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Noch ist Jannis Frank nicht über den Tod von Thelonious Arden hinweg, da erreicht ihn eine weitere beängstigende Nachricht: Der Alte hat ihn testamentarisch zu seinem Nachfolger im Amt ernannt. Auf dem Planeten Maa herrschen inzwischen neue Verhältnisse. Jorge Stankow und seine Leute haben die Humanökologen aus allen Ämtern entfernt und Damion Dagwood als Marionette ins Präsidentenamt gehievt. Jannis und seine Freunde sind kaum zu Hause, da hat Jorge Stankow einen gefährlichen Auftrag für sie: Sie sollen auf dem wilden Kontinent Faraday die Kinder von Maa finden, eine einst verbotene Kolonisten-Partei, die sich vor langer Zeit in den Dschungel abgesetzt hat. Stankow glaubt, dass die Kinder ein Poetikon besitzen, und dass es die Aufgabe von Jannis als dem letzten Magister Primus sei, dieses Poetikon wieder mit dem Szientikon zu verbinden, um den wissenschaftlichen Stillstand auf Maa zu beenden. Widerwillig reisen die fünf in Begleitung von Professor Frank sowie General Sheridan und einigen seiner Männer in die Dschungel-Hölle von Faraday, wo sie auf unbekannte Lebensformen stoßen und Menschen begegnen, die im Einklang mit der Natur zu existieren versuchen. Doch anstatt das Poetikon zu finden, erfahren sie nur weitere Geschichten über die Humanökologen. Als Jorge Stankow plötzlich öffentlich als Mörder vorgeführt wird, bleibt ihnen nur, abzutauchen und in die geheimen Handschriften-Archive der Humanökologen einzudringen, um das Geheimnis des inneren Zirkels rund um den Präsidenten zu lüften. Dabei müssen sie feststellen, dass auch die Humanökologen auf der Suche nach einem Poetikon sind, um es für ihre perfiden Zwecke zu nutzen. Schlimmer noch, sie sind kurz davor, die Macht erneut an sich zu reißen, sollte es den jungen Leuten nicht gelingen, sie in ihrem Versteck aufzuspüren und sie daran zu hindern. Aber anders als Jannis und seine Freunde, haben sich die Humanökologen seit langer Zeit auf diese Auseinandersetzung vorbereitet. "Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen."
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Seitenzahl: 663
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Ben Castelle
Jannis Frank
und
Die Kinder von Maa
Roman
Die Jannis-Frank-Reihe
Jannis Frank und Das Dunkelschiff
Jannis Frank und Die Leerzeit
Jannis Frank und Das Poetikon
Jannis Frank und Die Kinder von Maa
Impressum
© 2024 Ben Castelle
Umschlag, Illustration unter Verwendung eines Bildes von CaryllN unter der Lizenz von iStock.com.
ISBN
Softcover: 978-3-384-25894-6
Hardcover: 978-3-384-25895-3
E-Book: 978-3-384-25896-0
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Eifeler Presse Agentur, Abteilung »Impressumservice«, Keldenicher Straße 19, 53925 Kall, Deutschland.
Über dieses Buch:Noch ist Jannis Frank nicht über den Tod von Thelonious Arden hinweg, da erreicht ihn eine weitere beängstigende Nachricht: Der Alte hat ihn testamentarisch zu seinem Nachfolger im Amt ernannt. Auf dem Planeten Maa herrschen inzwischen neue Verhältnisse. Jorge Stankow und seine Leute haben die Humanökologen aus allen Ämtern entfernt und Damion Dagwood als Marionette ins Präsidentenamt gehievt. Jannis und seine Freunde sind kaum zu Hause, da hat Jorge Stankow einen gefährlichen Auftrag für sie: Sie sollen auf dem wilden Kontinent Faraday die Kinder von Maa finden, eine einst verbotene Kolonisten-Partei, die sich vor langer Zeit in den Dschungel abgesetzt hat. Stankow glaubt, dass die Kinder ein Poetikon besitzen, und dass es die Aufgabe von Jannis als dem letzten Magister Primus sei, dieses Poetikon wieder mit dem Szientikon zu verbinden, um den wissenschaftlichen Stillstand auf Maa zu beenden. Widerwillig reisen die fünf in Begleitung von Professor Frank sowie General Sheridan und einigen seiner Männer in die Dschungel-Hölle von Faraday, wo sie auf unbekannte Lebensformen stoßen und Menschen begegnen, die im Einklang mit der Natur zu existieren versuchen. Doch anstatt das Poetikon zu finden, erfahren sie nur weitere Geschichten über die Humanökologen. Als Jorge Stankow plötzlich öffentlich als Mörder vorgeführt wird, bleibt ihnen nur, abzutauchen und in die geheimen Handschriften-Archive der Humanökologen einzudringen, um das Geheimnis des inneren Zirkels rund um den Präsidenten zu lüften. Dabei müssen sie feststellen, dass auch die Humanökologen auf der Suche nach einem Poetikon sind, um es für ihre perfiden Zwecke zu nutzen. Schlimmer noch, sie sind kurz davor, die Macht erneut an sich zu reißen, sollte es den jungen Leuten nicht gelingen, sie in ihrem Versteck aufzuspüren und sie daran zu hindern. Aber anders als Jannis und seine Freunde, haben sich die Humanökologen seit langer Zeit auf diese Auseinandersetzung vorbereitet.
„Tiefgründiges Zukunftsabenteuer, liebenswerte junge Helden und eine große Portion Satire sind die Zutaten für diese temporeiche und ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch bei allen zu bestehenden Gefahren, die die Protagonisten und Leser gleichermaßen in Atem halten, wird auch immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Sprache für die Realität gestellt. Dabei lässt sich die Jannis-Frank-Reihe mit ihrem erzählerischen Witz und schrägen Einfällen nicht zuletzt als Zeit-, Sprach- und Gesellschaftskritik der Gegenwart lesen.“
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für Martina und Anna
1
Die Nachricht hatte den Präsidenten so aufgewühlt, dass er noch mitten in der Nacht ein Treffen des Zirkels im Räteturm anberaumte. Bewusst hatte er die oberste Etage unter der Glaskuppel gewählt und die Zirkelmitglieder dorthin einbestellt. Denn nur dort oben hoch über der schlafenden Stadt Xaalina mit dem Blick in den offenen Weltraum war der rechte Ort, um die historische Nachricht zu verkünden.
Der Präsident war ungewöhnlich erregt, ging wie ein Panter in einem Käfig hin und her und sah alle zwanzig Sekunden auf seine Glastafel.
Wo blieben seine Leute denn nur? Hatten sie etwa nicht begriffen, dass es sich um eine historische Stunde handelte? Jetzt hörte er den Aufzug aus der Tiefe hinaufsirren. Es klang, als ob ein böses Insekt herangeflogen käme. Er hatte noch nie gehört, dass der Aufzug dieses Geräusch machte. Er war aber auch noch nie bei Nacht hier oben gewesen, wo ganz Xaalina in tiefem Schlaf lag oder eigentlich liegen sollte und im Räteturm niemand mehr arbeitete außer dem Sicherheitsdienst und einige Putzkolonnen von »Clean Orbit«.
Es dauerte noch entsetzlich lang, bis der Aufzug oben angekommen war. Kurz darauf hörte er Stimmen auf dem Flur. Es klopfte jemand sehr energisch, öffnete die Tür aber dann nur zaghaft, als ob ihm in diesem Moment erst klar wurde, dass er ja beim Präsidenten einzutreten gedachte. Es erschienen fünf Männer und zwei Frauen, die alle noch recht verknittert und unausgeschlafen aussahen. Offensichtlich hatte man aufgrund der angeblichen Dringlichkeit des Treffens sogar darauf verzichtet, sich frisch zu machen. Oder aber man spielte ganz bewusst den aus dem Schlaf Gerissenen, obwohl man sich bis gerade noch in irgendeiner Bar im Wieler-Viertel amüsiert hatte.
»Na, endlich«, entfuhr es dem Präsidenten. »Wo bleiben Sie denn solange. Setzen Sie sich. Ich habe Ihnen wichtige Dinge zu verkünden.«
Die sieben Zirkelmitglieder griffen sich jeder eines der Sitzkissen, die am Türeingang aufgestapelt lagen, und hockten sich auf den Boden. Der Präsident blieb stehen, hob seinen Kopf Richtung Glaskuppel und blickte eine ganze Weile stumm in den Weltraum, als ob er etwas von dort erwartete.
»Sie sind zurück«, flüsterte er schließlich sehr leise. »Stellen Sie sich vor, sie sind zurück.«
Die sieben am Boden Hockenden verstanden zunächst nicht, was der Präsident ihnen mitteilen wollte. Eine der beiden Frauen räusperte sich, traute sich aber dann doch nicht, genauer nachzufragen.
»Die Prometheus«, flüsterte der Präsident, »sie ist wieder da, unsere Mission ist geglückt.«
Jetzt erst schienen die nächtlichen Besucher zu begreifen. Sie sahen sich mit einem Ausdruck von Verwunderung gegenseitig an, dann rief einer von ihnen laut: »Hurra!« Die anderen stimmten mit ein, immer lauter, immer aufgeregter. Kurz darauf wurden die Sitzkissen fast bis zur Glaskuppel hinaufgeworfen. Man stand auf und umarmte sich, wobei der Präsident allerdings ausgespart blieb.
»Und das Beste: Sie haben die Passage gefunden«, sagte der Präsident mit einem Kloß der Rührung im Hals, nachdem sich der erste Jubel wieder etwas beruhigt hatte. »Stellen Sie sich das vor: die Passage.«
»Es gibt sie also wirklich«, konstatierte eine der beiden Frauen, deren auftoupierte Haare am Hinterkopf äußerst flach anlagen, als ob ihr ein Teil des hinteren Schädels fehlte. Wahrscheinlich hatte sie als eine der wenigen tatsächlich geschlafen.
