugel sehen, die Balram Brown entdeckt hatte, obwohl »entdeckt« nicht das richtige Wort ist. Denn nachdem sie die Zwerggalaxie Aquarius II erreicht hatten, standen die Koordinaten, an denen sich die Erde befinden musste, quasi fest. Der direkte Blick auf den Planeten war nur aufgrund der planetaren Konstellationen nicht möglich gewesen und würde schon bald auch wieder für längere Zeit unmöglich werden. Umso mehr freute es den Ersten Offizier, dass es ihm bereits beim Eintritt in die Milchstraße gelungen war, ein Bild von der Erde zu erhaschen, denn er ahnte, dass dies sehr gut für die Stimmung an Bord sein würde.
Da man Sorge hatte, die Brücke könnte von Neugierigen überlaufen werden, hatte die Kommandantin angeordnet, das dreidimensionale Erdenbild direkt in die Versammlungshalle zu projizieren. Dort konnte es sich ein jeder der Reihe nach ansehen. Man musste allerdings schon recht nah an die Projektion herantreten, um darin die kleine blaue Kugel inmitten von Milliarden Sternen und Nebelschwaden zu erkennen. Aber eine Vergrößerung hätte so viel Unschärfe in das Bild gebracht, dass der Erste Offizier bewusst darauf verzichtet hatte.
Jannis, Jala, Alice, Hiroto und Sergej trafen am Nachmittag in der Halle ein. Sergej war immer noch sauer auf die Kommandantin, weil diese ihm die Show gestohlen hatte, allerdings ohne es zu wissen. Er konnte vor der Maraldi-Klasse nur noch wiederholen, was eine Sekunde zuvor bereits aus den Bordlautsprechern gekommen war, aber die Wiederholung hatte natürlich längst nicht mehr das Gewicht wie die ursprüngliche Nachricht gehabt. Jetzt war es albern, überhaupt noch auf der Sache herumzureiten, aber Sergej konnte dennoch nicht verbergen, dass er schlechte Laune hatte.
»Du scheinst ja hocherfreut, dass wir endlich unser Ziel in Sicht haben«, sagte Jannis, dem die Verstimmung von Sergej nicht unbemerkt geblieben war.
»Eine so große Sache ist das nun auch wieder nicht«, versuchte Sergej die Angelegenheit kleinzureden »schließlich hat Jala alles vorher genau berechnet, was sollte da noch schiefgehen?«
Jala blickte Sergej erstaunt an. »Seit wann hast du eine so hohe Meinung von meinen Berechnungen?«
»Ist doch egal«, antwortete Sergej, ging schnellen Schrittes bis zur Projektion, warf einen kurzen Blick darauf und wollte sich wieder abwenden, um zu gehen.
»Was ist nur in dich gefahren?« Alice hielt Sergej an der Schulter fest. »Nun schau doch mal her, das ist der Ort, von dem deine Vorfahren einst aufgebrochen sind, und du würdigst diesen Planeten nicht eines Blickes?«
»Lass nur«, unterbrach Hiroto, »der junge Mann kann nur mit der Situation nicht umgehen. Am liebsten möchte er heulen, aber das wäre ihm gleichzeitig peinlich.«
Sergej riss sich von Alice los und ging davon.
»Was hat er nur?« fragte Jala. »Er ist schon den ganzen Tag so merkwürdig.«
»Na ja, es ist halt schwierig«, versuchte Jannis Sergejs Benehmen zu erklären. »Wir sprechen immer vom Heimatplaneten, aber wenn wir ehrlich sind, dann ist der Planet Maa unser Heimatplanet. Die Erde sagt uns eigentlich wenig. Ich meine, wir haben Bilder von ihr gesehen, wunderschöne und auch sehr hässliche Bilder. Aber großgeworden sind wir auf Maa. Dort haben wir unsere ersten Spiele gespielt, unsere ersten Freunde fürs Leben gefunden, deshalb verspürt Sergej jetzt dasselbe wie ich, nämlich Heimweh nach Maa und nicht nach der Erde, obwohl sie doch unser heißersehntes Ziel sein sollte.«
»Ach so«, sagte Jala, und Jannis begriff, dass sie kein Wort von dem verstand, was er gesagt hatte.
»Also ich freue mich auf die Erde«, sagte Alice. »Nach all diesen Jahren auf der miefigen Prometheus endlich wieder richtigen Boden unter den Füßen zu haben, allein das ist doch schon ein Grund, vergnügt zu sein.«
»Stell dir das nicht zu einfach vor.« Hiroto sah Alice ernst an. »Möglich, dass wir eine Zeit lang benötigen werden, um uns an die Schwerkraft der Erde zu gewöhnen. Schließlich ist der blaue Planet viel leichter als Maa. Es wird sich also ein wenig so anfühlen, als ob wir ein paar Kilo abgespeckt hätten.«
»Ich muss dich enttäuschen, mein Bester«, erwiderte Jala. »Wie du weißt, genießen wir hier an Bord eine künstliche Schwerkraft, die, als wir unsere Reise begonnen haben, exakt so eingestellt war wie die natürliche Schwerkraft auf Maa. Doch die Erbauer dieses Schiffes waren durchaus intelligent, denn sie richteten es so ein, dass die Schwerkraft sich über all die Jahre ein wenig verringerte. In dem Moment, da wir unser Ziel erreichen, wird sie exakt so sein wie auf der Erde. Aber du hast trotzdem recht, wir werden uns vor Ort erst assimilieren müssen. Denn das Luftgemisch auf der Erde ließ sich leider nicht im Voraus berechnen. Möglich, dass es nur noch geringe Spuren von Sauerstoff gibt, möglich auch, dass wir ohne Sauerstoffmasken das Shuttle gar nicht verlassen können.«
»Das ist alles so aufregend«, sagte Alice, »wo werden wir das erste Mal landen? In einer Großstadt? New York? Paris? Moskau? Wenn es nach all den Kriegen denn überhaupt noch Großstädte gibt. Oder im Dschungel von Borneo? Oder in Australien, wo es diese Beuteltiere gegeben haben soll. Und wie werden wir uns mit den Menschen verständigen können? Werden wir eine gemeinsame Sprache finden? Oder stellt euch vor, wir landen wieder in einer Wüste, vielleicht in dieser schrecklich heißen Gabi ...«
»Gobi«, wies Jala Alice zurecht, »aber mach dir keine Sorgen über die Sprache. Wir haben unsere Glastafeln, die alles übersetzen, vorausgesetzt, die Sprachen haben sich ganz natürlich weiterentwickelt und es gibt nicht so etwas wie eine künstliche Weltsprache, die die natürlichen Sprachen verdrängt hat.«
»Vielleicht sprechen die Menschen auch gar nicht mehr«, sagte Jannis. »Es wäre wahrscheinlich das Beste, denn in den letzten Jahrhunderten haben sie ohnehin nur Unsinn geschwätzt.«
»Man merkt, dass du deine Zeit neuerdings mit Thelonious Arden verbringst«, wandte Hiroto ein, »derselbe Sprachpessimismus wie beim Alten.«
Jannis protestierte. Er sei kein Sprachpessimist. Sprachpessimisten seien Menschen, die glaubten, dass die Sprache nicht geeignet sei für den menschlichen Erkenntnisgewinn, da sie zu bildhaft und ungenau sei. Er aber glaube, dass man gerade in ihren Bildern eine Genauigkeit erreichen könne, die schärfere und vor allem bedeutendere Erkenntnisse liefere, als es die Wissenschaften mit ihrem bewusst bildfernen Sprachgebrauch jemals vermöchten.
