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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Denise von Schoenecker lenkte ihren Wagen in eine enge Parklücke, schaltete den Motor ab und stieg aus. Sorgfältig schloss sie den Wagen ab und sah sich dann suchend um. »Conradi-Straße hundertneunzehn« hatte Frau Hoffmann ihr am Telefon als neue Anschrift angegeben. Links von ihr gab es die geraden Hausnummern. Also konnte sich die Wohnung der Hoffmanns nur in einem der Hochhäuser auf der rechten Straßenseite befinden. »Tante Isi! Tante Isi!« Ein kleines blondes Mädchen rannte eine Treppe zur Straße herab und auf Denise von Schoenecker zu, die die Kleine mit beiden Armen auffing. »Ich bin so froh, dass du mich besuchen kommst, Tante Isi!« Denise hob die Kleine hoch und setzte sie dann wieder auf die Erde. »Gefällt es dir in Stuttgart, Tina?«, fragte sie und sah in die leuchtenden Augen des Kindes. »Es ist wunderschön hier, Tante Isi. Fast so schön wie in Sophienlust«, sprudelte die Kleine hervor. »Komm, ich zeige dir, wo ich wohne!« Tina Hoffmann nahm Denise von Schoenecker an die Hand, führte sie die steinerne Treppe empor und über einen Vorplatz zu einem von Blumen eingesäumten Hauseingang. »Unsere Wohnung liegt ganz oben. Ich kann auf alle Dächer hinabsehen.«
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Seitenzahl: 147
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Denise von Schoenecker lenkte ihren Wagen in eine enge Parklücke, schaltete den Motor ab und stieg aus. Sorgfältig schloss sie den Wagen ab und sah sich dann suchend um.
»Conradi-Straße hundertneunzehn« hatte Frau Hoffmann ihr am Telefon als neue Anschrift angegeben. Links von ihr gab es die geraden Hausnummern. Also konnte sich die Wohnung der Hoffmanns nur in einem der Hochhäuser auf der rechten Straßenseite befinden.
»Tante Isi! Tante Isi!« Ein kleines blondes Mädchen rannte eine Treppe zur Straße herab und auf Denise von Schoenecker zu, die die Kleine mit beiden Armen auffing. »Ich bin so froh, dass du mich besuchen kommst, Tante Isi!«
Denise hob die Kleine hoch und setzte sie dann wieder auf die Erde.
»Gefällt es dir in Stuttgart, Tina?«, fragte sie und sah in die leuchtenden Augen des Kindes.
»Es ist wunderschön hier, Tante Isi. Fast so schön wie in Sophienlust«, sprudelte die Kleine hervor. »Komm, ich zeige dir, wo ich wohne!« Tina Hoffmann nahm Denise von Schoenecker an die Hand, führte sie die steinerne Treppe empor und über einen Vorplatz zu einem von Blumen eingesäumten Hauseingang. »Unsere Wohnung liegt ganz oben. Ich kann auf alle Dächer hinabsehen.«
»Herzlich willkommen, Frau von Schoenecker!« Eine junge blonde Frau trat aus dem Haus und ging auf Denise zu. »Wie ich sehe, hat Tina Sie bereits begrüßt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sie sich auf Ihren Besuch gefreut hat.«
Die beiden Frauen reichten einander die Hände. Tina drückte auf den Knopf für den Aufzug und sah Denise dann stolz an. »Ich darf schon ganz allein den Aufzug holen Tante Isi«, plapperte sie. »Und nächstes Jahr darf ich auch allein zur Schule gehen. Mama hat es mir versprochen.«
»Dieses Jahr möchte ich Tina noch nicht allein zur Schule schicken«, gestand Frau Hoffmann. »Die Schule, die sie besucht, liegt fast zwanzig Minuten entfernt, und Tina müsste drei gefährliche Straßenkreuzungen überqueren.« Frau Hoffmann zuckte resignierend mit den Schultern. »Ich weiß, ich sollte mehr Zutrauen zu ihr haben, aber seit damals lebe ich in ständiger Angst, dass …« Sie schwieg verlegen.
