Es trennten sie Welten - Anne Alexander - E-Book

Es trennten sie Welten E-Book

Anne Alexander

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Roland Becker lud Koffer und Reisetasche auf den Gepäckboy, dann blickte er sich nach seiner Frau und seiner Tochter um, die vor einer Glasvitrine standen und sich Schmuck ansahen. »Kommt!« rief er ihnen zu. Die sechseinhalbjährige Janice löste sich von der Hand ihrer Mutter. Sie rannte zu ihrem Vater. »Ich darf den Gepäckboy fahren, nicht, Daddy?« Bittend sah sie zu Roland auf. »Ich kann es schon, es ist doch ganz leicht.« Sie griff zur Lenkstange und versuchte, den schweren Wagen zu bewegen. Er rückte einige Zentimeter vorwärts, dann blieb er stehen. »Du siehst, so leicht ist es doch nicht, Janice-Darling.« Shirley Becker, eine charmante Frau von fünfunddreißig Jahren, strich ihrer Tochter über die blonden Locken. »Laß lieber Daddy schieben!« Janice seufzte. »Na gut«, meinte sie ergeben, fügte dann aber hinzu: »Wenn ich erst groß bin, ist nichts mehr für mich zu schwer!« »Das wird aber noch einige Jährchen dauern, Janice!« Roland Becker griff nach der Lenkstange des Gepäckboys und rollte ihn zur Zollkontrolle. Knapp eine Viertelstunde später standen die Beckers in der Ankunftshalle des Stuttgarter Flughafens. Janice lehnte sich an den Gepäckboy.

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Sophienlust Bestseller – 37 –

Es trennten sie Welten

Und das Schicksal brachte sie zusammen

Anne Alexander

Roland Becker lud Koffer und Reisetasche auf den Gepäckboy, dann blickte er sich nach seiner Frau und seiner Tochter um, die vor einer Glasvitrine standen und sich Schmuck ansahen. »Kommt!« rief er ihnen zu.

Die sechseinhalbjährige Janice löste sich von der Hand ihrer Mutter. Sie rannte zu ihrem Vater. »Ich darf den Gepäckboy fahren, nicht, Daddy?« Bittend sah sie zu Roland auf. »Ich kann es schon, es ist doch ganz leicht.« Sie griff zur Lenkstange und versuchte, den schweren Wagen zu bewegen. Er rückte einige Zentimeter vorwärts, dann blieb er stehen.

»Du siehst, so leicht ist es doch nicht, Janice-Darling.« Shirley Becker, eine charmante Frau von fünfunddreißig Jahren, strich ihrer Tochter über die blonden Locken. »Laß lieber Daddy schieben!«

Janice seufzte. »Na gut«, meinte sie ergeben, fügte dann aber hinzu: »Wenn ich erst groß bin, ist nichts mehr für mich zu schwer!«

»Das wird aber noch einige Jährchen dauern, Janice!« Roland Becker griff nach der Lenkstange des Gepäckboys und rollte ihn zur Zollkontrolle.

Knapp eine Viertelstunde später standen die Beckers in der Ankunftshalle des Stuttgarter Flughafens. Janice lehnte sich an den Gepäckboy. Sie war müde von dem langen Flug und hätte sich am liebsten irgendwo hingelegt, um zu schlafen. Nicht einmal der kleine Hund interessierte sie, der am Ende der Halle neben einer Reisetasche saß.

»Sieht aus, als hätte man uns vergessen«, meine Shirley, den ratlosen Blick ihres Mannes richtig deutend.

»Müssen wir jetzt nach Maibach laufen?« fragte Janice.

»Das wäre ja schrecklich«, erwiderte Roland Becker. »Außerdem hat man uns nicht vergessen!« Er wies zu dem kleinen dunkelhaarigen Mann, der mit langen Schritten quer durch die Halle kam. »Dieter!« rief er und winkte ihm zu. Dieter Hinderer hatte die Beckers erreicht. Er lachte über das ganze Gesicht. Die beiden Männer fielen sich in die Arme. »Tut mir leid, Roland, daß ich mich verspätet habe. Ich bin in einen Stau geraten.«

»Macht nichts, Dieter. Hauptsache, du bist überhaupt gekommen«, erklärte Roland. Er schmunzelte. »Meine Tochter überlegte bereits, ob wir nach Maibach laufen müssen.«

»Wäre etwas weit, kleines Fräulein«, sagte Dieter Hinderer zu Janice.

