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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Henrik, warum bist du eigentlich heute Morgen so zappelig?«, fragte Denise von Schoenecker ihren neunjährigen Sohn. Es waren noch Ferien, aber ihr Sohn dachte gar nicht daran, zum Spielen in den Park zu gehen. Er lag in der großen Halle des schlossähnlichen Gutshauses auf dem Teppich und spielte mit einem Rennwagen. Immer wieder sprang er auf und lief hinaus, um gleich darauf zurückzukommen. »Ich warte auf die Post«, antwortete Henrik. »Holger hat doch gestern angerufen, Mutti. Er hat gesagt, dass er mir eine Broschüre über die neue Autobahn, die sein Vater ihm geschenkt hat, schicken wird.« »Das heißt noch lange nicht, dass diese Broschüre schon heute ankommen wird, Henrik. Manchmal dauert die Post zwei, drei Tage.« »Auch von Maibach?« Denise nickte. »Vielleicht hat Holger die Broschüre erst in den Briefkasten geworfen, nachdem dieser bereits geleert worden war.« »Aber ich brauche sie ganz dringend, Mutti!« »Warum denn?« »Weil ich Vati die Autobahn zeigen will.« Vor sich hin pfeifend kam Nick, Denises ältester Sohn, die Treppe herab. »Kommst du mit nach Sophienlust, Henrik, alter Knabe?«, fragte er gut gelaunt seinen Bruder. »Selbst alter Knabe«, maulte Henrik. »Na, was ist denn dir über die Leber gelaufen?« »Henrik wartet auf die Post«, erklärte Denise und zwinkerte Nick zu. »Doch nicht etwa auf einen Liebesbrief?«, spöttelte der Bruder. »Mutti, ich glaube, wir müssen auf unseren Kleinen aufpassen.« Henriks Augen funkelten vor Zorn. Er hasste es, wenn man ihn klein nannte. Viel lieber wäre er bereits sechzehn Jahre alt gewesen, wie sein Bruder Dominik. Er hatte schon eine heftige Erwiderung auf der Zunge, aber in diesem Moment hielt hupend
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Seitenzahl: 145
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»Henrik, warum bist du eigentlich heute Morgen so zappelig?«, fragte Denise von Schoenecker ihren neunjährigen Sohn. Es waren noch Ferien, aber ihr Sohn dachte gar nicht daran, zum Spielen in den Park zu gehen. Er lag in der großen Halle des schlossähnlichen Gutshauses auf dem Teppich und spielte mit einem Rennwagen. Immer wieder sprang er auf und lief hinaus, um gleich darauf zurückzukommen.
»Ich warte auf die Post«, antwortete Henrik. »Holger hat doch gestern angerufen, Mutti. Er hat gesagt, dass er mir eine Broschüre über die neue Autobahn, die sein Vater ihm geschenkt hat, schicken wird.«
»Das heißt noch lange nicht, dass diese Broschüre schon heute ankommen wird, Henrik. Manchmal dauert die Post zwei, drei Tage.«
»Auch von Maibach?«
Denise nickte. »Vielleicht hat Holger die Broschüre erst in den Briefkasten geworfen, nachdem dieser bereits geleert worden war.«
»Aber ich brauche sie ganz dringend, Mutti!«
»Warum denn?«
»Weil ich Vati die Autobahn zeigen will.«
Vor sich hin pfeifend kam Nick, Denises ältester Sohn, die Treppe herab. »Kommst du mit nach Sophienlust, Henrik, alter Knabe?«, fragte er gut gelaunt seinen Bruder.
»Selbst alter Knabe«, maulte Henrik.
»Na, was ist denn dir über die Leber gelaufen?«
»Henrik wartet auf die Post«, erklärte Denise und zwinkerte Nick zu.
»Doch nicht etwa auf einen Liebesbrief?«, spöttelte der Bruder. »Mutti, ich glaube, wir müssen auf unseren Kleinen aufpassen.«
Henriks Augen funkelten vor Zorn. Er hasste es, wenn man ihn klein nannte. Viel lieber wäre er bereits sechzehn Jahre alt gewesen, wie sein Bruder Dominik. Er hatte schon eine heftige Erwiderung auf der Zunge, aber in diesem Moment hielt hupend das Postauto vor dem Gutshaus.