»Ja, es gibt sie«, erwiderte der Präsident, »und wir kennen endlich ihre genauen Koordinaten. Nach all den Jahren. Nach all der Zeit der vergeblichen Suche. Das Tor ist geöffnet. Dem Projekt Mose 1:28 steht nichts mehr im Wege.«
Erneut brandeten einige Hurra-Rufe auf.
»Ich gestehe, dass ich es nicht für möglich gehalten habe«, sagte einer der Männer, der eine Art Bademantel trug, obwohl man erkannte, dass er darunter vollständig angekleidet war. »Man wusste also, so wie wir es gehofft haben, auf der Erde noch immer von der Einstein-Rosen-Brücke. Aber warum hat man sie nie erneut durchfahren?«
»Die Frage kann ich Ihnen derzeit nicht beantworten«, erwiderte der Präsident und blickte den Morgenmantelträger finster an. »Wir haben erst seit einigen Stunden Funkkontakt. Laut einem ersten Bericht der Kommandantin haben Schiff und Besatzung die Passage ohne größere Probleme überstanden. Und man ließ darüber hinaus mitteilen, dass die Prometheus unvorstellbare Mengen an Gold mit an Bord führt.«
Die sieben Männer und Frauen des Zirkels klatschten freudig in die Hände wie eine Gruppe Kinder, denen eine Süßigkeit in Aussicht gestellt wird.
»Das übertrifft alle unsere Erwartungen«, konstatierte ein jüngerer Mann, der noch Zeit gefunden hatte, sich die Haare mit Wasser zu glätten, bevor er zum Präsidenten geeilt war. »Wann werden Sie mit Mose 1:28 starten?« wollte er vom Präsidenten wissen.
»Wir werden die Heimkehrer zunächst begrüßen und ihre Forschungsergebnisse auswerten«, erklärte der Präsident. »Die Berichte der Kommandantin und der Crew sind wichtig, um mit dem richtigen Verbund in die Passage zu gehen.«
»Verbund?« fragte die andere der beiden Frauen, weil sie nicht verstand, worüber der Präsident sprach.
»Nun, ich meine mit der idealen Zusammensetzung von Transport- und Kriegsschiffen. Diese ist abhängig von den Zuständen auf der Erde. Mal braucht man mehr von dem einen, mal mehr von dem anderen«, antwortete der Präsident und griemelte.
Jetzt hatte auch die Frau verstanden. »Ah, gewieft, Sie meinen, wenn es dort nur noch geringen Widerstand gibt, dann reicht eine Flotte Transportschiffe aus, um sie vor Ort mit allem zu füllen, was wir benötigen. Falls nicht, dann wird man den Widerstand erst mit einer Kriegsflotte brechen müssen, bevor man ans Einsammeln gehen kann.«
»Sie haben es begriffen«, sagte der Präsident. »Also warten wir noch einige Zeit ab, bis wir uns ein genaues Bild über die Zustände auf der Ede machen dürfen. Erst dann werden wir mit Mose 1:28 starten. Und ich verrate Ihnen sicherlich nicht zu viel, wenn ich Ihnen mitteile, dass wir für jegliche Eventualität bestens gerüstet sind.«
»Newton ist also bereit«, konstatierte der jüngere Mann etwas wichtigtuerisch.
»Newton ist seit Jahren bereit«, antwortete der Präsident und grinste überheblich. »Wir können jederzeit losschlagen. Uns stehen alle kriegerischen und logistischen Optionen zur Verfügung.«
Der junge Mann nickte nur, als ob ihm angesichts dieser großartigen Nachricht die Worte fehlten.
»Meine Damen, meine Herren«, ergriff der Präsident erneut das Wort. »Wir stehen in dieser Stunde an einem historischen Neubeginn unserer Zivilisation. Die mageren Jahre sind vorbei. Xaalina wird zu einer Metropole unvorstellbaren Ausmaßes heranwachsen. Von dieser Stätte aus machen wir uns den Weltraum untertan. Die alte Erde hat ausgedient, sie wird fortan ausgeschlachtet, denn wir benötigen sie nicht mehr. Mit ihren noch immer vorhandenen Bodenschätzen werden wir unseren neuen Reichtum begründen. Uns erwartet ein ungeheurer Fortschritt. Nichts wird mehr so bleiben, wie es ist. Schon in ein paar Jahren werden wir anders wohnen, anders arbeiten und uns anders ernähren. Die Carnproduktion wird der Vergangenheit angehören. Die Karnidonaren-Plantagen werden niedergebrannt. Wir werden ein luxuriöses Leben führen. Es wird uns an nichts mangeln. Sie alle, die hier versammelt sind, legen den Grundstein für die neue Zivilisation. Sie können stolz auf sich sein. Sie werden einst als Gründungsväter- und mütter in die Geschichtsbücher eingehen, weil sie die Menschheit wiederbelebt und zu einer bis dahin ungeahnten Zivilisationsblüte geführt haben. – Ohne Frage, wir werden in der nächsten Zeit noch manches Opfer bringen müssen. Manch einer wird sich unserer Mission in den Weg zu stellen versuchen. Zögern wir nicht, unsere Feinde mit kalter Hand zu erledigen. Es geht um die Zukunft der Menschheit, da ist jedes Mittel recht. Nachfolgende Generationen werden es uns danken. Wer jetzt zögerlich handelt, der hat die Zukunft der Menschheit verwirkt. Wollen Sie das? Wollen Sie diese Schuld auf sich nehmen?«
Die sieben Anwesenden schüttelten auf die eigentlich nur rhetorisch gemeinte Frage des Präsidenten entschieden den Kopf.
»Dann lassen Sie uns unseren Bund erneuern«, sagte der Präsident und streckte beide Arme nach vorn und legte die Hände aufeinander. Die andere sieben legten nun ihre Hände auf die des Präsidenten.
»Für die Menschheit. Für unseren Bund. Für die Zukunft«, sagte der Präsident und alle wiederholten: »Für die Menschheit. Für unseren Bund. Für die Zukunft.«
Jetzt hob der Präsident seine beiden Hände langsam nach oben, so dass sich der gesamte Turm aus sechzehn Händen in Richtung Glaskuppel hob.
»Ich will einstehen mit meinem Leben für die größte Zivilisation aller Zeiten«, sagte der Präsident theatralisch und alle wiederholten seine Worte. Und da nichts Weiteres mehr folgte, stammelte der junge Mann nur: »Großartig« und brachte einen Toast auf den Präsidenten aus. Er ließ ihn solange hochleben, bis alle im Raum mit einstimmten und der Präsident sich gerührt eine Träne aus dem rechten Augenwinkel wischte.
2
Auf der Prometheus herrschte ein großes Durcheinander. Nachdem man die Passage glücklich hinter sich gelassen hatte, stand man augenblicklich vor neuen Problemen. In Kürze trat man wieder in die Überwachungszone von Maa ein, so dass man alles, wovon der Oberste Rat nichts wissen sollte, jetzt augenblicklich tun musste. Denn schon bald würde der Rat wieder über jede Bewegung an Bord Bescheid wissen und auch jede Shuttlebewegung registrieren.
»Sie müssen mit Ihren Leuten das Schiff so schnell wie möglich verlassen«, mahnte die Kommandantin Jennifer Orlanda den ehemaligen Minister Jorge Stankow, den sie zu einer Unterredung unter vier Augen auf die Brücke einbestellt hatte. »Sobald wir in den Kontrollbereich von Maa eintreten, kann ich für Ihre Sicherheit nicht mehr garantieren.«
»Das ist mir durchaus bewusst«, erwiderte Jorge Stankow mit ruhiger Stimme, »aber wir sind noch nicht so weit. Ich bitte Sie daher, unsere Reisegeschwindigkeit deutlich zu reduzieren.«
»Und wie begründe ich dieses Vorgehen?« Die Kommandantin sah Stankow ernst an. Zum ersten Mal wurde ihr nach der langen Reise klar, dass sie in argen Schwierigkeiten steckte, wenn sich auf Maa herausstellte, dass es auf dem gesamten Schiff von Autocogitanten nur so wimmelte. Und nicht nur von Autocogitanten. Sie würde auch noch eine Erklärung für die Anwesenheit der Soldaten unter dem Kommando von General Sheridan benötigen, falls diese sich entschlössen, an Bord zu bleiben und nicht mit Stankow vorzeitig in Richtung Maa aufzubrechen.
»Sagen Sie einfach, dass nach dem holprigen Durchgang durch die Passage umfangreiche Kontrollen am Schiff notwendig sind. Oder irgendetwas in der Art. Ich bitte Sie nur, verschaffen Sie uns etwas Zeit. Es ist ja schließlich zu Ihrem eigenen Vorteil.« Jorge Stankow sah die Kommandantin flehentlich an.