Hiroto sagte nur »huh, huh« und fächelte sich mit der flachen rechten Hand Frischluft zu. »Wann sagtest du, wirst du den Job des Alten übernehmen?«
Jannis lachte. »Thelonious Arden ist ein Unikat, den kann man nicht einfach so beerben, man müsste jahrzehntelang auf seinen Spuren wandeln, um nur annähernd zu erkennen, in welche Richtung er geht.«
»Er ist ein Buch mit sieben Siegeln«, sagte Alice, weil sie diese Redewendung mal irgendwo gehört hatte und seither zu verstehen glaubte, was Walter Sternheim unter einem »Fluch mit sieben Spiegeln« verstand.
»Nein, im Gegenteil«, sagte Jannis, »er ist überhaupt nicht versiegelt, er ist total offen. Nur sind wir diese Offenheit nicht gewohnt, weil Erwachsene normalerweise Sprachmasken tragen, wenn sie mit uns reden. Aber Thelonious ...«
»Sprachmasken?« Alice schüttelte den Kopf. »Was soll das nun wieder heißen?«
»Jannis meint, dass Erwachsene bei allem, was sie dir sagen, eine Intention haben«, erklärte Hiroto. »Sie geben sich gern einsichtig und freundlich, wollen dich aber in Wahrheit nur dorthin bugsieren, wo sie dich gern hätten. Du sollst letztendlich nur die gesellschaftlichen Gepflogenheiten annehmen und ansonsten den Mund halten.«
Alice hielt das für Unsinn, zumal ihr diese Aussage viel zu allgemein gehalten war. Ihr Onkel Pieter beispielsweise war ganz anders, obwohl – so viel musste sie doch zugeben – ein paar Mal hatte auch er bereits versucht, sie dazu zu überreden, Architektin zu werden. Und dennoch ...
Jetzt kamen Damion Dagwood und sein Team in die Halle. Sie marschierten direkt bis nach vorn, drängten die vier Mitschüler zur Seite, und Damion machte einige abschätzige Bemerkungen über die Kleinheit der Erde.
»Schade, dass ich meinen Queue nicht dabei habe«, sagte er, »mir stünde der Sinn nach einer Runde Milchstraßenbillard.«
»Hast du deinen Zerstörungstrieb nicht schon genug ausgelebt?« fragte Jannis.
Damion Dagwood sah Jannis schräg von der Seite an, als ob er ihn jetzt erst bemerkt hätte. Er sah aus, als wolle er den alten Zwist mit Jannis fortsetzen. Doch dann lachte er und sagte: »Offensichtlich nicht, ansonsten würdet ihr vier Pfeifen ja nicht hier die Aussicht behindern.«
Jannis überlegte, ob man diese Aussage als Geständnis werten konnte, dass Damion das Shuttle manipuliert hatte, aber es konnte sich auch einfach nur um sein typisches großspuriges Gerede handeln, mit dem Dagwood stets den Eindruck zu vermitteln versuchte, dass er hinter jeder Schandtat an Bord der Prometheus stand, einfach nur, weil es gut für sein Image war. Überhaupt glaubte Jannis, dass Roberto Rammon weitaus mehr als Täter in Frage käme, quasi als Rache dafür, dass man ihn einfach so umgetreten hatte. Das Problem war nur, dass Rammon nicht die geringsten Kenntnisse über ein Shuttle besaß und ohne fremde Hilfe wahrscheinlich nicht einmal mehr die Einstiegsklappe gefunden hätte.
Alice zog Jannis am Ärmel und forderte ihn auf, zu gehen. »Lass dich nicht auf diesen Idioten ein«, sagte sie, »sonst verdreht er sich wieder das Knie.«
Jannis bemerkte, dass June sich immer so hinter den anderen in ihrer Gruppe versteckte, dass er ihr nicht in die Augen sehen konnte. Da er keine Lust auf einen weiteren Streit hatte, drehte er sich um und sagte: »In Ordnung, gehen wir.«
4
Das Ende der Leerzeit wirkte sich ganz unterschiedlich auf die jungen Leute aus. Die einen waren aufgeregt und machten den Eindruck, aus dem Winterschlaf erwacht zu sein, anderen bereitete es Sorgen, was sie auf der Erde erwarten könnte. Insgesamt aber verzeichneten die Lehrer wieder mehr Anteilnahme am Unterricht, da die Schüler jetzt das Gefühl hatten, sie lernten nicht nur, um sich die Zeit zu vertreiben, sondern um Dinge zu wissen, die beim Einsatz auf der Erde überlebenswichtig sein konnten.
Nur Thelonious Arden unterrichtete weiter Handschrift. Mittlerweile waren seine Schüler schon sehr gut darin, mit der Hand zu schreiben, so dass man ihnen für weitere Übungen Papier aushändigte. Darüber hinaus verstanden sie es aber auch immer besser, alte Handschriften zu lesen. Und als Jannis einmal den Versuch unternahm, noch einmal die Nachricht zu entziffern, die sein Großvater ihm vor vielen Jahren übermittelt hatte und die er immer noch aufbewahrte, wunderte er sich, dass er jedes Wort auf Anhieb erkannte.
Jorge Stankow verzichtete neuerdings darauf, die Geschichte des Planeten Maa, die der Kolonisten und der Humanökologen nachzuzeichnen, und hielt es für sinnvoller, von Ereignissen auf der Erde zu sprechen. So erfuhren die Schüler im Schnelldurchlauf etwas von der Französischen Revolution, der Abschaffung der russischen Leibeigenschaft, den Grundzügen von Kapitalismus, Nationalsozialismus, Sozialismus und Kommunismus, dem Ersten, Zweiten und Dritten Weltkrieg, der Vernichtung der europäischen Juden, die Blockade Leningrads, dem Feuersturm von Dresden, der Atombombe und dem ersten Flug zum Mond sowie Kriegen in Korea, Vietnam und all den anderen Stätten des Grauens, bis hin zu jenem ultimativen letzten weltumspannenden Gefecht, in dessen Folge so viele Menschen die Erde verlassen hatten.
