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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Denise von Schoenecker bog mit ihrem Wagen in den Park von Gut Schoeneich ein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie wieder einmal später von Sophienlust zurückgekommen war, als sie vorgehabt hatte. Ihre Familie hatte wahrscheinlich bereits mit dem Abendessen begonnen. Denise seufzte leise auf. Manchmal machte sie sich wirklich Vorwürfe, weil sie glaubte, sich nicht genug um ihren kleinen Sohn Henrik zu kümmern. Aber Henrik hatte im Gegensatz zu den Kindern von Sophienlust ein Elternhaus, in dem er sich geborgen fühlen konnte. Denise parkte den Wagen und stieg aus. Während sie zu dem schlossartigen Wohnhaus des Gutes ging, dachte sie über die kleine Monika nach, die an diesem Tag nach Sophienlust gebracht worden war. Weinend hatte sich die Kleine an die Tante geklammert und sie beschworen, sie wieder mitzunehmen, aber diese hatte sich umgewandt und war ohne einen letzten Gruß davongefahren. Denise und Else Rennert, die Heimleiterin, hatten alle Hände voll zu tun gehabt, um Monika zu trösten. Denise von Schoenecker hatte aus Monikas Personalakten ersehen, dass die Kleine erst vor Kurzem ihre Eltern verloren hatte. Ihre unverheiratete Tante, eine selbstständige Schneiderin, hatte sie bei sich aufgenommen. Doch das Kind war ihr schon nach vier Wochen zu viel geworden. Wir müssen für Monika so bald wie möglich gute Eltern finden, überlegte Denise, während sie das Gutshaus betrat. Aus dem Eßzimmer hörte sie zugleich die Stimme ihres neunjährigen Sohnes Henrik. »Wo Mutti heute nur wieder bleibt«, sagte der Junge mit einem vorwurfsvollen Unterton. Denise lächelte. Sie wusste genau, was für ein gutes Herz Henrik
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Seitenzahl: 147
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Denise von Schoenecker bog mit ihrem Wagen in den Park von Gut Schoeneich ein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie wieder einmal später von Sophienlust zurückgekommen war, als sie vorgehabt hatte. Ihre Familie hatte wahrscheinlich bereits mit dem Abendessen begonnen.
Denise seufzte leise auf. Manchmal machte sie sich wirklich Vorwürfe, weil sie glaubte, sich nicht genug um ihren kleinen Sohn Henrik zu kümmern. Aber Henrik hatte im Gegensatz zu den Kindern von Sophienlust ein Elternhaus, in dem er sich geborgen fühlen konnte.
Denise parkte den Wagen und stieg aus. Während sie zu dem schlossartigen Wohnhaus des Gutes ging, dachte sie über die kleine Monika nach, die an diesem Tag nach Sophienlust gebracht worden war. Weinend hatte sich die Kleine an die Tante geklammert und sie beschworen, sie wieder mitzunehmen, aber diese hatte sich umgewandt und war ohne einen letzten Gruß davongefahren. Denise und Else Rennert, die Heimleiterin, hatten alle Hände voll zu tun gehabt, um Monika zu trösten.
Denise von Schoenecker hatte aus Monikas Personalakten ersehen, dass die Kleine erst vor Kurzem ihre Eltern verloren hatte. Ihre unverheiratete Tante, eine selbstständige Schneiderin, hatte sie bei sich aufgenommen. Doch das Kind war ihr schon nach vier Wochen zu viel geworden.
Wir müssen für Monika so bald wie möglich gute Eltern finden, überlegte Denise, während sie das Gutshaus betrat. Aus dem Eßzimmer hörte sie zugleich die Stimme ihres neunjährigen Sohnes Henrik.
»Wo Mutti heute nur wieder bleibt«, sagte der Junge mit einem vorwurfsvollen Unterton.
Denise lächelte. Sie wusste genau, was für ein gutes Herz Henrik hatte. Wenn es darum ging, einem Kind zu helfen, zögerte er nicht einen Augenblick, für dieses Kind einzutreten.