»Das kann ich gut verstehen, Frau Hoffmann«, sagte Denise mitfühlend. Karin und Walter Hoffmann hatten vor zehn Jahren geheiratet. Ihre kleine Tochter Monika war kurz darauf zur Welt gekommen. Damals hatten sie noch in Maibach gelebt. Dann war Monika vor zwei Jahren auf dem Weg zur Schule tödlich verunglückt. Erst nach Monaten hatten Karin und Walter den Tod ihres Kindes überwunden. Da sie keine Kinder mehr bekommen konnten, hatten sich die Hoffmanns an das Kinderheim Sophienlust gewandt, das von Denise von Schoenecker verwaltet wurde. Denise hatte ihnen die Adoption von Tina vermittelt, die vier Monate zuvor ihre Eltern bei einem Flugzeugunglück verloren hatte.
Wie Tina erzählt hatte, lag die Wohnung ihrer Adoptiveltern im obersten Stockwerk des Wohnblocks. Stolz führte die Achtjährige Denise in ihr kleines Reich, das mit allen nur erdenklichen Spielsachen und Kindermöbeln ausgestattet war. »Und hier mache ich meine Schularbeiten, Tante Isi!« Tina zeigte auf einen zierlichen Schreibtisch am Fenster.
»Ich weiß, wir haben des Guten etwas zu viel getan«, entschuldigte sich Frau Hoffmann. »Aber wir konnten uns beim Einkaufen einfach nicht bremsen. Tina sollte alles bekommen, was sie sich wünschte.« Jedes Wort von Karin sprach davon, wie sehr sie und ihr Mann die kleine Tina liebten. Mit jeder Minute erkannte Denise mehr, dass sie mit den Hoffmanns eine gute Wahl getroffen hatte.
»Es war ein reiner Glücksfall, dass Walter diese Stelle in Stuttgart angeboten bekam. Wir wollten unbedingt aus Maibach fort, wo uns alles an Monika erinnerte. Die Leute im Haus konnten auch nicht vergessen, dass Tina ein Adoptivkind ist. Immer wieder wurden wir darauf aufmerksam gemacht. Hier ist alles anders, da uns keiner von früher her kennt. Für alle Leute der Umgebung ist Tina unsere Tochter.«
»Und Tina? Spricht sie niemals von ihren richtigen Eltern?« Denise sah durch die offene Zimmertür in den Flur, wo das kleine Mädchen gerade aus den Sandalen in Hausschuhe schlüpfte.
»Sehr selten«, sagte Frau Hoffmann. »Ich glaube, sie ist noch immer nicht ganz über den Tod der Eltern hinweg, aber Walter und ich meinen, dass die Zeit diese Wunde heilen wird.« Karin fasste sich an die Stirn. »Was bin ich doch für eine Gastgeberin! Jetzt sind Sie bereits seit einer Viertelstunde bei uns, und ich habe Ihnen noch nicht einmal Platz angeboten.« Sie führte Denise von Schoenecker in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, von dessen Balkon man einen herrlichen Ausblick auf die Umgebung hatte.
»Darf ich mich auf deinen Schoß setzen, Tante Isi?«, fragte Tina und umarmte Denise erneut.
»Selbstverständlich!« Denise zog das Mädchen an sich.
»Bist du nur nach Stuttgart gekommen, um uns zu besuchen, Tante Isi?«
»Tina, sei nicht so neugierig«, mahnte Frau Hoffmann, die mit dem Kaffeegeschirr hantierte.
»Das macht doch nichts«, meinte Denise. »Ich habe natürlich Verschiedenes in Stuttgart zu erledigen.«
Sie wandte sich an Karin Hoffmann. »Wir hatten vor zwei Wochen Besuch von einem älteren Ehepaar, das einen kleinen Jungen adoptieren will. Ich sehe mir immer gern die Verhältnisse an, unter denen ein Kind leben soll. Die Frau macht einen sehr guten Eindruck, aber bei dem Mann bin ich nicht ganz sicher, ob er wirklich die Absicht hat, dem Kind ein Vater zu sein Ich glaube fast, er will den Jungen nur adoptieren, um in ihm einen Nachfolger für seine Fabrik zu finden.«
In der Küche pfiff der Wasserkessel. Karin sprang auf und lief aus dem Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einer dampfenden Kaffeekanne zurück. »Wo werden Sie in Stuttgart wohnen?«, erkundigte sie sich.
