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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Es war noch früh am Morgen. In der Küche des Kinderheims Sophienlust war gerade die Köchin Magda dabei, die ersten Vorbereitungen für das Frühstück der Kinder und des Personals zu treffen. Ulla, das Hausmädchen, ging quer durch die Halle und öffnete das Portal zur Freitreppe. Dann stutzte sie. Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. Direkt vor der Tür stand ein tragbares blaues Kinderbettchen. »Nein«, sagte Ulla leise vor sich hin, »nein, das darf doch nicht wahr sein!« Sie beugte sich zu dem Kinderbettchen hinab, schob die Spitzendecke beiseite und blickte in ein liebliches Kindergesichtchen. Blonde Locken ringelten sich um das Köpfchen. Die Augen waren mit langen dunklen Wimpern bedeckt, die Wangen vom Schlaf rosig angehaucht. Ein winziger Daumen steckte im Mündchen. Ulla drehte sich hilfesuchend um. In ihren Augen standen Tränen. Wie konnte eine Mutter es nur übers Herz bringen, ihr Kind auszusetzen? Ulla sah Schwester Regine die Treppe zur Halle herabkommen. »Schwester Regine!«, rief sie, aber die junge Frau hörte sie nicht. »Schwester Regine!« Die Kinderschwester, die gerade mit ihren Gedanken bei der kleinen Gisela Reimann gewesen war, die vor lauter Heimweh nach ihren Eltern Fieber bekommen hatte, hob erstaunt den Kopf. »Ulla, was ist denn?«, fragte sie, denn die Stimme des Hausmädchens hatte seltsam belegt geklungen. »Ein Kind, Schwester Regine! Man hat uns ein Kind vor die Tür gelegt. Einfach ausgesetzt!« Mit eiligen Schritten durchquerte Schwester Regine die Halle. Erschüttert kniete sie neben dem Bettchen nieder. Elke, dachte sie im ersten Moment. Genau so hatte ihre kleine Tochter Elke ausgesehen, bevor sie
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Seitenzahl: 147
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Es war noch früh am Morgen. In der Küche des Kinderheims Sophienlust war gerade die Köchin Magda dabei, die ersten Vorbereitungen für das Frühstück der Kinder und des Personals zu treffen. Ulla, das Hausmädchen, ging quer durch die Halle und öffnete das Portal zur Freitreppe. Dann stutzte sie. Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. Direkt vor der Tür stand ein tragbares blaues Kinderbettchen.
»Nein«, sagte Ulla leise vor sich hin, »nein, das darf doch nicht wahr sein!« Sie beugte sich zu dem Kinderbettchen hinab, schob die Spitzendecke beiseite und blickte in ein liebliches Kindergesichtchen. Blonde Locken ringelten sich um das Köpfchen. Die Augen waren mit langen dunklen Wimpern bedeckt, die Wangen vom Schlaf rosig angehaucht. Ein winziger Daumen steckte im Mündchen.
Ulla drehte sich hilfesuchend um. In ihren Augen standen Tränen. Wie konnte eine Mutter es nur übers Herz bringen, ihr Kind auszusetzen?
Ulla sah Schwester Regine die Treppe zur Halle herabkommen. »Schwester Regine!«, rief sie, aber die junge Frau hörte sie nicht. »Schwester Regine!«
Die Kinderschwester, die gerade mit ihren Gedanken bei der kleinen Gisela Reimann gewesen war, die vor lauter Heimweh nach ihren Eltern Fieber bekommen hatte, hob erstaunt den Kopf. »Ulla, was ist denn?«, fragte sie, denn die Stimme des Hausmädchens hatte seltsam belegt geklungen.
»Ein Kind, Schwester Regine! Man hat uns ein Kind vor die Tür gelegt. Einfach ausgesetzt!«
Mit eiligen Schritten durchquerte Schwester Regine die Halle. Erschüttert kniete sie neben dem Bettchen nieder. Elke, dachte sie im ersten Moment. Genau so hatte ihre kleine Tochter Elke ausgesehen, bevor sie ihr durch den Tod entrissen worden war. Zärtlich berührte Schwester Regine das Kinderköpfchen. Dann rief sie sich energisch zur Ordnung. Sie musste die Vergangenheit vergessen, so schwer es ihr auch fiel. Sie hatte nun eine neue Aufgabe. Die Kinder von Sophienlust beanspruchten ihre ganze Kraft und Liebe. Sie durfte nicht zurücksehen.
