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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Tante Isi!« Die kleine Heidi Holsten stürzte aus dem Portal des Kinderheims Sophienlust in die Arme von Denise von Schoenecker, die eben mit einem Besucher die Treppe emporkam. »Tante Isi, ich muß dir etwas ganz Wichtiges erzählen!« Sie schlang ihre Arme um die Gutsbesitzerin und blickte mit strahlenden Augen zu ihr empor. »Etwas ganz, ganz Wichtiges!»So, was ist es denn, Heidi?« fragte Denise von Schoenecker lächelnd und strich der Kleinen über die blonden Haare, die zu zwei abstehenden Rattenschwänzchen geflochten waren.Heidi ließ Denise los. »Der Peter hat im Aufsatz eine Zwei bekommen«, sagte sie, geheimnisvoll wispernd. »Eigentlich sollte ich es nicht verraten, aber ich wollte es dir doch als erste sagen.»Da wird Peter aber jetzt traurig sein«, meinte Denise.»Meinst du wirklich?« fragte Heidi und blickte betreten auf die Treppenstufen. Dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf. »Nein, Tante Isi, der Peter ist ganz bestimmt nicht traurig«, meinte sie. »Er freut sich doch so sehr, daß er nicht wieder eine Vier hat.»Wo ist Peter denn überhaupt?« erkundigte sich Denise.»Mit Pünktchen, Irmela, Fabian und Vicky bei den Ponys«, berichtete Heidi. Erst jetzt blickte sie zu dem fremden Mann empor, der in Denises Begleitung war.
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Seitenzahl: 152
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»Tante Isi!« Die kleine Heidi Holsten stürzte aus dem Portal des Kinderheims Sophienlust in die Arme von Denise von Schoenecker, die eben mit einem Besucher die Treppe emporkam. »Tante Isi, ich muß dir etwas ganz Wichtiges erzählen!« Sie schlang ihre Arme um die Gutsbesitzerin und blickte mit strahlenden Augen zu ihr empor. »Etwas ganz, ganz Wichtiges!«
»So, was ist es denn, Heidi?« fragte Denise von Schoenecker lächelnd und strich der Kleinen über die blonden Haare, die zu zwei abstehenden Rattenschwänzchen geflochten waren.
Heidi ließ Denise los. »Der Peter hat im Aufsatz eine Zwei bekommen«, sagte sie, geheimnisvoll wispernd. »Eigentlich sollte ich es nicht verraten, aber ich wollte es dir doch als erste sagen.«
»Da wird Peter aber jetzt traurig sein«, meinte Denise.
»Meinst du wirklich?« fragte Heidi und blickte betreten auf die Treppenstufen. Dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf. »Nein, Tante Isi, der Peter ist ganz bestimmt nicht traurig«, meinte sie. »Er freut sich doch so sehr, daß er nicht wieder eine Vier hat.«
»Wo ist Peter denn überhaupt?« erkundigte sich Denise.
»Mit Pünktchen, Irmela, Fabian und Vicky bei den Ponys«, berichtete Heidi. Erst jetzt blickte sie zu dem fremden Mann empor, der in Denises Begleitung war. »Hast du auch ein Kind, das du nach Sophienlust bringen willst?« fragte sie ihn und ergriff vertrauensvoll seine Hand.
Roland Breitner gefiel die muntere Kleine. Er fand, sie machte so gar nicht den Eindruck eines Heimkindes. »Ich habe eine kleine Tochter, die Ines heißt«, erwiderte er. »Aber nach Sophienlust kann ich sie nicht bringen, denn sie wohnt bei ihrer Mutti.«
»Wohnst du nicht bei deiner Tochter?« fragte Heidi und steckte den Zeigefinger ihrer linken Hand in den Mund.