»Im Zeppelin-Hotel«, gab Denise Auskunft. »Ich bin bereits gestern dort abgestiegen. Morgen werde ich in Esslingen einen weiteren ehemaligen Schützling besuchen und dann am Nachmittag nach Schoeneich zurückfahren.«
»Kümmern Sie sich auch um Kinder, die misshandelt werden?«, fragte Karin plötzlich aufgeregt, wobei über ihr Gesicht eine leichte Röte flog. »Walter meinte zwar, ich sollte mich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen, aber schließlich kann man nicht schweigend zusehen, wie ein Kind leiden muss.«
»Nein, das kann man nicht«, sagte Denise scharf. Ihr Gesicht verlor plötzlich jede Weichheit.
»Sabine wird immer von ihren Eltern geschlagen.« Tinas Stimme erinnerte die beiden Frauen daran, dass die Kleine noch bei ihnen war.
»Geh spielen, Liebling«, forderte Karin ihre Tochter auf.
»Ich möchte aber bei Tante Isi bleiben«, trotzte das Kind.
Denise lächelte und gab dem Mädchen einen liebevollen Klaps. »Komm, sei brav, Tina! Ich bleibe ja noch ein Weilchen bei euch. Deine Mama und ich haben jetzt etwas zu besprechen.«
»Gut, Tante Isi.« Bereitwillig lief Tina aus dem Zimmer. In der Tür wandte sie sich um und winkte Denise zu. »Bis nachher, Tante Isi!«
»Man könnte fast eifersüchtig sein«, äußerte Karin Hoffman lächelnd.
»Dazu haben Sie kaum Grund«, sagte Denise. Sie wurde wieder ernst. »Sabine heißt also das kleine Mädchen, von dem Sie vorhin sprachen.«
»Ja, Sabine Scholl. Das Kind ist etwa fünf Jahre alt und schrecklich verschüchtert. So weit ich inzwischen in Erfahrung bringen konnte, lebt Sabine bei Pflegeeltern. Sie hat jedenfalls einen anderen Familiennamen. Ich habe versucht, mit ihr Kontakt zu bekommen, aber es war vergebens. Die Familie Hellwig lebt zwei Blöcke von unserem Haus entfernt. Soviel ich weiß, ist Karl Hellwig Schlossermeister.«
»Hat die Familie noch mehrere Kinder?«
»Zwei Jungen und ein Mädchen. Die Buben sind älter, das Mädchen ist jünger als Sabine. Die Kleine wird ständig von ihnen gehänselt. In der Nachbarschaft ist bekannt, dass Sabine sehr oft geschlagen wird, nicht nur von Herrn Hellwig, sondern auch von den Buben.«
»Und bis jetzt hat keiner etwas dagegen unternommen?«
»Nein! Ich wollte einmal, als ich sah, wie Herr Hellwig der Kleinen eine so heftige Ohrfeige gab, dass sie auf der Straße lang hinschlug, zur Polizei gehen, aber Walter hat mich davon abgehalten. Da nahm ich mir vor, erst einmal mit Ihnen zu sprechen.«
»Können Sie mir die genaue Hausnummer geben?«
»Selbstverständlich, Frau von Schoenecker! Nummer hundertdreiundzwanzig. Die Wohnung liegt im dritten Stock.« Karin Hoffmann sah Denise erstaunt an, da diese sich erhoben hatte. »Wollen Sie denn selbst zu den Leuten gehen? Ich dachte, Sie würden nur das Jugendamt benachrichtigen.«
»Ich gehe erst einmal selbst zu den Hellwigs. Vielleicht sind die Leute Vernunftgründen zugänglich, obwohl dies nur selten der Fall ist. Wenn das nicht hilft, wende ich mich natürlich an das Jugendamt.«
»Ich würde Sie gern begleiten, aber ich bin ein schrecklicher Angsthase in solchen Dingen. Vermutlich bewundere ich deshalb die Menschen, die so sind wie Sie, Frau von Schoenecker.«
Denise lachte leicht auf. »Unannehmlichkeiten bin ich gewohnt. Was meinen Sie, aus was für Verhältnissen die Sophienluster Kinder oft kommen? Viele von ihnen wurden von den eigenen Eltern oder Pflegeeltern vernachlässigt oder misshandelt. Es gibt leider auf dieser Welt viele kleine Kinder wie Sabine.«
Wenig später stand Denise von Schoenecker vor der Wohnungstür der Hellwigs. Kurz entschlossen drückte sie auf den Klingelknopf. Sie musste einige Zeit warten, bis sie Schritte hinter der Tür hörte. Die Klinke wurde heruntergedrückt, und dann stand sie einem etwa zehn Jahre alten Buben gegenüber, der sie verwundert anstarrte.
