Aus der Bahn geworfen - Anne Alexander - E-Book

Aus der Bahn geworfen E-Book

Anne Alexander

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Wenn ich erst wieder bei meiner Mama bin, darf ich alles tun, was ich möchte«, prahlte Juana Behrmann, ein dunkelblondes Mädchen mit lebhaften blauen Augen. Die langen Haare hingen ihr seidenweich über die schmalen Schultern. Ein glückliches Lächeln lag um ihre Lippen, als sie an die Mutter dachte. »Wann fährst du denn zu deiner Mama?« fragte Heidi Holsten, das jüngste der Sophienluster Dauerkinder, interessiert. Heidi war noch sehr klein gewesen, als sie ihre Eltern verloren hatte. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Obwohl es in Sophienlust sehr schön war, beneidete sie manchmal die Kinder, die noch eine Mutter und einen Vater hatten. »In den Ferien«, sagte Juana. Sie wies zum Himmel. »Schau, jetzt scheint wieder die Sonne!« Sie öffnete den Reißverschluß ihrer Windjacke und fuhr mit dem Finger in die Halsöffnung des roten Rollkragenpullovers. »Ob es in diesem Jahr einmal richtig Sommer sein wird? Wetten, daß es schon morgen wieder regnet?« »So einen verregneten Sommer hatten wir noch nie«, klagte Vicky Langenbach. Sie setzte sich auf die Schaukel und ließ die Beine baumeln. »In Spanien ist es immer schön«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 150

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leseprobe: Der zweite Ring

Lars stürzte zur Fahrertür seines Wagens und riss sie auf. Bevor er sich ins Auto werfen konnte, hielt Arne ihn zurück.

»Ich fahre«, sagte der junge Bergquist so bestimmt, dass Lars gar nicht erst auf die Idee kam, ihm zu widersprechen. Außerdem wusste er selbst, dass er in seiner momentanen Gefühlslage alles andere als ein guter und vor allem sicherer Fahrer war. Wie sollte er auch? Seine Wenke war verschwunden! Entführt! Karl Aresson hatte sie ihm entrissen! Dieser verschrobene Einsiedler, bei dem Wenke nach ihrem Schiffbruch gestrandet war und vier endlos lange Tage aushalten musste. Er hatte sie wieder in seine Gewalt gebracht! Und irgendwo da draußen fuhr er jetzt mit ihr, auf der Flucht vor seinen Verfolgern…

»Du kennst den Weg zu dieser Landzunge?«, fragte Erik Hellström. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, bei der Suche nach seiner Schwester mitzumachen, und hatte auf der Rückbank Platz genommen.

Lars nickte. »Ja, wir brauchen nur Richtung Norden zu fahren, immer der Küstenlinie entlang. In spätestens zwei Stunden müssten wir sie erreicht haben.«

Und dort, da war sich Lars ganz sicher, würde er Wenke aus Karls Händen befreien. Wie hatten sie sich nur so in ihm täuschen können? Obwohl – Lars hatte dieses ungute Gefühl, das bei dem Gedanken an Karl in ihm aufkam, nie verlassen. Deshalb hatte er sogar seinen Freund Magnus Freiberg gebeten, sich diesen Kauz noch einmal näher anzusehen. Doch Magnus hatte schnell Entwarnung gegeben. Als einen harmlosen Spinner hatte er Karl beschrieben, der zwar total vernarrt in Wenke sei, von dem aber keine Gefahr ausginge.

Lars schnaubte auf und schlug mit der Faust frustriert gegen die Beifahrertür. Die beunruhigten Blicke seiner Mitstreiter interessierten ihn nicht.

»Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich hätte sie nicht eine Sekunde aus den Augen lassen dürfen! Das ist alles meine Schuld!«

»Hör auf damit!«, blaffte ihn Erik an. »Du weißt, dass das Unsinn ist! Niemand konnte ahnen, dass das passieren würde. Sei lieber froh, dass Tante Greta das Nummernschild am Wagen ausmachen konnte und wir dadurch erfahren haben, dass es Karl war. Ansonsten wären wir und die Polizei noch völlig ahnungslos.«

Sophienlust – 291 –

Aus der Bahn geworfen

Ihre Mutter will nichts mehr von Juana wissen!