»In Ordnung, aber nur, wenn Sie mir versprechen, dass sie sämtliche Autocogitanten mit an Bord der Europolis-Shuttles nehmen.«
Jorge Stankow knirschte mit den Zähnen, doch dann sagte er: »In Ordnung, ja, wir nehmen sie alle mit und bringen die, die nicht mit uns kämpfen wollen, zu einem sicheren Versteck außerhalb von Xaalina. Aber wir werden auch Damion Dagwood mitnehmen. Er gehört zu uns.«
»Von mir aus«. Die Kommandantin machte ein angewidertes Gesicht. »Ich hänge nicht an diesem Idioten. Ich werde ihn in die Verlustliste eintragen lassen, direkt neben diesem armen Finnen, der sich in die Tiefe gestürzt hat. Aber was ist mit Roberto Rammon und seiner Einheit?«
»Rammon und seine Leute gehen selbstverständlich mit uns. Wir benötigen sie, um den Rat kaltzustellen.«
»Davon will ich nichts hören, verstehen Sie? Von Ihrer beabsichtigten Revolution weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass wir Sie und all die anderen Verbannten in diesem albernen Dunkelschiff entdeckt haben. Und da wir im Vorfeld keine Anweisungen erhielten, wie mit diesen Leuten zu verfahren sei, ja, ihre Anwesenheit nicht einmal mehr erahnten, haben wir sie auf der Prometheus aufgenommen. Ein humanitärer Akt, so wie es sich für unsere Gesellschaft gehört. Kurz vor Ankunft auf Maa sind all diese Leute dann mit General Sheridan von der Prometheus geflohen. Ich konnte es leider nicht verhindern.« Die Kommandantin zog die Schultern hoch, als ob sie sich bereits in der Geste der Unschuld übte.
»Nun machen Sie sich mal keine Sorgen«, knurrte Stankow. »Wir werden mit den Shuttles lange vor Ihnen auf Maa sein, und wenn Sie dort endlich mit Ihrem alten Schiff und Ihrer Crew eintreffen, dann ist die Revolution längst Vergangenheit und niemand wird Sie mehr wegen irgendeines Fehlverhaltens zur Rechenschaft ziehen. Einfach, weil keiner von den alten Humanökologen mehr da sein wird, um sich um Ihre Fehler zu kümmern.« Jorge Stankow grinste.
»Sie wissen, dass ich jede Form von Gewalt ablehne«, sagte die Kommandantin streng.
»Wer sich ergibt, dem wird nichts geschehen. Er kann sein Leben fortan friedlich auf Bluluna fristen«, antwortete Stankow und lachte hämisch.
»Ich nehme Sie beim Wort«, sagte die Kommandantin. »Aber ich beschwöre Sie, beeilen Sie sich mit der Abreise, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«
»Wir tun alle, was wir können«, versicherte Jorge Stankow. »Und jetzt senden Sie eine Nachricht aus, dass sich Ihre Ankunft auf Maa um einige Tage verzögern wird! Und schalten sie endlich den Fusionsantrieb ab!«
3
Die Reise durch die Passage steckte allen noch in den Knochen. Jannis, Sergej, Jala, Alice und Hiroto lagen schon seit zwei Tagen in ihren Schlafboxen und starrten an die Decke. Nur zum Essen quälten sie sich manchmal aus der Koje und begaben sich in den Speisetrakt. Einzig Jannis hatte dazu noch nicht die Kraft und lebte von dem, was die anderen ihm mitbrachten. Er dachte während dieser Zeit fast einzig und allein an Thelonious Arden, an die letzten Minuten, da der Alte auf der Galeasse zurückgeblieben war, und an diese schreckliche Bombe und die noch schrecklichere Explosion.
Warum hatte Thelonious Arden das Bücherschiff nicht verlassen wollen? Warum hatte er lieber sterben wollen? Und was sollte jetzt ohne ihn werden? Jannis kaute in seinem Hirn immer wieder dieselben Fragen durch und gab sich darauf dieselben Antworten. Er steckte in einem geistigen Perpetuum mobile, das sich nicht anhalten ließ und das seine Bewegungsenergie aus dem beständigen Wechsel von Frage und Antwort bezog.
Wenn Jannis ausnahmsweise einmal nicht an Thelonious Arden dachte, dann dachte er an Svetlana. Warum hatte er sie verlassen? Wäre es nicht besser gewesen, er wäre auf der Erde geblieben? Was sollte er denn jetzt wieder auf Maa? Sein altes Leben weiterführen? Aber hatte er jemals ein altes Leben gehabt? Sein ganzes bisheriges Dasein hatte sich doch ausschließlich um die Erdmission gedreht. Und er hatte sich nie gefragt, was nach dieser Mission sein würde, in dem Moment, da alles zu Ende wäre. Denn einmal musste ja alles zu Ende sein. Welches Leben wartete jetzt also auf ihn? Würde man ihn, wie Sergej es ihm prophezeit hatte, in den Ethik- oder den Wissenschaftsrat wählen? Und was war das für ein Leben? Das langweiligste Leben, das man sich nur vorstellen konnte. Nein, jetzt da die Passage endlich gefunden war, nach der so viele Generationen vergeblich gesucht hatten, müsste es doch ein Leichtes sein, die Erde, wann immer man wollte, zu besuchen. Was immer er auch in seinem zukünftigen Leben anzustellen gedachte, es müsste etwas mit dieser Passage zu tun haben, er würde sie so oft wie möglich durchfahren. Er würde ein Mittler sein zwischen den Welten, zwischen den alten Menschen und den neuen. Nur das ergab einen Sinn, wenn er auch nicht wusste, was er denn zwischen beiden Welten vermitteln sollte.
Und wieder und wieder musste Jannis auch an die Galeasse denken. Wie hätten sie die Welt auf Maa verändern können, wenn es ihnen gelungen wäre, dieses Schiff bis nach Maa zu steuern? Aber hätten die Humanökologen es überhaupt zugelassen, dass die Galeasse mit all ihren literarischen Schätzen auch nur in die Nähe des Planeten gekommen wäre? Oder hätten sie sie, kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hätte, in die Luft gejagt? Nun, das war jetzt nicht mehr nötig. Das hatten andere für sie erledigt. Jannis war sich sicher, dass der Brand an Bord geplant und der Erste Offizier, Fridrik Pining, Opfer eines Verrats geworden war. Er schien von irgendjemandem fremdgesteuert worden zu sein. Er hatte, als sie ihn aufgriffen, völlig neben sich gestanden, und er konnte sich an nichts erinnern. Auch jetzt, Tage später, begriff er noch immer nicht, warum er in den Bibliotheken Feuer gelegt hatte. – Nein, irgendjemand hatte den armen Pining nur benutzt. Aber wer, wer kam dafür in Frage? Und welches Motiv gab es dafür? Von den Autocogitanten konnte es niemand gewesen sein, so viel schien Jannis sicher. Bei den Soldaten rund um General Sheridan war er sich da schon nicht mehr ganz so sicher. Sheridan legte denselben Hass gegen die Literatur an den Tag wie die Humanökologen. Aber wie hätte er Einfluss auf Pining nehmen können? Doch vor allem, warum hätte er die Galeasse zerstören sollen? Es bestand für die Erde doch nicht die geringste Gefahr. – Nein, vielleicht hatte Sheridan geholfen, aber er war nicht der Kopf, der hinter alldem steckte. Auch der Kommandantin traute Jannis eine solche Tat nicht zu, vor allem nicht, nachdem sie ihr Matrosen-Buch endlich lesen durfte. Je mehr Jannis nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihm daher, dass die Brandstiftung irgendetwas mit dem undurchsichtigen Kreis rund um Jorge Stankow, Damion Dagwood und Roberto Rammon zu tun haben musste. Oder aber es hatte mit all diesen Gestalten zu tun gehabt, die aus dem Szientikon entstiegen waren und die für so viel Verwirrung gesorgt hatten, dass eben am Ende geschehen musste, was geschehen war. In Zukunft würde man sich etwas einfallen lassen müssen, damit bei der Durchquerung der Passage nicht mehr all dieser Wahnsinn ins Leben gerufen werden konnte. Niemand würde sich dem mehr als einmal aussetzen wollen. Hier war die Wissenschaft gefragt. Vielleicht reichte es aus, das Szientikon während der Passage in einen gravitationsresistenten Raum einzuschließen. Jannis überlegte noch ein wenig, wie ein solcher Raum beschaffen sein müsste. Dabei dachte er, kurz bevor er einschlief, merkwürdigerweise an den alten Billardraum.
4
Die Kommandantin hatte den Fusionsantrieb abschalten lassen und begründete dies mit einer dringlichen Schiffsinspektion. Schon bald sah man auf allen Decks Techniker herumwuseln, die jeden Schaltkreis, jedes Modul und jedes Kabel untersuchten, um sodann hektisch ein Prüfprotokoll in ihre Glastafeln zu tippen. Der Erste Offizier ließ darüber hinaus seine Drohne fliegen und kontrollierte die Schiffshaut akribisch von außen. Doch so intensiv sie auch nach Fehlern oder Beschädigungen am Schiff suchten, sie konnten nichts finden. Selbst die Gravitationsfelder unterhalb und oberhalb des Aufzugs funktionierten wieder einwandfrei, nachdem die Gravitationsanomalien verschwunden waren.
»Soll ich vielleicht auch noch überprüfen lassen, ob das Duschwasser die richtige Temperatur hat?« Balram Brown zeigte sich etwas genervt von der seiner Meinung nach völlig überflüssigen Kontrolle des Schiffs.
»Wir machen die Inspektion einzig und allein zu unserer Sicherheit«, argumentierte die Kommandantin. »Und Sicherheit heißt in diesem Fall, das Schiff ein paar Tage pausieren zu lassen, nicht um irgendeinen Schaden zu finden, sondern um einen Schaden von uns abzuwenden.«
»Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen«, erwiderte der Erste Offizier. »Haben Sie also die Güte, mir in einfachen Worten zu erklären, warum sie diese Inspektion vornehmen lassen?«
»Sind Sie wirklich so dumm?« entfuhr es der Kommandantin. »Ich versuche doch nur, uns so lange wie möglich vor dem Einflussbereich von Maa fernzuhalten. Wenn Sie also noch eine Leiche im Keller haben, werfen Sie sie jetzt über Bord. In ein paar Tagen wird es Ihnen nämlich nicht mehr ungesehen gelingen.«
»Ah, verstehe«, sagte der Erste Offizier. »Sie wollen diesen Pseudorevolutionären rund um unseren Ex-Minister einen Vorsprung verschaffen, damit diese das Schiff ungesehen verlassen können.«
»Wie schnell Sie begreifen. Ja, sie sollen von Bord verschwinden, denn ich möchte mit dieser gefährlichen Fracht auf keinen Fall den Heimathafen ansteuern.«
»Ich hoffe nur für uns beide, dass das gutgeht.«
»Wenn der Umsturz gelingt, dann haben wir nichts zu befürchten. Wenn er schiefläuft, dann bleibt uns nur, Ahnungslosigkeit zu heucheln. Glauben Sie mir, darin bin ich verdammt gut.« Die Kommandantin stemmte ihre Hände in die Hüfte und lachte laut auf.
