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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Es hatte in diesem Jahr ungewöhnlich früh zu schneien begonnen. Der weite Park von Sophienlust war mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Bäume und Sträucher sahen aus, als wären sie mit feinem weißem Puder überstäubt worden, und selbst die Dächer des Kinderheims und der Nebengebäude lagen unter einer Schneeschicht verborgen. Überall im Park standen die von den Kindern gebauten Schneemänner. Es waren die ersten Versuche für den Ende November angesetzten Schneemann-Wettbewerb. Bewundernd stand die zehnjährige Viktoria Langenbach vor ihrem großen Schneemann. Er war ihr wirklich gelungen, und nicht ohne Stolz sagte sie zu ihrer um zwei Jahre älteren Schwester Angelika: »Wetten, dass ich dieses Jahr den Wettbewerb gewinne? Mein Schneemann ist schon jetzt der schönste! Sieh nur, wie er schaut!« »Bis jetzt wusste ich nicht, dass Kohleaugen richtig sehen können, Vicky«, meinte Angelika. »Aber auf jeden Fall würde ich ihm die Nase zurechtrücken, sonst liegt sie bald am Boden.« Vicky begutachtete noch einmal kritisch ihren Schneemann. Es stimmte, die Nase saß nicht richtig. Schnell steckte sie die große Mohrrübe fester in das Schneegesicht. Dann hauchte sie sich in die fast blau gefrorenen Hände. Wie die anderen Kinder hatte auch sie ihre dicken Handschuhe beim Spielen ausgezogen. Ein etwa dreizehn Jahre altes Mädchen namens Angelina Dommin trat zu den beiden Schwestern. »Ich gehe jetzt in die Halle. Kommt ihr mit?
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Seitenzahl: 147
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Es hatte in diesem Jahr ungewöhnlich früh zu schneien begonnen. Der weite Park von Sophienlust war mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Bäume und Sträucher sahen aus, als wären sie mit feinem weißem Puder überstäubt worden, und selbst die Dächer des Kinderheims und der Nebengebäude lagen unter einer Schneeschicht verborgen. Überall im Park standen die von den Kindern gebauten Schneemänner. Es waren die ersten Versuche für den Ende November angesetzten Schneemann-Wettbewerb.
Bewundernd stand die zehnjährige Viktoria Langenbach vor ihrem großen Schneemann. Er war ihr wirklich gelungen, und nicht ohne Stolz sagte sie zu ihrer um zwei Jahre älteren Schwester Angelika: »Wetten, dass ich dieses Jahr den Wettbewerb gewinne? Mein Schneemann ist schon jetzt der schönste! Sieh nur, wie er schaut!«
»Bis jetzt wusste ich nicht, dass Kohleaugen richtig sehen können, Vicky«, meinte Angelika. »Aber auf jeden Fall würde ich ihm die Nase zurechtrücken, sonst liegt sie bald am Boden.«
Vicky begutachtete noch einmal kritisch ihren Schneemann. Es stimmte, die Nase saß nicht richtig. Schnell steckte sie die große Mohrrübe fester in das Schneegesicht. Dann hauchte sie sich in die fast blau gefrorenen Hände. Wie die anderen Kinder hatte auch sie ihre dicken Handschuhe beim Spielen ausgezogen.
Ein etwa dreizehn Jahre altes Mädchen namens Angelina Dommin trat zu den beiden Schwestern. »Ich gehe jetzt in die Halle. Kommt ihr mit? Die Huber-Mutter wird bereits warten.«
»O fein!«, rief Vicky und hauchte noch einmal kräftig in ihre Hände. »Ob sie uns heute wieder eine Geschichte erzählt?«
»Sicher«, meinte Angelina, die wegen ihrer Sommersprossen von allen Pünktchen genannt wurde, »sonst hätte sie es uns nicht versprochen. Sie will uns heute von ihrer Kinderzeit erzählen.«
Die drei Mädchen liefen zur Freitreppe. Die anderen Sophienluster Kinder folgten ihnen. Die größeren hielten die kleineren an den Händen. Hintereinander drängten sich alle in die warme Halle.