Anne Alexander

»Wenn ich erst wieder bei meiner Mama bin, darf ich alles tun, was ich möchte«, prahlte Juana Behrmann, ein dunkelblondes Mädchen mit lebhaften blauen Augen. Die langen Haare hingen ihr seidenweich über die schmalen Schultern. Ein glückliches Lächeln lag um ihre Lippen, als sie an die Mutter dachte.

»Wann fährst du denn zu deiner Mama?« fragte Heidi Holsten, das jüngste der Sophienluster Dauerkinder, interessiert. Heidi war noch sehr klein gewesen, als sie ihre Eltern verloren hatte. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Obwohl es in Sophienlust sehr schön war, beneidete sie manchmal die Kinder, die noch eine Mutter und einen Vater hatten.

»In den Ferien«, sagte Juana. Sie wies zum Himmel. »Schau, jetzt scheint wieder die Sonne!« Sie öffnete den Reißverschluß ihrer Windjacke und fuhr mit dem Finger in die Halsöffnung des roten Rollkragenpullovers. »Ob es in diesem Jahr einmal richtig Sommer sein wird? Wetten, daß es schon morgen wieder regnet?«

»So einen verregneten Sommer hatten wir noch nie«, klagte Vicky Langenbach. Sie setzte sich auf die Schaukel und ließ die Beine baumeln.

»In Spanien ist es immer schön«, sagte Juana sehnsüchtig. »Den ganzen Tag scheint die Sonne. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie schön heiß es dort ist.«

»Zuviel Sonne ist auch nicht gut«, antwortete Vicky. »Meine Lehrerin war letztes Jahr in Spanien. Sie hat uns erzählt, daß sich die Leute dort manchmal nach Regen sehnen. Im Süden sollen die Flüsse den ganzen Sommer über ausgetrocknet sein.«

»Trotzdem ist es schöner als hier«, behauptete Juana. »Wenn ich bei meiner Mama bin, dann machen wir immer Ausflüge. Meine Mama kauft mir auch alles, was ich mir wünsche. Und abends darf ich ganz lange aufbleiben. Manchmal fahren wir auch ans Meer. Und dann baue ich mit Tomas und Mercedes riesige Sandburgen.« Sie zeigte mit ihren Händen eine gewaltige Sandburg.

»Ein Mercedes kann doch keine Sandburg bauen«, protestierte Heidi. Sie tippte sich unmißverständlich an die Stirn. »Du spinnst, Juana!«

»Du schwindelst!« schränkte Vicky ein.

»Ich meine doch nicht ein Auto«, sagte Juana. »Mercedes ist meine Schwester. Sie ist vier Jahre alt. Drei Jahre jünger als ich.«

»Haben deine Eltern deine Schwester wirklich nach einem Auto genannt?« Vicky wollte es nicht glauben. »So etwas Komisches habe ich noch nie gehört«, sagte sie und sprang von der Schaukel.

»In Spanien ist Mercedes ein Mädchenname«, erklärte Juana. »Es gibt dort viele Mädchen, die so heißen. Außerdem ist der Vater meiner Schwester nicht mein Vati. Meine Mama hat sich scheiden lassen und noch einmal geheiratet.«

»Ich frage Tante Ma, ob Mercedes wirklich ein Name ist!« rief Heidi. Sie rannte quer über den Spielplatz davon.

»Es ist ein Name!« schrie Juana erbost, weil man ihr nicht glauben wollte.

»Tante Ma hat ein Buch, in dem steht, was die Namen bedeuten«, verriet Vicky der kleinen Juana, die erst seit vierzehn Tagen in Sophienlust lebte. »Komm, wir fragen sie, was Mercedes bedeutet!« Sie faßte nach der Hand der Siebenjährigen.

