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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Mit offenen Augen lag die sechsjährige Judith Hofmann in ihrem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war gern in Sophienlust, und trotzdem hatte sie sich auf diesen Tag seit über drei Wochen gefreut, auf den Tag, an dem sie und ihr dreijähriger Bruder Michael endlich nach Hause zurückkehren konnten. Judith richtete sich auf und stützte den Kopf in die rechte Hand. Sie blickte zum Bett ihres Brüderchens hinüber. Der kleine Michael schlief noch tief und fest. Die Bettdecke hatte er bis zur Kinnspitze gezogen. »Kleine Schlafmütze«, murmelte Judith vor sich hin. Sie liebte ihren kleinen Bruder abgöttisch und war immer bestrebt, ihm beizustehen. Judith schwang die Beine über den Bettrand und stand auf. Ohne Hausschuhe anzuziehen, lief sie auf bloßen Füßen in ihrem langen Nachthemd zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Draußen war schon heller Tag. Die beiden Hunde in Sophienlust, Bella und Anglos, balgten sich auf der Wiese. Leise seufzte Judith auf. So schön wie in Sophienlust war es vermutlich nirgendwo auf der Welt. Warum konnten sie mit ihren Eltern nicht in Sophienlust leben? Tante Isi würde bestimmt nichts dagegen haben. Ihr Papa könnte doch im Sophienluster Park ein Haus für sie bauen. Dann brauchte er auch nicht mehr in seinem Laden Schuhe zu verkaufen, sondern könnte mit Justus im Park und bei den Ponys arbeiten.
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Seitenzahl: 150
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Mit offenen Augen lag die sechsjährige Judith Hofmann in ihrem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war gern in Sophienlust, und trotzdem hatte sie sich auf diesen Tag seit über drei Wochen gefreut, auf den Tag, an dem sie und ihr dreijähriger Bruder Michael endlich nach Hause zurückkehren konnten.
Judith richtete sich auf und stützte den Kopf in die rechte Hand. Sie blickte zum Bett ihres Brüderchens hinüber. Der kleine Michael schlief noch tief und fest. Die Bettdecke hatte er bis zur Kinnspitze gezogen.
»Kleine Schlafmütze«, murmelte Judith vor sich hin. Sie liebte ihren kleinen Bruder abgöttisch und war immer bestrebt, ihm beizustehen.
Judith schwang die Beine über den Bettrand und stand auf. Ohne Hausschuhe anzuziehen, lief sie auf bloßen Füßen in ihrem langen Nachthemd zum Fenster und zog den Vorhang zurück.
Draußen war schon heller Tag. Die beiden Hunde in Sophienlust, Bella und Anglos, balgten sich auf der Wiese.
Leise seufzte Judith auf. So schön wie in Sophienlust war es vermutlich nirgendwo auf der Welt. Warum konnten sie mit ihren Eltern nicht in Sophienlust leben? Tante Isi würde bestimmt nichts dagegen haben. Ihr Papa könnte doch im Sophienluster Park ein Haus für sie bauen. Dann brauchte er auch nicht mehr in seinem Laden Schuhe zu verkaufen, sondern könnte mit Justus im Park und bei den Ponys arbeiten. Und die Mama könnte Magda in der Küche oder auch Schwester Regine helfen. Und wenn sie selbst groß sein würde, dann würde sie auch Kinderschwester werden, genau wie Schwester Regine.