Im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Die Huber-Mutter saß in einem gewaltigen Lehnstuhl und starrte in die flackernden Flammen, die an diesem Nachmittag die einzige Beleuchtung der Halle waren. Die Kinder liebten es, im Zwielicht um den Kamin zu sitzen, ihre Hände am Feuer zu wärmen und der Huber-Mutter zuzuhören, wenn diese von alten Zeiten berichtete.
»Huber-Mutter, wie war das nun, als du noch ein kleines Mädchen warst?«, fragte der elfjährige Fabian Schöller und hockte sich zu Füßen der Greisin auf das Bärenfell.
»Das war vor langer, langer Zeit«, begann die Huber-Mutter. Sie blickte in die Flammen und wanderte in Gedanken Jahrzehnte zurück. »Wisst ihr, wir kannten damals kein elektrisches Licht und keine Autos. Flugzeuge gab es auch noch nicht. Im Winter fuhr man mit dem Pferdeschlitten, im Sommer mit der Kutsche. Mein Vater ließ mich oft auf dem Kutschbock sitzen. Oh, das war eine herrliche Zeit!«
Die Kinder lauschten atemlos vor Spannung. Außer der Stimme der Huber-Mutter war nur noch das Knistern der Flammen zu hören. Ab und zu stand Fabian Schöller auf und legte im Kamin Holz nach.
»So, das war die Geschichte meiner Kindheit«, schloss die Huber-Mutter.
»Erzählst du uns morgen wieder eine Geschichte?«, erkundigte sich die kleine Heidi Holsten.
»Aber gern«, sagte die Huber-Mutter.
»Am schönsten ist es in Sophienlust«, meinte Vicky und lehnte ihren mit dichtem braunem Haar bedeckten Schopf an die Knie der Greisin.
»Ja, da hast du recht, Vicky«, kam es von der Huber-Mutter. Sie verbrachte ihren Lebensabend auf Sophienlust und konnte sich ebenfalls kein schöneres Heim vorstellen. Sie war dankbar, dass sie sich manchmal für die Fürsorge, mit der sie hier von allen bedacht wurde, durch ihre Kräutertränklein nützlich machen konnte. Die Kinder glaubten zudem fest daran, dass die Huber-Mutter die Zukunft voraussagen könne.
»Huber-Mutter«, sagte Heidi und krabbelte auf den Schoß der alten Frau, »morgen gehen wir mit dem Onkel Förster und Justus in den Wald, um die hungrigen Tiere zu füttern. Ob ich wohl ein Rehlein sehen werde?«
»Sicher wirst du eines sehen, kleine Heidi.«
Die Fünfjährige vertraute der Greisin restlos. Wenn die Huber-Mutter sagte, sie würde ein Rehlein sehen, dann würde es auch so sein.
Schwester Regine kam in die Halle und schaltete das elektrische Licht ein. Bedauernd sah Pünktchen zur Decke empor. Eigentlich musste es doch eine herrliche Zeit gewesen sein, als es noch kein elektrisches Licht gab und die Wohnungen nur vom warmen Schein der Petroleumlampen erhellt waren.
»So, ihr habt die Huber-Mutter jetzt lange genug gequält«, meinte Schwester Regine. »In zwanzig Minuten gibt es Abendbrot. Vergesst nicht, euch vorher die Hände zu waschen!«
Die Kinder standen auf. Eines nach dem anderen bedankte sich bei der Huber-Mutter und lief in die Waschräume. Auch Heidi rutschte vom Schoß der Greisin, jedoch nicht, ohne ihr zuvor einen Kuss auf die welken Wangen gedrückt zu haben. »Ich habe dich ganz toll lieb!«, versicherte sie und rannte dann davon.
Heidi war stolz darauf, dass sie sich schon ganz allein waschen konnte. Sie schrubbte ihre kleinen Hände, bis sie ganz rot wurden.
»Jetzt reicht es aber, Heidi«, meinte Pünktchen. »Du willst dir doch sicher nicht die Haut von den Händen bürsten?«
Heidi blickte auf ihre Händchen und nickte. Sie griff zum Handtuch. »Ob die Tiere großen Hunger haben, Pünktchen?«, fragte sie.