Heidi war natürlich eher im Empfangszimmer als Juana und Vicky. Ungeachtet der Tatsache, daß die Heimleiterin telefonierte, rief sie bereits an der Tür. »Juana sagt, Mercedes ist ein Name. Sie spinnt, nicht wahr, Tante Ma?«

»Moment bitte«, bat Frau Rennert ihren Gesprächspartner. Sie verdeckte die Sprechmuschel mit der Hand und wandte sich an Heidi: »Setz dich einen Augenblick, Heidi. Ich bin gleich fertig.«

»Bitte, sag mir nur, ob…«

»Heidi!« mahnte Frau Rennert. Sie nahm die Hand von der Muschel und sagte: »Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung, Herr Sander!«

Heidi öffnete erneut den Mund, aber ein Blick von Frau Rennert ließ sie verstummen. Still setzte sie sich in einen Sessel und hörte desinteressiert zu. Als Juana und Vicky ins Zimmer polterten, legte sie einen Finger auf die Lippen und zeigte zum Telefon. »Wir müssen warten«, flüsterte sie. Es klang vorwurfsvoll.

Kaum hatte Frau Rennert den Hörer aufgelegt, bestürmten die Kinder sie. Schließlich hielt sie sich die Ohren zu. »Einer nach dem anderen bitte! Heidi war zuerst hier, also wird sie anfangen!« Sie lächelte der Fünfjährigen zu.

»Juana sagt, ihre Schwester heißt Mercedes«, erzählte Heidi. »Ist das wirklich ein Name? Juana schwindelt doch, nicht wahr? Ein Mercedes ist ein großes Auto.«

»Ja, in Spanien ist Mercedes ein Mädchenname«, bestätigte Frau Rennert. Sie sah Juana an. »Sogar ein sehr häufiger Mädchenname. Er hat mit der deutschen Automarke überhaupt nichts zu tun.«

»Seht ihr, was habe ich euch gesagt!« triumphierend nickte Juana.

»Du hast doch ein Buch über die Bedeutung der Namen, Tante Ma«, sagte Vicky. »Schau mal nach, was darin über Mercedes steht. Bitte!« setzte sie hinzu.

»Bestimmt etwas ganz Schönes«, meinte Juana. Sie liebte ihre Geschwister über alles.

»Na, dann wollen wir mal sehen!« Frau Rennert griff in die Schreibtischschublade und nahm ein dickes Taschenbuch heraus. Sie schlug es unter ›M‹ auf, fuhr mit dem Zeigefinger an den Namen entlang. »Melinda, Meline, Melitta, Melusine«, las sie vor. »Ah, da haben wir’s!« Sie hob kurz den Kopf an. »Der Name Mercedes kommt von einem spanischen Marienfest, das am 24. September gefeiert wird.«

»Oh, ich weiß!« rief Juana aufgeregt. »Das Fest heißt: Maria de Mercede redemptionis captivorum. Meine Schwester hat auch am 24. September Geburtstag.«

»Haben bei euch alle Feste so lange Namen?« fragte Vicky beeindruckt. »Wie kann man das nur aussprechen! Da bricht man sich ja die Zunge ab.«

»Viele Feste haben lange Namen«, erklärte Juana bereitwillig, »aber die meisten kenne ich nicht. Spanisch ist ganz leicht. Wenn ich bei meiner Mama bin, spreche ich immer Spanisch. Tomas und Mercedes können überhaupt nicht Deutsch, und meine Mama sagt, sie habe es wieder verlernt.«

»Ich kann nur Deutsch!« Heidi zog eine Schnute.

»Wenn ich nächstes Jahr ins Gymnasium komme, lerne ich Englisch«, sagte Vicky stolz. »Angelika kann es schon.«

»Pünktchen auch, und noch viel besser«, meinte Heidi. »Wenn ich in die Schule komme, dann lerne ich gleich andere Sprachen.« Sie sah Juana an. »Auch Spanisch!«

»Wenn du willst, kannst du bei mir Spanisch lernen«, bot Juana zuvorkommend an. »Und du auch, Vicky!«

»O ja«, rief Heidi aus. »Fang gleich an, ja?«

»Vielleicht will noch jemand Spanisch lernen«, meinte Vicky. »Ich laufe und frage die anderen.«

»Bevor ihr euren Spanischkurs beginnt, denkt daran, in zehn Minuten gibt es Essen«, meinte Frau Rennert. Sie wußte aus Erfahrung, daß die Begeisterung der Kinder nicht lange anhalten würde. Vor einiger Zeit hatten sie eine kleine Französin in Sophienlust gehabt.