»Judith!« Michael Hofmann setzte sich im Bett auf und rieb seine Äuglein.»Du bist ja schon wach, Mischa!« Judith wandte sich vom Fenster ab und setzte sich zu ihrem Bruder aufs Bett. »Heute kommen Mama und Papa, und dann fahren wir alle wieder nach Wolframshausen. Zuvor holen wir natürlich Darling aus dem Tierheim Waldi & Co.« Sie lachte. »Darling würde schön gucken, wenn wir ihn im Tierheim vergessen würden.«
Darling war ein silbergrauer Zwergpudel, den Judith zum letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
»Wir gehen Darling holen«, sagte Michael eifrig. »Jetzt!«
»Nein, zuerst müssen wir frühstücken, sonst wird Schwester Regine böse. Du weißt, Schwester Regine mag es nicht, wenn wir vor dem Frühstück davonlaufen.«
»Mag nicht essen, hab’ keinen Hunger«, behauptete der kleine Mann. »Jetzt Darling holen!«
»Es geht nicht, Mischa. Sei lieb, bitte!« Judith bückte sich nach dem Teddybären, der neben das Bett gefallen war, und hob ihn auf. »Ich weiß, was wir machen«, sagte sie. »Wir ziehen uns jetzt an und pflücken vor dem Haus Margeriten für die Mama. Ich helfe dir beim Anziehen, ja?«
»Kann allein«, behauptete Michael. »Nur die Schuhe nicht.«
»Gut, dann helfe ich dir nur bei den Schuhen«, gab Judith nach.
»Und zumachen!« Michael krabbelte aus dem Bett und wollte über den Schlafanzug seine Unterhose ziehen. Er mühte sich damit redlich ab.
Judith ließ ihn eine Weile gewähren, dann nahm sie ihm das Höschen energisch aus den Händen.
»Zuerst müssen wir uns waschen, Mischa«, bestimmte sie, »und dann mußt du natürlich den Schlafanzug ausziehen, bevor du das Höschen anziehst. Mit dir hat man schon so seine Plage!«
»Mag nicht waschen!« Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Heute nicht waschen.«
»Man muß sich immer waschen.« Judith zog ihren kleinen Bruder zum Bett zurück, streifte ihm die Hausschuhe über und schlüpfte dann in die eigenen Hausschuhe. Hand in Hand gingen die beiden wenige Minuten später aus dem Zimmer.
Schwester Regine kam gerade aus ihrem Zimmer, als die Geschwister auf den Gang traten. Sie war eine blonde, sehr hübsche Frau von neunundzwanzig Jahren. Vor einigen Jahren hatte sie durch einen Autounfall ihren Mann und ihr zweijähriges Töchterchen Elke verloren. Nun ging sie ganz in der Sorge um die Kinder von Sophienlust auf.
»Guten Morgen, ihr beiden«, grüßte Schwester Regine freundlich. »Seid ihr aber heute früh dran! Habt ihr etwas Besonderes vor?«
»Guten Morgen, Schwester Regine«, sagte Judith fröhlich. »Heute kommen doch unsere Mama und unser Papa und holen uns ab.« Sie ließ Mischa los, der an ihrer Hand zerrte. Der kleine Junge lief auf Schwester Regine zu und warf sich in deren Arme.
»Darling auch abholen«, plapperte er, als die Kinderschwester ihn hochhob und an sich drückte. »Jetzt gleich!«
Lachend stellte Schwester Regine den Jungen wieder zu Boden. »Zuerst wird gefrühstückt, Mischa«, sagte sie.
»Siehst du?« meinte Judith. »Ich habe ihm schon gesagt, daß wir zuerst frühstücken müssen. Um wieviel Uhr kommen denn meine Mama und mein Papa?«
»Ich glaube, um elf«, erwiderte Schwester Regine.
»Ist das noch sehr lange?« Judith kannte zwar bereits die Uhr, aber es fiel ihr immer noch schwer, die Zeit zu schätzen.
»Jetzt ist es sieben Uhr«, sagte Schwester Regine und hielt ihre rechte Hand hoch. »Schau, Judith!« Dann erklärte sie dem Mädchen mit Hilfe ihrer Finger, daß Judith bis elf Uhr noch vier Stunden warten mußte.
»Das ist aber noch lange«, meinte das Mädchen enttäuscht und ergriff wieder Michaels Hand. »Wir gehen jetzt waschen.«
»Fein, daß du Mischa schon helfen kannst, Judith«, lobte Schwester Regine das Mädchen. »Wenn du mich beim Anziehen brauchst, dann rufe nur, abgemacht?«
Judith nickte, obwohl sie nicht daran dachte, Schwester Regine zu rufen. Sie konnte Michael schon ganz allein anziehen. Die Mama hatte ihr oft gezeigt, wie sie es machen mußte. Nur schade, daß Michael immer so zappelig war. Ihre Puppe Sarah ließ sich viel leichter anziehen.