»Helfen Sie mir bitte, das Kind ins Haus zu tragen«, sagte sie zu Ulla und erhob sich.
Das Hausmädchen nickte. Es wischte sich kurz über die Augen und ergriff dann eine der Tragelaschen des Bettes.
»Was wird nun mit dem Kind geschehen?«, fragte Ulla.
»Zuerst bringen wir es einmal zu Frau Rennert. Vermutlich wird es vorläufig in Sophienlust bleiben, wenigstens so lange, bis man die Mutter des Kindes gefunden hat.«
»Was kann das nur für eine Mutter sein, die ihr Kind hilflos aussetzt?«
»Wir wissen nicht, was sie zu diesem Schritt getrieben hat. Vielleicht war sie so verzweifelt, dass ihr kein anderer Ausweg einfiel, als sich von ihrem Kind zu trennen.«
Die Heimleiterin, Frau Rennert, eine ältere, sehr mütterliche Frau, saß bereits hinter ihrem Schreibtisch, als die beiden jungen Frauen mit dem Kinderbett das Büro betraten. »Man hat uns ein Kind vor die Tür gelegt, Frau Rennert«, sagte Schwester Regine.
»Machen Sie Scherze?«, fragte die Heimleiterin. Sie kam hinter dem Schreibtisch hervor und schaute in das Kinderbettchen, das die beiden Frauen auf einen Tisch gestellt hatten. Behutsam nahm sie das Kind, das noch immer schlief, aus dem Bett. »Vermutlich hat man ihm ein Schlafmittel gegeben.« Frau Rennert reichte das Kind Schwester Regine. »Ich werde sofort Frau Dr. Frey verständigen und Frau von Schoenecker. Versorgen Sie bitte inzwischen das Kleine mit allem Notwendigen.«
Schwester Regine trug das Kind auf ihrem Arm zum Erste-Hilfe-Zimmer, während Ulla ihr mit dem Kinderbettchen folgte.
»Ich werde wieder an meine Arbeit gehen«, sagte das Hausmädchen, nachdem es einen letzten Blick auf das Kind geworfen hatte. »Rufen Sie mich bitte, wenn das Kleine aufwacht.«
»Gern, Ulla«, antwortete Schwester Regine. Sie kleidete das Kind aus. Es trug einen gestrickten Hosenanzug aus blauer und gelber Wolle, dazu ein gelbes Hemdchen. Hosenanzug und Hemd waren Handarbeit. Die weiße Unterwäsche schien unzählige Male gewaschen und gestopft worden zu sein. Nirgends fand sich ein Hinweis auf die Herkunft des kleinen Mädchens.
Frau Dr. Frey und Denise von Schoenecker trafen gleichzeitig im Kinderheim Sophienlust ein. Herzlich begrüßten sie sich. Inzwischen waren auch die Sophienluster Zöglinge erwacht und hatten von dem Findelkind erfahren. Sie stürmten vom Speisesaal aus auf Denise von Schoenecker zu.
»Dürfen wir das Kind sehen, Tante Isi?«, fragte die zehnjährige Vicky.
»Wird es bei uns bleiben?«, wollte ihre Schwester Angelika wissen.
»Wir werden sehen«, wich Denise von Schoenecker aus. »Erst einmal muss Frau Dr. Frey das kleine Mädchen untersuchen. Es könnte ja sein, dass es krank ist und ins Krankenhaus muss.«
Die kleine Heidi Holsten, der Liebling von Sophienlust, fasste nach Denises Hand. »Tante Isi, kann ich mit dem kleinen Mädchen spielen? Es darf auch meine Kaninchen anfassen.«
»Das ist aber lieb von dir, Heidi«, meinte Denise und strich der Kleinen über die blonden Haare. »Aber unser Findling muss erst einmal richtig ausschlafen. Nachher dürft ihr alle die Kleine sehen.« Sie folgte Frau Dr. Frey in das Erste-Hilfe-Zimmer.