Henrik rannte hinaus. »Ist ein Brief für mich dabei?«, fragte er den verblüfften Postboten.
»Na, da müssen wir mal nachsehen, Henrik.« Umständlich kramte der Postbote zwischen den Briefen, die er für die Familie von Schoenecker hatte. »Tatsächlich, da ist auch etwas für dich!«
Henrik nahm den Umschlag in Empfang und wollte bereits ins Gutshaus zurücklaufen, als er sich besann. Er wandte sich noch einmal um und sagte: »Danke, Herr Förster!«
Kopfschüttelnd sah der Postbote ihm nach. »So aufgeregt habe ich Ihren Henrik ja noch nie gesehen, Frau von Schoenecker«, meinte er verwundert und reichte Denise ein dickes Bündel Briefe.
»Ein ehemaliger Schulfreund hat ihm eine Autobahn-Broschüre geschickt«, erklärte Denise.
»Dann bis morgen, Frau von Schoenecker!« Herr Förster stieg wieder in seinen Wagen ein und fuhr davon.
Denise ging in die Halle zurück. Sie sah ihre beiden Söhne vor dem Kamin sitzen und die Broschüre betrachten. Nick schien genauso viel Interesse an dieser Autobahn zu haben wie Henrik.
»Ist etwas Wichtiges dabei, Denise?«, fragte Alexander von Schoenecker seine Frau, als diese ihm die Post auf den Schreibtisch legte.
»Ja, ein Brief aus Mumbai«, antwortete Denise und setzte sich in den bequemen Sessel ihm gegenüber. »Kannst du dich noch an die Familie Marten erinnern? Stefan Marten und seine Frau sind mit ihren Kindern vor fünf Jahren nach Indien geflogen. Sie arbeiten in einer Missionsstation.«
Alexander überlegte. Er hatte im Laufe der letzten Jahre so viele Leute kennengelernt, dass es ihm manchmal schwerfiel, sich sofort an jeden einzelnen zu erinnern. »Natürlich, die Martens«, sagte er. »Für wie viele Jahre haben sie sich eigentlich verpflichtet? Müsste ihre Zeit in Indien nicht jetzt um sein?«
»Doch«, antwortete Denise. »Marianne Marten schreibt, dass sie mit ihren Kindern noch in diesem Jahr nach Deutschland hatten zurückkehren wollen. Jetzt aber ist ihr Mann krank geworden. Deshalb konnten sie ihre Arbeit nicht wie geplant beenden. Sie werden also bis Mitte nächsten Jahres in Indien bleiben müssen. Damit die Kinder, die jetzt eingeschult werden sollen, keinen Unterricht versäumen, möchten die Martens sie vorerst allein nach Deutschland schicken. Frau Marten fragt an, ob Christine und Matthias in Sophienlust aufgenommen werden könnten.«
»Und was wirst du ihr antworten, Denise?«
»Dass sie die Kinder ruhig schicken soll. In Sophienlust herrscht zwar wieder einmal Platzmangel, aber irgendwie werden wir die beiden schon unterbringen. Wenn ich nachher nach Sophienlust fahre, spreche ich gleich mit Frau Rennert und Schwester Regine.«
»Wollten wir nicht um elf Uhr zusammen ausreiten?«
»Das habe ich total vergessen, Alexander«, sagte Denise bedrückt. »Bitte entschuldige! Ich weiß, ich sollte mich etwas mehr um meine Familie kümmern, aber manchmal wächst mir die Arbeit über den Kopf.«
»Vergiss nicht, dass du ab und zu etwas Ruhe brauchst, Denise«, mahnte Alexander von Schoenecker. Die Leitung des Kinderheimes Sophienlust war eine wundervolle Aufgabe für Denise, aber er war in ständiger Sorge, dass sie sich dabei übernahm.
»Mach dir darüber keine Sorgen, Alexander«, meinte Denise und trat neben ihn. »Wenn ich etwas ausspannen will, dann finde ich schon eine Gelegenheit dazu.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Stirn. »Wir werden heute Nachmittag zusammen ausreiten. Das verspreche ich dir.«
»Wenn nicht wieder etwas dazwischenkommt«, meinte Alexander.