Denise öffnete die Tür zum Esszimmer. »Es tut mir leid, dass es wieder so spät geworden ist«, sagte sie. »Ich komme sofort. Ich möchte mich nur noch etwas frisch machen.«
»Gestattet!«, sagte Henrik und vollführte dazu mit der linken Hand eine großartige Geste.
Denise eilte in ihr Schlafzimmer und zog sich innerhalb weniger Minuten um. Schnell strich sie mit dem Kamm über ihre glänzenden schwarzen Haare.
Alexander von Schoenecker, Nick und Henrik waren bereits mit dem
Essen fertig, saßen aber noch am
Tisch.
»Du siehst abgespannt aus«, meinte Alexander. Er musterte seine Frau besorgt. »Du solltest dir etwas mehr Ruhe gönnen, Denise.«
»Das nehme ich mir jeden Tag von Neuem vor«, sagte Denise und lächelte ihrem Mann zu. »Heute Nachmittag wollte ich eigentlich nur kurz in Sophienlust vorbeischauen.«
Denise erzählte Alexander und ihren Söhnen nun von der kleinen Monika. »Sie ist erst sechs Jahre alt, aber wenn man ihr in die Augen sieht, glaubt man, allen Schmerz der Welt darin zu lesen.«
»Sie wird in Sophienlust bestimmt glücklich werden«, behauptete Dominik, genannt Nick. Er stammte aus Denises erster Ehe mit Dietmar von Wellentin. Er war jetzt sechzehn Jahre alt und besuchte das Gymnasium der kleinen Kreisstadt Maibach. Nach dem Tod seiner Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, hatte er Sophienlust mit der Auflage geerbt, aus dem herrschaftlichen Besitz ein Heim für elternlose und Geborgenheit suchende Kinder zu machen. Diese Aufgabe hatte seine Mutter übernommen. Sie verwaltete den Besitz bis zu seiner Großjährigkeit.
»Wir wollen es hoffen«, sagte Denise und legte ihr Besteck auf den Teller. »Frau Rennert hat Monika im Zimmer von Heidi untergebracht.«
Heidi Holsten war mit ihren vier Jahren das jüngste Dauerkind in Sophienlust und gleichzeitig auch der Sonnenschein des Heims.
Nach dem Essen saßen Denise und Alexander von Schoenecker bei einer Tasse Kaffee in dem mit wertvollen Stilmöbeln eingerichteten Salon beisammen. Nick hatte sich, um Schularbeiten zu machen, bereits auf sein Zimmer zurückgezogen, während Henrik zu Füßen seiner Eltern mit einem Rennwagen-Modell spielte.
»Henrik, es wird Zeit«, meinte Denise.
»Ach, Mutti!«
»Kein, ach, Mutti!« Denise lächelte ihrem Sohn liebevoll zu. »Auf, ins Bett!«
»Nur noch fünf Minuten«, bettelte der Junge.
»Und dann noch fünf Minuten«, meinte Alexander. »Glaube mir, wir kennen das, mein Sohn.«
»Wir kommen nachher noch zu dir hinauf, um dir gute Nacht zu sagen«, versprach Denise.
Henrik warf seinen Eltern einen fragenden Blick zu. Dann stand er auf und zuckte resignierend mit den Schultern. Er wusste genau, wie weit er gehen konnte. »Aber ihr kommt doch bestimmt?«, vergewisserte er sich.