Weitaus praktischer erwies sich von nun an der Unterricht bei Francis Lafrance. Der werdende Vater unterrichtete neuerdings Überlebenstechniken, zeigte, wie man mit dem Drehen eines Stöckchens in einer trockenen Holzrinde (es handelte sich lediglich um ein Holzimitat) Glut und sodann ein Feuer erzeugen konnte, wobei er fast den halben Klassenraum abgefackelt hätte, oder wie man sich einen Schlafplatz für die Nacht zurechtmachte, sich vor wilden Tieren schützte, welche Beeren und Pilze man getrost essen konnte und von welchen man besser die Finger ließ. Natürlich bezog auch er sein gesamtes Wissen einzig und allein aus dem Szientikon, und ob man die Pilze auf der Erde noch essen konnte oder ob sie radioaktiv verstrahlt waren, wusste auch er nicht zu sagen. Er empfahl darüber hinaus, im Notfall den Vegetarismus nicht um jeden Preis beizubehalten, und demonstrierte, wie man Fallen baute, um kleinere Säugetiere zu fangen, und erklärte wie man diesen Tieren anschließend das Fell abzog, um sie über dem selbst gemachten Feuer zu braten, was bei einigen Schülerinnen und Schülern Entsetzen auslöste.
Nachdem Professor Darian Frank in den vergangenen Jahren vor allem die Evolutionsgeschichte der Erde hatte Revue passieren lassen, beschränkte er sich von nun an darauf, Tiere vorzustellen, mit denen man auf der Erde auf jeden Fall noch rechnen müsse. So glaubte er beispielsweise, dass es wieder Wölfe gebe, da viele Hunde nach dem Abreisen der Kolonisten herrenlos geworden seien und sich zu ihrer früheren Lebensform zurückentwickelt haben dürften. »Sie sehen selbstverständlich nicht unbedingt aus wie Wölfe, sondern erinnern wahrscheinlich immer noch an Hunde, aber dennoch geht von ihnen eine Gefahr aus, die ihr nicht unterschätzen solltet. Vor allem, wenn sie, wie ich vermute, wieder in Rudeln unterwegs sind und Hunger haben, ist mit ihnen nicht zu spaßen.«
Der Professor warnte auch vor den Ratten. Diese könnten sich explosionsartig vermehrt haben und tödliche Krankheiten übertragen. Auch der Schabe widmete er eine ganze Unterrichtsstunde, da diese als strahlungsresistent gelte und sie sich nach dem atomaren Fallout an manchen Stellen explosionsartig vermehrt haben könnte. Überhaupt könne man bei den Insekten bestimmt einige wunderliche Dinge erleben. Nachdem viele Arten ausgestorben seien, wäre es möglich, dass die wenigen, die überlebten, unverhältnismäßig zahlreich geworden seien.
Auch der Sportunterricht wurde neuerdings forciert. Im Wesentlichen ging es darum, den jungen Leuten Ausdauer und Kraft anzutrainieren. Dazu jagten ganze Gruppen von jungen Leuten den halben Vormittag im Treppenschacht auf und ab, was einen fürchterlichen Lärm verursachte, oder sie stemmten auf dem Fitnessdeck schwere Gewichte. Und schließlich wurde auch das Schießen mit der Lichtpistole geübt, das man jahrelang vernachlässigt hatte. »Es könnte möglich sein, dass eines eurer Teams auf der Erde in eine aussichtslose Situation gerät«, erklärte Francis Lafrance, »in diesem Fall ist es euch erlaubt, die Lichtpistole zu benutzen, und euch so aus einer lebensgefährlichen Situation zu befreien.«
Mit der Lichtpistole konnte man einen Gegner rasch außer Gefecht setzen. Ein Schuss reichte aus, um ihn zu lähmen, ein weiterer, um ihn zu Boden zu bringen, und erst ein dritter war nötig, um jemanden zu töten. Dieser dritte Schuss unterlag daher einer besonderen Ächtung, und jeder, der mit der Lichtpistole hantierte, wurde immer wieder darauf hingewiesen, diesen dritten Schuss wirklich nur im absoluten Notfall abzugeben.
Patti Middler wurde in den folgenden Wochen zunehmend runder, ließ sich jedoch nicht davon abbringen, den jungen Leuten Grundkenntnisse in einigen der wichtigsten Erdensprachen zu vermitteln: Chinesisch, Spanisch Englisch, Arabisch, Russisch und Französisch. »Damit kommt ihr fast überall auf der Welt zurecht«, sagte sie. »Natürlich wird euch die Glastafel bei der Übersetzung helfen, wenn ihr mit jemandem ins Gespräch kommt, aber es kann ja nicht schaden, wenn man zumindest über einen Grundwortschatz verfügt, um den Fremden einen guten Tag zu wünschen oder ihnen mitzuteilen, dass man in freundlicher Absicht gekommen ist.«
Die Hauptaufgabe der Erdmission sollte es jedoch nach wie vor bleiben, den Menschen das Szientikon zurückzubringen. Auf dem Planeten Maa waren die Wissenschaftler davon ausgegangen, dass auf der Erde wahrscheinlich wieder ein steinzeitlicher oder bestenfalls mittelalterlicher Zustand herrschte, daher hatte sich ihnen die Frage gestellt, wie man einer solchen Gesellschaft das Szientikon überhaupt übermitteln könne. Schließlich ließ es sich nicht zurückverwandeln in die Milliarden von Büchern, aus denen es einst hervorgegangen war. Unvorstellbar auch, dass man bei den erwarteten Zuständen die technischen Möglichkeiten besaß, um das Szientikon zu installieren und es über Glastafeln zugängig zu machen. Aus diesem Grund gab es das Deck 33, das angefüllt war mit der entsprechenden Technik, die man benötigte, um das Szientikon vor Ort vermittels Solarmodule in Betriebsbereitschaft zu versetzen. Selbstverständlich nicht nur an einem Ort. Es gab auf dieser Etage hunderte von Szientikons und ebensoviele Solarmodule, die in gepolsterten Metallkästen aufbewahrt wurden, und es gab Zehntausende von Glastafeln, die man verteilen konnte, um sich mit dem Szientikon zu verbinden.
Nicht ganz zu Unrecht war in der Maraldi-Klasse die Frage aufgetaucht, was man eigentlich unternehmen solle, wenn es auf der Erde auch wieder so etwas wie eine Ständeordnung gebe. Denn Wissen war bekanntlich Macht. Würden es die Herrschenden dann dulden, dass das Volk sich Erkenntnisse aneignete und damit ihre Macht in Frage stellte?
»Wenn wir das unterdrückte Volk zu Wissenden machen, lösen wir unter Umständen eine blutige Revolution aus, wenn wir aber das Wissen nur den Herrschenden überlassen, dann werden diese mit dem Wissen ihre Macht nur noch mehr zementieren.« So der Einwand von Phillip Lacuse, einem Schüler aus der Maraldi-Klasse, der sich seit jeher sehr für die Soziologie interessiert hatte.