»Unzweifelhaft hat das Kind ein Schlafmittel bekommen«, sagte Frau Dr. Frey, während sie das kleine Mädchen untersuchte. »Es gibt Anzeichen dafür, dass die Wirkung nachlässt.« Sie legte das entkleidete Kind auf eine Waage und schrieb dessen Gewicht auf eine Karteikarte. »Soweit ich es bisher beurteilen kann, ist die Kleine kerngesund. Wurde die Polizei schon benachrichtigt?«
»Ja, sofort nachdem wir das Kind gefunden hatten«, sagte Frau Rennert. »Polizeimeister Kirsch versprach, so bald wie möglich zu kommen.«
Die Kleine begann sich zu regen. Sie streckte die zierlichen Gliedmaßen und schlug dann die Augen auf, die dunkelbraun waren. Als sie die fremden Frauen über sich gebeugt sah, verzog sie ihr Mündchen zum Weinen. Zwei Tränen kullerten ihr über die Wangen.
»Wer wird denn weinen wollen?«, fragte Schwester Regine liebevoll und nahm das Kind auf ihren Arm. Zärtlich wiegte sie es hin und her.
»Mama«, sagte die Kleine klar und deutlich. »Will Mama gehen.«
»Wie heißt du denn?«, fragte die Schwester und setzte sich mit der Kleinen auf einen Hocker. Gespannt beobachteten die anderen Frauen sie.
»Mama!«, sagte das Kind wieder. »Mama fort!«
»Ja, deine Mama ist fort«, sagte Schwester Regine und hielt die Kleine hoch. »Na, wie heißt du, kleiner Schatz?«
Das Kind jauchzte auf. Es schien ihm zu gefallen, so hoch über dem Gesicht von Schwester Regine zu schweben. Als die Schwester es wieder auf ihren Schoß setzen wollte, rief es: »Noch!«
»Erst musst du mir sagen, wie du heißt«, forderte Schwester Regine. »Wie sagt denn deine Mama immer zu dir?«
Die Kleine schien angestrengt zu überlegen. »Talie«, sagte sie dann. »Mamas Talie!«
»Vermutlich eine Abkürzung«, seufzte Frau Rennert.
»Aber immerhin schon ein kleiner Hinweis«, meinte Denise von Schoenecker.
Es klopfte. »Herein!«, rief Frau Rennert.
Ulla trat ins Zimmer. Sie blickte auf das Kind in den Armen von Schwester Regine und sagte vorwurfsvoll: »Sie wollten mich rufen, wenn es aufwacht. Ich habe es doch gefunden.«
Schwester Regine stand auf und legte dem Hausmädchen die Kleine in die Arme. »Ich habe Sie nicht vergessen, Ulla. Talie heißt unser kleiner Findling.«
»Talie, das ist wohl die Abkürzung von Natalie«, meinte Ulla.
»Natürlich, Natalie!«, rief Denise aus. »Dass wir nicht darauf gekommen sind!«
»Ich habe einen Schlager mit diesem Titel erst heute Morgen im Radio gehört«, sagte Ulla stolz. »Heißt du Natalie?«, fragte sie das Kind.
»Talie«, sagte die Kleine. »Mammas Talie!« Sie lächelte und machte dann »Mamam.«
»Sie hat Hunger.« Denise von Schoenecker nahm Ulla das Kind ab. »Dann wollen wir dich erst einmal füttern, kleine Maus.« Sie trat mit der Kleinen in die Halle und wurde sofort von den dort noch immer wartenden Kindern umringt.
»Oh, ist die aber süß!«, rief Irmela Groote, ein fünfzehnjähriges Mädchen. »Darf ich sie auch einmal halten?«
»Später«, wurde sie von Denise vertröstet. »Erst muss Talie etwas zu essen bekommen.«
»Natalie ganz liebes Kind«, sagte das kleine Mädchen und griff mit seinen Händchen in Denises schwarze Haare.
»Tatsächlich, Ulla hat recht, sie heißt Natalie!«, rief Frau Rennert. Sie wollte Denise von Schoenecker in den Speisesaal folgen, wurde daran aber von Polizeimeister Kirsch gehindert, der soeben eingetroffen war. Sie führte den Polizeimeister in ihr Büro. Wenig später kam auch Denise dazu, die Natalie wieder Schwester Regina übergeben hatte.
