Wo Kinder glücklich sind - Anne Alexander - E-Book

Wo Kinder glücklich sind E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Einen Augenblick, bitte!« Frau Rennert reichte den Telefonhörer an Denise von Schoenecker weiter, die an diesem Vormittag wieder einmal in Sophienlust war. »Das Stuttgarter Jugendamt«, erklärte sie. »Denise von Schoenecker«, meldete sich Denise. »Ach, Sie sind es, Herr Sander!« »Ja, und wieder einmal muss ich Sie um Hilfe bitten, Frau von Schoenecker. Das heißt, sofern Sie uns helfen können. Sophienlust ist ja ständig belegt.« »Für Notfälle haben wir immer noch ein Plätzchen frei«, antwortete Denise. »Worum handelt es sich denn, Herr Sander?« »Um einen zehnjährigen Jungen namens Simon Maifeld. Die übliche Geschichte! Mit zwei Jahren Einweisung ins Kinderheim, dann Aufenthalt bei zwei älteren Tanten, schließlich wieder Einweisung ins Kinderheim. Simon ist bereits zweimal ausgerückt. Einmal konnte er sich für eine Woche in einem Steinbruch verbergen.« »Wann ist er das letzte Mal ausgerückt?«, fragte Denise ergriffen.

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Sophienlust Bestseller – 90 –

Wo Kinder glücklich sind

Simon muss Sophienlust erst kennenlernen

Anne Alexander

»Einen Augenblick, bitte!« Frau Rennert reichte den Telefonhörer an Denise von Schoenecker weiter, die an diesem Vormittag wieder einmal in Sophienlust war. »Das Stuttgarter Jugendamt«, erklärte sie.

»Denise von Schoenecker«, meldete sich Denise. »Ach, Sie sind es, Herr Sander!«

»Ja, und wieder einmal muss ich Sie um Hilfe bitten, Frau von Schoenecker. Das heißt, sofern Sie uns helfen können. Sophienlust ist ja ständig belegt.«

»Für Notfälle haben wir immer noch ein Plätzchen frei«, antwortete Denise. »Worum handelt es sich denn, Herr Sander?«

»Um einen zehnjährigen Jungen namens Simon Maifeld. Die übliche Geschichte! Mit zwei Jahren Einweisung ins Kinderheim, dann Aufenthalt bei zwei älteren Tanten, schließlich wieder Einweisung ins Kinderheim. Simon ist bereits zweimal ausgerückt. Einmal konnte er sich für eine Woche in einem Steinbruch verbergen.«

»Wann ist er das letzte Mal ausgerückt?«, fragte Denise ergriffen.

»Vor zehn Tagen«, antwortete Herr Sander. »Er wurde vierundzwanzig Stunden später auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof gefunden. Er wollte nach Hamburg fahren, um dort als blinder Passagier auf ein Schiff zu gehen. Der Junge hat wohl zu viel Abenteuergeschichten gelesen. Jedenfalls hatte er sich eine starke Erkältung zugezogen und lag bis heute in der Krankenabteilung seines Heimes. Die Heimleiterin, Frau Krüger, bat mich, einen anderen Platz für ihn zu suchen. Er steckt die anderen Kinder mit seiner ständigen Unruhe an.«

»Im wievielten Kinderheim ist Simon denn schon?«

»Im dritten«, gestand Herr Sander.

»Und dann wundert man sich, dass er unruhig ist?« Denise lachte unfroh auf. »Das Kind hat doch noch nie einen festen Pol gehabt, an den es sich klammern konnte. Was ist mit seinen Eltern?«

»Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Simon zwei Jahre alt war. Wie gesagt, Frau von Schoenecker, die Frage ist nun, ob Sie es mit ihm versuchen wollen. Ich weiß, was für einen Problemfall ich Ihnen damit wieder aufbürde, aber wenn Simon überhaupt jemals sein seelisches Gleichgewicht zurückgewinnen kann, dann nur in Sophienlust.«

»Und damit nehmen Sie mir die Entscheidung schon aus der Hand, Herr Sander«, meinte Denise. »Wir werden Simon in Sophienlust aufnehmen. Kann ich ihn heute Nachmittag abholen?«