»Ich bin doch kein kleines Fräulein!« Janice kicherte. »Im Herbst komme ich in die Schule«, erzählte sie. »In New York war ich im Schulkindergarten. Ich kann schon rechnen und schreiben, und etwas lesen kann ich auch!«

»Eine ganze Menge für ein Mädchen, das noch kein kleines Fräulein sein will«, meinte Dieter Hinderer. Er hob den Kopf und sah seinen Freund an. »Sie ist genauso bezaubernd, wie du mir in deinen Briefen geschrieben hast.«

»Das hört man gern«, sagte Roland. »Aber jetzt ist es an der Zeit, daß ich dir das zweite bezaubernde Wesen in meinem Leben vorstelle!« Er nahm Shirleys Hand. »Darling, das ist Dieter, einer meiner ältesten Freunde. Während unserer Schulzeit sind wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen.«

»Vor allen Dingen, was zerbrochene Fensterscheiben und dergleichen betrifft!« warf Dieter Hinderer ein.

»Unsere Väter hatten allerhand zu tun, um uns zur Vernunft zu bringen«, sagte Roland. »Dieter, meine Frau Shirley!«

»Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen!« Shirley reichte ihm die Hand. »Roland hat mir viel von Ihren gemeinsamen Streichen erzählt!«

»Auch von den Streichen, die unsere Väter auszuteilen pflegten?« fragte Dieter und drückte ihre schmalen Finger.

»Auch davon«, bestätigte Shirley.

Janice gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. »Fahren wir jetzt nach Maibach?«

»Ja, unterhalten können wir uns auch im Wagen!« Dieter Hinderer strich ihr durch die Haare. »Dir wird es bei uns in Deutschland bestimmt gefallen. In der ersten Zeit wirst du dich vielleicht etwas fremd fühlen, aber dann wirst du Freunde haben und mit ihnen durch euren Garten tollen.«

»Ist es ein großer Garten?« Janice sah ihn an.

»Ein sehr großer Garten sogar!« antwortete Dieter und wandte sich an Roland und Shirley: »Das Haus liegt am Stadtrand von Maibach. Wenige Meter weiter beginnt der Wald. Eine ganz herrliche Gegend!«

»Hoffentlich werden meine beiden Frauen nicht den Blick auf die Hochhäuser vermissen«, sagte Roland lachend. »Schade, daß du uns nie in New York besucht hast. Wir lebten im siebzehnten Stock eines Hochhauses. Wald…«

»Wald kenne ich nur von Ausflügen her«, unterbrach ihn Shirley lebhaft. »Seien Sie beruhigt, Dieter, Hochhäuser werde ich sicher nicht vermissen!«

»Ich auch nicht«, echote Janice. Sie nahm die Hand ihrer Mutter und lief neben ihr her zum Ausgang des Flughafens.

Auf der Fahrt nach Maibach schlief das kleine Mädchen im Fond des Wagens, während sich die Erwachsenen unterhielten. Shirley konnte ihren Blick kaum vom Fenster wenden. Sie war in den letzten Jahren nur selten aus New York herausgekommen. Ihre Großeltern, die in Deutschland geboren waren, hatten ihr zwar oft von den Wäldern, endlosen Feldern und Wiesen erzählt, dennoch hatte sie sich kein richtiges Bild davon machen können. Es erschien ihr jetzt alles noch viel schöner, als sie es sich vorgestellt hatte.

Vor ihnen tauchten die ersten Häuser Maibachs auf. Janice richtete sich gähnend auf. Sie blickte aus dem Fenster. Die Kirche und die Fachwerkhäuser der Stadt erschienen ihr wie einem Märchenbuch entnommen.

»Werden wir auch in so einem schönen Haus wohnen?« fragte sie und wies auf ein besonders prächtiges Fachwerkgebäude.

»Nein, in einem Fachwerkhaus werdet ihr nicht wohnen«, erwiderte Dieter Hinderer und warf einen Blick in den Rückspiegel. »Aber euer Haus ist auch sehr schön. Es stammt noch aus der Jugendstilzeit und hat herrlich bemalte Fenster und mehrere Erker.«

»Was ist ein Erker?« Janice hatte ausgeschlafen und war wieder so munter wie im Flugzeug.