»Übrigens hat auch Henrik Post bekommen«, verriet Denise. »Sein Freund Holger hat ihm eine Autobahn-Broschüre geschickt. Ich nehme an, Henrik hat ein Attentat auf dich vor.«
»Was will er denn noch mit einer Autobahn?«, stöhnte Alexander belustigt auf. »Sein Zimmer gleicht schon jetzt einer Garage.«
»Ich glaube, von Autos und allem, was dazugehört, können Buben überhaupt nicht genug bekommen. Vermutlich war es bei dir genauso.«
»Das schon.« Alexander lachte und fügte hinzu: »Aber mein Vater verstand es, meinen Wünschen zu widerstehen, während Henrik uns doch um den Finger wickeln kann.«
Als Denise wieder in die Halle kam, war diese leer. Auf dem Weg zur Garage traf sie Nick.
»Nimmst du mich nach Sophienlust mit, Mutti?«, fragte der Sechzehnjährige.
»Gern, Nick.«
»Mutti, darf ich den Wagen aus der Garage fahren?«
Denise von Schoenecker zögerte. »Vati wäre damit sicher nicht einverstanden.«
»Aber Vati hat mir doch das Fahren schon beigebracht«, argumentierte Nick.
»Na gut, meinetwegen, Nick!« Denise warf ihrem Sohn die Autoschlüssel zu.
Geschickt fuhr Nick Denises Wagen aus der Garage heraus. Er öffnete für seine Mutter galant die Wagentür. »Na, was sagst du nun? Bin ich nicht schon ein perfekter Fahrer?«
»Leider noch zwei Jahre zu jung, mein Sohn.« Denise lachte. »Dass du mir nicht einmal meinen Wagen zu einer kleinen Spritztour benutzt!«
»Bestimmt nicht, Mutti«, sagte Nick. »Ich würde dir und Vati doch keine Scherereien machen. Die zwei Jahre kann ich auch noch warten. Vati hat mir versprochen, dass ich schon mit siebzehn den Führerschein machen darf, damit ich ihn an meinem achtzehnten Geburtstag habe.«
Von Gut Schoeneich nach Sophienlust, dem Heim der glücklichen Kinder, war es nicht weit. Schon bald lag das Parktor des Kinderheims vor ihnen. Denise fuhr die Auffahrt entlang zu dem ehemaligen Herrenhaus und hielt vor der Freitreppe.
Schwester Regine, eine hübsche junge Frau, kam den Angekommenen entgegen. Freundlich begrüßte sie Denise und deren Sohn.
»Sie wundern sich sicher, dass es heute so still bei uns ist, Frau von Schoenecker«, meinte sie. »Die Kinder sind alle zum Forsthaus gelaufen. Revierförster Schröder hat sie zu einem Waldspaziergang eingeladen. Er will ihnen die verschiedenen Waldpflanzen erklären und ihnen den Platz zeigen, an dem die neue Schonung angelegt werden soll.«
»Ist Pünktchen auch mitgegangen?«, fragte Nick enttäuscht.
»Ja, Pünktchen ist auch dabei«, sagte Schwester Regine, »aber ich nehme an, dass die Kinder in etwa einer halben Stunde wieder zurück sein werden.«
»Mutti, kann ich über Mittag in Sophienlust bleiben?«, fragte Nick.
»Natürlich, Nick«, antwortete Denise und folgte Schwester Regine ins Haus.
Nick setzte sich auf die Stufen der Freitreppe. Er war der eigentliche Besitzer von Sophienlust, einem ehemaligen Gut, das ihm von seiner Großmutter Sophie von Wellentin mit der Auflage vererbt worden war, daraus ein Heim für elternlose und Geborgenheit suchende Kinder zu machen. Bis zu seiner Großjährigkeit verwaltete Denise von Schoenecker für ihn das Kinderheim. Sie war in erster Ehe mit Dietmar von Wellentin verheiratet gewesen.
»Na, so allein?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter Nick.