»Ich glaube schon! Jetzt finden sie unter dem Schnee kaum noch Futter. Würde der Förster sie nicht regelmäßig füttern, müssten sie sicher verhungern.«
»Oh, die armen Tiere«, murmelte Heidi mitleidig. »Wir werden ihnen aber morgen ganz viel Futter bringen. Ich freue mich so auf die Rehlein.«
Pünktchen nahm nicht an, dass sich ihnen am nächsten Tag tatsächlich eines dieser scheuen Tiere zeigen würde, aber sie wollte auch Heidis Illusionen nicht zerstören. »Wenn du willst, kannst du doch jeden Tag im Tierheim Waldi & Co. das Reh Bambi sehen«, sagte sie.
»Bambi lässt sogar zu, dass ich es anfasse.« Heidis Gesichtchen strahlte. »Es frisst mir richtig aus der Hand! Aber ich möchte auch andere Rehlein sehen. Wenn wir dann am Nachmittag bei Tante Andrea sind, werde ich Bambi davon erzählen.«
Pünktchen ergriff Heidis Hand. »Es wird Zeit, dass wir zum Essen gehen«, sagte sie zu dem kleinen Mädchen. Dabei dachte sie daran, dass sie am nächsten Tag auch Nick wiedersehen würde, der in letzter Zeit nur selten in Sophienlust gewesen war.
Jeder im Kinderheim kannte Pünktchens Liebe zu Nick, dem sechzehnjährigen Sohn Denise von Schoeneckers. In ihren Träumen sah Pünktchen sich oft als dessen Ehefrau. Niemals würde sie den Tag vergessen, an dem er sie halb verhungert gefunden und ins Kinderheim gebracht hatte. Das war jetzt schon viele Jahre her. Kurz zuvor waren ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen. Was wäre wohl geschehen, wenn Nick sie damals nicht nach Sophienlust gebracht hätte? Pünktchen lächelte verträumt. Es war schön, einen Freund zu haben, auf den man sich absolut verlassen konnte.
*
Bereits beim Aufwachen dachte Heidi daran, dass sie an diesem Tag mit Schlitten in den Wald fahren würden. Sie sprang aus dem Bett und lief barfuß zum Fenster.
Es hatte in der Nacht erneut geschneit. Alle Fußspuren des vergangenen Tages waren mit Schnee bedeckt worden.
Sandra, mit der Heidi zurzeit das Zimmer teilte, schlief noch. Bis zur Nasenspitze war sie zugedeckt. Übermütig riss Heidi ihrer Zimmerkameradin die Decke weg, sodass Sandra erschrocken auffuhr.
»Es hat schon wieder geschneit!«, verkündete Heidi. »Schau nur einmal aus dem Fenster, wie schön es aussieht. Laufen wir in den Park und machen Fußspuren?«
Sandra war sofort einverstanden. Rasch zogen sich die beiden kleinen Mädchen an. Gegenseitig halfen sie sich dabei, die Reißverschlüsse der Stiefel hochzuziehen. Zehn Minuten später schlichen sie leise über die Treppe in die Halle hinab. Aus dem Büro hörten sie die Stimme der Heimleiterin. Frau Rennert telefonierte mit Andrea von Lehn.
Sandra und Heidi schlüpften durch die Eingangstür, sprangen die Freitreppe hinab und rannten durch den Schnee.
»Nun, sieh einmal einer diese kleinen Racker an«, meinte Frau Rennert, die von den Kindern liebevoll Tante Ma genannt wurde. Sie zeigte aus dem Fenster, wo sich Heidi und Sandra gegenseitig mit Schnee bewarfen.