»Nein, ich wohne nicht bei meiner Tochter«, sagte Roland. »Weißt du, meine Frau und ich, wir haben uns scheiden lassen, Ines wurde meiner Frau zugesprochen. Aber das wirst du noch nicht verstehen.« Er unterdrückte einen Seufzer. »Wie alt bist du denn, Heidi?«
»Fünf!« Heidi überlegte, dann fragte sie: »Gefällt es dir in Sophienlust? Ich bin gern hier.«
»Mir gefällt es hier sehr gut«, erwiderte Roland Breitner amüsiert und fügte hinzu: »Sag Onkel Roland zu mir, ja?«
Heidi nickte ernsthaft. »Wie alt ist deine Tochter, Onkel Roland?«
»Sie ist vor einer Woche neun geworden.«
»Was hast du ihr denn geschenkt?«
»Heidi, jetzt reicht’s erst einmal«, meinte Denise von Schoenecker, bevor Roland Breitner antworten konnte. »Man kann manchmal auch etwas zu neugierig sein.«
»Stimmt, ich bin neugierig«, gab Heidi unumwunden zu. »Weißt du was, Tante Isi?« fragte sie, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr sogleich fort: »Ich laufe jetzt zu den Ponys und sage Peter, daß du da bist. Aber ich verrate ihm nicht, daß ich dir das mit der Zwei schon erzählt habe.«
»Und ich werde es ihm auch nicht verraten«, versprach Denise gerührt. Sie gab Heidi einen liebevollen Klaps. »Ab mit dir!«
»Bin schon weg!« Heidi rannte die Treppe hinab. Sie wollte bereits um das Haus herumlaufen, als sie stehenblieb und sich umwandte. »Bis nachher, Onkel Roland!« rief sie und winkte.
»Bis nachher, Heidi.« Roland Breitner hob seine Hand ebenfalls, um zu winken, aber Heidi sah es nicht mehr, denn sie war bereits auf dem Weg zu den Koppeln. »Ein richtiger kleiner Wirbelwind«, meinte er. »So war meine Ines in diesem Alter auch.«
»Wie lange haben Sie Ihre Tochter nicht mehr gesehen?« fragte Denise, während sie zusammen mit dem Besucher die geräumige Halle des Kinderheims betrat. Sie spürte, daß er sich nach seiner Tochter sehnte.
»Seit einem Jahr«, antwortete Roland. Bewundernd ließ er seine Augen durch die Halle gleiten. Wie herrlich mußte man hier spielen können! Der offene Kamin mit dem Bärenfell davor machten die Halle noch gemütlicher, als sie sowieso schon war. Mit einem hochlehnigen Sofa und mehreren bequemen Ledersesseln hatte sie etwas Anheimelndes an sich.
In Gedanken sah Roland Breitner seine Tochter mit einem Buch in den Händen auf dem Bärenfell liegen und lesen. Sie war eine richtige Leseratte gewesen, seine kleine Ines. Wie oft hatte er sich während der letzten zwölf Monate gefragt, wie es ihr wohl gehe.
»Aber Ihnen steht doch ein Besuchsrecht zu«, meinte Denise mit gerunzelter Stirn. »Oder haben Sie darauf verzichtet?«
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Roland, »aber was nutzt das Besuchsrecht, wenn ich nicht einmal weiß, wo meine Tochter ist? Susanne, meine geschiedene Frau, ist damals mit ihr nach Frankreich gegangen. Sie wollte mir Ines während der Ferien schicken, aber sie hat es nicht getan. Als ich mich nach ihr erkundigte, hieß es nur, Frau Breitner wäre verzogen.« Er atmete tief durch. »Kurz vor unserer Scheidung hatte meine Frau eine größere Erbschaft gemacht. Deswegen lehnte sie jegliche Unterhaltszahlungen ab. So weiß ich jetzt nicht einmal ihre Bankverbindung.«
»Und Sie haben nie herausbekommen können, wo Ihre geschiedene Frau mit Ihrer Tochter lebt?«
»Was habe ich nicht schon alles versucht, um ihre Adresse zu erfahren. Selbst eine Detektei hatte ich eingeschaltet, doch alles war ergebnislos.« Roland zuckte erbittert mit den Schultern. »Inzwischen wird Ines gar nicht mehr wissen, daß sie einen Vater hat. Sie muß doch glauben, ich hätte sie im Stich gelassen. Wer weiß, was Susanne ihr alles über mich erzählt hat.«
»Trotzdem sollten Sie nicht aufgeben, Herr Breitner«, meinte Denise. »Ihre Tochter muß wissen, daß Sie sie lieben. Nichts ist für ein Kind schlimmer als der Gedanke, daß es verstoßen worden sei.«