Er wandte sich um. »Pünktchen!«
»Mir ist gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass wir für heute Nachmittag verabredet waren«, sagte Angelina Dommin, die vor allen wegen ihrer vielen Sommersprossen Pünktchen genannt wurde. »Ich bin früher als die anderen nach Hause gekommen.«
»Und ich dachte schon, du hättest mich vergessen.« Nick sprang auf. »Hast du Lust, ein Stück auszureiten? Bis zum Essen haben wir noch viel Zeit.«
Pünktchen nickte begeistert. Während die beiden zur Koppel gingen, erzählte Nick, dass in Sophienlust zwei Kinder aus Indien erwartet würden.
»Da wird sich Irmela aber freuen«, meinte Pünktchen.
»Wann kommt sie denn zurück?«
»In etwa zwei Wochen«, sagte Pünktchen. »Sie hat mir eine Karte aus Paris geschrieben.«
Irmela, deren Mutter und Stiefvater in Mumbai lebten, befand sich gerade mit ihren Eltern auf einer Europareise. Irmelas Eltern kamen jedes Jahr in den Ferien nach Sophienlust und nahmen dann ihre Tochter für einige Wochen mit.
»Hast du nicht auch manchmal Lust, so durch die Welt zu gondeln, wie Irmela es tut?«, fragte Nick.
»Manchmal schon«, gab Pünktchen zu. Seit ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren, lebte sie als Dauerkind in Sophienlust. Nick hatte sie halb verhungert auf der Landstraße gefunden. Das war jetzt bereits viele Jahre her. »Allerdings müsstest du dabei sein, Nick«, sagte sie errötend. »Allein würde es mir keinen Spaß machen.«
»Mir auch nicht«, meinte Nick und öffnete das Gatter der Koppel. Für ihn schien bereits festzustehen, dass er sie in einigen Jahren heiraten würde.
*
»Herr Weller, Barbara verlangt nach Ihnen«, sagte Beate Kaiser, eine etwa fünfzig Jahre alte Frau, die den kleinen Kindergarten von Sankt Katharina, einer deutschen Industrieschule in der Nähe von Jaipur, leitete.
»Gut, Frau Kaiser, ich gehe gleich zu ihr.« Uwe Weller rief seinen Assistenten, den Inder Rachmani, zu sich. Er erklärte dem jungen Mann, worauf er bei der gerade begonnenen Arbeit besonders achten müsse.
Uwe Weller leitete die Lehrwerkstatt von Sankt Katharina, in der junge Inder zu Maschinenschlossern und Werkzeugmachern ausgebildet wurden. Er war jetzt mehr als vier Jahre in Indien. Ende des Monats wollte er mit seiner kleinen Adoptivtochter Barbara nach Deutschland zurückkehren.
Durch die Pendeltür trat er auf den mit einigen Bäumen bestandenen Hof hinaus. Es ging auf Mittag zu, und die Sonne brannte bereits mit voller Kraft auf die weißen Gebäude der Schule herab. Uwe blickte über die niedrige Mauer hinweg auf das in weiter Ferne dahinziehende Arravalligebirge. Sicher würde er in den nächsten Monaten den Anblick des Gebirges vermissen – und nicht nur diesen, sondern auch die wundervolle Stadt Jaipur. Dennoch konnte er es kaum mehr erwarten, wieder in Hamburg zu sein.
»Papi!« Mit ausgebreiteten Armen rannte ein etwa sechsjähriges Mädchen auf Uwe Weller zu. Die Kleine trug ein bunt bedrucktes Sommerkleid mit einem weißen Kragen. Die schwarzen Haare hatte Beate Kaiser ihr mit zwei grünen Kordeln zu Rattenschwänzchen gebunden.
Uwe kauerte sich zu Boden und fing seine kleine Tochter mit den Armen auf. »Mein kleiner Sonnenschein«, sagte er und hob sie hoch.
Barbara drückte ihr Gesicht an seinen Hals. »Du sollst nicht immer arbeiten, Papi«, plapperte sie und strich mit ihren kleinen Händen durch sein Haar.
Uwe stellte Barbara zu Boden. Sie griff nach seiner rechten Hand und hielt sich an ihr fest. Ihre großen Augen blickten vertrauensvoll zu ihm auf. »Wann fahren wir mit dem großen Schiff, Papi?«
»In zwei Wochen, Barbara. Es wird eine weite Reise werden.«
»Gibt es auf dem Schiff auch Kinder, Papi?«
»Ich glaube schon«, antwortete Uwe. Er führte Barbara in das Kindergartengebäude zurück, wo Beate Kaiser gerade damit beschäftigt war, die kleine Kinderschar für das Mittagessen fertig zu machen.