Balram Brown schien das nicht witzig zu finden. »Ich gehe davon aus, dass die Revolution schiefläuft«, sagte er. »Die Humanökologen sind keinesfalls eine Gruppe von Tölpeln, die sich so ohne Weiteres von einem undisziplinierten Haufen mit schlechten Manieren abservieren lassen. Sie haben mit Sicherheit Vorsorge für den Fall getroffen, dass man ihnen ans Leder will. Diese Leute wissen schließlich, wie man an der Macht bleibt.«
»Zugegeben, aber sie werden nicht damit rechnen, dass es zu diesem Aufstand kommt. Sie glauben, die Autocogitanten sind weit weg. Sie fühlen sich in Sicherheit. Und von den Soldaten aus Europolis ahnen sie rein gar nichts.«
»Wer sagt Ihnen, dass Sheridan und seine Leute für einen politischen Umsturz kämpfen werden? Geben Sie dem Mann ein paar Unzen Gold und er kämpft, für wen auch immer Sie wollen.«
»Da sind wir uns ausnahmsweise mal einig, also werden wir ihn im Notfall aus unserer Schatulle entlohnen, sollten wir einmal seine Dienste benötigen.«
»Aus unseren Goldreserven?«
»Niemand weiß, wie viel wir davon an Bord haben, zwacken wir also ein bisschen ab und legen es für schlechte Zeiten beiseite.«
»Kommandantin, Sie sind wirklich ...«
»Ich weiß, aber sagen Sie es niemandem.«
»Was werden Sie machen, wenn unsere Expedition vorüber ist?« fragte Balram Brown jetzt mit deutlich leiserer Stimme.
»Ich hoffe, dass man mich für weitere Expeditionen anheuert«, antwortete die Kommandantin. »Ich hätte nichts dagegen, die Strecke zur Erde drei Mal im Jahr hin und zurück zu fliegen.«
»Drei mal im Jahr durch die Passage? Sie müssen wahnsinnig sein.«
»Es muss ja nicht jedes Mal so holprig zugehen. Jetzt, wo wir das Problem mit den Gravitationsanomalien kennen, müssen wir es einfach technisch lösen, und sodann könnte die Reise durch die Passage das reinste Vergnügen werden.«
»Mich bekommen Sie nicht noch einmal in dieses Mauseloch hinein.« Balram Brown verzog das Gesicht, als sei ihm noch immer speiübel.
»Wurmloch«, sagte die Kommandantin.
»Ist mir egal, einmal und nie wieder.«
»Schade«, sagte die Kommandantin, »ich dachte, ich könnte mich auf meinen Ersten Offizier verlassen.«
»Dann geben Sie mir Bescheid, sobald Sie die Angelegenheit technisch, wie Sie sagen, in den Griff bekommen haben. Vielleicht wäre ich dann unter Umständen bereit, es noch einmal mit Ihnen zu versuchen.«
»Als ob Ihnen die kleinen Diskussionen mit Heisenberg und Schrödinger geschadet hätten.« Die Kommandantin kicherte, weil sie sich an einige komische Szenen zwischen Brown und einigen Physikern erinnerte.
»Nein, keinesfalls, seither weiß ich nämlich im Gegensatz zu Ihnen, dass sich die Dinge nicht unbedingt linear entwickeln müssen. Nur, weil uns etwas so erscheint, als ob es Bestand hätte und in eine festgelegte Richtung verläuft, bedeutet dies nicht, dass diese Richtung sich nicht von jetzt auf gleich um hundertachtzig Grad drehen kann. Das ist es ja, was mir Sorge bereitet. Sie stecken noch viel zu sehr in Ihrem linearen Denken fest und glauben im Grunde genommen nur an zwei Möglichkeiten, mit denen wir es auf Maa zu tun bekommen können: entweder mit einer neuen Regierung, die uns unsere Verfehlungen nicht vorhalten wird, weil sie sie nicht als Verfehlungen erkennt. Oder mit unserer alten Regierung, deren Absetzung misslungen ist und die uns daher all unsere Fehler auf dem goldenen Tablett servieren wird. Aber dass es dazwischen auch noch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten geben könnte, das will nicht in Ihren Schädel hinein.« Balram Brown war, während er dies sagte, auf seiner Empore ein paar Mal hin und her gegangen. Plötzlich sah er die Kommandantin erschrocken an, als ob er jetzt erst bemerkt hätte, dass er mit seiner Kritik zu weit gegangen war.
»Welche anderen Entwicklungen wären denn denkbar?« fragte die Kommandantin ohne den erwarteten bösen Unterton. »Ich kann mir keine weiteren Möglichkeiten vorstellen.«
Der Erste Offizier raufte sich die Haare, dann sprudelte er los: »Möglich wäre beispielsweise, dass Sheridan und seine Soldaten vom Obersten Rat freundlich aufgenommen werden und man schon bald gemeinsam eine neue Geschäftsbeziehung ins Auge fasst, bei der die Revolutionäre nur stören, die man daher ebenso gemeinsam zu beseitigen versucht. Oder die Revolution ist erfolgreich, das Volk jedoch nicht bereit, den neuen Machthabern zu folgen. Oder aber es gibt schon längst eine neue Regierung auf Maa, schließlich waren wir über sieben Jahre lang fort, und wir landen in einer Militärdiktatur, in der man von einer Erdmission nichts wissen will, da sie noch eine Idee der alten Machthaber war, so dass man die Prometheus schon weit außerhalb des Planeten Maa in ihre Einzelteile zerlegt. Oder aber an Einsteins Relativitätstheorie ist etwas dran, und die Tatsache, dass wir sieben Jahre lang überwiegend mit annähernd Lichtgeschwindigkeit unterwegs waren, hat zur Folge, dass für uns zwar nur sieben Jahre vergangen sind, auf Maa aber vielleicht zwanzig oder noch mehr Jahre. Oder aber die Autocogitanten ...«
»Nun hören Sie schon auf, Brown, ich habe es kapiert. Sie haben Recht, wir wissen nicht, was auf uns zukommt, und sollten daher mit verschiedenen Szenarien rechnen.«
»Sie haben es noch immer nicht verstanden. Das Problem ist eben, dass man diese Szenarien nicht errechnen kann. Es handelt sich um chaotische Entwicklungen, daher ist alles möglich, wenngleich auch nicht alles gleichermaßen wahrscheinlich ist.«
»Sie bringen mich mit Ihrem Gerede noch um den Verstand. Alles soll möglich sein, aber nicht gleichermaßen wahrscheinlich? Dann ist ja doch nicht alles möglich.«
»Auch die höchste Wahrscheinlichkeit sagt nicht, dass es so kommen muss, wie es höchstwahrscheinlich kommen wird. Es kann auch ganz anders kommen.«
»Ja, ja, aber das wäre nicht sehr wahrscheinlich, nicht wahr?«
»Höchstwahrscheinlich nicht.«
»Oh, Brown, wie konnte ein Wirrkopf wie Sie nur zum Chef der Navigationsabteilung avancieren? Ein Wunder, dass wir die Erde überhaupt erreicht haben.«
»Das war kein Wunder, das war Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wenn wir die Reise als eine Linie zwischen dem Planeten Maa als Punkt A und der Erde als Punkt B gesehen hätten, dann wären wir noch heute unterwegs. Stattdessen hat uns Jala Nalangu gemeinsam mit Marie Martinez gezeigt, dass wir nicht zwischen zwei festen Punkten unterwegs sind, sondern zwischen zwei Möglichkeitsfeldern. Das hat alles verändert.«
»Verschonen Sie mich mit diesem Quantenzeug, ich habe das noch nie verstanden.«
»Sie müssen aus Ihrem linearen Denken raus und endlich anfangen, die Kipppunkte in Ihrem System zu erkennen. Dort ereignet sich kosmische Kreativität, die nicht vorhersehbar ist, geschweige denn, dass man sie errechnen kann. Sie können Sie nur intuitiv erfassen und gewissermaßen vorausempfinden.«
»Intuitiv? Vorausempfinden?«
»Ja, so wie die Autocogitanten es zuweilen machen.«
»Sie meinen mit diesem literarischen Schnickschnack?«
»Ganz genau, damit kommen sie einer möglichen Entwicklung viel näher als mit allen mathematischen Formeln der Welt.«
5
Ein paar Tage später war die kleine Shuttleflotte der Europolisten einsatzbereit. Die Barrikaden, mit denen der Zugang zu den beiden Decks der Soldaten abgesperrt worden war, wurden beiseite geräumt und die Autocogitanten zur Shuttlehalle gebracht. Jannis hatte sich bereits vorher von seinem Großvater verabschiedet.