»Sind Sie jetzt nicht ein bisschen zu eilig?«

»Wenn es um ein Kind geht, Herr Sander, kann man gar nicht eilig genug sein«, erklärte Denise von Schoenecker. »Simon hat in seinem jungen Leben schon genug mitmachen müssen. Bis jetzt ist es uns fast gelungen, verzweifelte, von der Welt der Erwachsenen enttäuschte Kinder glücklich zu machen.«

»Eben aus diesem Grund habe ich mich an Sie gewandt, Frau von Schoenecker. Ich werde sofort das Kinderheim Sonnenhof anrufen und Frau Krüger mitteilen, dass Sie heute Nachmittag kommen. Ihr wird ein Stein vom Herzen fallen. Frau Krüger wird dafür sorgen, dass Simons Sachen gepackt sind.«

»Danke, Herr Sander! Ich nehme an, Sie werden ebenfalls im Sonnenhof sein. Ich werde so etwa gegen vierzehn Uhr eintreffen. Wir besprechen dann dort alles Weitere. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Frau von Schoenecker!« Herr Sander legte auf.

Denise seufzte und blickte Frau Rennert an, die das Gespräch mitgehört hatte. »Jetzt bekommen wir also wieder ein Problemkind.«

»Die Frage ist nur, wo bringen wir Simon unter«, sagte Frau Rennert. Sie blickte zur Tür. »Ah, Schwester Regine, Sie kommen wie gerufen!« Sie lächelte der jungen Kinderschwester zu, die das Zimmer betrat. »Frau von Schoenecker wird heute Nachmittag einen zehnjährigen Jungen nach Sophienlust holen.«

Schwester Regine setzte sich. »Die Betten sind alle belegt«, meinte sie nach kurzer Überlegung. »Allerdings könnte man in irgendein Zimmer noch ein drittes Bett hineinstellen.« Sie sah Denise an. »Wissen Sie schon etwas über den Jungen?«

»Ja, dass er ein Problemkind ist.« Denise berichtete, was sie von Herrn Sander erfahren hatte.

»Dann würde ich sagen, wir bringen ihn in Fabians Zimmer unter. Wie enttäuscht war Fabian von den Erwachsenen, als er zu uns kam, und wie glücklich ist er hier geworden. Vielleicht wäre sein Einfluss dem Jungen nützlich?«

»Ihre Idee ist ausgezeichnet, Schwester Regine«, lobte Denise. »Fabian ist bei uns zu einem aufgeschlossenen Jungen geworden. Altersmäßig würden die beiden gut zusammenpassen. Und für den kleinen Peter Hafner wäre es unter Umständen auch gut.«

»Ja, Peter konzentriert sich zu sehr auf Fabian«, meinte Frau Rennert. »Wir haben ihn zwar extra in Fabians Zimmer gelegt, damit er in Fabian einen Freund hat, doch er ist zu anhänglich. Am liebsten würde er Fabian keinen Augenblick aus den Augen lassen.«

»Peter ist erst sechs«, sagte Schwester Regine. »Er sieht in Fabian den großen Bruder, den er durch diesen Unfall vor drei Monaten verloren hat. Mit der Zeit wird er sich wieder fangen.«

»Das glaube ich auch«, meinte Denise. »Schade, dass Fabian heute Nachmittag Schule hat. Ich hätte ihn gern nach Stuttgart mitgenommen. Vielleicht hätten sich die beiden Jungen gleich angefreundet.« Sie erhob sich. »Ich werde jetzt nach Schoeneich zurückfahren. Falls sich noch irgendetwas ergibt, rufen Sie mich bitte an.«

Schwester Regine begleitete Denise zu ihrem Wagen. »Wenn Fabian aus der Schule kommt, werde ich ihm sagen, dass er noch einen Zimmerkameraden bekommt«, versprach sie. »Vielleicht könnten Sie herauszufinden versuchen, was Simon gern isst, Frau von Schoenecker. Magda wird ihm sicherlich gern sein Lieblingsessen kochen.«

»Ja, unter Umständen gewinnen wir so sein Vertrauen«, sagte Denise. »Also, bis heute Abend, Schwester Regine.«

Denise wollte gerade in ihren Wagen einsteigen, als ein kleines Mädchen aufgeregt auf sie zulief. »Tante Isi!«, rief es und breitete seine Arme aus.