»Und ich nahm an, alles würde noch schlafen«, sagte Schwester Regine lächelnd. »Es wird Zeit, dass ich einmal oben nach dem Rechten sehe, denn wenn bereits zwei Kinder munter sind, werden auch die anderen nicht mehr lange auf sich warten lassen.«
Der Vormittag zog sich für die Kinder viel zu langsam dahin. Es war ein schulfreier Samstag, und so konnten auch die älteren Kinder in Sophienlust bleiben. Pünktchen, Angelika und Irmela Groote, die mit ihren fünfzehn Jahren das älteste der Sophienluster Kinder war, versuchten die kleineren im Zaum zu halten, aber es war unmöglich. Alle zwanzig Minuten fragte eines von ihnen, ob es denn noch immer nicht an der Zeit sei, mit den Ponyschlitten in den Wald zu fahren.
»Erst müssen wir zu Mittag essen«, sagte Pünktchen.
»Können wir das nicht gleich?« Heidi blickte Pünktchen mit schief gelegtem Kopf von unten herauf an.
Pünktchen wollte antworten, doch in diesem Augenblick bog der Wagen Denise von Schoeneckers in den Park ein. Sofort war alles andere vergessen. Die Kinder rannten zum Parkplatz.
»Tante Isi, Tante Isi!«, riefen sie schon von Weitem. »Wir fahren nachher in den Wald und füttern die Tiere!«
Denise von Schoenecker wusste natürlich davon. Eigens deshalb hatte sie ihren jüngsten Sohn, den neunjährigen Henrik, mitgebracht. Mit je einem Kind an der Hand betrat sie die Halle.
Traurig ging Pünktchen hinter den Kindern her. Nick war nicht mitgekommen. Dabei hatte sie fest damit gerechnet, dass er sie und die anderen in den Wald begleiten würde.
»Das ist heute wieder eine Rasselbande«, sagte Frau Rennert zu Denise und wandte sich an die Kinder. »So, nun gebt Tante Isi frei. Ich muss einiges mit ihr besprechen.«
Pünktchen fasste sich ein Herz. »Tante Isi, kommt Nick denn heute nicht?«
»Doch, aber er wollte erst seine Schulaufgaben beenden. Du weißt, wie viel er in letzter Zeit zu lernen hat.« Denise warf einen liebevollen Blick auf das Mädchen und folgte dann Frau Rennert in deren Büro.
»Gehen wir ins Eisenbahnzimmer?«, fragte Henrik.
Die anderen Kinder waren damit sofort einverstanden. Es gab nur einen kleinen Streit, weil Henrik unbedingt allein die Schaltanlage bedienen wollte. Schließlich gaben die anderen nach. Sie konnten jeden Tag hier spielen, Henrik dagegen nur, wenn er in Sophienlust war.
Nach dem etwas verfrühten Mittagessen fuhren die Kinder in dem roten Kleinbus, der sie sonst zur Schule brachte, zum Försterhaus, wo sie lebhaft von Andi, dem Sohn des jungen Revierförsters, und Felicitas, genannt Filzchen, der Tochter von Dr. Anja Frey, begrüßt wurden. Vor dem Försterhaus standen zwei hoch mit Heu beladene Schlitten bereit. Jeweils zwei Ponys waren davorgespannt.
»Ich darf ganz oben auf dem Heu mitfahren«, sagte Felicitas zu Heidi. »Onkel Schröder hat es mir versprochen.«
»Und ich auch!« Andi sprang an seinem Vater hoch. »Nicht wahr, Vati, ich darf auch auf dem Heu mitfahren?«
Klaus Schröder sah die Kinder an. »Die Kleinen dürfen alle mitfahren«, bestimmte er. »Natürlich nicht alle auf einmal, sondern abwechselnd.«
Filzchen und Heidi wurden auf je einen Schlitten gesetzt – und ab ging die lustige Fahrt. Das Bimmeln der Glöckchen an dem Zaumzeug der stämmigen Shetland-Ponys klang den Kindern wie Musik in den Ohren. Die Schlitten fuhren nur langsam, und so konnten die anderen bequem hinterherlaufen. Ganz von selbst stimmten sie ein Winterlied an, das sie von Schwester Regine gelernt hatten.