»Das glaube ich Ihnen gern, Frau von Schoenecker, zumal Sie ja viel mehr Erfahrung mit Kindern haben als ich, aber was soll ich machen?« Resignierend streckte er die Hände vor. »Mein Beruf zwingt mich, immer wieder monatelang ins Ausland zu gehen. Wie Sie wissen, fliege ich in einer Woche nach Peru. Vermutlich werde ich die nächsten vier bis fünf Monate in Peru bleiben müssen. Das sind dann wieder fünf Monate, in denen ich mich nicht um Ines kümmern kann.«
»Vielleicht können mein Mann und ich Ihnen helfen, Herr Breitner«, sagte Denise. »Na ja, wir haben in den nächsten Tagen noch genug Zeit, darüber zu sprechen. Jetzt werde ich Sie erst einmal, wie ich es Ihnen versprochen habe, durch Sophienlust führen.«
»Ich bin schon sehr gespannt, Frau von Schoenecker«, sagte Roland Breitner und strich sich mit gespreizten Fingern durch seine vollen dunklen Haare. »Ich habe in den letzten Wochen einige Berichte über Kinderheime und Heimkinder gelesen, aber ich muß sagen, das, was ich bisher hier zu sehen bekam, widerspricht allem, was ich erwartet hatte.«
»Sophienlust ist kein gewöhnliches Kinderheim«, erwiderte Denise von Schoenecker. Sie führte Roland Breitner die Treppe in den ersten Stock empor und zeigte ihm die Zimmer, in denen jeweils zwei Kinder wohnten.
Schwester Regine kam gerade mit einem Dreijährigen an der Hand durch den Gang, als Denise und Roland aus dem Waschraum traten. Grüßend blieb sie stehen.
»Ach, Schwester Regine!« Denise von Schoenecker machte sie mit Roland Breitner bekannt. »Schwester Regine ist sozusagen der gute Geist von Sophienlust«, meinte sie mit einem charmanten Lächeln. »Es gibt kaum ein Kind, dessen Vertrauen sie nicht sofort gewinnt.«
»Dann müssen Sie Kinder sehr lieben«, meinte Roland. Die junge Frau gefiel ihm. Er schätzte sie auf etwa neunundzwanzig Jahre und verstand, daß die Kinder sie mochten.
»Ich liebe Kinder über alles«, erklärte Schwester Regine. Sie drückte zärtlich die Hand des kleinen Jungen, der neben ihr stand und äußerst mißtrauisch zu Roland Breitner aufsah.
»Spielen gehen!« forderte der Kleine und wollte die Kinderschwester in Richtung Treppe ziehen, schaffte es aber nicht. Sein kleines, rundes Gesichtchen verzog sich vor Unwillen. »Komm, Schwester Regine!«
»Gleich, Florian!« Die junge Frau bückte sich und hob den Knirps hoch. Florian verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter. Er hatte noch Angst vor fremden Leuten. Vor allen Dingen vor fremden Männern.
»Dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten, Schwester Regine«, meinte Denise freundlich. »Bis später!«
»Gibt es hier noch jüngere Kinder als Florian?« erkundigte sich Roland Breitner interessiert.
»Im Moment nicht«, erwiderte Denise. »Florian ist eines unserer Sorgenkinder. Seine Eltern haben sich vor knapp acht Monaten scheiden lassen. Er wurde der Mutter zugesprochen, die kurz darauf wieder heiratete. Ihr zweiter Mann hatte von Anfang an etwas gegen den Kleinen. Florian wurde von ihm immer wieder mißhandelt. Das Jugendamt wurde erst nach Wochen von den Nachbarn informiert. Zu uns kam Florian vor drei Monaten, nachdem er zuvor wochenlang im Maibacher Krankenhaus lag. Langsam erholt er sich jetzt, aber er wird wohl noch eine Zeitlang unter seinen Ängsten zu leiden haben.«
»Und sein Vater?«
»Er hat ebenfalls wieder geheiratet. Seine Frau will das Kind ebenfalls nicht. Wir bemühen uns gerade, Adoptiveltern für den Jungen zu finden.«
»Haben alle Kinder von Sophienlust ein so schreckliches Schicksal?«
»Leider ja«, antwortete Denise. »Das heißt, jedenfalls die meisten von ihnen. Sie ahnen nicht, Herr Breitner, wozu Eltern und sonstige Erziehungsberechtigte fähig sind.« Sie öffnete die Tür zu einem hellen sonnigen Raum. »Das hier ist mein Zimmer! Ab und zu übernachte ich in Sophienlust.«
»Und Ihr Mann? Ist Ihr Mann damit einverstanden, Frau von Schoenecker?« fragte Roland Breitner überrascht.