»Hier bringe ich Ihnen den Ausreißer, Frau Kaiser«, sagte Uwe. »Sie konnte es nicht mehr erwarten und ist mir entgegengelaufen.«
»Barbara hängt wie eine Klette an Ihnen, Herr Weller«, meinte Beate Kaiser. »Essen Sie mit uns, oder gehen Sie wieder ins Haupthaus?«
»Bleib bei mir, Papi«, bettelte Barbara.
»Liebling, das geht leider nicht«, sagte Uwe. »Ich habe mit Doktor Woischke eine Verabredung. Ich wollte dich nur für einige Minuten besuchen. Wenn du brav bist, fahren wir heute Nachmittag nach Jaipur.«
»Gehen wir in den Basar?«
»Wenn du es willst, Barbara.« Uwe beugte sich nieder und küsste seine Tochter auf den dunklen Scheitel. Er gab ihr einen liebevollen Klaps. »So, nun lauf zu deinen Freunden!«
Barbara hüpfte davon. Lächelnd blickte Beate Kaiser ihr nach. »Ich hätte niemals gedacht, dass aus Barbara so ein Wildfang werden würde. Sie haben ein wahres Wunder vollbracht, Herr Weller.«
»Nein, kein Wunder«, widersprach Uwe. »Ich habe Barbara nur die Liebe gegeben, die sie brauchte.«
»Sie haben ihr das Leben gerettet!«
»Das schon.« Uwe sah durch die offene Tür auf die fernen Gebirgszüge. Vier Jahre war es jetzt her, dass er Barbara am Fuß der Gebirgskette neben einem schmalen Bach gefunden hatte. Das kleine Mädchen war völlig unterernährt und von Parasiten befallen gewesen. Keiner in Sankt Katharina hatte angenommen, dass es die nächsten Wochen überleben würde, aber Barbara hatte es geschafft. In den ersten Stunden hatte Uwe stundenlang an ihrem Bett gewacht. Wie glücklich war er gewesen, als sie ihn zum ersten Mal angelächelt hatte.
»Dass wir in all den Jahren nicht herausbekommen haben, wer ihre Eltern sind«, überlegte Beate laut.
»Wir wissen nur so viel, dass sie zur Hälfte Europäerin sein muss.«
»Gerade deswegen hätte es doch nicht so schwer sein können!«
»Dr. Woischke hat alle möglichen Erkundigungen eingezogen. Vermutlich ist Barbara ein uneheliches Kind, dessen man sich durch Aussetzung entledigen wollte. Hätte ich an diesem Tag nicht einen Ausflug unternommen, wäre sie elend umgekommen.«
Uwe verabschiedete sich von Beate Kaiser und überquerte mit raschen Schritten den Hof.
Im großen Speisesaal saßen bereits Schüler und Lehrer beim Mittagessen. Suchend ließ Uwe seine Augen über die voll besetzten Tische gleiten. Er entdeckte Dr. Woischke am Ende des Saales, wo er sich gerade mit Gertrud Lang, der Leiterin des Mädchenheims, unterhielt.
Uwe holte sein Mittagessen am Bufett und balancierte dann sein Tablett durch die Tischreihen. »Ah, Herr Weller«, sagte Dr. Woischke, »ich wunderte mich bereits, wo Sie stecken.«
»Barbara hat mich wieder einmal mit Beschlag belegt.« Uwe lachte.
»Wir werden Sie und ihre kleine Tochter sehr vermissen«, meinte Gertrud. »Können Sie sich nicht entschließen, noch ein oder zwei Jahre in Indien zu bleiben?«
»Meine Zeit hier ist abgelaufen. Wenn ich ehrlich bin, so habe ich in den letzten Monaten sehr oft Heimweh gehabt. Ich weiß, dass ich Indien vermissen werde, wenn ich wieder in Deutschland sein werde, aber jetzt freue ich mich darauf, heimzukehren.«
»Die Umstellung wird für Barbara nicht leicht sein«, gab Dr. Woischke zu bedenken.