»Kann ich bitte deine Eltern sprechen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Wir kaufen von Vertretern nichts!«
»Ich bin doch kein Vertreter, oder sehe ich so aus?«
»Nein, Sie sind eine Frau.« Der Junge nagte an seiner Unterlippe. »Wollen Sie wirklich nichts verkaufen?«
»Nein, ich möchte nur deine Eltern sprechen. Sie sind doch zu Hause, oder?«
Ehe der Junge antworten konnte, rief eine schrille Stimme aus der Wohnung: »Wer ist denn da, Martin?«
»Nur eine Frau. Sie sagt, sie will nichts verkaufen. Sie will dich und Vati sprechen.«
»Einen Moment, ich komme sofort.«
»Martin heißt du also«, meinte Denise freundlich. »Hast du noch Geschwister?«
»Ja, einen Bruder und eine Schwester. Mein Bruder ist elf Jahre alt und meine Schwester drei Jahre.«
»Lebt sonst niemand bei euch?«
»Doch, aber das ist nur die Sabine. Ihr Vater bezahlt Geld, damit sie bei uns wohnen darf. Aber ich kann sie nicht leiden. Sie ist dumm.«
Hinter dem Jungen erschien eine ungepflegte Frau. Denise schätzte sie auf vierzig Jahre. Die braunen Haare hingen ihr wirr um das Gesicht, das braune Kleid und die Schürze waren schmutzig. »Bitte, Sie wünschen?«
»Ich bin Denise von Schoenecker. Ich wollte mich nach Ihrem Pflegekind, der kleinen Sabine, erkundigen.«
Denise bemerkte, wie Frau Hellwig zusammenzuckte. »So, nach der Sabine?«, fragte die Frau.
»Ja. Darf ich hereinkommen?«
Frau Hellwig zögerte. »Na gut! Sind Sie vom Jugendamt?«
»Nein, vom Kinderheim Sophienlust.«
»Hab nie davon gehört!« Frau Hellwig öffnete die Wohnzimmertür und ließ Denise eintreten. Vorsichtig setzte sich Denise in den angebotenen Sessel, den eine schmutzige karierte Decke verhüllte.