»Natürlich«, sagte Alexander und griff nach der Hand seiner Frau. Zärtlich drückte er sie. »Wie sieht es eigentlich in Sophienlust aus?«, fragte er nach einer Weile. »Könnte noch ein Kind aufgenommen werden?«
»Ein Platz wäre noch frei«, antwortete Denise. »Denkst du an ein bestimmtes Kind?«
»Ja«, erwiderte Alexander. »Als ich vor zwei Jahren in Frankreich war, lernte ich dort einen jungen Mann namens Joachim Schöller kennen. Er rief mich heute aus London an und fragte, ob wir seine kleine Tochter für drei Monate in Sophienlust aufnehmen könnten. Er ist von Beruf Bergwerksingenieur und muss kurzfristig nach Kenia. Bisher nahm er seine Tochter auf allen Reisen mit, doch die Kleine hatte erst vor einigen Wochen Scharlach. Nun will er sie nicht den extremen Klimaveränderungen aussetzen.«
»Das ist zu verstehen«, meinte Denise. »Ist er Witwer oder geschieden?«
»Geschieden«, sagte Alexander. »Ich glaube, seit vier Jahren. Wir begegneten einander damals im Hotel Monopol und kamen miteinander ins Gespräch. Seine Frau betrog ihn mit seinem besten Freund. Bei der Scheidung wurden die Zwillinge ihm zugesprochen. Der kleine Junge verunglückte vor einigen Jahren tödlich, als Joachim gerade in Amerika weilte und die Kinder in der Obhut einer Tante waren. Seit dieser Zeit nimmt er seine Tochter fast überallhin mit.«
»Wie alt ist denn die Kleine?«, fragte Denise. »Hast du sie damals ebenfalls kennengelernt?«
»Michaela ist siebeneinhalb Jahre alt. Ein reizendes Kind, aber, so weit ich mich erinnern kann, ziemlich altklug.« Alexander lachte. »Du weißt ja am besten, wie schnell Kinder total verzogen werden können. Joachim vergöttert seine kleine Tochter.«
»Ich werde mit Frau Rennert sprechen«, versprach Denise. »Wann will denn dein Bekannter seine kleine Tochter zu uns bringen?«
»Joachim hält sich zurzeit in London auf. Er würde Michaela einer Bekannten mitgeben, und ich müsste sie dann vom Hamburger Hafen abholen.«
»Kann er denn nicht über Frankfurt fliegen und seine Tochter mitnehmen?«
»Ich habe ihn danach gefragt, aber er erzählte mir, dass seine Firma für ihn einen Flug über Athen gebucht habe. Eigentlich sollte er bereits in Kenia sein. Man hat ihm nur drei Tage Aufschub gewährt, damit er für seine Tochter eine Unterbringungsmöglichkeit suchen kann. Falls wir Michaela nicht aufnehmen können, muss sie in ein anderes Kinderheim.«
»Wird er dich noch einmal anrufen?«
»Ja, morgen, kurz nach acht Uhr.« Alexander stand auf. »Ich glaube, wir sollten nun zu Henrik gehen. Sonst meint unser Herr Sohn noch, wir würden nicht mehr kommen.«
»Als ob wir ihm das je antun würden«, sagte Denise und folgte ihrem Mann. Während sie die Treppe hinaufstieg, war sie mit ihren Gedanken bereits bei Michaela. Sie ahnte, wie schwer dem kleinen Mädchen die Trennung von seinem Vater fallen würde.
*
»Papi, bitte, lieber Papi, nimm mich mit nach Kenia!« Die Augen von Michaela hingen bettelnd an Joachim Schöllers Gesicht. Ihre Hände klammerten sich an ihm fest.
Joachim beugte sich zu seiner kleinen Tochter hinab und strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Es geht wirklich nicht, Liebling«, sagte er.
»Warum denn nicht, Papi? Ich werde auch ganz lieb sein!« Hoffnungsvoll schmiegte sich Michaela an den Vater und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
»Ich möchte nicht, dass du wieder krank wirst«, antwortete Joachim und richtete sich auf.
»Ich werde bestimmt nicht krank, Papi. Ich werde immer alles tun, was du willst! Bitte, Papi, bitte!«
Die Stimme seines Kindes schnitt Joachim ins Herz. Aber er konnte nicht nachgeben, so schwer es ihm auch wurde. Er durfte Michaela nicht nach Kenia mitnehmen. Es war nicht nur ihre erst kürzlich überstandene Krankheit, die das erforderte, sondern auch die Schule.
Michaela besuchte seit einem Jahr eine deutschsprachige Schule in London. Während ihres Aufenthaltes in Sophienlust konnte sie in Wildmoos zur Schule gehen. In Kenia dagegen gab es für sie keine Unterrichtsmöglichkeit. Und wer sollte sich dort um sie kümmern, während er im Kupferbergwerk arbeitete?