»Alles, was wir von der Kleinen bisher wissen, ist, dass sie Natalie heißt«, sagte Frau Rennert.
»Ich habe in der Zwischenzeit bereits in Wildmoos Erkundigungen eingezogen«, berichtete Polizeimeister Kirsch. »Keiner kann sich erinnern, gestern eine fremde Frau mit einem kleinen Kind gesehen zu haben.«
»Vermutlich ist Natalies Mutter erst nachts in diese Gegend gekommen. Sie hat das Kind gebracht und ist gleich wieder fortgefahren.«
»Aber sie muss zumindestens mit der Anlage des Kinderheimes vertraut sein«, meinte Polizeimeister Kirsch.
»Ich nehme an, dass sie zuvor genaue Erkundigungen über Sophienlust eingeholt hat. Die Kleine macht keinen verwahrlosten Eindruck«, sagte Frau Rennert. »Ihre Kleidung ist zwar ziemlich ärmlich, aber gepflegt.«
»Trotz allem ist es eine Rabenmutter«, sagte der sonst so gutmütige Polizeimeister. »Wenn man bedenkt, was dem Kind hätte alles passieren können … Und dann der Kleinen auch noch ein Schlafmittel einzuflößen! Wer weiß, wie lange sie schon in ihrem Bettchen vor der Halle lag.«
»Ich würde sagen, die Mutter hat äußerst leichtfertig gehandelt«, meinte Denise. »Ich glaube aber, sie ist in großer seelischer Not.«
»Sie wollen die Mutter doch nicht etwa entschuldigen?«, fragte Polizeimeister Kirsch und sah Denise von Schoenecker erstaunt an.
»Nein, das will ich keineswegs.« Denise lächelte. »Ich versuche nur, mich in die Situation der Mutter hineinzudenken. Was mag sie dazu getrieben haben, ihr Kind auszusetzen?«
»Das Übliche«, erklärte der Polizeimeister. »Erst wird ein Kind leichtfertig gezeugt, und dann wird es lästig. Man will seine Ruhe haben.«
»Ich weiß nicht«, sagte nun auch Frau Rennert. »Vermutlich liegt die Sache in diesem Fall etwas anders. Es ist nur so eine Ahnung, aber auch ich glaube, dass wir es mit der Verzweiflungstat einer jungen Mutter zu tun haben.«
»Auf jeden Fall müssen wir alles tun, um Natalies Herkunft zu klären«, sagte Polizeimeister Kirsch energisch. »Und sollte mir die sogenannte Mutter der Kleinen einmal beim Verhör gegenübersitzen, so werde ich ihr schon sagen, was ich von ihr halte.«
Bevor Polizeimeister Kirsch nach Wildmoos zurückfuhr, lief er zum Spielplatz, wo die Kinder unter Aufsicht von Schwester Regine spielten. Gewöhnlich hielten sich die älteren Sophienluster Zöglinge nicht hier auf, aber es waren Ferien, und nichts war an diesem Tag so interessant wie die kleine Natalie, die im Sandkasten saß und Sandkuchen buk.
»Besser als hier wird die Kleine nirgends aufgehoben sein«, meinte der Polizeimeister zu Schwester Regine. »Sophienlust ist ein wahres Paradies für Kinder.«
»Und trotzdem kann das beste Heim nicht eine richtige Familie ersetzen«, sagte Schwester Regine nachdenklich. »Wir haben zurzeit ein kleines Mädchen hier, das Gisela Reimann heißt. Obwohl es zu Hause grob vernachlässigt wurde – der Vater hat die Mutter vor einem halben Jahr verlassen und diese ist zurzeit in einer Trinkerheilanstalt –, verzehrt sich die Kleine vor Heimweh.«
»Wenn sie sich erst einmal eingewöhnt hat, wird sie nicht mehr nach Hause wollen«, meinte der Polizeimeister zuversichtlich.
»In diesem Fall werden Sie sich irren. Gisela liebt ihre Mutter abgöttisch. Man kann nur hoffen, dass die Kur Frau Reimann vom Trinken befreit und sie ihrer Kleinen dann ein wirkliches Heim bieten kann.« Schwester Regine hob Natalie aus dem Sandkasten und begleitete mit ihr zusammen den Polizeimeister zu seinem Wagen.