Alle Kinder hatten plötzlich Französisch lernen wollen, aber schon bald hatte sich ihr Eifer gelegt. »Ihr könntet euch schon die Hände waschen«, schlug sie vor.

Die Kinder gingen zur Tür. »Was heißt auf Wiedersehen auf spanisch, Juana?« fragte Heidi beim Hinausgehen.

»Hasta la vista!«

»Hasta Vista, Tante Ma!« schrie Heidi. »Hasta vista!«

»Hasta la vista«, verbesserte Juana.

»Hasta la vista! Hasta vista!« schrie Heidi unbeirrt und stürmte in die Halle.

*

Hastig räumte Dorit Reichelt ihre kleine Wohnung auf. Zu dumm, daß sie am Morgen verschlafen hatte. Gewöhnlich brachte sie die Wohnung noch vor ihrer Fahrt zur Schule in Ordnung, aber an diesem Morgen hatte es nur noch zu einer Tasse Kaffee gereicht.

Dorit blickte auf die Uhr. Hoffentlich kam Dieter nicht pünktlich. Aber dieser Wunsch war eigentlich Illusion. Dieter war die Pünktlichkeit in Person. Er war sehr korrekt, überkorrekt, wie sie sich oft sagte.

Dorit zog die Tischdecke glatt und stellte die Vase mit den Nelken in die Mitte des Tisches. Die Nelken hatte sie auf dem Nachhauseweg gekauft. Sie wußte, Dieter liebte Blumen. Seine Eltern besaßen eine Gärtnerei in Fornbach, einem Nachbarort von Maibach. Er selbst arbeitete bei der Maibacher Kreissparkasse.

Erleichtert stellte Dorit fest, daß Dieter ausnahmsweise einmal nicht pünktlich zu sein schien. Rasch ging sie ins Schlafzimmer und zog sich um. Noch vor einer Woche hatte sie sich geschworen, Dieter Hilbrecht nie wiederzusehen, und nun stand sie vor dem Spiegel und machte sich für ihn schön.

Es war eine furchtbare Woche gewesen. Sie liebte Dieter, und trotzdem hatte sie wegen einer Kleinigkeit mit ihm gestritten. Was erst wie eine geringfügige Meinungsverschiedenheit ausgesehen hatte, war plötzlich zu einem handfesten Krach geworden. Eine Woche lang hatten sie nicht miteinander gesprochen. Dorit hatte sogar eine Kollegin zur Bank geschickt, als sie einen Scheck hatte einlösen müssen, nur um Dieter nicht zu sehen. Und nun hatte er sie heute morgen in der großen Pause angerufen. Ihr erster Impuls war gewesen, den Hörer aufzulegen, aber das hatte sie nicht fertiggebracht.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen als sie ihre langen blonden Haare zu der Frisur aufsteckte, die Dieter so an ihr liebte. Sie trug die Haare lieber offen, aber Dieter mochte das nicht. Vorsichtig steckte sie eine Klammer fest. Jetzt noch etwas Rouge und etwas Parfüm, und Dieter konnte kommen.

Doch Dieter kam nicht!

Es wurde halb drei, es wurde drei! Unruhig ging Dorit in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Immer wieder trat sie auf den kleinen Balkon hinaus und blickte auf die Straße hinab. Hatte Dieter am Nachmittag doch keinen Urlaub erhalten? Sie schüttelte den Kopf. In diesem Fall hätte er sie verständigt. Hatte er es sich anders überlegt? Dorit verwarf auch diesen Gedanken wieder. Weshalb hätte er sie dann am Morgen in der Schule angerufen? Dieter war nicht wankelmütig.

Dorit bekam Hunger. Dieter hatte gesagt, daß sie zusammen essen gehen würden. Seit dem Frühstück in der großen Pause hatte sie nichts im Magen. Nun ging sie in die Küche und machte sich ein Butterbrot zurecht. Aber schon nach dem ersten Bissen legte sie das Brot wieder weg. Trotz des Hungers fehlte ihr der Appetit.