»Mach dir um mich keine Sorgen«, hatte der Großvater gesagt, »ich werde in Xaalina erst einmal untertauchen. Ich habe Freunde und werde dort warten, bis alles vorbei ist.«
Jannis gefiel das überhaupt nicht. »Was ist, wenn Stankow und seine Leute versagen? Du kannst doch nicht ewig im Untergrund leben.«
»Nein, keine Sorge, wenn der Oberste Rat nicht entmachtet werden sollte, dann werde ich mich auf eine längere Expeditionsreise nach Faraday begeben. Das war schon immer mein Traum. Dein Freund Sergej plant übrigens, mich zu begleiten.«
»Auf den verbotenen Kontinent?«
»Ja, es wir endlich einmal Zeit, in Erfahrung zu bringen, was dort eigentlich wächst und gedeiht.«
»Oder was die Humanökologen dort vor allen Menschen versteckt halten möchten«, wandte Jannis ein.
»Auch das ist möglich, ja. Wir werden sehen, ob wir nur unbekannte Lebensformen entdecken oder etwas ganz anderes.« Der Großvater gab sich vergnügt.
»Und was ist mit Marie Martinez?« wollte Jannis wissen.
»Für sie habe ich schon ein Plätzchen gefunden. Vergiss nicht, wir bösen Autocogitanten sind gut vernetzt.«
»Werdet ihr an den Kämpfen teilnehmen?«
»Einige ja, wir sind nun einmal keine homogene Gruppe, sondern wurden vom Staat zu einer solchen gemacht, damit man uns besser diffamieren und ausgrenzen konnte. Daher gibt es unter uns auch Leute, die jetzt ihre Chance wittern, es dem Staat heimzuzahlen, und es gibt Leute wie Marie, Professor Sterling, Walter Sternheim, die Archen und mich, für die Gewalt grundsätzlich keine Option ist und die darüber hinaus nicht glauben, dass Jorge Stankow ein besserer Präsident sein wird. Er ist und bleibt ein Humanökologe, der sich allerdings von seinen eigenen Leuten verraten fühlt. Er steckt daher voller Hass, und das ist für einen Präsidenten keine gute Eigenschaft, selbst wenn sich sein Hass derzeit nicht mehr gegen uns, sondern gegen seine alten Freunde richtet, so wird er doch grundsätzlich immer aus seinem Hass heraus regieren. Wohin soll das führen?«
»Wenn sie nur einen von euch aufgreifen, von dem sie wissen, dass er auf dem Dunkelschiff war, dann wird ihnen augenblicklich klar, dass auch alle anderen wieder zurücksein müssen«, gab Jannis zu bedenken. »Dann beginnt die Suche. Wie wollt ihr euch da dauerhaft verstecken? Sie werden euch finden und alle wieder nach Bluluna schicken.«
»Mag sein, aber vielleicht kommt auch alles ganz anders. Du musst mehr Vertrauen in die Zukunft haben, Jannis. Sie ist ja noch nicht geschrieben, und sie kann sich derzeit noch in alle möglichen Richtungen entwickeln. Und mal ehrlich, haben wir denn eine andere Wahl? Sollen wir hier auf der Prometheus bleiben und warten, bis man uns Handschellen anlegt?«
»Wirst du Kontakt mit meinen Eltern aufnehmen?«
»Ich denke, das könntest zunächst einmal du für mich erledigen. Sag ihnen, dass ich lebe und dass es mir gutgeht. Ich melde mich dann bei deiner Mutter, sobald ich in Sicherheit bin.«
Jetzt saß der Großvater bereits mit der ehemaligen Dunkelschiffbesatzung in einem der Shuttles. Es dauerte nicht mehr lange, da würden sie sich in Richtung Maa auf den Weg machen. Würde man sich wiedersehen? Jannis stand an einer der großen Bugscheiben des Schuldecks und starrte in den schwarzen Weltraum. Er wollte unbedingt einen letzten Blick auf die abreisenden Shuttles werfen. Er befand sich im Unterrichtsraum der Maraldi-Klasse. Alles darin kam ihm heute fremd und klein vor. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass seine Kindheit lang vorüber war. Die Zeiten, in denen sie hier gesessen hatten und unterrichtet worden waren, lagen soweit in der Ferne, dass sie sich kalt anfühlten. Und das Schlimme war, diese Zeiten würden nie wieder zu etwas Warmem und Lebendigem werden. Nichts, was einmal gewesen war, würde jemals wiederkehren. Wie viele Schuljahre hatte er hier verbracht und auf Jalas wuscheligen Hinterkopf geblickt, die ein paar Reihen vor ihm saß? Und wie oft hatte ihm Sergej während des Unterrichts irgendeinen Unsinn ins Ohr geflüstert, der ihn zum Lachen gebracht hatte? Und wie oft hatte er die weiche Hand von Alice auf seinem Handrücken gespürt, die ihm auf diese Weise zeigte, welche Bewegungen er auf seiner Glastafel ausführen musste, damit sich irgendein Programm öffnete. Jetzt sah er Hiroto, wie er vor der Klasse stand und über die Möbiusschleife philosophierte. War das wirklich derselbe Hiroto, der heute als Shuttlepilot von sich reden machte? Und seine Lehrer, allen voran Francis Lafrance und Patti Middler. Sie würden nie wieder da vorn stehen und ihm irgendwelche komplizierten Dinge zu erklären versuchen. Aber am schmerzlichsten vermisste Jannis Thelonious Arden. Wie sollte er ohne den Alten zurechtkommen? Gemeinsam hatten sie auf der Galeasse so viele Bücher gelesen, dass ihm noch jetzt der Kopf davon schwindelte. Doch mit wem konnte er über seine Leseerfahrungen sprechen? Da war niemand mehr, der Jannis‘ Erfahrung teilte.
In diesem Moment schossen die drei Europolis-Shuttle am Schulfenster vorbei. Ehe Jannis registrierte, was geschehen war, waren sie schon wieder weg, und Jannis konnte noch für lange Zeit drei glitzernde Punkte in der unendlichen Weite des Universums wahrnehmen, bis auch diese vom tiefen Schwarz des Raums verschluckt wurden.
Während er noch hinausblickte, erinnerte er sich an den Abschied von Alena, die er auf dem Deck der Wäscherinnen besucht hatte. Alena war sehr aufgeregt, während sie die ganze Zeit über versuchte, einen eingeklemmten Reißverschluss in einem Overall wieder gängig zu machen. Sie wusste noch nicht, was sie auf Maa erwarten würde.
»Dein Großvater will mir eine neue Identität besorgen«, hatte sie gesagt und dabei versucht, ein Stück Stoff aus dem Schieber zu zupfen. »Ich weiß gar nicht, ob ich mich daran gewöhnen kann, plötzlich einen anderen Namen zu tragen, oder ob ich meinen alten nicht bei der ersten Gelegenheit ausplaudere und am Ende wieder am Fließband irgendwo in New Manchester lande. Bestenfalls. Schlimmstenfalls geht es für mich direkt nach Bluluna.« Jannis wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb hatte er Alena einfach in den Arm genommen.
»Nanu, du bist aber groß geworden«, hatte Alena gesagt und gelacht. Auch Jannis bemerkte, dass sich die Größenverhältnisse zwischen ihnen beiden deutlich verändert hatten. Als er Alena zum ersten Mal im Wieler-Viertel getroffen hatte, war er in kleiner Junge gewesen, jetzt war er ein junger Mann und deutlich größer als Alena.
Während die Erinnerung an Alena wieder verblasste, fühlte sich Jannis plötzlich erheitert, denn ihm kam eine kürzliche Begegnung mit Walter Sternheim in den Sinn. Er hatte ihn getroffen, als dieser gerade dabei war, sich mit Sack und Pack hinab zum Shuttle-Port auf den Soldatendecks zu begeben. Jannis wünschte ihm eine gute Reise und sprach die Hoffnung aus, dass man sich einst wiedersehen werde. Walter Sternheim war daraufhin kurz stehengeblieben und hatte gesagt: »Ach, wissen Sie, so eine Revolution, das ist eigentlich rein gar nichts für mich, das geht mir nämlich über die Blutspur. Ich würde lieber weiterhin in Frack und Masche gehen, aber alle Regale stehen im Lot, jetzt heißt es daher, Keulen nach Athen tragen.«
6
Nach der Abreise der Europolisten, Autocogitanten und der Wachmannschaft rund um Rammon inspizierte die Kommandantin gemeinsam mit Francis Lafrance die beiden verwaisten Soldatendecks. »Das kann so nicht bleiben«, sagte sie und wies auf die verdreckten Kojen, in denen die Soldaten gehaust hatten. »Man sieht ja eindeutig, dass hier Menschen gelebt haben. Eine schöne Bescherung. Wie erklären wir denn nach unserer Heimkehr diesen Schiffsumbau?«
»Die Umgestaltung dürfte kaum auffallen«, versuchte Francis Lafrance die Kommandantin zu beschwichtigen. »Leider ist Pieter De Jong in Europolis geblieben, so dass er uns mit seinen Fähigkeiten nicht mehr zur Verfügung steht. Andererseits handelt es sich nur um einen Rückbau. Wir könnten also versuchen, selber ...«
»Das trifft vielleicht auf die Schlafräume zu, aber wie wollen Sie die Küchen- und Sanitäreinrichtungen zurückbauen, ohne das ganze Schiff in Gefahr zu bringen?«
Francis Lafrance zeigte sich ratlos.