»Auf Wiedersehen, mein Kleines«, sagte Herr Kirsch und strich Natalie über die Wangen. »Deine Rabenmutter werden wir schon noch finden. Und
dann …!« Ohne seinen Satz zu beenden, stieg er in den Wagen ein und fuhr davon.
»Ade, ade!«, rief Natalie und winkte. Dann wandte sie ihr Gesichtchen wieder der Kinderschwester zu.
Am Nachmittag kamen zwei Reporter der Maibacher Kreiszeitung nach Sophienlust. Ulla war sehr stolz, dass sie berichten durfte, wie sie Natalie gefunden hatte. Als einer der Reporter dann von ihr mit Natalie auf den Armen ein Foto machte, strahlte sie vor Glück.
»Wir werden auch dafür sorgen, dass die Bevölkerung in der ganzen Bundesrepublik alarmiert wird«, versprachen die Journalisten Denise von Schoenecker. »Sie können sicher sein, man wird die Mutter von Natalie finden.«
»Wir wollen es hoffen«, sagte Denise. »Für Natalies Schicksal ist es jedenfalls sehr wichtig. Das Kind braucht so bald wie möglich wieder eine Familie. Wenn die Mutter nicht bereit ist, das Kind aufzuziehen, so muss sie uns doch wenigstens die Einwilligung zur Adoption geben.«
»Können wir Natalie nicht bei uns behalten?«, fragte Henrik, der mit seiner Mutter nach Sophienlust gekommen war. »Ich hätte gern noch eine kleine Schwester.«
»Damit du nicht mehr der Jüngste in der Familie bist«, meinte Denise lächelnd. »Du bist erkannt, mein Sohn.«
»Wirklich, Mutti, ich hätte gern so eine Schwester wie Natalie.«
»Es geht nicht, Henrik«, sagte Denise von Schoenecker. »So ein kleines Kind braucht sehr viel Pflege, und ich habe nicht die Zeit, mich darum zu kümmern. Natalie braucht eine Mutter, die den ganzen Tag um sie sein kann.«
»Aber du wirst doch eine sehr, sehr liebe Mutti für sie suchen?«, forschte Henrik.
»Ich werde es wenigstens versuchen«, versprach Denise ihrem Sohn.
*
»Stell dir vor, Martina, da ist schon wieder ein Kind ausgesetzt worden«, sagte Detlev Günther beim Frühstück zu seiner Frau und reichte ihr die Morgenzeitung. »Ich kann solche Eltern nicht verstehen.«
»Ich auch nicht«, meinte Martina. »Was für ein hübsches Kind das ist. Jede Mutter müsste doch auf ein solches Engelchen stolz sein.«
»Was für ein Engelchen, Mutti?«, fragte der siebenjährige Rainer. Verlangend blickte er zu der Zeitung. Er war dem Gespräch seiner Eltern wie immer aufmerksam gefolgt, aber er hatte noch nicht begriffen, wovon sie sprachen. »Ich habe noch nie ein richtiges Engelchen gesehen. Nur letztes Jahr zu Weihnachten die Renate beim Krippenspiel. Aber sie hatte sich nur verkleidet.«
Martina Günther zeigte dem Jungen das Bild in der Zeitung. »Ein richtiges Engelchen ist dieses kleine Mädchen natürlich nicht. Aber die Kleine sieht doch wirklich lieb aus, oder?«
Rainer nickte. Mühsam buchstabierte er: »Wer kennt die kleine Natalie?« Er blickte seine Mutter an. »Wird mein Schwesterchen auch so aussehen?«
»Wir wissen doch noch gar nicht, ob uns der liebe Gott ein Schwesterchen oder ein Brüderchen schenkt«, sagte Martina.