Ihr Blick fiel auf die Küchenuhr. Fast vier! Entschlossen ging sie ans Telefon. Sie mußte wissen, was los war.

Dieters Kollege meldete sich. Er erzählte ihr, daß Dieter die Bank um ein Uhr verlassen hatte.

Dorit dankte kurz, legte auf und wählte erneut. Auch wenn sie es nicht gern tat, sie rief nun seine Zimmerwirtin an.

»Herr Hilbrecht war nur auf einen Sprung hier und ist dann gleich wieder mit dem Rad weggefahren«, antwortete die Wirtin auf ihre Frage.

»Mit dem Rad?«

»Ja, irgendwas an seinem Wagen ist nicht in Ordnung. Ich habe ihm das Rad meines verstorbenen Mannes geborgt.«

»Hat Ihnen Herr Hilbrecht gesagt, wohin er fahren wollte?« erkundigte sich Dorit besorgt.

»Er hat gesagt: ›Ich fahre zu meiner Braut‹ Mehr nicht«, erwiderte die Wirtin. Sie stutzte. »Und er ist nicht zu Ihnen gekommen? Wo kann er denn sein? Ich habe ihm extra gesagt, er soll auf das Rad aufpassen. Ich…«

»Er wird schon noch kommen«, unterbrach Dorit beunruhigt den Redefluß der Frau. »Danke!« Sie legte auf. Konnte Dieter etwas passiert sein? Er hatte ihr einmal erzählt, daß er schon jahrelang nicht mehr Rad gefahren sei. Warum hatte er denn nur nicht einfach ein Taxi genommen?

Dorit setzte sich ans Fenster und stützte den Kopf in die Hände. Was sollte sie nur tun? Sollte sie im Krankenhaus anrufen, oder, noch besser, bei der Polizei?

Das Läuten der Türglocke riß Dorit aus ihrem Grübeln. Sie sprang auf, eilte in den schmalen Korridor und riß die Tür auf. Erschrocken prallte sie zurück, als sie den Polizisten sah, der vor der Tür stand.

»Guten Tag«, sagte der Polizist. »Sind Sie Fräulein Reichelt, Dorit Reichelt?«

Benommen nickte Dorit. Sie war nicht einmal fähig, den Gruß des Mannes zu erwidern. »Es ist etwas passiert?« fragte sie. »Mit Herrn Hilbrecht, nicht wahr? « Sie trat beiseite, um den Polizisten in die Wohnung zu lassen.«

»Leider ja, Fräulein Reichelt«, antwortete der Polizist, ohne über die Schwelle zu treten. Man merkte ihm an, daß ihm seine Aufgabe sehr unangenehm war. »Herr Hilbrecht hatte einen Unfall. Als er mit dem Rad in die Hegel-Straße einbog, streifte er einen geparkten Lastwagen. Er wurde beiseite geschleudert und stürzte so unglücklich, daß er hart mit dem Kopf auf der Straße aufschlug.«

»O Gott!« stöhnte Dorit auf. »Wie geht es ihm? Kann ich zu ihm?«

»Er ist sofort ins Krankenhaus gebracht worden«, erwiderte der Polizist. »Dort ist er vor knapp einer Stunde noch einmal zu sich gekommen und hat Ihren Namen genannt.«

»Können Sie mich ins Krankenhaus bringen?« fragte Dorit. Sie mußte sich an den Türrahmen lehnen, um nicht umzufallen. Ihre Ahnung hatte sie also nicht getrogen. Dieter war etwas passiert. Warum hatte er auch das Rad nehmen müssen?

»Natürlich bringe ich Sie ins Krankenhaus, Fräulein Reichelt.« Der Polizist zögerte, doch dann fügte er hinzu: »Es tut mir leid, aber ich muß Ihnen sagen, daß Herr Hilbrecht vor knapp einer Viertelstunde gestorben ist. Ich erhielt diese Nachricht über Funk, als ich auf dem Weg zu Ihnen war.«

»Tot?« Entsetzt starrte Dorit den Beamten an. »Dieter tot?«

Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen. Das Treppenhaus begann sich zu drehen. Bevor sie das Bewußtsein verlor, fühlte sie noch, wie zwei starke Hände sie auffingen.