Es war nicht die einzige Frage, die ihre Eltern und Dieter Hinderer während der nächsten Minuten beantworten mußten. Erst als sie das andere Ende von Maibach erreicht hatten, stand Janices Plappermäulchen still. Andächtig blickte sie auf das schmiedeeiserne Tor, vor dem sie gehalten hatten.

Dieter Hinderer stieg aus, öffnete das Tor und fuhr seinen Wagen hindurch. Kurz darauf tauchte vor ihnen eine weiße, von mehreren Kastanienbäumen umgebene Jugendstilvilla auf. Eine schmale Treppe führte zur reichverziehrten Eingangstür.

»Es ist einfach überwältigend«, meinte Shirley, nachdem sie ausgestiegen war. Sie drehte sich zu ihrem Töchterchen um, das bereits begeistert durch den Vorgarten rannte und sich nicht sattsehen konnte.

»Mummy, eine Hundehütte!« schrie Janice plötzlich auf. Sie wirbelte herum. »Daddy, gibt es hier auch einen Hund? Krieg’ ich einen Hund?«

»Bekomme ich einen Hund!« verbesserte Roland Becker automatisch.

»Bekomme ich einen Hund, Daddy?« fragte Janice noch einmal. »Ich hätte so gern einen Hund, es muß auch kein großer sein!« Sie zeigte mit den Händen die Größe eines Kaninchens.

»Mal sehen«, meinte Shirley. Sie wandte sich an ihren Mann: »Ich habe Hunde immer gemocht und hätte nichts dagegen einzuwenden. Und Platz haben wir hier auch genug!«

»Außerdem ist es gut, einen Hund zu haben« pflichtete auch Dieter Hinderer dem kleinen Mädchen bei. »Denkt nur daran, wie nah der Wald ist und wie groß Garten und Haus sind!«

»Ich gebe mich geschlagen«, sagte Roland. »Bei so viel Hilfe, kann ich ja einfach nicht nein sagen!«

»Hurra!« schrie Janice auf. Sie stürmte ins Haus, das Dieter Hinderer inzwischen aufgeschlossen hatte.

Bald darauf verabschiedete sich Rolands Freund. Sie verabredeten sich mit ihm für den nächsten Abend. Zwar würden sie sich bis dahin noch nicht eingerichtet haben, doch für einige gemütliche Stunden brauchte man ja nicht viel.

»Glücklich, Darling?« fragte Roland, als er ins Haus zurückkehrte und seine Frau im Salon fand, wo sie die bemalten Fensterscheiben betrachtete.

»Sehr glücklich«, erwiderte Shirley und schmiegte sich an ihn. »So ein Haus habe ich mir immer gewünscht! Wir haben jede Menge Zeit, es richtig einzurichten. Gut, daß du erst in zwei Wochen die Geschäftsführung der Firma übernehmen mußt. Und für Janice wird es hier einfach das Paradies sein!«

»Sie ist auch schon dabei, es zu erobern«, meinte Roland. Er zog Shirley an sich. Zärtlich küßten sie sich.

»Mummy, Daddy!«

Die Stimme unserer Gebieterin«, meinte Shirley lachend. »Komm, sehen wir, wo sie steckt!«

Gemeinsam verließen sie den Salon. Janice stand am Ende der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. »Die Zimmer hier oben müßt ihr erst mal sehen!« rief sie strahlend.

»Wir kommen, Darling!« rief Roland zurück.

Shirley war schneller als er. Wie ein junges Mädchen rannte sie die Treppe hinauf. Sie hatte ihre Tochter schon fast erreicht, als es klingelte. Sie drehte sich um. Roland öffnete die Haustür. Ein junger Mann stand davor.

»Moment«, sagte Shirley zu ihrer Tochter. Sie wollte die Treppe wieder hinuntersteigen, verlor aber das Gleichgewicht. Sie versuchte noch, sich im letzten Moment am Geländer festzuhalten, doch ihre Hand griff ins Leere. Kopfüber stürzte sie die Stufen hinunter und schlug hart am Fuß der Treppe auf.