»Ich wünsche mir aber ein Schwesterchen.« Rainer langte nach seiner Tasse und nahm einen Schluck Kakao. »Weißt du, Mutti, ich möchte so ein Schwesterchen haben, wie der Gerd es hat. Marlis hat auch so schöne Locken wie das kleine Mädchen in der Zeitung.«
Detlev Günther warf seiner Frau über den Tisch hinweg einen liebevollen Blick zu. »Da können wir ja nur hoffen, dass unser Herr Sohn nicht enttäuscht wird, Marty!«
Martina Günther war im vierten Monat schwanger. Sie und ihr Mann hatten lange überlegt, ob sie die geplante Reise nach Frankreich für zwei Jahre verschieben sollten, aber der Bungalow in Biarritz war schon seit dem Winter bestellt, und sie sehnten sich danach, wieder einmal für einige Wochen dort zu leben, wo sie ihre Flitterwochen vor nunmehr acht Jahren verbracht hatten. Rainer war ein Wunschkind gewesen. Jahrelang hatten sie auf ein zweites Kind gehofft und schon die Hoffnung aufgegeben, doch nun war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen.
»Ich kann es kaum noch erwarten, Marty, unser Kleines in den Armen zu halten«, meinte Detlev und küsste seine Frau zärtlich.
Rainer drängte sich zwischen seine Eltern. Verlangend streckte er seinem Vater die Arme entgegen.
Detlev zog seinen Sohn an sich und küsste auch ihn. »Du bist ein eifersüchtiger kleiner Strolch«, meinte er. »Wie soll das erst werden, wenn das Geschwisterchen da ist?« Er schob Rainer von sich. »Es wird Zeit, dass ich mich um den Wagen kümmere. Hilfst du mir, Rainer?«
»Ja, Vati«, antwortete der Junge.
»Und ich werde die restlichen Sachen packen«, meinte Martina. Während ihr Mann und ihr Sohn das Haus verließen, stieg sie die Treppe zu den Schlafzimmern empor. Auf einem Hocker in Rainers Zimmer stand sein Koffer. Den größten Teil hatte Martina bereits eingepackt, aber sie wollte alles noch einmal überprüfen, damit dieses Jahr auch wirklich nichts vergessen wurde.
Der Tag verging schnell. Am Nachmittag nahmen die Günthers Abschied von einigen Nachbarn, übergaben die Hausschlüssel der neben ihnen wohnenden Familie und setzten sich dann zum letzten Mal für drei Wochen zum Abendbrot an ihren Esszimmertisch.
Rainer rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Ich habe wirklich gar keinen Hunger«, sagte er.
»Aber etwas wird gegessen«, meinte Detlev streng.
»Bitte, Vati!«, maulte Rainer.
»So lass ihn doch«, lenkte Martina ein. »Rainer wird schon nicht gleich verhungern. Er ist jetzt viel zu aufgeregt, um sich auf das Essen konzentrieren zu können.«
»Also gut, mein Sohn«, erlaubte Detlev. »Geh noch ein wenig zu deinem Freund Jan, aber um Punkt sieben Uhr bist du bitte wieder hier, sonst fahren wir ohne dich nach Frankreich.«
Rainer sprang auf und lief hinaus. Durch das Fenster sahen seine Eltern ihn in das Nachbarhaus rennen. »Was wird er wohl die drei Wochen ohne Jan machen?«, fragte Detlev. »Hoffentlich langweilt er sich nicht in Biarritz.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Martina. »Im Feriendorf wird es um diese Jahreszeit genug Kinder geben. Rainer findet schnell Freunde.«
»Nächstes Jahr werden wir wohl auf unseren Urlaub verzichten müssen«, sagte Detlev. »Unser Kleines sollte mindestens ein Jahr alt sein, bevor wir mit ihm eine weite Reise machen.«
»Für diesen Preis verzichte ich gern auf meinen Urlaub«, sagte Martina. »Und Rainer wird ein stolzer Bruder sein. Er hat mir angeboten, das Kleine jeden Nachmittag im Kinderwagen auszufahren.«
»Solange der Reiz des Neuen anhält«, meinte Detlev lächelnd. »Ich kenne doch unseren Sohn. Außerdem nimmt er an, dass er sofort mit dem Baby spielen könne. Ich habe vergeblich versucht, es ihm auszureden.«
»Wenn es erst einmal da ist, wird Rainer schon vernünftig sein«, sagte Martina.
Punkt neunzehn Uhr fand sich Rainer wieder bei seinen Eltern ein. In seinen Händen hielt er ein Päckchen mit Süßigkeiten, die er von Jans Mutter geschenkt bekommen hatte.