»Nein, nein, mein Lieber, wenn das hier entdeckt wird, dann sind wir geliefert. Da gibt es nichts zu beschönigen.« Die Kommandantin trat gegen ein paar stählerne Küchenmöbel und schlug mit der Faust auf eine metallene Anrichte. »Das bricht uns das Genick, es sei denn, wir liefern eine plausible Erklärung.«
»Wir könnten argumentieren, dass die jungen Leute mehr Platz benötigten«, schlug Francis Lafrance vor. »Teilweise hockten sie ja zu fünft in einem Schlafabteil. Das war doch kaum zumutbar. Vor allem, als sie langsam erwachsen wurden.«
»Ah, ich sehe, Sie sind der richtige Mann«, freute sich die Kommandantin. »Gut, dass ich Sie mitgenommen habe. Ja, das ist eine sehr gute Idee. Wir mussten die Schülergruppen entzerren, nicht zuletzt wegen, na, Sie wissen schon.«
»Wegen was?«
»Na ja, junge Männer, junge Frauen, und alle in einem Raum, so ging es halt nicht mehr weiter. Eine planerische Fehlkonstruktion wurde von uns behoben. Das ist gut, sehr gut.«
»Dann müssen wir aber noch jemanden finden, der das alles hier umgesetzt haben soll. So weit ich weiß, haben wir keinen Architekten an Bord. Und dass die Lehrer hier Hand angelegt haben, nun ...«
»Aber nicht doch, die Umbauarbeiten wurden von unseren neuen Freunden aus Europolis für uns bewerkstelligt. Erinnern Sie sich denn nicht mehr?« Die Kommandantin kniff Francis Lafrance ein Auge zu.
»Selbstverständlich, jetzt, da Sie es sagen, fällt es mir wieder ein. Wochenlang wurde hier geschuftet, das halbe Schiff auf den Kopf gestellt, nur, damit es die Schülerinnen und Schüler danach bequemer hatten.«
»Dann sollten wir die Decks jetzt aber auch mit Leben füllen«, mahnte die Kommandantin. »Fragen Sie doch einfach mal bei den jungen Leuten nach, wer es leid ist, mit seinen Abteilgenossen auf engstem Raum zu leben und sich nach mehr Bewegungsfreiheit sehnt.«
»Zuvor muss hier aber mal kräftig aufgeräumt und geputzt werden«, erwiderte Francis Lafrance. »So lasse ich niemanden von meinen Schülern hier unten einziehen.«
»Rührend, wie sie sich immer noch um ihre Schützlinge kümmern, obwohl die Schule längst geschlossen ist. Es ist fast, als ob immer noch der gute Geist von Thelonious Arden durch die Prometheus schwebte.«
»Sein Andenken ist uns heilig.«
»Heilig? Was ist denn das für ein Wort? Lafrance, ich bitte Sie, reinigen Sie nicht nur diese zwei Decks, sondern auch Ihren Wortschatz.«
»Fürs Deckschrubben bin ich nicht zuständig, da müssen Sie sich jemand anderen suchen.«
»Aber es sind Ihre Schüler.«
»Es waren meine Schüler, wie Sie gerade selbst richtig festgestellt haben.«
»Also gut, sollen diejenigen, die umziehen wollen, selber ein wenig aufräumen. Das kann ja nicht schaden.«
Die Kommandantin betrat eines der Schlafabteile, kräuselte die Nase und zog mit spitzen Fingern ein Laken in einer der Schlafboxen beiseite. Darunter kam eine elektronische Schalttafel zum Vorschein.
»Und was ist das?« fragte sie Francis Lafrance.
Der Physiklehrer nahm die Tafel in die Hand, drehte sie hin und her, besah sie sich von allen Seiten und sagte: »Das ist eine Exnata, eine Externe Navigationstafel, ein Gerät, um eine Verbindung mit einem anderen Schiff aufzunehmen. Mehr noch, damit können sie sich in ein fremdes Schiff einklinken. Sehen Sie dieses Modul hier, damit lässt sich nach erfolgtem Kontakt das fremde Navigationssystem übernehmen. In Europolis haben sie uns diese Geräte einmal bei einem Vortragsabend vorgestellt.«
»Was verstehen Sie unter Einfluss?«
»Na, Sie können es bequem von diesem Bett aus kontrollieren und sogar lenken, genau wie die Drohne Ihres Offiziers.«
»Aber wozu das? Es gab ja nie ein zweites Schiff.«
»Und die Galeasse?«
»Sie meinen, General Sheridan und seine Leute haben Einfluss auf das genommen, was an Bord des Bücherschiffes geschehen ist?«
»Ich halte es für möglich, ja.«
»Und wie genau sah dieser Einfluss aus?«
»Dazu müsste ich die Steuerungsprotokolle auslesen.«
»Sind Sie dazu denn in der Lage?«
»Anders als das Deckschrubben liegt dies durchaus in meinem Zuständigkeitsbereich«, erwiderte Francis Lafrance sehr spitz.
»Worauf warten Sie dann noch?« Die Kommandantin wies Francis Lafrance die Tür. Der nahm die Schalttafel an sich und verließ schnellen Schrittes das Deck.
Jennifer Orlanda begab sich zurück auf die Brücke und hatte dort gerade ein Gespräch mit ihrem Ersten Offizier in Bezug auf die erforderlichen Reinigungsarbeiten der beiden Soldatendecks beendet, als Francis Lafrance bereits wieder mit totenblassem Gesicht auf der Brücke eintraf. Die Kommandantin ging ihm rasch entgegen.
»Nun sprechen Sie schon! Was haben Sie herausgefunden?«
»Es ist schrecklich«, sagte Francis Lafrance und setzte sich auf die Empore, als stünde er kurz davor zu kollabieren. »Ich konnte die letzte Aktion, die mit diesem Transmitter, denn um nichts anderes handelt es sich, ausgeführt wurde, vollständig rekonstruieren. Das Gerät wurde dabei von Jorge Stankow benutzt. Er hat damit den Bibliothekar gehakt und ihn dann auf Fridrik Pining losgelassen. Wenn man die Audiofiles abhört, dann erscheint es fast so, als ob Stankow Pining hypnotisiert hätte, zumindest hat er ihm sehr deutlich nahegelegt, die Bibliotheken in Brand zu setzen. Was Pining dann auch getan hat. Fragen Sie mich nicht, wie man einen Menschen so manipulieren kann, dass er gegen seine eigenen Überzeugungen verstößt. Ich weiß es nicht. Aber es scheint funktioniert zu haben.«
Balram Brown, der alles von der Empore aus mitangehört hatte, mischte sich jetzt ein: »Habe ich Ihnen nicht schon früher gesagt, dass Stankow Menschen manipuliert?« wandte er sich an die Kommandantin. »Sie selber waren doch auch schon sein Opfer, erinnern Sie sich nicht mehr? Sie haben ihm Zugeständnisse gemacht, die eine Kommandantin niemals ...«
»Schweigen Sie!« befahl die Kommandantin. »Das hatte damals ganz andere Gründe.«
»Ich erinnere mich, dass auch der General einmal davon sprach, Stankow habe magische Fähigkeiten«, sagte Francis Lafrance und blickte versonnen durch das Bugfenster der Brücke in den leeren schwarzen Raum.
»Magie?« Die Kommandantin schien sich jetzt ernsthaft aufzuregen. »Was ist denn das für ein Gerede? Hypnose? Manipulation? Sie haben wohl alle viel zu viel Zeit mit den Autocogitanten verbracht. Wo bleibt ihr klarer Verstand? Die Dinge, von denen Sie hier reden, sind allesamt Unfug.«
Während die Kommandantin sich noch weiter echauffierte, ja sich in Rage redete und Lafrance und Brown abwechselnd »unaufgeklärte Trottel« und »phantasieverseuchte Dilettanten« nannte, wurde ihr selbst immer deutlicher, dass die beiden Recht hatten. Stankow war ein Manipulator, ein Hypnotiseur, jemand, der andere willfährig machen konnte. Sie hatte es ja an sich selbst erlebt, wollte es sich nur nicht eingestehen, damals nicht, als er mit ihr gesprochen hatte, und jetzt ebenso wenig, da sie von Brown an diesen Vorfall erinnert wurde.
7
Öde Langeweile hatte sich auf der Prometheus breitgemacht, seitdem ein Großteil der Besatzung Richtung Maa abgeflogen war. Jala schien zum ersten Mal an rein gar nichts interessiert, so als ob gemeinsam mit Marie Martinez auch ihre Neugierde und ihr Forschungsinteresse das Shuttle bestiegen hätten und mit der Quantenforscherin auf und davon geflogen waren. Derweil färbte sich Alice aus Langeweile die Haare, weil sie festgestellt hatte, dass sich das »Aalblut« der Europolisten, von dem sich an Bord noch eine ganze Kiste gefunden hatte, sehr gut dazu eignete. Hiroto hingegen trieb sich den ganzen Tag auf dem Shuttleport herum, wo er mit Tomas Wronskij versuchte, ein paar Elektronikschäden am Prometheus-Shuttle zu beseitigen. Und Sergej hatte sich freiwillig bereit erklärt, Florian Goldoni bei der Pflege der letzten Karnidonaren behilflich zu sein. Seitdem die Pflanzen nicht mehr in regelmäßigen Abständen für die Carn-Produktion geerntet wurden, ließ man sie einfach wachsen, zumal Goldoni es abgelehnt hatte, sie zu vernichten. Doch dem Wachstum mussten Grenzen gesetzt werden, wollte man nicht, dass die Karnidonaren das Glasdach des Raumschiffs aufsprengten. So traf man Florian Goldoni und Sergej fast jeden Tag im Gartensektor an, wo sie in schwindelnder Höhe Blätter aus den Kronen der Karnidonaren schnitten, während Donovan es sich am Fuße der Pflanzen gemütlich machte und sehr zufrieden mit den täglichen Pflegemaßnahmen schien.
»Mich würde interessieren, wie groß die Karnidonaren werden können«, sagte Sergej eines Tages, während er mit einer langen Japansäge eines der großen Blätter vom Stamm trennte.