»Mummy!« schrief Janice erschrocken. Sie stolperte nach unten. »Daddy, was ist mit Mummy?« Angstvoll blickte sie ihren Vater an, der neben ihrer Mutter kniete.

»Mummy ist bewußtlos, Darling«, sagte Roland tonlos. Er drehte sich um. Der Fremde stand noch immer in der offenen Tür. Erschrocken starrte er Shirley an. »Rufen Sie einen Arzt, schnell!« befahl Roland. »So machen Sie doch schon!«

*

Andrea von Lehn war zum Einkaufen in Maibach gewesen und jetzt auf der Heimfahrt nach Wildmoos. Sie dachte an den Nachmittag, den sie mit ihrem Söhnchen Peter-Alexander im Kinderheim Sophienlust verbringen wollte, das von ihrer Stiefmutter, Denise von Schoenecker, verwaltet wurde. Eines der Kinder hatte Geburtstag, und das war dann immer Anlaß, eine lustige Kinderparty zu geben. Peterle sollte als Miniaturindianer verkleidet auf dem Fest erscheinen.

Einige Meter vor ihr lag etwas Schwarzes auf der Fahrbahn. Es bewegte sich nicht und konnte sowohl eine schwarze zusammengrollte Decke, als auch ein Tier sein. Die junge Frau brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen und stieg aus.

Das schwarze Ding hob den Kopf, als Andrea auf es zukam. Erst jetzt merkte sie, daß es sich um einen jungen Schäferhund handelte. Er war so zusammengerollt, daß man weder Beine noch Pfoten sah.

»Wer bist du denn?« fragte sie und näherte sich ihm vorsichtig.

Der Hund stieß ein langgezogenes Winseln aus. Jetzt hob sich auch seine Rute für einen Moment. Er ließ sie jedoch gleich wieder sinken.

»Sieht aus, als wärst du krank!« Andrea kauerte sich neben ihn und streckte ihm langsam die Hand entgegen. Erst zuckte er zurück, dann schob er den Kopf vor und leckte ihr kurz über die Fingerkuppen. Seine braunen Augen schauten sie flehend an.

»Also irgend etwas stimmt nicht mit dir, das dürfte schon sicher sein!« Andrea nagte an der Unterlippe. »Auf der Straße kannst du auf keinen Fal liegenbleiben. Weißt du, junger Freund, mein Mann ist Tierarzt, der wird dich dann gleich einmal untersuchen, und später werden wir sehen, wo du hingehörst. Einverstanden?«

Als hätte der Schäferhund verstanden, was sie zu ihm gesagt hatte, leckte er wieder über ihre Finger.

»Also bist du einverstanden!« Andrea schob vorsichtig die Arme unter ihn. »Auf mit dir, komm, hilf mir gefälligst ein bißchen dabei!«

Es war schwer, den Schäferhund auf die Beine zu bekommen, aber schließlich hatte sie es geschafft. Tiefes Mitleid mit dem Tier ergriff sie, als sie jetzt feststellte, wie mager und abgezehrt es war. Jeden Knochen konnte sie unter seinem Fell spüren. Außerdem benötigte der Hund dringend ein Bad. Erst jetzt nahm sie den durchdringenden Geruch wahr, den er ausströmte.

»Komm, Graf Bobby!« Andrea dirigierte ihn zu ihrem Wagen, befreite den Rücksitz von den Einkaufstüte, legte eine Decke auf das Polster und nötigte den Hund, auf ihr Platz zu nehmen. »Na, mach schon«, sagte sie, als er zögerte. »Dort, wo wir jetzt hinfahren, wirst du erst einmal eine anständige Mahlzeit bekommen. So wie es mir scheint, hast du sicher seit Tagen kaum noch etwas zwischen den Zähnen gehabt.«

»Wuw«, machte der junge Schäferhund müde.

»Es wird schon wieder werden!« Andrea strich ihm kurz über den Kopf, dann schloß sie die Autotür und setzte sich ans Steuer. Eine Minute später war sie bereits wieder auf dem Weg nach Hause.

Kurz hinter Wildmoos tauchte am Ortsrand Bachenaus das geräumige Landhaus auf, das ihr und ihrem Mann, Hans-Joachim von Lehn, gehörte. Gleich daneben lag das Tierheim Waldi & Co. Vor dem Haus parkte der Wagen ihrer Stiefmutter. Andrea hielt gleich neben ihm. »Endstation«, sagte sie, stieg aus und öffnete die Fondtür.