Denise lächelte. »Alexander steht voll und ganz hinter meiner Arbeit. Wenn es darum geht, einem Kind zu helfen, versucht er genauso wie ich alles Mögliche zu tun.« Sie schloß die Tür wieder. »Jetzt gehen wir unten Kaffee trinken, und dann zeige ich Ihnen die übrigen Räume des Heims.«
Die beiden stiegen gerade die Treppe hinab, als einige Kinder in die Halle stürmten. »Ich habe eine Zwei, Tante Isi! Ich habe eine Zwei!« rief ihnen ein etwa neunjähriger Junge entgegen. Er rannte auf Denise zu. »Freust du dich auch, daß ich eine Zwei habe, Tante Isi?« fragte er.
»Natürlich freue ich mich, Peter«, sagte Denise und drückte den Jungen kurz an sich. »Eigentlich verdient das ja eine Belohnung. Laufe zu Magda in die Küche und sage ihr, daß sie für heute abend einen besonders guten Nachtisch machen soll.«
»Ja, Erdbeereis!« rief Heidi begeistert.
»Ich habe die Zwei!« Peter schaute Heidi, die zwischen Pünktchen und Irmela stand, empört an.
»Magst du kein Erdbeereis?« fragte Heidi und griff nach Peters Hand. »Ich mag es sehr gern.«
»Doch, ich mag auch Erdbeereis«, bestätigte Peter. »Also, wenn du willst?« Schon rannte er mit Heidi zur Küche, um Magda Bescheid zu sagen.
»So ein Racker!« Denise lachte. Sie machte Roland Breitner mit den anderen Kindern bekannt. »Hast du Nick gesehen, Pünktchen?« fragte sie die dreizehnjährige Angelina Dommin, die wegen ihrer vielen Sommersprossen von allen Pünktchen genannt wurde.
Pünktchen schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube auch nicht, daß er heute nach Sophienlust kommen wird, Tante Isi. Er hat im Bus zu mir gesagt, daß er für die Mathearbeit morgen büffeln muß.«
»Mathematik war für mich in der Schule das Schlimmste«, sagte Roland Breitner lachend. »Ich kann jeden, der eine Mathearbeit schreiben muß, nur bedauern.«
»Ich bin nächste Woche dran«, meinte Pünktchen düster, dann zuckte sie mit den Schultern. »Bis dahin ist ja noch eine Woche Zeit.«
»Man muß sich nur zu trösten wissen.« Roland lachte. Sein Blick blieb an der kleinen Vicky Langenbach hängen. Wieder mußte er an Ines denken. Wo mochte sie jetzt sein? Bekümmert folgte er Denise ins Biedermeierzimmer.
*
»Ines, trödle nicht so!«
»Ich bin gleich fertig, Mutti!« Langsam schloß Ines Breitner die letzten Knöpfe ihrer Wolljacke. Dann schaute sie aus dem Fenster. Unter ihr lag Rom mit seinen alten Häusern, Gassen und Gäßchen, den breiten Avenuen und den Ruinen aus der Vergangenheit. Obwohl sie erst neun Jahre alt war, spürte sie bereits den Zauber dieser Stadt.
»Ines!« Susanne Breitner erschien in der Tür des Kinderzimmers. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, hatte halblange blonde Haare und blaue Augen. Obgleich man sie eigentlich eine Schönheit nennen konnte, wirkte ihr Gesicht manchmal etwas zu streng. Ihre Augen ruhten mißbilligend auf ihrer Tochter, die ihr seit Wochen nichts als Schwierigkeiten machte.