Joachim setzte sich in einen Sessel und zog Michaela auf seinen Schoß. »Sieh einmal, Liebling«, begann er und trocknete mit seinem Taschentuch die Tränen seiner Tochter, »ich kann dich wirklich nicht nach Kenia mitnehmen. Du würdest dort den ganzen Tag allein sein. Ich hätte keinen, der sich um dich kümmern könnte.«
»Aber wenn ich brav bin, braucht niemand auf mich aufzupassen«, meinte Michaela.
»Du bist noch zu klein, um allein zu bleiben«, antwortete Joachim. »In Sophienlust wird es dir bestimmt gefallen. Es gibt dort viele Kinder, mit denen du spielen kannst.«
»Ich mag aber nicht mit anderen Kindern spielen«, maulte Michaela.
»Du kannst dich doch noch an Onkel Alexander erinnern?«, fragte Joachim. »Weißt du nicht mehr, wie gern du ihn hattest?«
Michaela schüttelte den Kopf. Sie sprang vom Schoß ihres Vaters und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich will bei dir bleiben! Bei dir! Bei dir!« Trotzig ballte sie die Hände zu Fäusten.
»Michaela!«
Erschrocken zuckte die Kleine zusammen. So scharf hatte der Vater noch nie mit ihr gesprochen. Reumütig legte sie ihre Hand auf sein Knie. »Bitte, sei nicht böse, Papi!«
»Nein, ich bin dir nicht böse, Michaela«, meinte Joachim, »aber du musst mir versprechen, lieb zu sein und das zu tun, was ich in deinem Interesse für richtig halte.«
»Ich verspreche es«, sagte Michaela schnell, um ihren Vater wieder zu versöhnen.
»Gut, Liebling!« Joachim küsste sie auf die Stirn. »Wir machen jetzt noch einen Stadtbummel, und du darfst alles kaufen, was du haben möchtest.«
Joachim war sich darüber im Klaren, dass er sich nicht richtig verhielt, wenn er Michaela so maßlos verwöhnte, aber er entschuldigte sich stets damit, dass er dem Kind die Mutter ersetzen musste. So zog er an diesem Nachmittag mit Michaela von einem Laden zum anderen und kam am Abend mit Paketen beladen in die Wohnung zurück.
Er liebte die kleine Wohnung im Londoner Vorort Croydon, die er seit einem Jahr bewohnte. Fast tat es ihm leid, dass er sie jetzt aufgeben musste. Seine Arbeit in England war beendet. Wenn er von Kenia zurückkam, würde er nach einem längeren Urlaub zunächst im Ruhrgebiet arbeiten.
Ob es für Michaela gut war, wenn sie sich ständig woanders zurechtfinden musste? Joachim Schöller hatte sich diese Frage schon sehr oft gestellt. Er wusste, der eigentliche Grund für das Scheitern seiner Ehe war sein Beruf gewesen, der ihn oft monatelang von Zuhause ferngehalten hatte. Langsam war dadurch alle Gemeinsamkeit mit Erika zerstört worden. Dabei waren sie einmal sehr glücklich miteinander gewesen. Wenige Monate vor der Scheidung war ihm eine gute Stelle in Köln angeboten worden. Warum hatte er sie nicht angenommen? War es seine Reiselust gewesen, die ihn daran gehindert hatte?
Anfangs hatte Erika ihn zu seinen verschiedenen Arbeitsplätzen rund um die Welt begleitet, doch dann waren die Zwillinge zur Welt gekommen, und sie hatte sich nach einem festen Heim gesehnt, in dem sie ihre Kinder großziehen konnte. Warum hatte er nicht nachgegeben? Wie hatte er annehmen können, dass ihre Ehe auch weiterhin gut gehen würde, wenn sie sich nur alle paar Monate sahen?
Als Joachim eines Tages von einem längeren Aufenthalt im Nahen Osten nach Deutschland zurückgekehrt war, hatte er die Wohnung leer vorgefunden. Erika war mit den Kindern zu seinem besten Freund gezogen. Die Scheidung war eine Angelegenheit von wenigen Wochen gewesen. Der Richter hatte ihm die Kinder zugesprochen. Noch jetzt glaubte Joachim manchmal, Erikas Gesicht vor sich zu sehen und in ihm den Schmerz zu lesen, als er Michael und Michaela abgeholt hatte, um sie zu seiner Tante zu bringen.