»Mischa und Judith sind schon auf den Beinen«, sagte Schwester Regine zu Frau Rennert, der Heimleiterin, die bereits seit einer halben Stunde in dem büroähnlichen Empfangszimmer an ihrer Schreibmaschine saß und für das Jugendamt einen Bericht tippte.
»Die beiden scheinen die Ankunft ihrer Eltern kaum erwarten zu können«, meinte Frau Rennert und griff nach der Tasse, die neben ihr stand. Sie nahm einen Schluck des heißen Kaffees, den Magda vor fünf Minuten gebracht hatte.
»Wann wird Frau von Schoenecker hier sein?« Schwester Regine schenkte sich auch eine Tasse Kaffee ein.
»Ich nehme an, so gegen zehn, früher kaum«, erwiderte Frau Rennert. »Immerhin ist Henrik krank.«
»Er wird nicht eben der geduldigste Kranke sein«, mutmaßte Schwester Regine. »Zum Glück hat er nur Grippe und wird spätestens nächste Woche aufstehen können.« Sie trank ihren Kaffee aus und ging zur Tür. »Ich werde jetzt die übrige Rasselbande wecken, das heißt, bis auf die jungen Damen und Herren, die den schulfreien Samstag so richtig zum Ausschlafen nutzen wollen.«
Als Schwester Regine wieder nach oben kam, hatte Judith ihr Brüderchen bereits angezogen. Mit seinem Teddy im Arm saß Michael auf dem Bett. »Fast ganz allein«, behauptete er, als Schwester Regine ihn lobte, weil er schon fertig war.
»Mischa und ich gehen jetzt Margeriten für die Mama pflücken«, verkündete Judith. »Stellst du sie dann in eine Vase, bis die Mama kommt, Schwester Regine?«
»Mach ich, Judith«, versprach Schwester Regine. Lächelnd blickte sie das kleine Mädchen an und fand, sie hatten selten ein so bezauberndes Kind in Sophienlust gehabt.
»Ich pflücke ganz viele Riten«, sagte Michael. Er rutschte vom Bett, legte den Teddy auf ein Kissen und ergriff Judiths Hand. »Komm, Judy. Riten pflücken!«
Nacheinander weckte Schwester Regine die zwanzig Kinder, die zur Zeit in Sophienlust waren. Pünktchen, Irmela und vier weitere Kinder waren Dauerkinder. Die anderen Kinder waren jeweils nur für einige Monate oder Wochen in Sophienlust. Die meisten von ihnen kamen aus zerrütteten Familien oder auch aus Waisenhäusern. Sie blieben in Sophienlust, bis sich die Situation bei ihren Eltern so weit gebessert hatte, daß sie wieder bei ihnen leben konnten, oder bis man Pflege- oder Adoptiveltern für sie gefunden hatte. Es gab aber auch Kinder wie Judith und Michael, die nur während der Krankheit eines Elternteils aufgenommen wurden.
Bald hallte der erste Stock des Kinderheims Sophienlust von aufgeregten Stimmen wider. Pläne, wie man den Tag verbringen wollte, wurden ausgetauscht, Vorschläge gemacht und verworfen, Ausflüge in die nähere Umgebung besprochen.
»Wer besucht heute Henrik?« erkundigte sich die dreizehnjährige Angelina Dommin, wegen ihrer zahlreichen Sommersprossen von allen Pünktchen genannt. Sie stand im Unterrock in einem der Waschräume und trocknete sich eben ab.
»Ich!« schrie Vicky Langenbach. »Ich bin an der Reihe, und ich nehme den Hartmut mit.«
»Vicky hat ’nen Freund, Vicky hat ’nen Freund!« Aufgeregt hüpfte die kleine Heidi Holsten, das jüngste der Dauerkinder, durch den Waschraum der Mädchen.
»Du spinnst!« Viktoria Langenbach tippte sich unmißverständlich an die Stirn. Mit ihren zehn Jahren reagierte sie gewöhnlich wütend, wenn jemand behauptete, dieser oder jener Junge sei ihr spezieller Freund.
»Ich spinne nicht«, sagte Heidi beleidigt und zog eine Schnute.