»Ich bin schon fertig, Mutti«, sagte Ines lustlos. Sie griff nach dem roten Täschchen, das Susanne ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Laß dich ansehen!« Susanne beugte sich zu ihrer Tochter hinab, glättete den Kragen der Wolljacke, zog Ines die Kniestrümpfe noch etwas höher und ergriff dann die rechte Hand ihrer Tochter. »Warum trägst du dein Armband nicht, Ines?«
»Ich mag es nicht!«
»Es ist ein so hübsches Armband, Ines.« Susanne schaute sich um. »Wohin hast du es gelegt?«
Ergeben ging Ines zu ihrer Wäschekommode und holte aus ihr die kleine Schachtel heraus, die das Armband enthielt. »Da ist es!« Sie hielt ihrer Mutter die geschlossene Schachtel entgegen.
Susanne seufzte laut auf. Warum wollte Ines nicht begreifen, wie wichtig es war, einen guten Eindruck zu machen?
Susanne Breitner verstand nicht, was ihre Tochter gegen Ramon Corteli hatte. Ihr Verlobter gab sich wirklich alle Mühe, mit Ines Freundschaft zu schließen, aber das Kind wies ihn von sich. »Halte deinen Arm hoch!« befahl sie jetzt. Behutsam legte sie das feine Goldarmband um Ines’ Handgelenk und schloß es. »Und wehe, wenn es heute abend nicht mehr an deinem Arm ist! Du kannst mir dann nicht erzählen, daß du es nicht absichtlich verloren hast!«
Ines bedachte das Armband mit einem wütenden Blick. Eigentlich gefiel es ihr, aber da Ramon Corteli es ihr geschenkt hatte, mochte sie es nicht. »Warum müssen wir immer mit Onkel Ramon fortgehen?« fragte sie. »Allein ist es viel schöner.« Sie blickte zu ihrer Mutter empor. »Könnten wir nicht nach Deutschland fliegen und Vati besuchen?«
»Ines, mach mich bitte nicht böse!« Susanne Breitner nahm ihre Tochter bei der Hand und ging mit ihr in den Korridor. »Und jetzt setzt du dich brav ins Wohnzimmer, bis Onkel Ramon kommt.«
»Ich möchte hierbleiben.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage, Ines!« Susanne öffnete die Wohnzimmertür und schob ihre Tochter ins Zimmer. »Und nun sei brav. Onkel Ramon wird gleich kommen.« Sie strich ihr geistesabwesend über die dunklen Haare.
Gehorsam setzte sich Ines auf einen Stuhl am Fenster. Sie beobachtete durch die offene Tür, wie sich ihre Mutter vor dem Garderobenspiegel nochmals kämmte. Da hatte sie sich nun beeilen müssen, und dann kam Signor Corteli wie immer zu spät!
Bei sich nannte Ines den Italiener niemals Onkel Ramon, wie ihre Mutter es verlangte. Sie haßte es, mit ihrer Mutter und Ramon Corteli ausgehen zu müssen. Immer mußte sie dann auf ihr Kleid achten, und auf keinen Fall durfte sie es schmutzig machen, weil Ramon Corteli schmutzige Kinder nicht mochte.
Es klingelte. Susanne Breitner warf einen letzten Blick in den Spiegel und öffnete dann die Wohnungstür. Mit strahlenden Augen blickte sie dem etwa sechsunddreißigjährigen Italiener entgegen, der mit einem riesigen Blumenstrauß auf der Schwelle stand.
»Es tut mir leid, Susi, aber mein Vater hat mich aufgehalten«, sagte Ramon Corteli. Liebevoll nahm er Susanne in die Arme und küßte sie mitten auf den Mund. »Ich dachte schon, Vater würde das Gespräch niemals beenden. Du weißt ja, wie er ist.«
Susanne nickte. »Hat er meinetwegen angerufen, Ramon?«
Ramon Corteli nickte. Er strich Susanne über die Wange. »Mach dir nichts daraus, Susi«, meinte er. »Du wirst sehen, in einigen Wochen werden meine Eltern sich mit dir abgefunden haben. Es ist für sie nur noch etwas ungewohnt, daß ich eine geschiedene Frau heiraten will.«
»Du untertreibst, Ramon«, sagte Susanne Breitner bedrückt. Sie kannte Ramons Eltern und wußte genau, daß sich weder der Vater noch die Mutter so ohne weiteres mit ihr abfinden würden. In den Augen von Ramons Eltern war sie eine gezeichnete Frau. Sie verstanden nicht, daß ihr Sohn ausgerechnet eine geschiedene Deutsche heiraten wollte und nicht das Mädchen, das sie für ihn ausgesucht hatten.