Denise kauerte sich hin. Sie fing die kleine Heidi Holsten, die mit ihren fünf Jahren das jüngste der Sophienluster Kinder war, mit den Armen auf. »Na, was hast du denn, Heidi?«, fragte sie.

»Warum fährst du schon wieder fort, Tante Isi?«, fragte Heidi. »Kannst du nicht mit uns spielen? Wenn die anderen in der Schule sind, ist es schrecklich langweilig.«

»Ich muss nach Schoeneich zurück, Heidi«, sagte Denise.

»Kann ich nicht mitkommen?« Heidi legte ihr Köpfchen schief. »Ich werde auch ganz brav sein und dich nicht stören.«

»Na gut, Heidi, komm mit!«, entschied Denise nach kurzem Zögern.

»O fein! Du bist die liebste Tante der ganzen, ganzen Welt, Tante Isi!«, jubelte Heidi. Sie bedeckte das Gesicht der Gutsbesitzerin mit feuchten Küsschen.

Denise von Schoenecker richtete sich wieder auf. »Ich werde Heidi vor dem Mittagessen von Hermann nach Sophienlust zurückbringen lassen«, sagte sie zu Schwester Regine.

»Hoffentlich stört Sie der kleine Racker nicht bei Ihrer Arbeit«, meinte Schwester Regine.

»Ich störe Tante Isi nicht. Ich habe es doch versprochen.« Heidi kletterte in den Wagen. »Wiedersehen, Schwester Regine.« Sie winkte eifrig.

»Wiedersehen, du kleiner Quälgeist«, entgegnete die junge Schwester lachend und ging ins Haus zurück.

*

»So, Flocki, diesen Fall hätten wir auch unter Dach und Fach gebracht«, meinte Roland Breuninger und legte seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz.

Besitzergreifend setzte der Terrier Flocki seine rechte Pfote auf den Koffer und schaute mit seinen runden braunen Augen zum Herrchen empor.

»Du bist ein feiner Wachhund, Flocki«, lobte der zweiunddreißigjährige Roland Breuninger und streichelte das graue Fell des Hundes. »Noch drei Fälle, dann haben wir es für heute geschafft, alter Junge.«

Roland setzte sich hinter das Steuer und gab Gas. Er war leitender Angestellter bei einer großen Versicherungsgesellschaft. Eigentlich besuchte er schon seit Jahren keine Kunden mehr, aber der letzte Vertreter, der den Bezirk um Stuttgart betreut hatte, war seiner Arbeit nur schlecht nachgekommen. Viele Kunden hatten sich beschwert und ihren Austritt aus der Versicherung angekündigt. Roland Breuninger suchte jetzt diese Kunden auf, um sie der Versicherung zu erhalten.

»Siehst du, Flocki, jetzt erlebst du dein Herrchen einmal in Aktion«, meinte Roland. »Es ist doch fein, dass Frau Weller heute nicht auf dich aufpassen konnte.«

»Wuff«, machte der Terrier und schaute aus dem Wagenfenster.

»Du bist ein braves Hundchen, Flocki«, erklärte Roland. »Freust du dich auch, dass Thomas bald wieder bei uns wohnen wird? Wir beide haben ihn schwer vermisst, nicht wahr, mein Alter?«

»Wuff!«

»Schade, dass du nicht sprechen kannst, Flocki.« Roland blickte durch den Rückspiegel. »Vermutlich verstehst du gar nicht, warum alles so gekommen ist. Ehrlich, Flocki, manchmal frage ich mich auch, was haben wir falsch gemacht, ich und Susanne?«

Vor ihnen tauchte das Böblinger Ortsschild auf. Roland drosselte den Motor und fuhr langsamer. An der Bordsteinkante hielt er an und erkundigte sich nach der Beethoven-Straße.