»Sie ist erst sechs Jahre alt. Ich nehme an, dass sie sich innerhalb kurzer Zeit in Deutschland einleben wird. Gerade Barbara ist einer der Gründe, warum ich meinen Dienst in Sankt Katharina nicht verlängern will. Ich möchte, dass Barbara von Anfang an in eine deutsche Schule geht.«
»Wie Sie wissen, schicken die meisten unserer Mitarbeiter ihre schulpflichtigen Kinder in deutsche Internate«, sagte Gertrud.
»Das will und darf ich Barbara nicht antun. Ich glaube nicht, dass sie vorläufig eine Trennung von mir verkraften würde.«
»Sie mögen recht haben, Herr Weller«, gab Dr. Woischke zu. »Ich möchte Ihnen auch nicht in Ihre Pläne dreinreden. Es tut mir nur leid, einen so fähigen Mitarbeiter zu verlieren.«
Uwe Weller besprach mit Dr. Woischke das gerade laufende Entwicklungsprojekt, ging dann in den Maschinensaal zurück. Nach und nach trafen seine Schüler ein. Zwischen ihnen und Uwe herrschte fast ein kameradschaftliches Verhältnis. Viele von ihnen hatten ihn schon an Feiertagen in ihre Familien eingeladen.
Uwe war sich darüber im Klaren, dass nicht nur Barbara die Umstellung schwerfallen würde, sondern auch ihm. Er hatte bereits vor einigen Monaten einen Vertrag mit einer süddeutschen Motorenfabrik abgeschlossen. Die Bedingungen waren günstig, und man hatte ihm sogar eine Werkswohnung in Aussicht gestellt. Es blieb nur eine Frage offen: Was sollte er mit Barbara tun, während er arbeiten ging? Hier in Sankt Katharina gab es den Kindergarten, aber würde er auch in Deutschland tagsüber eine Unterbringungsmöglichkeit für Barbara finden?
Am späten Nachmittag holte Uwe seine kleine Tochter vom Kindergarten ab und fuhr mit ihr nach Jaipur. Auf der Fahrt zur Stadt löste Barbara ihre Rattenschwänzchen auf und flocht ihre Haare zu einem dicken Zopf, wie ihn die meisten Inderinnen trugen.
»Kaufst du mir einen Sari, Papi?«, fragte sie.
»So kleine Mädchen tragen noch keinen Sari, mein Liebling«, erklärte Uwe. »Du musst noch einige Jahre warten.«
»Bitte Papi«, bettelte Barbara.
»Na gut«, gab Uwe nach. Warum sollte er ihr nicht diese Freude machen? In Deutschland würde sie zwar kaum Gelegenheit haben, ihren Sari zu tragen, aber alle kleinen Mädchen verkleideten sich gern.
In der Neustadt Jaipurs stellte Uwe seinen Wagen in einer Garage unter. Zu Fuß passierten er und Barbara das Neue Tor und betraten die Chaura Rasta, die breite Hauptstraße, die zum Palastbezirk von Jaipur führt. An einer ihrer zahlreichen Abzweigungen lag der Basar.
»Papi, ein Schlangenbeschwörer!«, rief Barbara und zerrte Uwe zu einem Greis, der nur um die Hüften ein geschlungenes Tuch trug. Er saß mit gekreuzten Beinen auf einer Matte und blies auf einer Flöte. Aus dem vor ihm stehenden Korb ringelte sich eine Kobra.
Obwohl Uwe wusste, dass der Kobra die Giftzähne herausgebrochen waren, erfüllte ihn ein leichtes Schaudern. Fest umklammerte er Barbaras Hand. Er kannte seine Tochter. Wenn er nicht aufpasste, würde sie zu dem Schlangenbeschwörer rennen und versuchen, die Schlange zu streicheln.
Uwe suchte in der Hosentasche nach einer Münze und drückte sie Barbara in die freie Hand.
Barbara strahlte ihn aus ihren grünen Augen an. In einem weiten Bogen warf sie die Münze auf die Matte neben dem Korb. Der Schlangenbeschwörer hob seinen Kopf, spielte aber weiter. Er lächelte den beiden zu.
»Und jetzt kaufen wir den Sari!«, verlangte Barbara.