Der Schäferhund schaute sie verständnislos an. Sie griff nach seinem Hals. »Auf, Graf Bobby!«

Jetzt endlich schien der Hund begriffen zu haben. Er ließ sich schwerfällig vom Sitz gleiten, dann verließ er vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, den Wagen.

»Wen bringst du uns denn da?« fragte Denise von Schoenecker. Sie trat aus der Tür des Landhauses und ging ihrer Stieftochter entgegen. »Sieht aus, als hätte er eine extreme Schlankheitskur hinter sich!« Mitleidig blickte sie auf den Hund, de rsich zu Andreas Füßen hingekauert hatte.

»Krank scheint er auch zu sein«, erwiderte Andrea. »Ich habe ihn mitten auf der Straße gefunden. Ein Glück, daß er nicht überfahren wurde.

»Hundi, Peterle will zu Hundi!« An der Hand Marianne Webers, des Hausmädchens der von Lehns, trippelte Andreas zweijähriger Sohn aus dem Garten.

»Später, Peterle«, vertröstete ihn Andrea. Sie hätte Peterle gern in den Arm genommen, doch sie wagte es nicht. Noch wußte sie nicht, was ihrem Findling fehlte. Womöglich hatte er eine ansteckende Krankheit.

»Komm, Peterle, wir gehen ein Stückchen pazieren!« schlug Denise vor. Sie nahm den kleinen Jungen auf den Arm.

»Ist mein Mann in seiner Praxis, Marianne?« erkundigte sich Andrea.

»Ja, der letzte Patient ist vor eine Viertelstunde gebracht worden. Soviel ich weiß, ist er schon wieder fort.«

»Danke!« Andrea bückte sich zu dem Schäferhund hinunter. »Komm, Graf Bobby!« forderte sie ihn auf. Der Hund erhob sich diesmal fast sofort. Ergeben trottete er ihr zum Eingang der Praxis nach.

Hans-Joachim von Lehn trocknete sich gerade die Hände ab, als seine Frau die Tür öffnete. Er war ein großer, schlanker Mann mit blonden Haaren und blauen Augen. Peterle ähnelte ihm auffallend. »Hallo, Liebling«, sagte er zärtlich. Dann fiel sein Blick auf den Hund, der hinter Andrea stehengeblieben war. »Nanu, wen haben wir denn da?« Er machte einige Schritte auf die Tür zu.

Der Schäferhund zog die Lefzen zurück und stieß ein Knurren aus, bevor er sich umdrehte und davonlief. Weit kam er nicht. Erschöpft sank er vor dem Tor des Tierheims in sich zusammen.

»Bleib bitte hier!« Andrea machte eine abwehrende Bewegung, als ihr Hans-Joachim folgen wollte. Langsam ging sie auf den Hund zu. »Aber was ist denn, Graf Bobby?« Sie kauerte sich neben ihn auf den Boden, berührte seinen Kopf. »Niemand tut dir etwas, Graf Bobby! Wir wollen dir doch nur helfen!«

Der Hund winselte leise. Er legte die Ohren an und vergrub den Kopf zwischen den Vorderpfoten.

»Es wird alles gut, Graf Bobby«, versprach Andrea. Sie stand auf. »Bleib schön liegen!« Sie ging zur Praxis zurück.

Hans-Joachim von Lehn hatte inzwischen ein Halsband, eine Leine und einen Maulkorb geholt. Er reichte beides Andrea. »Sei vorsichtig, Liebling«, warnte er. »Zu dir scheint er zwar Vertrauen zu haben, aber mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß du allein mit ihm fertigwerden willst.«

Andrea lachte. »Was heißt da fertigwerden? Graf Bobby ist lammfromm!«

»Das habe ich gemerkt.«

Andrea ging zurück. Der Hund wehrte sich nicht, als sie ihm das Halsband umlegte und die Leine daran befestigte. »So, und nun noch der Maulkorb, Graf Bobby! Ich kann mir denken, daß dir der Maulkorb nicht gefallen wird, doch es muß sein!« Geschickt streifte sie dem Hund, ehe dieser recht wußte, wie ihm geschah, den Maulkorb über die Schnauze und befestigte ihn hinter den Ohren.