Jorge Stankow erläuterte, dass es sich hierbei nur dann um ein unlösbares Paradoxon handele, wenn man als gesichert annähme, dass die Zustände auf der Erde mittelalterlich seien. Er selber gehe jedoch nicht davon aus. Es ließen sich vielmehr Dutzende von weiteren Gesellschaftsordnungen denken, angefangen von Militärdiktaturen bis hin zu friedlichen Bauernverbänden. Spekulationen brächten niemanden weiter. Man müsse einfach abwarten und dann spontane Entscheidungen treffen. Schließlich sei auch noch immer die bislang unausgesprochene Möglichkeit denkbar, dass es gar keine Überlebenden mehr auf der Erde gebe. Dann stelle sich eine weitaus heiklere Frage, nämlich, ob aus der Erdmission nicht eine Kolonisierung werden müsse. Man könne die Erde schließlich nicht sich selbst überlassen. »Somit wären wir dann die ersten Kolonisten, die das Erdenrund wieder bevölkerten und eine neue Zivilisation zu gründen hätten.«
Bei diesen Ausführungen gab es großes Gelächter in der Klasse, da sich mancher gar nicht ausdenken mochte, was das bedeutete, Gründungsväter und -mütter sein zu sollen, vor allem angesichts des begrenzten Angebots an Sexualpartnern, welches an Bord herrschte. Die meisten Menschen an Bord konnte man schon jetzt nicht mehr ertragen, geschweige denn, dass man mit ihnen eine Familie hätte gründen wollen.
5
Florian Goldoni saß an diesem Abend in der Karnidonaren-Plantage und dachte nach. Mittlerweile gehörten sämtliche Pflanzen, die hier wuchsen, zu einer neuen Generation. Er hatte diejenigen, die vom Bacillus alucinatio manipuliert worden waren, aus der Plantage entfernt und vernichten lassen. Die Vorstellung, dass diese Pflanzen als Nährlösung für das Carn verwendet werden sollten, hatte ihm schlaflose Nächte bereitet. Und so hatte er die Entscheidung, sie zu vernichten, im Alleingang getroffen, obwohl Professor Frank der Meinung gewesen war, dass man die Karnidonaren ihrem ursprünglichen Verwendungszweck zuführen könne. Aber Florian Goldoni misstraute der Angelegenheit, er wollte es keinesfalls riskieren, dass das Carn irgendwelche merkwürdigen Eigenschaften entwickelte, nur weil die Karnidonaren es, wer weiß womit, infiziert hatten. Jetzt stand er allerdings vor dem Problem, dass die Carn-Abteilung von ihm Nährstofflösung verlangte, die er nicht besaß, und auch frühestens erst in einigen Monaten liefern konnte. Er hatte also, wenn man es ihm böswillig auslegte, leichtfertig das Überleben der Menschen an Bord gefährdet. Selbstverständlich wäre es auch leichtfertig gewesen, die manipulierten Karnidonaren einfach in die Nahrungsmittelkette einzugliedern. Aber bestraft wurde man immer nur für die Dinge, die schiefliefen. Für vorausschauendes Denken durfte man hingegen nicht mit Lob rechnen. Gut, er war nur ein einfacher Gärtner, und es war ihm eigentlich nicht erlaubt, sich über die Anweisungen eines Biologie-Professors hinwegzusetzen. Aber war es denn überhaupt eine Anweisung gewesen oder nur ein Vorschlag? Letzten Endes trug Florian Goldoni die Verantwortung dafür, eine perfekte Nährstofflösung für die Zellimpfung zu liefern, und er konnte es sich daher nicht leisten, ein Risiko einzugehen. Das müsste auch der Professor einsehen. Aber bestimmt würde man ihm nur wieder Vorhaltungen machen, dass er sich nicht an die Anweisungen gehalten habe, und zwar genau in dem Moment, da Jean-Luc Swan nicht mehr in der Lage wäre, Carn auf den Mittagstisch zu bringen. Florian Goldoni hoffte daher, dass die Vorräte noch reichten, bis sie auf der Erde angelangt wären. Vielleicht erschlössen sich auf dem Wasserplaneten ganz neue Nahrungsquellen und man könne das fehlende Carn verschmerzen.
Florian Goldoni hörte, wie die Tür zur großen Gewächshalle sich öffnete. Um diese Zeit konnte es nur Sergej sein, der mit Donovan noch eine Runde unternahm. Er blieb sitzen und nahm sich vor, sich erst in dem Moment überraschend zu erkennen zu geben, da Sergej in unmittelbarer Nähe auftauchte. Aber offensichtlich war Sergej nicht allein. Goldoni hörte, wie geflüstert wurde.
»Ich sagte dir bereits, hier ist um diese Zeit niemand, und vor den Karnidonaren hast du doch wohl keine Angst mehr.«
»Lass mich mit dieser Geschichte in Ruhe, erzähle mir lieber, warum du dich hier mit mir treffen wolltest?«
Florian Goldoni sah sich von einer Sekunde auf die andere in die unfreiwillige Position des Lauschenden versetzt. Aber wer waren die zwei? Sergej und Donovan waren auf jeden Fall nicht dabei. Goldoni saß leider im hinteren Bereich der Gewächshalle zwischen den erst einen Meter großen Karnidonaren und konnte von dort nichts erkennen. Er versuchte also, auf allen vieren zwischen den Pflanzen weiter nach vorn hindurchzukriechen, um den beiden ungebetenen Gästen etwas näher zu sein.
»Ich will von dir die Wahrheit hören«, sagte die eine Stimme, die ein wenig heller und sanftmütiger klang. »Wenn es wahr ist, was du überall durchblicken lässt, dann werde ich dich persönlich an den Haaren zur Kommandantin schleifen, damit man dich zur Rechenschaft zieht.«
Die andere Stimme lachte tief und schäbig. »Du Idiot, glaubst du wirklich, ich würde so etwas Dummes anstellen? Fünf Schüler in den Tod schicken? Soll das vielleicht ein guter Scherz sein? Es ist wahr, ich kann diese fünf Maraldis nicht leiden, den einen noch weniger als die anderen, aber sie zu atomisieren? Wo bleibt denn da der Spaß?«
»Warum erzählst du es dann überall?«
»Ich habe es nicht ein einziges Mal erzählt. Die Leute glauben sich nur auf das, was ich so von mir gebe, einen Reim machen zu dürfen. Aber das ist ihre Sache, nicht meine.«
»Und was bringt dir das?«
»Interessante Kontakte.«
»Zu wem?«
»Ich habe jetzt zwei schräge Typen kennengelernt, die allen Ernstes glauben, ich hätte etwas mit dieser Shuttle-Geschichte zu tun. Und offensichtlich gefällt ihnen diese Vorstellung. Sie haben mich daher zu ihrem ganz speziellen Kompagnon gemacht, für den sie auf der Erde eine Spezialaufgabe haben. Ich soll eine Waffe für sie besorgen.«
»Was für eine Waffe?«
»Die Waffe«, sagte die andere Stimme und bekam sich kaum noch ein vor Lachen.