»Zankt euch nicht«, meinte Pünktchen friedfertig. Sie drehte Vickys Wasserhahn zu, der wieder einmal offengeblieben war. »Wer eher beim Frühstück sitzt!« rief sie und rannte aus dem Waschraum in ihr Zimmer, um sich fertig anzuziehen. Die anderen Mädchen stürmten hinter ihr her.
Judith und Michael kamen mit zwei dicken Margeritensträußen ins Kinderheim zurück. Das kleine Mädchen hatte sich einige der weißen Blüten ins Haar gesteckt. Es schmückte sich gern.
»Siehst du schön aus!« staunte Heidi, die eben die Treppe herabgerannt und vor Judith stehengeblieben war. »Machst du mir einen Kranz?«
»Nachher«, versprach Judith. »Diese Blumen sind für meine Mama, aber nachher pflücken wir noch welche, und dann mache ich einen Kranz für dich. Für dich einen und für Mischa einen.«
*
Der Wagen von Wolfgang und Carla Hofmann bog von der Landstraße ab und fuhr durch das breite Tor, das den Park von Sophienlust abschloß. Wolfgang Hofmann, ein junger Geschäftsmann von dreiunddreißig Jahren, fuhr die Auffahrt entlang, jeden Moment gewärtig, daß ihm ein Kind vor den Wagen springe. Wie immer war er erleichtert, als er endlich auf dem Parkplatz vor der breiten Freitreppe des Kinderheims anhalten konnte.
»Wo sind denn Judith und Mischa?« fragte Carla Hofmann etwas enttäuscht. Sie hatte gehofft, daß die Kinder bereits auf sie warten würden. Die drei Wochen, die sie wegen ihrer Gallenoperation im Krankenhaus verbracht hatte, waren ihr ohne die Kinder wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Wolfgang schenkte seiner Frau einen liebevollen Blick. »Nur Geduld, Carla«, sagte er. »Die beiden werden sicher gleich auftauchen.« Er stieg aus und öffnete auf der Seite seiner Frau die Wagentür. »Ah, da sind sie ja bereits!« Glücklich wies er auf Judith und Michael, die, gefolgt von Darling, quer über die Wiese liefen.
»Mami!« schrie Judith. Jubelnd warf sie sich in die Arme der Mutter. »Ich bin so froh, daß du wieder gesund bist, Mami«, sagte sie und bedeckte Carlas Gesicht mit Küssen.
»Auch zu Mami!« Michael drängte seine Schwester beiseite. »Du sollst nicht mehr fortgehen, Mami!« Er klammerte sich an Carla fest. »Nie mehr!«
»So schnell geh’ ich auch nicht mehr fort«, versprach die achtundzwanzigjährige Carla Hofmann. Sie küßte ihre Kinder und beugte sich zu Darling hinab, der kläffend an ihr hochsprang. »Bist du ein gutes Hundchen, Darling, ein ganz gutes Hundchen!«
Aufgeregt sprachen die Kinder auf Carla ein. Sie konnte nur die Hälfte von dem verstehen, was sie zu ihr sagten.
»Und ich?« fragte Wolfgang Hofmann. »Wo bleibe ich?«
»Ich habe dich lieb, Papa!« Judith streckte die Arme nach ihm aus.
Als Wolfgang Hofmann sie zärtlich hochhob, vergrub Judith ihr Gesicht an seinem Hals. Obwohl Wolfgang auch seinen kleinen Sohn über alles liebte, war und blieb Judith doch sein Liebling.
»Ich auch, Papa!« Vom Arm der Mutter aus versuchte Michael nach seinem Vater zu greifen.
Wolfgang stellte Judith wieder auf den Boden und nahm seinen Sohn in Empfang.
»Nie mehr fortgehen, nie mehr!« verlangte Michael nun auch noch von seinem Vater. »Will aber nicht allein sein!«
Denise von Schoenecker, die vor einer halben Stunde nach Sophienlust gekommen war, kam die Freitreppe herab. Freundlich begrüßte sie das Ehepaar Hofmann und lud die beiden zum Mittagessen ein. Sie und Alexander hatten die Familie vor drei Jahren im Urlaub kennengelernt. Seitdem bestand eine herzliche Freundschaft zwischen ihnen. Es war fast selbstverständlich gewesen, daß Denise Judith und Michael während Carlas Krankheit in Sophienlust aufgenommen hatte.