Der Hund sprang auf. Er beugte den Kopf hinunter und versuchte sich vom Maulkorb zu befreien. Es gelang ihm nicht. Vor sich hinwinselnd ließ er sich zur Praxis führen, erst kurz vor dem Eingang sträubte er sich wieder. Es nützte ihm nichts, Anderea zog ihn unerbittlich in den Raum.

»Muß am Geruch liegen«, meinte sie. Es fiel ihr schwer, den Hund zu halten. Graf Bobby gebärdete sich wie wild.

»Am besten, wir warten, bis Janosch aus Wildmoos zurück ist«, sagte Hans-Joachim. »Geben wir ihm erst einmal etwas zum Fressen.«

»Mir wäre lieber, wenn du ihn sofort untersuchst, Hans-Joachim«, erwiderte Andrea. »Er lag teilnahmslos auf der Straße. Ich wage nicht, Peterle anzufassen, bevor ich weiß, was dem Tier fehlt.«

»Gut, Liebling, versuchen wir es!« Ihr Mann näherte sich Graf Bobby.

Graf Bobby dachte überhaupt nicht daran, sich von diesem fremden, weißgekleideten Mann anfassen zu lassen. Er schlüpfte unter Andreas Armen hindurch und rannte zum anderen Ende der Praxis. Wütend funkelten seine braunen Augen den Tierarzt an.

»Warte!« Andrea beugte sich so weit über den Hund, daß sie ihn festhalten konnte. »Und jetzt bist du ruhig!« fuhr sie ihn hart an. Erschrocken zuckte er zusammen. »Ich glaube, jetzt geht es!« rief sie ihrem Mann zu.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Graf Bobby endlich seinen Widerstand aufgegeben hatte, doch dann ließ er geduldig alles mit sich geschehen. Schließlich bekam er noch eine Vitaminspritze, dann hatte er es geschafft. Andrea von Lehn befreite ihn von dem Maulkorb. Dankbar leckte er ihre Hand.

»Meiner Meinung nach leidet er nur unter einem akuten Vitaminmangel«, sagte Hans-Joachim. Er ging ans Waschbecken und wusch sich die Hände. »Aber das werden wir bald im Griff haben! Einige Tage gutes Futter und ständige Vitaminbeigaben, und er ist wieder auf dem Posten!«

»Siehst du, Graf Bobby, es war alles nur halb so wild«, meinte Andrea und tätschelte den Kopf des Hundes.

»Graf Bobby ist ein passender Name. Wie bist du nur darauf gekommen?«

Andrea hob die Schultern. »Weiß ich selbst nicht«, gestand sie. »Irgendwie erschien er mir richtig!«

Gemeinsam brachten sie den jungen Schäferhund ins Tierheim hinüber. Der braune Kurzhaardackel Waldi, nach dem das Tierheim benannt worden war, kam ihnen schwanzwedelnd entgegen. Als er den fremden Hund bemerkte, blieb er einen Meter vor ihnen stehen und kläffte ihn an.

»Wuw!« machte Graf Bobby nur und wedelte mit der Rute.

Waldi kam jetzt ganz an ihn heran, beschnüffelte ihn ausgiebig, drehte ihm dann die Kehrseite zu und jagte davon.

»Sehr viel scheint unser Waldi nicht von unserem Grafen zu halten«, bemerkte der Tierarzt amüsiert.

»Sieht mir auch so aus!« Andrea lachte. »Die beiden werden sich schon anfreunden. Waldi mußte ihm nur erst zeigen, wer hier das Sagen hat!«

Das Tierheim war ein langgestreckter Flachbau mit breiter, zweiflügliger Tür und hocheingelassenen, kleinen Fenstern. Andrea und ihr Mann gingen mit Graf Bobby durch den Mittelgang, der die beiden Boxenreihen voneinander trennte. Aufgeregtes Bellen empfing sie. Zur Zeit gab es zehn Hunde in Waldi & Co. Fünf von ihnen waren zu Beginn der Pfingstferien gerfunden worden. Ihre Besitzer hatten sie einfach vor Urlaubsantritt ausgesetzt.