»Nicht so laut«, mahnte die erste Stimme. »Du willst behaupten, es gibt Leute, die dich einzig und allein deshalb in ihr Vertrauen gezogen haben, weil sie dich für einen potenziellen Killer halten?«
»Genau so ist es.«
»Und wer sind die beiden?«
»Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Ist ja alles streng geheim.«
»Also gibt es drei Möglichkeiten«, konstatierte die freundlichere Stimme. »Möglichkeit eins: Jemand hat das Shuttle so programmiert, dass es in die Raumzeit-Komprimierung geschleudert werden sollte und alle Insassen dabei den Tod fänden. Möglichkeit zwei: Jemand hat, bevor das Unglück geschehen konnte, den Transponderschlüssel abgezogen, die Programmierung aber bestehen lassen. Möglichkeit drei: Jemand hat das Shuttle zwar programmiert, jedoch gar keinen Transponderschlüssel eingesteckt, weil er den Maraldis nur einen, wenn auch sehr üblen Streich spielen wollte.«
»Da kann ich dich aufklären«, sagte die tiefe Stimme, »ich kenne nämlich denjenigen, der den Schlüssel abgezogen hat, die Programmierung aber, wahrscheinlich aus Dummheit, bestehen ließ. Dieser jemand hat allerdings geglaubt, ich sei für das ganze Theater verantwortlich, und hat den Schlüssel daher diesem Tomas Wronskij in den Spind gelegt, um den Verdacht auf ihn zu lenken, weil er mir angeblich helfen wollte.«
»Und diese Hilfe hat ihren Preis, daher die Geschichte mit der Waffe?«
»Ganz recht. Es muss also jemanden an Bord geben, der zu dieser Tat fähig gewesen wäre und auch noch ein Motiv hatte. Jemand, der diese Tat kaltblütig durchführen wollte, und nicht im Geringsten an Spaß interessiert war. Ich kenne ehrlich gesagt niemanden, der so etwas Wahnsinniges durchgezogen hätte.«
»Und es macht dir nichts aus, dass diese beiden Typen glauben, du seist es gewesen?«
»Warum? Sie können mir erstens nichts nachweisen, da ich es ja nicht war, und zweitens ist es zu interessant, herauszubekommen, wobei es sich bei dieser ominösen Waffe handelt, mit der wir den ganzen Obersten Rat in die Wüste schicken wollen.«
»Jetzt bist du wirklich übergeschnappt.«
»Nein, wenn ich es dir doch sage.«
»Du willst behilflich sein, den Rat zu eliminieren?«
»Nein, ich will es diese Leute nur glauben lassen, bis ich weiß, was es mit der Waffe auf sich hat.«
»Du spielst ein gefährliches Spiel, Damion.«
»Ja, und ich liebe es.«
6
Florian Goldoni musste Sergej gleich am anderen Tag alles erzählen, was er gehört hatte. Die Komplexität seiner Geschichte war allerdings etwas verworren und Sergej sah zunehmend irritiert aus, während Donovan das Gespräch der beiden nicht mehr abwarten wollte und sich allein auf einen kleinen Spaziergang durch die Plantagen begab.
»Also der eine war Damion, in Ordnung? Aber hast du auch erkannt, wer der andere war?«
»Das war dieser Jerome.« Florian Goldoni war sich sicher, dass er ihn erkannt hatte.
»Gut, und du sagst, Damion habe die Tat abgestritten?«
»Ja, er sagte, er habe nichts damit zu tun. Er schien selber ratlos, wer hinter der Sache stecken könne.«
»Aber ein anderer habe ihm gegenüber behauptet, den Transponderschlüssel abgezogen zu haben?«
»Richtig! Die Frage bleibt daher, wer hat das Shuttle programmiert, und zwar in tödlicher Absicht?«
»Gruselig«, sagte Sergej. »Bislang habe ich immer geglaubt, es habe sich nur um einen idiotischen Scherz gehandelt. Aber das wirft jetzt ein ganz neues Licht auf die Angelegenheit. Wer könnte es auf uns abgesehen haben? Und wer garantiert uns, dass dieser jemand es nicht noch einmal versucht?«
Florian Goldoni zuckte mit den Achseln. »Ihr solltet in Zukunft etwas vorsichtiger sein.«
»Und wer hat uns gerettet und ist dabei noch so edelmütig, es zu verschweigen?«
»Derjenige wird seine Gründe gehabt haben. Wenn du mich fragst, dann kann es nur jemand gewesen sein, der den Täter kannte und der ihn zu decken versuchte.«
»Das macht die Angelegenheit nicht unbedingt leichter. Vielleicht hat es ja auch jemand nur auf einen von uns abgesehen und die anderen wären nur Zufallsopfer gewesen.«
»Wie viele Feinde hast du denn an Bord?«
»Dich abgerechnet?«
»Keine Scherze.«
»Wenn es Damion nicht war, dann fällt mir niemand ein, der mich gerade beseitigen möchte. Aber nehmen wir mal Jala, vielleicht passt es nicht jedem, dass man sie auf der Brücke ausbildet.«
»Sie wäre Konkurrenz für den Ersten Offizier.«
»Balram Brown? Im Leben nicht, der liebt Jala wie seine eigene Tochter.«
»Und was ist mit Hiroto?«
»Unser fliegender Überflieger? Nun ja, da gibt es sicherlich einige in seiner Flugschule, die ihn lieber dauerhaft am Boden sähen. Aber hätten sie das Shuttle dann mit zerstört? Das wäre doch reichlich dumm gewesen, da hätten sie nach Hirotos Abgang ja nichts mehr zum Fliegen gehabt.«
»Was ist mit Alice?«
»Die tut doch niemandem etwas zuleide. Vielleicht hat sie mal Kabellack zweckentfremdet, aber sonst? Und die Arbeit bei ihrem durchgeknallten Architektenonkel neidet ihr doch auch keiner.«
»Dann bleibt nur noch Jannis.«
»Der ist in der Tat unser schwarzes Schaf und verfügt über höchst merkwürdige Kontakte. Diese Alena aus der Näherei, na ja, da munkelt man so einiges. Mir hat jemand gesteckt, dass sie eine düstre Vergangenheit habe, aber etwas Genaues wusste dieser Mensch leider auch nicht. Und dann diese Margret De Jong. Angeblich eine Arche, die merkwürdige Dinge zu sagen weiß. Und schließlich Thelonious Arden. Jannis ist ja neuerdings seine rechte Hand. Wer weiß, welche Kreise er damit stört. Der Alte ist tiefgründiger als die Meere auf Maa. Sein Leben birgt mehr Geheimnisse als Offenbarungen. Ich meine, er ist ein gutmütiger Mensch, aber was, wenn man versucht, ihn zu treffen, indem man seinen Lieblingsschüler ausschaltet? Oder unser Ex-Minister Jorge Stankow, auch kein reines Wässerchen. Auf Maa war er für uns der Vertreter des Obersten Rats schlechthin, und jetzt will er mit seiner Vergangenheit als Humanökologe nichts mehr zu tun haben und hat sogar seinen Ministertitel freiwillig abgelegt.«
»Jeder hat so seine Vergangenheit«, sagte Florian Goldoni, »wenn du mich durchleuchten würdest, dann fänden sich bestimmt auch einige Ungereimtheiten. Ich war zum Beispiel mal der Hausgärtner des Präsidenten und habe jahrelang die riesige Gartenanlage hinter seinem Palast gepflegt. Ich gehörte damals sogar ein wenig mit zur Familie. Seine Frau hatte mich in ihr Herz geschlossen, leider aber auch seine Tochter Jolene. Nachdem sie zwei Mal bei mir im Gartenhäuschen übernachtet hatte – und ich schwöre dir, es ist nichts passiert, sie wollte nur der Natur etwas näher sein – waren meine Tage als Gärtner gezählt. Den Job hier auf der Prometheus habe ich nur bekommen, weil das Präsidentenehepaar mich so weit wie möglich von der hochherrschaftlichen Tochter entfernt wissen wollte.«
Sergej lachte. »Du alter Schwerenöter, ich denke, du hast eine Verlobte in Xaalina.«
»Habe ich ja auch.«
»Und dazu noch die Präsidententochter? Also, ich muss schon wirklich sagen ...«
In diesem Moment nahm Florian Goldoni Sergej in den Schwitzkasten und brachte ihn zu Boden.