»Immer geradeaus«, meinte die junge Frau, die er gefragt hatte, »dann nach etwa fünfhundert Metern nach links, zwei Straßenecken weiter nach rechts, und schon sind Sie in der Beethoven-Straße.«

»Danke!« Roland kurbelte das Fenster wieder hoch. Es war November. Von draußen war eine eisige Kälte in den Wagen eingedrungen.

Flocki rollte sich auf dem Aktenkoffer zusammen. Er schloss die Augen. Als Roland an seinem Ziel angelangt war und vorsichtig den Aktenkoffer unter dem Hund hervorzog, blinzelte dieser nur, um gleich darauf wieder einzuschlafen.

»Du hast es gut, Flocki.« Roland kraulte den Terrier hinter dem linken Ohr, was dieser besonders mochte. »Hund müsste man eben sein.«

*

»Ah, da sind Sie ja, Frau von Schoenecker!« Herr Sander kam mit ausgestreckter Hand der Gutsbesitzerin entgegen. »Ich bin auch erst vor fünf Minuten eingetroffen. Ich dachte, ich warte hier auf Sie.« Er bemerkte, dass Denise an der grauen Fassade des Kinderheims emporblickte. »Sophienlust ist es nicht«, meinte er, »aber immerhin gibt es hinter dem Haus einen riesigen Spielplatz. So haben es auch die Kinder hier nicht schlecht.«

»Das will ich schon glauben, Herr Sander«, antwortete Denise von Schoenecker, »aber es nicht schlecht zu haben, reicht leider nicht aus, um aus Kindern glückliche Menschen zu machen.«

»Wem sagen Sie das, Frau von Schoenecker!« Herr Sander lächelte fein. »Wir müssen jedoch schon zufrieden sein, wenn die Kinder so gut un­tergebracht sind wie im Sonnenhof. Frau Krüger, die das Heim leitet, ist eine warmherzige, verständnisvolle Frau, aber immerhin leben fast zweihundert Kinder im Sonnenhof. Wie viel Zeit bleibt ihr da für jedes einzelne Kind?«

»Das dürfte das Problem in den meisten Kinderheimen sein«, meinte Denise, während sie mit Herrn Sander durch die breite Eingangstür ging. »In Sophienlust können nur zwanzig, höchstens fünfundzwanzig Kinder aufgenommen werden. Da ist die Sache natürlich anders.« Sie schaute sich in dem schmalen dunklen Korridor um.

»Ich wünschte, es gäbe mehr Heime wie Sophienlust«, sagte Herr Sander und führte Denise in ein kleines Vorzimmer. Der Schreibtisch am Fenster stand leer. Durch die offene Tür sah man in ein Büro. »Nehmen Sie bitte einen Moment Platz. Ich werde sehen, wo Frau Krüger ist.«

Denise musste nicht lange warten. Bereits fünf Minuten später kam Herr Sander mit einer etwa fünfzigjährigen Frau zurück, die einen liebenswürdigen Eindruck machte, wenn sie auch sehr abgearbeitet wirkte.

»Hat Herr Sander Ihnen gesagt, um was ein Kind es sich bei Simon handelt, Frau von Schoenecker?«, fragte Agathe Krüger, nachdem sie Denise begrüßt hatte.

»Ja«, erwiderte Denise.

»Dann wissen Sie also, dass Sie es mit Simon nicht leicht haben werden. Sie dürfen mir glauben, ich habe alles, aber auch wirklich alles versucht, um das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Simon kam mit sieben Jahren zu uns. Er machte uns von Anfang an Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Ich persönlich bezweifle, dass ihm noch zu helfen ist. Simon ist verstockt, manchmal sogar bösartig. Er sehnt sich nach Liebe, stößt aber alle zurück und steckt voller Misstrauen und Bosheit. Wie oft dachte ich schon, wir hätten es geschafft, doch dann machte er alle Hoffnungen wieder zunichte, indem er sich wie ein Wilder aufführte. Es gibt kaum ein Spielzeug, das er nicht kaputtgemacht hätte.«

»Aber Simon hat doch sicher auch gute Seiten«, meinte Denise.