»Nein, ich bin nicht ohne Schuld«, sagte Joachim leise zu sich selbst. Doch jetzt war es zu spät. Er wusste, dass Erika in München lebte. Er hatte sie vor zwei Jahren kurz gesehen, als er Michaela zu ihr gebracht hatte, damit sie bei ihrer Mutter drei Wochen verbringen konnte. Würde Michael heute noch leben, wenn er die Kinder nach der Scheidung bei ihr gelassen hätte?
Joachim machte sich noch immer heftige Vorwürfe, dass er damals die Zwillinge nicht nach Amerika mitgenommen hatte. Seine Tante war viel zu alt gewesen, um sich um zwei so lebhafte Kinder kümmern zu können.
»Schluss mit dem Grübeln!«, sagte Joachim vor sich hin. »Du kannst es doch nicht mehr ändern.« Er löschte seine Schreibtischlampe und schlich auf Zehenspitzen zum Kinderzimmer.
Leise trat er an Michaelas Bett. Schon morgen würde er sie seiner Bekannten mitgeben müssen. Er liebte seine Tochter über alles, und doch war diese Trennung unvermeidlich!
*
Ursprünglich wollte Alexander von Schoenecker selbst nach Hamburg fahren, um Michaela Schöller vom Schiff abzuholen, aber gerade, als er in seinen Wagen einsteigen wollte, wurde er abgerufen. Auf der Pferdekoppel hatte es einen Unfall gegeben, sodass er dringend gebraucht wurde.
»Ich fahre«, sagte Denise kurz entschlossen.
»Aber du hast doch nichts gepackt«, meinte Alexander.
»Das macht nichts. Die paar Sachen, die ich benötige, habe ich schnell beisammen.«
»Wenn ich dich nicht hätte!« Zärtlich küsste Alexander seine Frau, dann eilte er dem Stallburschen nach, der ihn gerufen hatte.
»Mutti, darf ich mit nach Hamburg fahren?«, fragte Henrik. Er stand mit seinem Schulranzen im Eingang des Hauses und blickte verlangend zum Wagen.
»Nein«, entschied Denise. »Du wirst zur Schule gehen, wie es sich gehört.«
»Immer diese Schule«, maulte Henrik.
»Es ist schlimm, wenn man noch so klein ist«, meinte Nick und trat mit seiner Mappe unter dem Arm aus dem Haus.
»So klein bin ich gar nicht«, trumpfte Henrik auf. Er hängte sich bei seinem Bruder ein und ging mit ihm zusammen zum Schulbus.
Mit Hilfe von Gusti, dem ältlichen Hausmädchen von Schoeneich, hatte Denise innerhalb von zwanzig Minuten einen kleinen Koffer gepackt. Während Gusti den Koffer zum Wagen brachte, telefonierte Denise mit Frau Rennert und sagte ihr, dass sie vor Sonntagabend nicht zurück sein werde.
Die Fahrt zog sich endlos dahin. Zweimal konnte Denise einer Stauung auf der Autobahn entgehen, indem sie, durch die Verkehrsdurchsage im Radio gewarnt, rechtzeitig abbog, aber das dritte Mal blieb sie mittendrin stecken. Es ging auf zwanzig Uhr zu, als sie Hamburg endlich erschöpft erreichte.
Alexander von Schoenecker hatte im Hotel Helgoland bereits von
Schoeneich aus ein Zimmer bestellt. Denise musste dem Portier also nur klarmachen, dass sie nun anstelle ihres Mannes das Zimmer bewohnen würde.
»Mir soll es recht sein, gnädige Frau«, meinte der Portier und rief nach dem Pagen.
Erleichtert ließ sich Denise wenig später auf das weiche Bett fallen. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, zu schlafen. Mit viel Willenskraft stand sie aber gleich darauf wieder auf. Schließlich konnte sie nicht in ihrem Reisekostüm zu Bett gehen.