»Hilfe«, schrie Sergej, »ich wusste doch, es ist eine Angelegenheit nur zwischen uns beiden.«
»Wehe, du erzählst irgendjemandem etwas über die Präsidententochter«, keuchte Goldoni Sergej ins Ohr. »Dann habe ich nicht nur ein Motiv, sondern finde garantiert auch die Gelegenheit, dich zu zermalmen.«
»Nein, keine Sorge«, flüsterte Sergej, dem die Luft etwas knapp wurde, »ich werde höchstens mal im kleineren Kreis erwähnen, das du ein hervorragendes Verhältnis mit der hochherrschaftlichen Mutter ... grrgh! ...«
Die beiden wälzten sich jetzt zum Erstaunen von Donovan, der dem Treiben aus der Ferne zusah, am Boden. Doch schließlich hob Sergej die Hand und rief »Stopp!«
»Du willst aufgeben?« fragte Florian Goldoni.
»Nein, mir fällt nur gerade etwas ein. Hattest du nicht etwas von einer Waffe gesagt?«
Florian Goldoni entließ Sergej aus dem Schwitzkasten. »In der Tat war dies das Merkwürdigste an dem Gespräch«, erinnerte er sich. »Dieser Damion behauptete, er habe den Auftrag, auf der Erde eine Waffe zu suchen.«
»Und um welche Waffe soll es sich dabei handeln?«
»Keine Ahnung, davon hat er nichts gesagt, außer, dass er es auch nicht wisse. Aber angeblich handelt es sich um ein sehr besonderes Instrument.«
7
Eine Zeitlang dachten Jannis, Hiroto, Jala, Alice und Sergej intensiv darüber nach, wer es auf sie abgesehen haben könnte, aber da ihnen niemand einfiel, wandten sie sich irgendwann wieder anderen Gesprächsthemen zu und hörten auf, sich noch länger Gedanken darüber zu machen. Ohnehin gab es jetzt jeden Tag so viel Neues über den Blauen Planeten zu lernen, dass sie schon fast mehr auf der Erde als im Raumschiff existierten.
Einer der Hauptstreitpunkte zwischen der Kommandantur und dem Lehrerkollegium bezog sich neuerdings auf die Frage, wo das Shuttle zum ersten Mal landen sollte. Die Kommandantin hatte den Auftrag, zunächst einen Blick auf Europa zu werfen, da fast alle großen Kriege von diesem Kontinent oder durch seine Beteiligung ausgegangen waren, und in Erfahrung zu bringen, wie es um die Menschen dort bestellt war, ob es überhaupt noch Überlebende der letzten Schlachten gab und wenn ja, in welchen Gesellschaftsformen sie sich neuorganisiert hatten. Die Lehrer hielten einen Besuch Europas aber für viel zu gefährlich, da sie vermuteten, der ganze Kontinent könne verstrahlt oder verseucht sein, und zwar nach dem Einsatz von neuen Waffen, die im Szientikon noch gar nicht verzeichnet seien, da man sie erst nach dem Abflug der Kolonisten erfunden habe. Die Lehrerschaft plädierte daher dafür, in einem der Länder Afrikas einen ersten Landgang zu wagen, in irgendeinem von jeher schwach besiedelten Gebiet, in dem garantiert keine Kampfhandlungen stattgefunden hatten. Doch das schien wiederum der Kommandantin zu gefährlich, da man sich im afrikanischen Hinterland nicht verständigen könne und das Szientikon wahrscheinlich auch nichts sei, worauf man dort seit Jahrhunderten gewartet habe. Francis Lafrance nannte das ein typisch weißes Ressentiment, erklärte sich dann aber bereit, es vielleicht in Finnland oder Norwegen zu versuchen. Schließlich einigte man sich darauf, zunächst soviel wie möglich aus dem Orbit über eventuelle Landeziele in Erfahrung zu bringen, bevor man es wagen wollte, mit dem Shuttle irgendwo niederzugehen. Um Zeit zu sparen, könnte man zeitgleich mehrere Fünfergruppen absetzen. Die Männer rund um Roberto Rammon sollten derweil als schnelle Eingreiftruppe an Bord der Prometheus bleiben und nur im Notfall angefordert werden, wenn irgendeine der Aktionen am Boden aus dem Ruder liefe.
Eine weitere Frage, die für viel Diskussionsstoff sorgte, war, ab wann man versuchen solle, Funkkontakt zur Erde aufzunehmen, um die Ankunft der Prometheus anzukündigen. Oder ob man sich besser mit einem undurchdringlichen Schutzschirm umgebe, um zunächst einmal in Ruhe in Erfahrung zu bringen, welche Verhältnisse man auf der Erde überhaupt antreffe. Unter Umständen seien diejenigen, die man über Funk erreiche, nicht unbedingt diejenigen, die man erreichen wolle. Wobei sich wiederum die Frage stellte, wen man denn erreichen wolle. Der größte gemeinsame Nenner lautete hier nur »irgendwelche demokratischen Kräfte«. Dass diese aber vielleicht nur noch den Namen trügen, sich in Wahrheit aber als das Gegenteil herausstellen könnten, war eine weitere Hypothese, die für viel Gesprächsstoff sorgte. Einige erinnerten daran, dass auch die Humanökologen wenig mit Humanität und noch weniger mit Ökologie zu tun hatten, auch wenn sie dies im Namen pausenlos suggerierten.
Vor allem die ehemaligen Menschen aus dem Dunkelschiff äußerten starke Bedenken, sich nur auf Namen oder Worte verlassen zu wollen. So erhoben sie die Forderung, dass man sämtliche politischen Kräfte vor allem an ihren Taten und nicht an ihren Parolen zu messen habe.