»Das weiß niemand«, erklärte Florian Goldoni, der in der Nachbarkrone saß, »wir ernten diese Pflanzen seit Jahrhunderten in ihrem juvenilen Stadium. Und außerhalb unserer Plantagen habe ich noch nie wilde Karnidonaren gesehen.«
»Ich glaube, wir haben mal welche in der Wüste Guari entdeckt. Aber die waren leider fast vertrocknet. Allerdings trotzdem noch sehr imposant. Man konnte kaum zu ihren Kronen hinaufblicken«, erwiderte Sergej. »Es wäre doch mal ein Experiment wert, sie einfach wachsen zu lassen.« Ein vom Stamm geschnittenes Blatt segelte leise zu Boden und begrub Donovan sanft unter sich.
»Aber bitte nicht hier im Raumschiff«, protestierte Goldoni. »Es wäre nämlich schon jetzt sicher, dass du das Ende deines Experiments nicht mehr erleben würdest.«
»Vielleicht gibt es auf Faraday noch wilde Exemplare«, ließ Sergej nicht locker.
»Durchaus möglich, aber das werden wir wohl nie erfahren.«
»Ich schon«, zeigte sich Sergej überzeugt, »denn ich werde mir den Kontinent mal aus nächster Nähe betrachten.«
»Das ist verboten.«
»Bald nicht mehr. Wenn die Humanökologen erst einmal abgedankt haben, steht der Expedition nichts mehr im Wege.«
»Wenn, wenn, wenn ...«, sagte Goldoni.
»Vielleicht kannst du dich ja dann auch erneut an die Präsidententochter ranmachen«, scherzte Sergej. »Der Präsi könnte dich zumindest nicht mehr strafversetzen.«
»Ich bin verlobt«, protestierte Goldoni.
»Das glaubst auch nur du. Ist der Kontakt zu deiner Herzdame nicht schon vor langer Zeit abgerissen?«
»Ja, aber doch nur, weil wir in die Leerzeit eintraten.«
»Und jetzt? Möchtest du ein paar Freiminuten für die Kokas von mir?«
»Die funktionieren doch noch gar nicht.«
»Aber in ein paar Tagen, und dann kannst du wieder Kontakt mit deiner Verlobten aufnehmen.«
»Ja, mal sehen.«
»Aha«, sagte Sergej.
»Was heißt jetzt wieder: aha?«
»Du bist doch noch scharf auf die Präsidententochter.«
»Quatsch nicht rum, du sägst dir sonst noch ins Bein.«
Sergej kicherte und legte die Japansäge an den Stiel des nächsten Blattes an.
»Wie wunderschön«, hörten sie jetzt eine Stimme, die von unten zu ihnen heraufschallte. Es war Alice. Sie hatte eines der großen Karnidonarenblätter aufgehoben und betrachtete es mit glänzenden Augen. »Diese lilafarbenen und roten Einsprengsel in dem zarten Blattgrün, dieses grazile Geflecht aus purpurgoldenen Adern, das sich darin wie eine Flusslandschaft ausbreitet ...«
Sergej sah Florian Goldoni an. Beide bliesen die Wangen auf, vermieden es aber, loszuprusten.
»Näh dir doch etwas Schönes daraus«, rief Sergej Alice aus der Höhe zu. »Die Blätter passen bestimmt gut zu deinen neuen roten Haaren.«
»Meinst du?« fragte Alice, hielt sich das Blatt vor ihren Körper und schien zu glauben, dass Sergej es ernst meine.
»Aber gewiss doch«, bestätigte Florian Goldoni Sergejs Aussage. »Eingewickelt in so ein Karnidonarenblatt wärest du bestimmt zum Anbeißen, so wie diese ... diese ... diese türkische Spezialität aus dem Szientikon namens ... Yaprak Sarması.«
Alice ergriff drei der großen Blätter und verschwand freudestrahlend mit ihnen, während Donovan langsam unter dem großen Blatt, unter dem er lag, hervorkroch, Alice verwundert nachsah und drei Mal laut nieste.
»Diese Alice ist wirklich ein wenig verrückt«, konstatierte Florian Goldoni. »Neulich hat sie mich doch tatsächlich gefragt, ob ich eine Pflanze kenne, mit der man Unterwäsche färben kann.«
»Unterwäsche?« Sergej fiel fast die Säge aus der Hand.
»Ja, sie meinte, unser weißes Unterzeug sei doch auf Dauer arg langweilig.«
»Und welche Pflanze hast du ihr empfohlen?«
»Ich habe versuchsweise einige eurer Mitbringsel aus der finnischen Saatgutbank ausgestreut«, berichtete Florian Goldoni, »darunter Basella alba, das ist Indischer Spinat, dessen junge Blätter man als Kochgemüse nutzt.«
»Und damit färbt sich Alice jetzt das Höschen grün?« Sergej bekam einen heftigen Lachanfall und musste die Säge nun doch freiwillig zu Boden fallen lassen, um sich mit beiden Händen festzuhalten.
»Aber nein, zum Färben benutzt man doch nicht die Blätter, sondern den dunkelroten Saft der Früchte«, erwiderte Florian Goldoni, als ob es sich dabei um Allgemeinwissen handelte.
»Dunkelrot? Oh, là, là!« Sergej prustete und riss dabei die Augen weit auf. »Und weißt du, ob sie es schon ausprobiert hat?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Vielleicht hat sie dir ihre Erfolge gezeigt.«
»Träum weiter!«
Sergej ließ sich an einem Seil, das von der Glaskuppel herunterhing, langsam zu Boden hinab, um seine Säge wieder zu holen, dabei murmelte er noch ein paar Mal, weil er diese Phrase während seines Besuchs in Paris aufgeschnappt hatte: »Dunkelrot, oh, là, là!«
8
Jannis lag noch immer in seiner Schlafbox und starrte an die Decke, als die Kommandantin sich über seine Glastafel meldete, weil sie ihn dringend zu sprechen wünschte. Das bedeutete normalerweise nichts Gutes, doch so sehr sich Jannis auch bemühte, sich zu erinnern, was er diesmal falsch gemacht haben könnte, es fiel ihm nichts ein. Also quälte er sich in die Senkrechte und schwankte sehr müde zwar, aber mit reinem Gewissen zur Brücke.
Die Kommandantin empfing ihn freundlich und bat ihn, sich zu setzen. Da es auf der Brücke nirgends eine Sitzgelegenheit gab, es existierten nur zwei Ebenen, eine Empore, auf der Balram Brown seine Arbeit vor der stets geschlossenen Tür der Navigatoren verrichtete, und die darunter liegende Ebene mit dem gigantischen Bugfenster, vor dem die Kommandantin ihre technischen Gerätschaften im Auge behielt, setzte sich Jannis auf die Empore, während seine Zehen gerade noch so den Boden berührten.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagte die Kommandantin freundlich und hockte sich neben ihn. Jannis fiel ein Stein vom Herzen. Der Tonfall machte ihm deutlich, dass er nichts zu befürchten hatte, im Gegenteil, die Kommandantin schien etwas von ihm zu wollen.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er daher fast schon etwas zu selbstbewusst, als ob es ihm von Anfang an klar gewesen wäre, dass die Kommandantin eine Bitte an ihn herantragen wollte.
»Wie du bestimmt schon mitbekommen hast, sind wir gerade dabei, das Schiff wieder in den Zustand zu versetzen wie es war, als sich weder die Dunkelschiffbesatzung noch Sheridans Soldaten an Bord befanden«, erklärte die Kommandantin etwas umständlich.
Jannis nickte.
»Gestern haben wir uns das Abteil von Thelonious Arden vorgenommen«, setzte die Kommandantin ihre Rede fort. »Dabei stießen wir durch Zufall auf ein paar Dinge ... nun, das ist – zugegeben – ein wenig salopp ausgedrückt ... nein, im Vertrauen, wir stießen auf nichts Geringeres als auf sein Testament.«
Jannis wurde hellhörig und sah die Kommandantin erwartungsvoll an.
»Da ist ... da ist«, stotterte diese jetzt, als ob es ihr schwerfiele, Jannis den Inhalt des Testaments mitzuteilen. »Also, da ist zunächst dieses Buch hier, von dem der Alte wollte, dass du es bekommst.«
Die Kommandantin zog ein Notizbuch mit selbstgeschöpften Blättern aus einer ihrer Taschen und reichte es Jannis.«
»Eigentlich dürfte ich dir das nicht geben«, vertraute sie ihm an, »denn es ist in Handschrift verfasst, und etwas Handschriftliches zu besitzen, ist, wie du weißt, streng verboten.«
Jannis nahm das Büchlein und blätterte sogleich darin herum. Es fiel ihm jedoch nicht leicht, die Schrift von Thelonious Arden zu entziffern.
»Aber ich dachte mir, wenn Thelonious unbedingt wollte, dass du dieses Buch ... also, du hast ja noch einige Tage Zeit, bevor wir wieder unter der Kuratel von Maa stehen. Vielleicht liest du es bis dahin und lässt es dann verschwinden, so, dass niemand es mehr finden kann. Du verstehst schon.«
Jannis nickte erneut, ohne etwas zu erwidern.
»Glücklicherweise kann ich Handschrift nicht lesen«, fuhr die Kommandantin fort, »deshalb kam ich auch nicht in Versuchung, einen Blick in das Büchlein zu werfen. Sollte es aber etwas enthalten, das für uns alle hier auf der Prometheus von Wichtigkeit ist, so setze ich voraus, dass du es uns mitteilst.«
»Selbstverständlich«, sagte Jannis und ließ das Buch, das in einem reichlich abgeschabten Einband steckte, rasch in einer seiner Taschen verschwinden, bevor die Kommandantin es sich noch einmal anders überlegen konnte.
»Das ist die eine Sache«, sagte Jennifer Orlanda und legte jetzt mütterlich eine Hand auf Jannis‘ Knie. Jannis zuckte eine wenig zusammen und spürte, dass von der Hand eine Kälte ausging, die er noch durch sein Hosenbein spüren konnte. Offensichtlich war die Kommandantin sehr nervös.