»Es ist schwer, an Simon eine gute Seite zu finden«, gestand Frau Krüger. »Na ja, er liebt Tiere«, sagte sie nach kurzer Überlegung. »Er würde niemals einen Käfer tottreten. Wenn er sieht, dass jemand schlecht zu einem Tier ist, dann prügelt er sich mit ihm, egal, ob sein Gegner älter oder jünger ist als er.«

»Diese Tierliebe ist eine sehr gute Seite, Frau Krüger«, erklärte Denise. »Haben Sie in Sonnenhof Tiere?«

»Einen Schäferhund und zwei Katzen. Simon beschäftigt sich sehr viel mit ihnen.«

Nachdem alles geregelt war, bat Frau Krüger eine Kinderschwester, den Jungen zu holen. Doch es dauerte fast zehn Minuten, bis diese mit Simon kam. Sie zerrte den Jungen regelrecht hinter sich her.

»Er wollte nicht mitkommen, Frau Krüger«, sagte sie zur Entschuldigung und schob das widerspenstige Kind ins Büro.

Für einen Zehnjährigen war Simon Maifeld groß. Er hatte ein ovales Gesicht mit braunen, traurig blickenden Augen. Dunkelblonde Ponyfransen verdeckten seine Stirn. Er lächelte nicht, sondern biss sich trotzig auf die Unterlippe. Noch immer wehrte er sich gegen die Schwester.

Denise von Schoenecker stand auf und ging einige Schritte auf den Jungen zu. Erschrocken wich dieser zurück, doch Denise ließ sich davon nicht beirren. »Ich bin Denise von Schoenecker«, stellte sie sich dem Kind vor. »Mir gehört ein Kinderheim bei Wildmoos. Es gibt dort einen riesigen Park zum Spielen, Kinder in deinem Alter, Ponys, Hunde, Katzen und sogar ein Tierheim, das von den Kindern oft besucht wird.«

Bei der Erwähnung der Tiere leuchteten Simons Augen kurz auf. »Ich will nicht in ein neues Heim!«, stieß er dann hervor. »Ich will nicht!« Er stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf.

»Ich würde sagen, schau dir Sophienlust einmal an«, schlug Denise vor. »So heißt das Kinderheim.«

»Nein, da ist es auch nicht besser als hier.«

»Woher willst du das wissen, wenn du dich weigerst, mit mir mitzufahren?«

Schweigend starrte Simon auf seine Fußspitzen. »Ich rücke doch wieder aus«, erklärte er nach einer Weile.

»Das wirst du schön bleiben lassen, Simon«, warf Herr Sander ein.

Denise schüttelte unwillig den Kopf. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Herr Sander sich nicht eingemischt hätte. »In Sophienlust gibt es keinen Stacheldraht, Simon«, erklärte sie. »Wenn du ausrücken willst, so brauchst du nur durch das Tor zu gehen.«

»So leicht ist es?«, fragte Simon, presste aber gleich wieder die Lippen zusammen.

»Ja, so leicht ist es«, erwiderte Denise. »Aber es geschieht sehr selten, dass ein Kind ausreißt. Eigentlich gefällt es allen Kindern dort.« Sie streckte Simon ihre Hand entgegen. »Die Kinder in Sophienlust nennen mich Tante Isi. Möchtest du das nicht auch tun?«

Simon hob seine rechte Hand, schaute Denise an, ließ die Hand aber dann wieder sinken. »Sie sagen jetzt nur, dass es in Ihrem Heim schön ist, weil Sie mich mitnehmen wollen. Ich glaube Ihnen nicht.«

»Es zwingt dich keiner dazu, Simon.« Denise ließ ihre Hand sinken. »Wie es aussieht, möchtest du hierbleiben. Gut, dann werde ich eben ohne dich nach Sophienlust zurückfahren.« Sie wandte sich um.