Bald umfing sie die Stille des Waldes. Das Lied verstummte, nur die Musik der Glöckchen blieb. Fast andächtig blickten die Kinder zu den mit Schnee bedeckten Wipfeln der Bäume empor. Es war kalt, aber sie spürten die Kälte durch ihre dicke Kleidung kaum. Der Schnee knirschte unter den Füßen derjenigen, die zu Fuß marschierten.
Die Last der Schlitten wurde immer leichter. Von Futterstelle zu Futterstelle zog die kleine Schar und lud ihre Gaben ab. Es war ein wundervoller Ausflug. Nur die Tatsache, dass sie außer frechen Spatzen keine Tiere zu Gesicht bekamen, beeinträchtigte etwas die Freude der Kinder.
»Und ich habe mich so auf die Rehlein gefreut«, sagte Heidi. Sie zog eine Schnute. »Die Huber-Mutter hat doch versprochen, dass ich Rehlein sehen werde.« Sie drängte sich zwischen Pünktchen und Nick.
»Du wirst deine Rehlein sehen«, versprach Nick ihr. »Bleibe bei Pünktchen!« Er lief nach vorn. Pünktchen und Heidi sahen, dass er sich mit dem alten Justus, der den einen Schlitten steuerte, unterhielt. Mit raschen Schritten kam er zurück.
»Justus hat erlaubt, dass wir uns von den anderen trennen«, sagte er zu Pünktchen. »Wir müssen aber sehr, sehr leise sein, Heidi, sonst sehen wir die Rehe nicht.«
»Ich bin ganz, ganz leise«, versprach das kleine Mädchen wispernd.
Pünktchen, Nick und Heidi schlichen durch den Wald zur letzten Futterstelle zurück. Nur noch ein schmaler Baumgürtel trennte sie von den Tieren. Nick legte einen Finger auf die Lippen. Die Kinder kauerten sich nieder und rutschten auf Knien weiter. Der Junge zog einige der kahlen Zweige beiseite, die noch die Sicht auf die Futterstelle verbargen.
Fast hätte Heidi einen Freudenschrei ausgestoßen. Gerade noch rechtzeitig besann sie sich. Unter dem Dach der Futterstelle standen fünf Rehe einträchtig beisammen und ästen. Heidi konnte sich kaum von diesem Anblick trennen, und Nick musste sie fast gewaltsam zurückziehen.
Sehr still gingen die drei durch den Wald und folgten den Spuren der anderen. An der nächsten Futterstelle trafen sie wieder mit ihnen zusammen. Justus hob Heidi und drei andere Kinder auf den nun leeren Schlitten. Förster Schröder belud den zweiten Schlitten mit den übrigen Kindern. Singend fuhren sie zum Tierheim Waldi & Co., wo sie heißer Kakao und Kuchen erwartete.
*
»Mutti, warum musst du denn in dieses komische Land fliegen?«, fragte Janet Fischer, als ihre Mutter sie zu Bett brachte.
»Das ist kein komisches Land, Janet, sondern es heißt Mali. Es liegt in Afrika, wo es Elefanten und Löwen gibt. Was meinst du, was ich dir alles erzählen kann, wenn ich zurückkomme?«
»Es ist trotzdem ein komisches Land«, beharrte die Kleine. »Bitte, Mutti, bleib bei mir und der Omi. Der Purzel ist auch ganz traurig, weil du fortgehen willst. Schau einmal, wie krank er aussieht!«
Dr. Ruth Fischer warf einen Blick auf Janets Zwergpudel. Nein, krank sah Purzel gewiss nicht aus, eher überfressen. Sicher hatte er wieder Süßigkeiten stibitzt.
»Sieh einmal, Janet, du bist doch schon Muttis großes, vernünftiges Mädchen und weißt, dass ich arbeiten muss.« Zärtlich nahm die junge Frau ihr Töchterchen in die Arme.
»Gerdas Mutter geht auch arbeiten, aber sie fliegt nicht fort«, argumentierte Janet und blickte finster vor sich hin. »Gerda hat gesagt, du hättest mich überhaupt nicht lieb!« Janet nagte an der Unterlippe. Sie schaute ihre Mutter unsicher an. Ob es besser gewesen wäre, wenn sie das ihrer Mutti nicht erzählt hätte? Diese sah plötzlich ganz traurig aus. »Mutti, ich wollte nicht böse sein!« Janet schmiegte sich fest an Ruth.