»Kann ich Sabine sehen?«, fragte Denise, nachdem Frau Hellwig ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Sabine? Nein, das geht jetzt nicht. Sie ist bei einer Freundin.«
»Schade, ich hätte gern mit ihr gesprochen. Wann kommt Ihr Mann von der Arbeit?«
»Er sollte eigentlich schon da sein. Er wird wieder einen Umweg in die Kneipe gemacht haben.« Frau Hellwig seufzte auf und warf Denise einen Verständnisheischenden Blick zu. »Sie werden ja die Männer kennen.«
Denise gab darauf keine Antwort, sondern fragte: »Kümmert sich Sabines richtiger Vater noch ab und zu um seine Tochter?«
»Keine Spur! Aber er zahlt pünktlich, das muss man sagen. Jeden Monat fünfhundert Euro. Die isst das Kind natürlich auf, und wir setzen noch kräftig zu, aber das ist uns egal. Leider ist Sabine ziemlich verstockt und verträgt sich nicht mit unseren Kindern. Sie ist von ihrer Mutter kräftig verwöhnt worden.«
»Ist ihre Mutter gestorben?«
»Ich dachte, das wussten Sie!« Frau Hellwig warf Denise einen forschenden Blick zu. »Sie ist vor etwas über einem Jahr an Anämie gestorben. Mein Mann und Sabines Vater waren Arbeitskollegen. Nach dem Tod seiner Frau hat Robert Scholl wieder geheiratet und ist nach Friedrichshafen gezogen. Das Kind hat der neuen Frau nicht gepasst, und so hat Karl, mein Mann, ihm angeboten, Sabine bei uns aufzunehmen. Danken tut sie es uns jedenfalls nicht. Wir müssen oft kräftig durchgreifen.«
»Ich habe gehört, dass Sabine oft geschlagen wird. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«
»Die Sabine hat’s nötig! So viel Ärger wie mit ihr haben wir mit keinem unserer eigenen Kinder. Nichts als Undankbarkeit!« Frau Hellwig nickte sorgenvoll mit dem Kopf, und Denise fühlte, dass Sabines Pflegemutter sich völlig im Recht glaubte.
Plötzlich horchte Frau Hellwig auf. »Mein Mann kommt nach Hause«, sagte sie. Schon lief sie in den Flur, wo gerade die Tür aufgestoßen wurde. »Karl, eine Frau ist wegen der Sabine hier«, hörte Denise sie sagen.
»Sind Sie vom Jugendamt?«, fragte Karl Hellwig statt einer Begrüßung, als er ins Wohnzimmer trat. Hinter ihm schob sich seine Frau in den Raum.
»Nein. Wie ich Ihrer Frau bereits erklärte, verwalte ich das Kinderheim Sophienlust.«
»Und was hat das mit uns zu tun?« Drohend baute sich Karl Hellwig vor Denise auf.
»Als ich heute Nachmittag Freunde besuchte, hörte ich von der kleinen Sabine. Man sagte mir, dass das Kind sehr oft geschlagen wird. Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.« Denise erhob sich.
»Ob ich das Kind schlage, ist meine Sache! Und glauben Sie mir, gute Frau, Sabine hat jeden Schlag dreifach verdient. So etwas Verlogenes ist Ihnen gewiss noch nicht unter die Finger gekommen. Misshandeln tun wir sie jedenfalls nicht.«
»Dann würde ich gern das Kind sehen.«
»Gar nichts werden Sie sehen, gute Frau. Sie werden jetzt meine Wohnung verlassen und sich um Ihre eigenen
Belange kümmern!« Energisch fasste Karl Hellwig Denise von Schoenecker am Arm und wollte sie zur Tür schieben.
Denise befreite sich mit einer kräftigen Bewegung aus seinem Griff. »Ich gehe freiwillig, doch Sie dürfen mir glauben, dass damit diese Angelegenheit nicht erledigt ist.«
Von der Wohnung der Hoffmanns aus rief Denise das Jugendamt an. Es meldete sich jedoch in dieser Abteilung der Behörde niemand mehr. Dann versuchte sie den Namen des zuständigen Sachbearbeiters zu erfahren und dessen Telefonnummer. Diesmal hatte sie Glück. Herr Sander war sofort bereit, gegen die Hellwigs vorzugehen. Er versprach, unverzüglich zu kommen.
Ungeduldig warteten Denise von Schoenecker und die Hoffmanns auf das Eintreffen von Herrn Sander. Walter Hoffmann, der inzwischen von der Arbeit heimgekommen war, fand es jetzt auch richtig, dass seine Frau Denise von Schoenecker von der Kindesmisshandlung berichtet hatte.
Als endlich Herr Sander und eine seiner Mitarbeiterinnen eintrafen, gingen die beiden mit Denise von Schoenecker zu dem Wohnblock, in dem die Hellwigs wohnten. Wieder öffnete der kleine Martin die Wohnungstür.
»Es ist die Frau von vorhin und noch ein Herr und eine Frau!«, rief er nach hinten.
»Sie wünschen?« Herr Hellwig stand plötzlich hinter seinem Sohn.