*

Geblendet schloß Werner Behrmann sekundenlang die Augen, als er aus dem schattigen Flughafengebäude ins Freie trat. Er stellte seinen Koffer ab, beschattete die Augen mit einer Hand und ließ seinen Blick über die sonnenverbrannte Landschaft gleiten.

Werner Behrmann nahm seinen Koffer auf und trug ihn zum nahen Taxiplatz. Er dachte an seine kleine Tochter. Seit vier Wochen hatte er sie nicht mehr gesehen. Gut, in Sophienlust ging es ihr sicher besser als in irgendeinem anderen Kinderheim, aber ein Heim blieb immer ein Heim und war kein Zuhause – jedenfalls nicht für Juana.

Werner Behrmann besaß in Backnang ein geräumiges Einfamilienhaus mit einem großen Garten. Die Mutter eines Bekannten lebte als Haushälterin bei ihm und betreute auch Juana. Aber jetzt lag Berta Sommer mit einem Beckenbruch im Krankenhaus. Es war fraglich, ob sie ihre Arbeit je wieder würde aufnehmen können. Werner hatte so rasch keine neue Betreuerin für Juana gefunden. So war ihm nichts anderes übriggeblieben, als seine Tochter in Sophienlust unterzubringen. Die Adresse hatte er von einem Freund erhalten.

Werner war Geschäftsführer eines Import-Export-Unternehmes und hatte oft monatelang im Ausland zu tun. Jetzt war er bereits seit fast vier Wochen in Spanien, um sich um die dortigen Niederlassungen seiner Firma zu kümmern.

»Hotel Carlos der Fünfte«, sagte er zu einem Taxifahrer, der ihm entgegengekommen war, und den Koffer abgenommen hatte.

»Si, Señor!« Der Chauffeur verlud den Koffer im Gepäckraum des geräumigen Wagens und hielt Werner einladend die Fondtür auf. Mit einem lauten Knall schlug er sie zu, nachdem der Geschäftsmann Platz genommen hatte.

In atemberaubendem Tempo ging es nach Madrid. Werner schaute nicht aus dem Wagenfenster. Er kannte diese Strecke von vielen früheren Fahrten her. Er dachte an Maria Fernandez-Sotelo. Er hatte sie vor fast neun Jahren auf dem Campo del Mora in Madrid bei seinem ersten Auslandsauftrag kennengelernt. Ein halbes Jahr zuvor hatte er bei der Firma Brunner zu arbeiten angefangen. Damals hatte er noch nicht geahnt, daß er im Laufe der Jahre zum Geschäftsführer des Unternehmens aufsteigen würde.

Maria war bezaubernd gewesen. Noch jetzt glaubte er ihre silberhelle Stimme zu hören, ihr Lachen. Sie hatte sich nicht so zurückhaltend gegeben wie ein Großteil der spanischen Mädchen. Aber als er sie zu einem Kaffee eingeladen hatte, war sie, ohne zu zögern, mit ihm gegangen. Sie hatte ihm erzählt, daß sie in der deutschen Botschaft arbeite, und ihm im Laufe der nächsten Tage die ersten spanischen Worte beigebracht. Als er das zweite Mal, wenige Monate später, wieder von seiner Firma nach Madrid geschickt worden war, hatten sie sich verlobt. Ein halbes Jahr später hatten sie geheiratet.

Der Chauffeur machte Werner darauf aufmerksam, daß sie bereits in der Mestro Vitoria waren. Sekunden später hielt er vor dem imposanten Hotel.

»Bitte, warten Sie auf mich«, sagte Werner. »Ich bin in einer Viertelstunde zurück.«

»Si, Señor!« Der Chauffeur griff nach der Zeitung, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag, und begann zu lesen. Gegen eine bezahlte Ruhepause hatte er nichts einzuwenden. Tickend lief die Uhr des Taxis weiter.

Werner Behrmann war in diesem Hotel bekannt. Kaum hatte er die Hotelhalle betreten, kam ihm der Geschäftsführer entgegen und geleitete ihn zur Rezeption.