»Wir haben Blumen für dich gepfückt, Mama«, verriet Judith. »Sie stehen noch im Speisesaal. Schwester Regine hat uns eine riesige Vase gegeben und sie mit Wasser gefüllt, damit die Blumen nicht vertrocknen.«
»Ich habe einen Baum, Mama!« Michael zog an der Hand seiner Mutter. »Ich werde ihn dir zeigen, komm!«
»Gehen wir ein Stückchen spazieren«, schlug Carla Denise und ihrem Mann vor. »Dabei können wir uns unterhalten, und die Kinder kommen auch zu ihrem Recht.«
»Einverstanden, Carla«, sagte Denise von Schoenecker, eine noch sehr jugendlich wirkende Frau. Seit Jahren verwaltete sie das Kinderheim Sophienlust, das eigentlich ihrem Sohn Dominik von Wellentin-Schoenecker gehörte. Da dieser aber noch nicht volljährig war, hatte sie die Verwaltung übernommen.
»Henrik ist krank«, erzählte Judith.
»Schwer, Denise?« fragte Carla erschrocken.
»Nein, es handelt sich zum Glück nur um eine Grippe. Es geht ihm auch schon wieder recht gut. Ich merke es daran, daß es jeden Tag schwerer wird, ihn im Bett zu halten. Am liebsten würde er schon jetzt aufstehen, aber Frau Dr. Frey hat gesagt, daß er wenigsten bis zur nächsten Woche liegenbleiben muß.«
»Krank sein ist blöd«, bemerkte Judith. Sie hängte sich bei ihrem Vater ein.
»Darin stimme ich vollkommen mit dir überein, Judy«, erklärte Wolfgang Hofmann.
»Papa, können wir nicht in Sophienlust wohnen? Hier ist es viel schöner als zu Hause. Hier gibt es nicht so viele Autos, und man braucht auf der Straße nicht immer aufzupassen.« Judith blickte zu ihrem Vater empor. »Ich habe mir alles genau überlegt. Du könntest Justus im Park und bei den Ponys helfen, und die Mama...«
»So verlockend es klingt, Judy, es geht nicht«, unterbrach Wolfgang seine kleine Tochter. »Schau, ich habe in Wolframshausen mein Geschäft, und ich habe lange für dieses Geschäft arbeiten müssen. Ich kann es nicht so einfach aufgeben.«
»Aber du ärgerst dich doch immer, weil die Leute die Schuhe nicht mehr bei dir kaufen.«
»Trotzdem gibt man nicht gern etwas auf, was man selbst aufgebaut hat, Judy«, versuchte Wolfgang Hofmann die Sache zu erklären. »Weißt du, wenn du einmal älter bist, dann wirst du das auch besser verstehen können.«
»Judy, schau was Darling macht!« Michael zeigte auf den kleinen Pudel, der flach auf dem Bauch vor einem Mauseloch lag.
»Darling, du bist doch keine Katze!« rief Judith. Sie scheuchte den Pudel auf, warf ein Stöckchen und rannte dann mit dem Pudel um die Wette.
»Ich auch!« schrie Michael. Er löste sich von der Hand der Mutter und hetzte der Schwester und dem Pudel nach.
»Ich hoffe, Sie hatten mit den beiden nicht zu große Mühe, Denise«, sagte Carla Hofmann und blickte ihren Kindern stolz nach.