Jorge Stankow hielt unterdessen das ganze Gerede und all die Hypothesen für Zeitverschwendung. »Wir wissen rein gar nichts, nichts darüber, was uns erwartet und nichts darüber, wer uns erwartet. Wozu also Pläne schmieden? Wir wissen ja nicht einmal mehr, ob die Erde noch bewohnt oder längst menschenleer ist.«
Thelonious Arden pflichtete dem ehemaligen Minister bei. »Jorge hat Recht«, sagte er, »am besten wäre es jetzt, sich in Gelassenheit zu üben. Was immer uns auch erwartet, wir müssen es erkennen, bevor es uns erkennt. Und dazu ist ein wacher Geist vonnöten. Ein Kopf, der vollgestopft ist mit irgendwelchen möglichen Szenarien, ist dabei wenig hilfreich. Besser ist es, den Geist zu leeren, um Platz zu machen für die Eindrücke von außen, um diese dann mit klarem Verstand rasch analysieren zu können.«
Jorge Stankow sah Thelonious Arden verblüfft an. So hatte er seine Aussagen eigentlich gar nicht gemeint. Aber wenn der Alte ihn ausnahmsweise einmal lobte, dann wäre es unklug gewesen, ihm jetzt zu widersprechen. Also schwieg er.
Sergej hatte derweil ein ganz eigenes Problem. Er wusste nicht, ob es klug war, Donovan mit auf die Erde zu nehmen. Andererseits konnte er ihn unmöglich auf dem Schiff zurücklassen. Diese ehemalige Wachmannschaft rund um Rammon galt nicht gerade als Liebhaber von Dronkas, und wenn ihnen dazu noch langweilig wäre, wer weiß, was sie mit Donovan anstellten. Er könnte ihn vielleicht bei Florian Goldoni in Obhut geben, aber das wiederum würde Donovan wahrscheinlich nicht gefallen und er würde Reißaus nehmen und sich erneut im ganzen Schiff herumtreiben. Also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihn mitzunehmen. Aber wie würde er den Aufenthalt auf der Erde verkraften? Und wie würde er auf die vielen wilden Hunde, die laut Professor Frank auf dem Weg waren, wieder Wölfe zu werden, reagieren? Kurz und gut, auch Sergej verfügte über keinen freien Geist, wie ihn Thelonious Arden gefordert hatte, sondern hatte den Kopf voll mit Vorstellungen, von denen wahrscheinlich nicht eine einzige der Wirklichkeit entsprach.
»Schuhe erst ausziehen, wenn es ins Wasser geht«, hatte Hiroto eine Weisheit seiner Großmutter zitiert, aber Sergej hatte damit nichts anfangen können.
Jannis hingegen beschäftigte immer noch sehr, was es mit der Waffe auf sich haben könnte. Er unternahm daher einen Vorstoß bei Thelonious Arden, der allerdings überfragt war.
»Eine Waffe, mit der man einem Menschen das Bewusstsein rauben kann? Nun, davon habe ich noch nie gehört«, sagte er. »Ich schließe nicht aus, dass die Menschheit so etwas erfunden hat, denn seitdem die Phantasie, die einmal einzig und allein den Dichtern und den Kindern gehörte, von der Wissenschaft okkupiert wurde, hat sich diese jahrhundertelang am technisch Machbaren abgearbeitet. Die Atombombe war das bislang erschreckendste Ergebnis dieser instrumentalisierten Phantasie. Möglich, dass nach der Abreise der Kolonisten noch weitere Waffen dieser durch und durch pervertierten Imagination entsprungen sind. Ich halte das für denkbar, weil alles, was technisch möglich ist, von Menschen auch verwirklicht wird.«
8
Hiroto hatte wieder einmal eine Flugstunde mit Tomas Wronskij. Die beiden waren schon seit einigen Stunden unterwegs, so dass die Prometheus ihnen aus dem Blick geraten war. Hiroto, der das Shuttle flog, fühlte sich mittlerweile recht sicher und glaubte bereits, die Maschine zu beherrschen.
»Weißt du, was das Komplizierteste beim Flug durch den interstellaren Raum ist?« Tomas Wronskij schaute Hiroto von der Seite an, der seinerseits höchst konzentriert nach vorne blickte, als sei mit plötzlichem Gegenverkehr zu rechnen.
»Keine Ahnung«, antwortete Hiroto, »aber du wirst es mir bestimmt gleich erzählen.«
»Das Komplizierteste ist die Orientierung.« Tomas Wronskij beugte sich zu Hiroto hinüber und tippte rasch etwas in die Navigationstafel ein. Das Shuttle drehte sich um hundertundachtzig Grad. »Wir fliegen jetzt auf dem Kopf«, sagte Wronskij, »aber da es im Weltraum kein oben und unten gibt, wirst du es nicht bemerken. Denn anders als bei Überlandflügen auf Maa, steigt dir hier nicht das Blut in den Kopf, weil es keine Anziehungskraft gibt. Ein einfaches Kopfstehen des Shuttles kann also schon für enorme Orientierungslosigkeit sorgen, oder kommen dir die Sternbilder, die du gerade noch angepeilt hast, weiterhin vertraut vor?«
»Nein, alles sieht irgendwie fremd aus«, gestand Hiroto.
Tomas Wronskij beugte sich erneut zu Hiroto hinüber und richtete die Maschine so aus, dass sie quasi mit der Spitze nach unten kippte und in die Tiefe flog. »Und jetzt?«
»Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, wo ich bin.«
»Na warte«, sagte Wronskij, »was ist hiermit?«
Das Shuttle begann, sich wie ein Bohrer um sich selbst zu drehen. »Das Gute ist, im interstellaren Medium wird dir nicht schwindelig, wenn du dich pausenlos um dich selber drehst. So taumelst du durch Raum und Zeit und bemerkst es erst, wenn du irgendwo gegenknallst.«
»Ich hoffe, du weißt, was du tust.« Hiroto war ein wenig besorgt, denn die Sternbilder und fernen Galaxienebel, an denen er sich gerade noch orientiert hatte, rauschten jetzt im Schnelldurchlauf an den Bordfenstern vorbei, ohne, dass ihm auch nur das kleinste Detail bekannt vorkam.