Herr Sander zeigte seinen Ausweis. »Wir kommen wegen Sabine Scholl. Sie sind wegen Kindesmisshandlung angezeigt worden. Wir hätten gern die Kleine gesehen.«
»Sie ist bei einer Freundin.« Wütend starrte Karl Hellwig die Besucher an. »Wer hat mich angezeigt?«
»Das tut nichts zur Sache. Bitte, nennen Sie mir den Namen dieser Freundin«, forderte Herr Sander den Mann auf.
»Woher soll ich den wissen?«
»Dann werden wir hier warten, bis Sabine nach Hause kommt.« Energisch ging Herr Sander an Karl Hellwig vorbei in die Wohnung. Denise und seine Mitarbeiterin folgten ihm.
»Karl, es hat doch keinen Zweck«, meinte Frau Hellwig ängstlich.
»Halt deinen Mund!«, brüllte Karl Hellwig sie an.
»Was hat keinen Zweck?«, forschte Herr Sander. »Es nützt Ihnen nichts, vor uns etwas zu verbergen.«
Frau Hellwig sah ihren Mann von der Seite an und sagte dann halb stammelnd: »Sabine ist gestern Abend ausgerissen. Aber sie kommt gewiss zurück. Es ist nicht das erste Mal.«
»Sie ist ausgerissen, und Sie haben sich bis jetzt nicht um den Verbleib des Kindes gekümmert?«, fragte Denise entsetzt.
»Wir haben genug anderes zu tun!«, fuhr Karl Hellwig auf. »Sie kommt auch zurück. Einmal war sie zwei Tage fort, aber sie ist Brot gewöhnt.«
»Sie bleiben in der Wohnung, Fräulein Berger«, forderte Herr Sander seine Mitarbeiterin auf. Danach wandte er sich an Denise. »Ich werde sofort die Polizei verständigen. Hoffentlich finden wir das Kind, bevor etwas passiert.«
*
»Nicole ist verunglückt!«, sagte Brigitte Faunier, schwer atmend vom Treppensteigen, noch ehe Matthias Conradi ihr hatte Platz anbieten können. Haltsuchend griff sie nach einer Sessellehne.
»Was ist denn geschehen?« Matthias bemühte sich vergebens, seine Bestürzung zu verbergen. »Ist sie im Krankenhaus? Kann ich zu ihr?«
»Es ist auf dem Weg zur Probe passiert«, sagte Brigitte. »Nicole ist eine Rolltreppe hinabgestürzt und so unglücklich gefallen, dass sie sich beide Unterarme und einige Finger gebrochen hat. Aristide Briand hat sie selbst zum Krankenhaus gefahren. Du kannst dir sicher vorstellen, wie er getobt hat.«
Matthias konnte es sich gut vorstellen, trotzdem sagte er: »Briand ist
unwichtig. Wichtig ist nur Nicole. Es wird schrecklich für sie sein, dass sie jetzt wochenlang nicht mehr spielen kann.«
»Wenn sie überhaupt jemals wieder Klavier spielen kann«, meinte Brigitte düster. Noch jetzt sah sie das totenbleiche Gesicht ihrer Schwester vor sich. Das Einzige, woran Nicole gedacht hatte, waren ihre Finger gewesen. Eine Pianistin musste ihre Finger gelenkig erhalten. Jetzt, da diese gebrochen waren, erschien es ihr unmöglich, dass sie jemals wieder ihre frühere Gelenkigkeit zurückerlangen würde.
»Ich fahre sofort zu ihr«, sagte Matthias. »Kann ich dich irgendwo absetzen?«
»Nein, danke, Matthias. Ich laufe lieber. Vielleicht beruhigt das meine Nerven. Ich muss immer wieder an Nicole denken. Von Kind auf war es ihr größter Wunsch, Pianistin zu werden, und nun, da sie auf dem Weg zum Ruhm ist, muss das geschehen!«
Matthias begleitete Brigitte Faunier hinaus auf die Straße. Er sah ihr nach, als sie in die Rue Gay-Lussac einbog und dann seinen Blicken entschwand. Er schloss die Haustür hinter sich ab und lief zur Garage, in der sein kleiner Fiat stand.