Herr Sander und Frau Krüger sahen sie entsetzt an. »Wollen Sie Simon nicht mitnehmen?«, fragte die Heimleiterin. »Ich dachte, wir hätten alles erklärt?«

»Wenn Simon nicht will, dann kann er hierbleiben«, sagte Denise und zwinkerte Frau Krüger zu. Diese gab sich Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen.

»Frau von Schoenecker«, sagte Simon nun hinter Denise, »ich möchte aber nicht im Sonnenhof bleiben. Hier gefällt es mir überhaupt nicht.«

Denise wandte sich wieder um. »Dann willst du es also mit Sophienlust versuchen?«, fragte sie.

Simon nickte. »Aber wenn es mir nicht gefällt, dann rücke ich aus.«

»Das kannst du«, sagte Denise ruhig.

Eine halbe Stunde später stieg Simon Maifeld in Denises Wagen ein. Er machte es sich auf dem Rücksitz bequem und legte seine Füße mit den Schuhen auf das helle Polster. Herausfordernd schaute er Denise an, als diese sich zu ihm umdrehte.

»Isst du gern Schokolade?«, fragte Denise, ohne Simons Füße zu beachten.

»Ich sitze sehr bequem, Frau von Schoenecker«, sagte Simon. Er rutschte mit den Füßen auf dem Polster herum.

»Das freut mich, Simon«, meinte Denise, »aber ich hatte dich gefragt, ob du Schokolade magst.«

»Bekomme ich welche?«, fragte der Junge erstaunt. Er setzte sich richtig hin. »Eine ganze Tafel?«

Denise öffnete das Handschuhfach und nahm eine Tafel Schokolade heraus. »Bitte!«

»Danke«, sagte Simon überwältigt. »Mann, eine ganze Tafel Schokolade habe ich noch nie bekommen. Gibt es in Sophienlust immer Schokolade?«

»Nicht gerade jeden Tag, aber des Öfteren«, antwortete Denise. »Außerdem gibt es in Sophienlust eine Köchin namens Magda. Wenn du sie bittest, wird sie dir Plätzchen geben. Sie hat immer welche in ihrem Vorratsschrank.«

Simon gab keine Antwort. Er riss das Schokoladenpapier auf und stopfte sich die Schokolade in großen Brocken in den Mund.

Denise ließ ihn gewähren. Das Kind schien nicht nur nach Liebe, sondern auch nach Süßigkeiten ausgehungert zu sein.

Sie fuhren auf die Bundesstraße zu. Simon starrte mit von Schokolade verschmiertem Mund aus dem Fenster. Seine schmutzigen Hände wischte er sich einfach an der Hose ab.

»Fährst du gern Auto?«, fragte Denise, während sie einen Blick durch den Rückspiegel warf.

»Ja«, sagte der Junge und prahlte: »Ich bin schon zweimal mit einem Polizeiauto gefahren.«

»Das ist natürlich schöner, als in einem einfachen Personenkraftwagen zu fahren«, meinte Denise lächelnd.

»Es war nicht sehr schön«, gab Simon zu. »Die Bullen haben mich ins Heim zurückgebracht. Sie … Frau von Schoenecker, dort vorn ist ein Unfall!« Aufgeregt wies der Junge auf die linke Straßenseite.

»Ja, das stimmt.« Denise fuhr langsamer. Sie schaute aus dem Fenster. Auf der anderen Seite der Straße hatten sich zwei Wagen ineinander verkeilt. Eine Bahre wurde gerade in einen Krankenwagen geschoben. Ein kleiner grauer Terrier wollte hinterherspringen, doch die Krankenträger ließen das nicht zu und scheuchten ihn fort. Der Hund jaulte herzzerreißend auf. »Der arme Hund!«, sagte Simon.

Denise hielt ein Stück von der Unfallstelle entfernt am Straßenrand. »Ich werde sehen, was los ist, Simon«, sagte sie und stieg aus.

»Haben Sie nicht Angst, dass ich ausreiße?«, fragte Simon.

»Nein, ich vertraue dir«, antwortete Denise.

Simon schaute sie erstaunt an. »Werden Sie den Hund mitbringen?«