»Wie du weißt, war Thelonious Arden der oberste Lehrer von Maa, der sogenannte Magister Primus. Aber ich habe keine Ahnung, ob du auch weißt, wie man zu so einem Titel und einem solchen Amt kommt.«
Jannis zuckte mit den Schultern. »Ich denke, man wird dazu vom Obersten Rat bestimmt«, sagte er.
»Irrtum«, erwiderte die Kommandantin. »Der Magister Primus ist ein Titel, den man nicht aufgrund von Wohlverhalten gegenüber dem Staat verliehen bekommt. Und seien wir ehrlich, wäre es so, dann hätte Thelonious ihn ja auch niemals erhalten.« Die Kommandantin lachte, und auch Jannis musste lachen, weil die Vorstellung, man habe dem Alten diesen Titel aufgrund seiner großen Loyalität gegenüber dem Staat zuerkannt, einfach nur zum Lachen war.
»Es ist vielmehr so«, erklärte die Kommandantin und zog dabei die Hand von Jannis‘ Knie zurück, »wie soll ich es sagen? Der Magister Primus darf selbst bestimmen, wer sein Nachfolger wird.«
Jannis wunderte sich. Er konnte nicht glauben, dass die Humanökologen sich hier einmal nicht einmischten.
»Das ist ein altes Gesetz, das noch aus der Zeit der ersten Kolonisten stammt«, fuhr die Kommandantin fort, »ein Gesetz, das bislang niemand anzutasten gewagt hat. Unser Thelonious bekam sein Amt übrigens von einer Frau verliehen, Emily Montaigne, der damaligen Magistra Prima, der wir es beispielsweise zu verdanken haben, dass in allen Schulen Xaalinas die Laserbestrafung abgeschafft wurde und Jungen und Mädchen in einer Klasse unterrichtet werden dürfen.«
»Ich verstehe das Problem«, sagte Jannis. Die Kommandantin sah ihn überrascht an. »Weil Thelonious Arden so plötzlich von uns gegangen ist, hat er keine Zeit mehr gehabt, einen Nachfolger zu bestimmen, und wir stehen jetzt ohne einen Magister Primus oder eine Magistra Prima da. Damit ist die Stellung der Schulen gegenüber dem Staat deutlich geschwächt. Gibt es für einen solchen Fall denn keine andere Lösung?«
»Oh nein, du verstehst gar nichts«, sagte die Kommandantin und legte ihre Hand mit Schwung zurück auf Jannis‘ Knie. »Überhaupt, was interessieren mich denn diese Schulangelegenheiten? Nein, Thelonious Arden hat es keinesfalls versäumt, einen Nachfolger zu bestimmen. Dafür war er viel zu gewissenhaft. Er hat sich vielmehr sehr frühzeitig Gedanken über seinen Thronfolger gemacht.«
»Aber dann ist ja alles gut«, sagte Jannis und lächelte die Kommandantin freundlich an.
»Wie man es nimmt.« Die Kommandantin sah Jannis jetzt sehr tief in die Augen, so dass dieser ein wenig nervös wurde und den Blick abwenden musste. Doch Jennifer Orlanda erfasste Jannis‘ Kopf mit ihren beiden kalten Händen und drehte ihn zurück in ihre Sichtachse. »Jannis, versteh doch, er hat dich zu seinem Nachfolger bestimmt.«
9
Jannis hatte geglaubt, dass sich die Nachricht recht schnell auf dem Schiff herumsprechen würde, doch da hatte er sich getäuscht. Die Kommandantin hatte dichtgehalten. Niemand schien daher zu ahnen, dass er der neue Nachfolger von Thelonious Arden werden sollte oder vielleicht sogar schon war. Jannis musste zugeben, dass ihm diese Aufgabe deutlich eine Nummer zu groß erschien. Was hatte sich der Alte dabei gedacht? Oder anders gefragt, was sollte ihn, Jannis, auszeichnen, dass Thelonious Arden geglaubt hatte, er komme als Magister Primus in Frage? Lag es vielleicht daran, dass Jannis die Handschrift beherrschte und wusste oder zumindest eine Ahnung davon besaß, was es mit der verbotenen Literatur auf sich hatte? Aber reichte das aus, um eine solch verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen und fortan die Kinder von Maa in ethischem Verhalten zu unterrichten, Reden zu schwingen und überhaupt eine wichtige Person der Öffentlichkeit zu werden? Jannis war überhaupt nicht wohl bei diesem Gedanken. Am liebsten hätte er sich verkrochen oder wäre unsichtbar geworden. Denn was würden die anderen auf dem Schiff zu dieser Angelegenheit sagen? Würden sie sich nicht totlachen? Er war einer von ihnen, ein ganz normaler Schüler, warum sollte er plötzlich etwas anderes sein? Und dann ausgerechnet ein Magister Primus. Musste man dafür nicht mindestens hundert Jahre alt sein? Jannis lachte, so verrückt erschien ihm der Gedanke, er könne die Rolle des Alten übernehmen. Dann fiel ihm ein, dass Thelonious Arden ihm auch ein Buch vererbt hatte. Er schlug es auf, um darin zu lesen. Vielleicht enthielt es ja eine Begründung für dieses groteske Testament.
Jannis hatte gerade die erste Seite aufgeschlagen, als Sergej den Raum betrat.
»Ist das nicht das Verrückteste, was man je gehört hat?« polterte Sergej sogleich los. Jannis erschrak. Hatte die Kommandantin also doch nicht dichtgehalten? »Kann man wohl sagen«, gab Jannis kleinlaut zur Antwort.
»Du weißt es also schon, hätte ich mir ja denken können. Warum erfahre ich es immer zuletzt?« Sergej fluchte und setzte sich auf den Boden.
»Wann hätte ich es dir denn sagen sollen?« antwortete Jannis und richtete sich in seiner Schlafbox auf. »Du bist fast den ganzen Tag mit Goldoni auf der Plantage. Und ich weiß es ja selbst erst seit einer Stunde.«
»Wirst du mit Jala dorthingehen?«
Jannis schüttelte den Kopf und schien nicht zu verstehen.
»Ich bin mir noch nicht so ganz sicher, aber ich glaube, ich frage Alice. Oder denkst du, es wäre ihr peinlich?«
»Wovon zum Teufel sprichst du eigentlich?« Jannis schwang sich aus seiner Schlafbox und setzte sich zu Sergej auf den Boden.
»Von unserem Abschlussfest selbstverständlich, wovon sprichst du denn?« Sergej sah Jannis an, als ob er es mit einem Trottel zu tun hätte. »Du könntest natürlich auch June fragen, jetzt wo Damion weg ist«, überlegte Sergej. »Aber ich glaube, dann wäre Jala sauer. Nein, wir können unsere beiden Teamfrauen auf keinen Fall übergehen. Hoffentlich ist Hiroto nicht schneller gewesen. Stell dir vor, er hat schon eine der beiden gefragt und sie hat ja gesagt. Wie blamabel.«
»Na, dann gehen wir beide halt zum Fest«, sagte Jannis und lachte, weil er froh war, dass es offensichtlich gar nicht um seine Nachfolge im Amt von Thelonious Arden ging.
»Sehr witzig«, erwiderte Sergej. »Also wäre es für dich in Ordnung, wenn ich Alice ...«
»Ja, na klar, frag sie. Aber erzähl mir doch bitte mal, was es mit diesem Fest eigentlich auf sich hat. Ich kenne bislang keinerlei Details.«
»Die Kommandantin will es noch mal richtig krachen lassen, bevor unsere lieben Freunde, die Humanökologen, wieder Tag und Nacht ihren freundlichen Blick auf uns ruhen lassen werden«, erklärte Sergej. »Es soll ein Fest geben mit den ehemaligen Schülern, den Lehrern und der ganzen Crew. Jean-Luc Swan wurde angewiesen, seinen Kochkünsten die Krone aufzusetzen, und man hat, zum Leidwesen von Alice, sämtliche Flaschen Aalblut für diese Festlichkeit beschlagnahmt.«
»Langsam begreife ich«, sagte Jannis.
»Und eine Überraschung soll es auch geben. Jemand, von dem man es nicht erwartet hätte, werde eine Ansprache halten, so heißt es.«
Jannis schluckte. »Und wer ist dieser jemand?«
»Na, wenn ich es wüsste, dann wäre es ja keine Überraschung mehr. Die Kommandantin raunte nur, dass einem von uns eine besondere Ehre zuteilwerde. Also wenn du mich fragst, dann ist es Jala. Wahrscheinlich bekommt sie eine Auszeichnung für ihre hervorragenden Leistungen in Sachen Navigation. Ich meine, wer würde dir sonst einfallen, der sich besondere Verdienste erworben hat?«
»Niemand«, antwortete Jannis. »Ich würde es ihr gönnen, aber ich garantiere dir, dass sie keine Rede halten wird. Da verzichtet sie lieber auf die Auszeichnung.«
»Dann macht’s halt ein anderer. Wir werden sehen. Aber jetzt verrat mir, was du davon hältst!«
»Wovon denn?«
»Idiot! Na, davon, dass ich Alice frage, ob sie mit mir zum Fest geht.«
»Oh ja, mach das, was sollte ich dagegen haben?«
»Na, du bist doch ihr Aufpasser. Von Pieter De Jong persönlich zu ihrem Schutz abgestellt.«
»Was hast du mit ihr vor, dass du mich an meine Aufsichtspflicht erinnerst?«
»Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt bin ich seit ein paar Tagen ganz durcheinander. Weißt du, früher habe ich mir nichts aus Alice gemacht ...«