»Ich habe dich sehr, sehr lieb, Janet«, sagte Ruth ernst. »Ich wünschte ja auch, dass ich nicht nach Mali fliegen müsste, aber es geht nicht, mein kleiner Liebling. Du weißt doch, dass Onkel Klaus mein Chef ist. Er hat diese Expedition sehr lange vorbereitet. Jetzt ist seine erste Assistentin, Frau Dr. Berger, krank geworden und kann ihn nicht begleiten. So bleibt mir nichts anderes übrig, als für sie einzuspringen.«
Janets Augen leuchteten hoffnungsvoll auf. »Wenn ich den lieben Gott ganz fest bitte, macht er dann Frau Dr. Berger gesund?«
»Das kann auch der liebe Gott nicht, mein Liebling. Frau Dr. Berger ist auf der Straße ausgerutscht und hat sich das rechte Bein gebrochen. Es dauert sehr lange, bis es wieder heil ist.« Ruth erhob sich. »So, und nun schlaf ganz schnell ein, Janet! Morgen früh fahren wir nach Gut Schoeneich zu Tante Denise.« Sie deckte ihre kleine Tochter zu und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Janet schloss gehorsam die Augen. Leise verließ Ruth das Kinderzimmer und trat auf den Flur. Durch die offene Wohnzimmertür sah sie ihre Mutter vor dem Fernseher sitzen.
Eigentlich hatte Dr. Ruth Fischer noch einige dringende Arbeiten zu erledigen, aber sie fühlte sich plötzlich müde und abgespannt. So suchte auch sie etwas Entspannung beim Fernsehen.
»Na, was ist mit dem Kind?«, fragte Martha Stefan ihre Tochter, als das Programm beendet war. »Hat Netchen dir den Kopf gewaschen? Ich hoffe, gründlich!«
»Mutter, bitte, du weißt doch sehr genau, dass ich diesen Auftrag nicht ablehnen kann. Außerdem können wir es uns auch finanziell nicht leisten.«
»Und die Kleine?«
»Sie wird darüber hinwegkommen, Mutter. Sie hängt auch sehr an dir. Zwei Monate sind keine Ewigkeit, obwohl ich wünschte, die Expedition würde nicht gerade im Dezember beginnen. Es ist das erste Mal, dass ich Weihnachten nicht bei meinem Kind sein kann. Das belastet mich am meisten.«
»Warum suchst du dir nicht eine andere Arbeit?«
»Das ist unmöglich. Es stimmt schon, ich könnte in einem Krankenhaus arbeiten, aber da sind die Arbeitszeiten noch unregelmäßiger als am Tropeninstitut. Ich wäre noch öfter von Janet getrennt. Und eine eigene Praxis? Dazu langen unsere Mittel nicht. Nein, Mutter, ich muss meine Stelle behalten. Im Grunde könnte ich mir auch keinen besseren Chef als Dr. Klaus Becker wünschen.«
»Weil er in dich verliebt ist?« Frau Stefan lächelte vor sich hin.
»Dr. Becker ist doch nicht in mich verliebt, Mutter!« Ruth lachte auf. »Er wird nächstes Jahr heiraten. Ich habe seine Braut erst vor einem Monat gesehen. Sie heißt Gundula Röser und wohnt in Degerloch.«
»Ist sie …« Jäh griff sich Frau Stefan an die Brust.
Ruth erschrak nicht mehr über die plötzlichen Herzanfälle ihrer Mutter. Ohne in Panik zu geraten, führte sie die alte Frau zum Sofa und ließ sie sich hinlegen. »Ruhig durchatmen«, sagte sie.
Martha Stefan nickte mit geschlossenen Augen.
Ruth lief in die Küche und kam gleich darauf mit einem Glas Wasser und den Herztropfen zurück. »Bald wird es dir besser gehen, Mutter«, versprach sie und flößte ihrer Mutter die Medizin ein.