»Denken wir jetzt nicht an die Eltern«, schlug Ramon vor und gab Susanne die Blumen. »Wo ist Ines?«
»Im Wohnzimmer.« Susanne sog den Duft der Blumen ein. »Du solltest mich nicht so verwöhnen«, meinte sie, wenn auch nur halbherzig, denn sie liebte die Aufmerksamkeiten, mit denen Ramon sie überschüttete.
»Du weißt, daß es mir Freude macht, Susi.« Ramon Corteli beugte sich über sie und küßte sie flüchtig auf die Stirn. Dann ging er an ihr vorbei ins Wohnzimmer.
Ines saß noch immer am Fenster. Sie schaute zur Tür, als Ramon eintrat, stand aber nicht auf. Sie zeigte ihm so sehr deutlich, daß sie ihn nicht mochte.
»Ines, Prinzeßchen!« Mit ausgebreiteten Armen ging Ramon auf die Kleine zu. Er griff in seine Jackettasche und zog eine Tafel Schokolade heraus. »Schau, was ich dir mitgebracht habe!«
»Ich mag keine Schokolade«, sagte Ines trotzig, obwohl sie gern Süßigkeiten aß.
»Schade«, meinte Ramon. »Es ist eine sehr gute Schokolade.« Er zwinkerte Ines zu und legte die Tafel Schokolade auf den Wohnzimmertisch. »Vielleicht überlegst du es dir noch«, meinte er. Ines’ Ablehnung enttäuschte ihn stets aufs neue. Er gab sich alle Mühe, um der Kleinen näherzukommen, aber es schien sinnlos zu sein.
Ines ließ sich nicht einmal durch Geschenke bestechen. Und dabei liebte er Kinder!
Susanne Breitner trat, fertig angezogen zum Ausgehen, ins Zimmer. »Hat sie dich überhaupt schon begrüßt, Ramon?« fragte sie und blickte Ines streng an.
»Ja, natürlich, Susi«, log Ramon. Er griff nach Ines’ Hand und zog das Mädchen vom Stuhl hoch. »Rate mal, wohin wir heute fahren?«
»Weiß ich nicht, Onkel Ramon«, erwiderte Ines mit teilnahmsloser Stimme. »Es ist mir auch gleich!«
Susanne konnte sich nur noch mit Mühe beherrschen. Sie fand, das Kind wurde von Tag zu Tag schwieriger. Statt dafür dankbar zu sein, daß Ramon sich so rührend um sie kümmerte, kränkte Ines ihn ständig von neuem mit ihrer Ablehnung.
Susanne nahm sich vor, ihre Tochter am Abend noch einmal gründlich ins Gebet zu nehmen. So ging es jedenfalls nicht mehr weiter!
»Wir fahren mit dem Dampfer nach Ostia«, sagte Ramon, als habe er Ines’ Abweisung nicht bemerkt. »Ich bin
sicher, daß dir die Fahrt gefallen wird.«
»Kann sein, Onkel Ramon!« Ines umfaßte den Griff ihrer kleinen Handtasche fester und lief aus dem Zimmer. »Ich bin schon beim Wagen!« Bevor ihre Mutter sie tadeln konnte, rannte sie bereits die Treppe hinab.
»Ich weiß nicht mehr, was ich mit ihr machen soll, Ramon«, klagte Susanne. »Es tut mir leid, daß Ines kein freundliches Wort für dich hat.«
»Wir müssen ihr Zeit lassen«, meinte Ramon nachsichtig. »Es ist nicht einfach für eine Neunjährige, einen neuen Vater präsentiert zu bekommen.« Er legte seinen Arm um Susannes Schulter. »Laß uns erst einmal verheiratet sein, dann wird sich alles geben.«