»Alle beide waren ausgesprochen brav«, erwiderte Denise. »Ich habe von Frau Rennert nicht eine einzige Klage über sie gehört. Und Judy ist für ihre sechs Jahre schon sehr verständig und hilfsbereit. Ihren kleinen Bruder scheint sie über alles zu lieben. Sie hat ihn kaum aus den Augen gelassen.«
»Die Kinder hängen wirklich sehr aneinander«, bestätigte Wolfgang. Er seufzte leise auf. »Sophienlust wird ihnen sehr fehlen. Wolframshausen ist eben doch eine Stadt, wenn auch zum Glück nur eine kleine. Leider Gottes dringen Kaufhäuser jetzt auch in die kleinsten Städte vor. Auf unserem Marktplatz hat man vor einem halben Jahr ein riesiges Kaufhaus eingeweiht. In seinem Untergeschoß wurde vor drei Monaten ein SB-Schuhcenter eingerichtet. Seitdem ist mein Umsatz leider alles andere als gut.«
»Langsam werden sämtliche kleinen Geschäfte von den großen kaputtgemacht«, warf Carla Hofmann bekümmert ein. Sie dachte an Judiths Bemerkung. »Die Kinder bekommen von unseren Sorgen leider mehr mit, als ihnen guttut.«
»Man sollte die Kinder zwar, so gut es geht schützen«, sagte Denise, »aber das heißt nicht, daß sie es nicht wissen sollen, wenn ihre Eltern Sorgen haben. Es wäre ein Fehler, sie von allem abzuschirmen.«
»Mag sein«, gab Carla zu, »aber trotzdem fürchte ich, daß zumindest Judy, wenn es so weitergeht, darunter leiden wird. Sie ist sehr sensibel. Ich gehöre gewiß nicht zu den Leuten, die ständig den Teufel an die Wand malen, aber wie es aussieht, verlieren wir über kurz oder lang unsere Existenz.« Eine unendliche Müdigkeit schien aus ihren Worten zu sprechen. »Alles, wofür Wolfgang und ich jahrelang gearbeitet haben, wird jetzt von diesem SB-Schuhcenter zerstört.«
»Wir werden es schon schaffen, Carla«, versuchte Wolfgang seine Frau zu trösten. »Du weißt, was der Arzt gestern bei deiner Entlassung gesagt hat. Du darfst dich nicht immer wegen jeder Kleinigkeit aufregen.«
»Ist unsere Existenz eine Kleinigkeit?« fragte Carla unbeabsichtigt scharf. Gleich darauf taten ihr ihre Worte leid. »Bitte, entschuldige, Wolfgang«, bat sie. »Anstatt mich zu freuen, daß wir heute die Kinder heimholen können, denke ich ans Geschäft. Du bist mit mir schon geplagt!«
»Stimmt, aber ich liebe diese Plage!« Wolfgang Hofmann legte seinen Arm um Carlas Taille.
»Sie wissen, daß Sie sich jederzeit an uns wenden können, wenn Sie irgendwann einmal Hilfe brauchen«, sagte Denise von Schoenecker ernst. »Freunde müssen sich gegenseitig beistehen.«
»Ich hoffe, daß es nicht so weit kommen wird, Denise, aber trotzdem, danke!« erwiderte Wolfgang bewegt. »Es ist gut, wenn man Freunde hat, auf die man sich verlassen kann.«
*
»Ich möchte auch in die Schule gehen«, bettelte Michael und schlug die Händchen zusammen. »Bitte, Mama, ich will auch gehen!« Sehnsüchtig blickte er zu Judiths funkelnagelneuer Schultasche, die auf einem Stuhl im Eßzimmer lag.
»Du bist noch zu klein, um in die Schule zu gehen, Mischa«, sagte Carla Hofmann und zog den Jungen auf ihren Schoß. »Ab morgen darfst du in den Kindergarten gehen. Was meinst du, wie fein das wird!«
»Will aber in die Schule!«
»In die Schule darf man erst, wenn man groß ist.« Judith reckte sich selbstgefällig und schielte aus den Augenwinkeln heraus zu der riesigen Schultüte auf der Anrichte. Was mochte da alles drin sein? Schade, daß sie die Tüte erst in einigen Stunden öffnen durfte.
Carla Hofmann blickte auf die Wanduhr. »Wir müssen uns beeilen, Kinder«, mahnte sie. »Los, Mischa, iß dein Brot auf, sonst mußt du hungrig zu Frau Schuster gehen.«
»Tante Schuster gibt Bonbons.« Michael strahlte.
»Aber nur, wenn ich ihr sage, daß du alles aufgegessen hast«, behauptete Carla.