Nachdem Denise geduscht hatte, war ihre Müdigkeit wie fortgeweht. Sie überlegte, ob sie noch einen kleinen Bummel durch Hamburg machen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie ließ sich ein spätes Abendessen aufs Zimmer kommen und legte sich danach mit einem Buch zu Bett. Gerade, als sie das Licht löschen wollte, klingelte das Telefon auf ihrem Nachttisch.
»Denise von Schoenecker«, meldete sie sich.
»Ich bin es, Liebling!«, klang die Stimme ihres Mannes an ihr Ohr. »Ich hoffe, du hast noch nicht geschlafen.«
»Nein, noch nicht«, sagte Denise glücklich. Sie unterhielt sich einige Minuten mit Alexander und legte dann gedankenverloren den Hörer wieder auf. Nicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie Alexander liebte. Sie führte mit ihm eine äußerst glückliche Ehe, und er war auch ihrem Sohn Nick ein vorbildlicher Vater.
*
Am nächsten Morgen stand Denise kurz nach zehn Uhr am Kai und beobachtete die Menschen, die von Bord der Liverpool gingen. Sie sah viele Frauen mit Kindern. Welches von ihnen mochte wohl Michaela sein?
Eine ältere Frau in einem grauen Tweedrock betrat mit einem etwa siebenjährigen Mädchen den Kai. Suchend blickte sie sich um. Ihre Augen trafen Denise. Fast sofort wusste Denise, dass die Kleine an der Hand der Fremden Michaela war. Lächelnd ging sie auf die beiden zu.
»Mrs Green?«, fragte sie.
Die Frau atmete erleichtert auf. »Ja, ich bin Mrs Green«, antwortete sie. »Und Sie sind bestimmt vom Kinderheim Sophienlust? Eigentlich habe ich einen Herrn erwartet.«
»Ich bin Denise von Schoenecker. Mein Mann wurde leider aufgehalten. Deswegen fuhr ich nach Hamburg, um Michaela abzuholen.« Denise beugte sich zu dem Kind hinab, das seine freie Hand hinter dem Rücken verschränkte und sie trotzig anstarrte. Denise tat, als würde sie es nicht bemerken. »Du bist sicher Michaela«, sagte sie zu der Kleinen. »Du wirst sehen, es wird dir in Sophienlust bestimmt gefallen.«
»Ich will aber nicht ins Heim. Ich will zu meinem Papi!«, antwortete Michaela.
»Sophienlust ist nicht nur ein Heim«, meinte Denise freundlich und streckte der Kleinen die Hand entgegen. Doch Michaela drehte sich zur Seite.
»Geben Sie es auf«, meinte Mrs Green. »Ich habe vergeblich versucht, dem Kind näherzukommen. Ich muss ehrlich sagen, ich bin froh, wenn ich die Verantwortung für Michaela los bin.«
Denise ließ sich nicht entmutigen. Michaela war nicht das erste schwierige Kind, dem sie sich widmete. »Wir werden uns schon anfreunden«, meinte sie.
Eine halbe Stunde später hatte sich Mrs Green verabschiedet, und Denise ging mit Michaela und den Koffern zum Wagen.
Michaela wollte sich auf den Beifahrersitz setzen. Denise tat es leid, dass sie die Kleine enttäuschen musste, aber sie konnte nicht zulassen, dass das Kind vorn saß. »Du musst schon hinten sitzen«, sagte sie.
Michaela zog einen Schmollmund. »Warum? Bei meinem Papi darf ich auch immer vorn sitzen.«
»Wenn ein Unfall passiert, bist du im Fond des Wagens viel geschützter, als wenn du neben mir sitzen würdest«, sagte Denise.
»Papi macht nie einen Unfall«, argumentierte Michaela. Trotzdem kletterte sie nach hinten. »Papi ist gestern nach Kenia geflogen«, erzählte sie. »Kenia ist sehr weit weg von hier. Mein Papi hat mir auf der Landkarte gezeigt, wo es liegt.«
»Und du wärst wohl gern mit deinem Papa mitgeflogen?«, meinte Denise und startete den Motor.