»Nein, ich habe keine Ahnung«, antwortete Tomas Wronskij, »ich bin genauso orientierungslos wie du. Wenn wir jetzt auf uns selbst gestellt wären, würden wir die Prometheus niemals wiederfinden. Denn schau, ich halte die Drehbewegung mal an, weißt du noch, was wir zu Beginn unseres kleinen Flugs für oben und unten, links und rechts gehalten haben?«
Hiroto schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Das liegt vor allem daran, dass man es nicht fühlen kann. Es fühlt sich alles gleich an, egal, in welche Richtung man fliegt. Und die Sternbilder, nach denen du dich gerade noch gerichtet hast, verschwinden, je näher du ihnen kommst, denn sie sind im Grunde nur zweidimensionale Projektionen, weil die Sterne in diesem Sternbild in Wahrheit nicht auf einer Ebene liegen. Je näher wir ihnen kommen, desto mehr offenbaren sie, dass sie weit im Raum auseinanderliegen. Der eine Stern ist ganz nah, der andere Lichtjahre entfernt, und aus dieser neuen Perspektive löst sich das Sternbild plötzlich in Luft auf.«
»Schöne Aussichten«, brummte Hiroto, »und wie finden wir jetzt zurück? Etwa über die Flugaufzeichnung?«
»Wäre keine schlechte Idee, aber wenn wir, so wie du, vergessen haben, vor dem Abflug einen interstellaren Neutronenstern-Scan zu machen, dann nützt uns das nichts, weil das Shuttle ohne festgelegte Orientierungspunkte keine Koordinaten aufzeichnen kann.«
»Aber du hast doch bestimmt einen solchen Scan gemacht, nicht wahr?«
»Ja, selbstverständlich, ich bin ja nicht lebensmüde. Im Gegensatz zu dir, der glaubt, er könne sich an dem orientieren, was er vor der eigenen Nase sieht.«
»Okay, das war ein Fehler, und wie und warum scannt man diese Neutronensterne?«
»Weil du feste Punkte im Weltraum benötigst, ohne sie bist du verloren. Und da bieten sich Neutronensterne geradezu an, denn aufgrund ihrer zusammengeballten Masse drehen sie sich wahnsinnig schnell um sich selbst und geben dabei gepulste Magnetstrahlung ab. Deshalb nennt man sie auch Pulsare. Wenn du also so einen Pulsar eingefangen hast, der sich, sagen wir mal, sechshundert Mal pro Sekunde um die eigene Achse dreht, dann hast du eine verlässliche Konstante im Raum gefunden. Suchst du dir dann noch ein paar andere Neutronensterne mit einer anderen Pulsfrequenz, so kann dir eigentlich gar nichts mehr passieren, weil du deine Position zwischen diesen Pulsaren immer genau bestimmen kannst. Schau her!«
Tomas Wronskij rief den Scan auf. Hiroto sah auf der Navigationstafel gleich drei blinkende rote Punkte, einen grünen und einen blauen. »Die roten Punkte sind die Pulsare, der blaue Punkt zeigt dir unsere Position an und der grüne ist die Prometheus. Es ist also nicht schwer, wieder nach Hause zu finden, wenn man vorab einige Regeln beherzigt hat. Und die wichtigste lautet: Fliege niemals, niemals ohne vorherigen Neutronenstern-Scan los! Hast du das begriffen?«
Hiroto nickte und sagte: »Nach dem Schrecken, den du mir eingejagt hast, werde ich es mir sicherlich merken.«
»Das war die Absicht dahinter. Und jetzt zeig mal, wie du uns wieder sicher in die Prometheus bringst, sonst fliegen die gleich ohne uns weiter.«
Angesichts der exakten Daten auf seiner Navigationstafel fiel Hiroto diese Aufgabe sehr leicht.
»Hast du eigentlich noch irgendetwas über diesen ominösen Vorfall im Shuttle-Port herausgefunden?« wollte Tomas Wronskij wissen, nachdem er bemerkt hatte, dass Hiroto begriffen hatte, wie er zurück zur Prometheus kam.
»Nach allem, was ich von Sergej gehört habe, sollte es vielleicht gar kein Streich sein, sondern jemand könnte ernsthaft versucht haben, uns samt Shuttle zu atomisieren.«
Tomas Wronskij nickte. »So etwas habe ich mir auch schon gedacht. Aber als Täter kommt nur jemand in Frage, der sich mit dem Shuttle auskennt. Und das sind nicht allzu viele Leute an Bord. Wir Piloten gehören dazu, einige aus der Navigationscrew, euch Flugschülern traue ich so eine Programmierung mittlerweile auch zu, und eventuell noch jemandem aus dem Kreis von Roberto Rammon. Von einem weiß ich mit Sicherheit, dass er früher ein Shuttle geflogen ist.«
»Du hast noch die Kommandantin vergessen.«
»Stimmt, die Kommandantin und den Ersten Offizier, beide sind hervorragende Shuttle-Piloten.«
»Dann müssen wir jetzt nur noch ein Motiv suchen.«
»So einfach ist das, ja?«
»Was hältst du von Eifersucht?«
»Ein sehr klassisches Motiv. Es könnte aber auch sein, dass jemand versucht hat, mit der einen Tat eine andere Tat zu vertuschen. Oder es war eine Tat im Affekt, vielleicht stand jemand unter Drogen. Habgier dürfte ausscheiden, oder? Und Rache? Oder es stand gar keine Absicht dahinter, und jemand hat nur an den Einstellungen herumgespielt und war sich seines Tuns gar nicht bewusst.«
»Wir werden es wahrscheinlich nie herausfinden«, stöhnte Hiroto.
»Es sei denn, der große oder die große Unbekannte unternimmt einen zweiten Versuch, dann engt sich der Täterkreis unter Umständen deutlich ein.«
»Unsere Lebenserwartung allerdings auch.«
»Tja, das bleibt nicht aus. Aber ich verspreche dir, dass ich dranbleibe, falls der Täter mal erfolgreich sein sollte.«
»Idiot!«
»Achte lieber auf den Verkehr!«
»Bitte, was?« Hiroto starrte in die Dunkelheit hinaus. »Da ist doch nichts, überhaupt gar nichts.«
»Schau mal auf deinen Radar!«
Hiroto sah ein unbekanntes Objekt, das auf sie zu raste. »Und jetzt?«
»Einfach nur auf Automatisch Ausweichen klicken. Der Bordcomputer berechnet die Flugbahn des Gesteinsbrockens perfekt und wählt für uns sodann einen kollisionsfreien Kurs. Es wäre also dumm, sich auf die eigene Reaktionsfähigkeit verlassen zu wollen.«
»Du setzt sehr viel Vertrauen in die Technik.«
»Sie hat mich noch nie enttäuscht, meine Flugschüler allerdings schon.«
»Warst du nie Flugschüler?«
»Nein, ich habe das Fliegen im wahrsten Sinne des Wortes mit der Muttermilch aufgesogen, denn meine Mutter war die beste Shuttle-Pilotin von Xaalina. Sie versorgte die Forschungsstationen auf den anderen Kontinenten mit allem Lebensnotwendigen, und vor meiner Schulzeit nahm sie mich dabei immer mit auf die Reise. So habe ich in den ersten Jahren meines Lebens mehr Zeit in einem Shuttle als auf Maa verbracht.«
»Und was macht deine Mutter heute?«
»Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Es wäre zu gefährlich, wenn beide Piloten während des Fluges abgelenkt sind. Ein Träumer im Shuttle ist mehr als genug.«
9