Barfuß in Köln - Reinhard Rohn - E-Book

Barfuß in Köln E-Book

Reinhard Rohn

3,9

Beschreibung

Kommissar Schiller möchte nur eines tun: sich um seine kranke Frau Carla kümmern. Doch dann wird die Intendantin des Theaters ermordet. Der Täter tötete sie mit dem Pfeil einer Armbrust - und nahm ihre Schuhe mit. Da sie mehr Feinde als Freunde hatte, scheint die Liste der Tatverdächtigen schier endlos. Doch einer ist besonders verdächtig: der Schauspieler Lars Becker. Ausgerechnet mit ihm hat Birte Jessen, Schillers Kollegin, die Nacht verbracht. Wenig später wird ein zweiter Theatermann ermordet - und wieder ist der Tote barfuß …

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Reinhard Rohn, 1959 in Osnabrück geboren, lebt seit fast dreißig Jahren in Köln und arbeitet als Verlagsleiter in einem Berliner Verlag. Er hat zahlreiche Kriminalromane ins Deutsche übersetzt und mehrere Spannungsromane geschrieben. Unter dem Pseudonym Arne Blum veröffentlichte er eine Krimiserie über das Detektiv-Schwein Kim (»Saubande«, »Rampensau« und »Schöne Sauerei«). Im Emons Verlag sind bisher drei Romane um die Kommissare Birte Jessen und Jan Schiller erschienen: »Falsche Herzen«, »Kölnisch Wasser« und »Kölner Lichter«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Bei der Schilderung real existierender Schauplätze habe ich mir einige kleinere Freiheiten gestattet.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/dogbert Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-112-1 Köln Krimi Originalausgabe

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»Schlechte Menschen werden nicht

immer aus einem guten Grund ermordet.«

1. Teil

1.

Er sagte sich, dass er gar nicht in Köln aussteigen müsste; er könnte weiterfahren, über die Brücke, die Augen schließen und den Dom nicht anschauen. Der Zug fuhr weiter nach München. In München war er nur kurz für einen harmlosen Auftrag mit Juri gewesen; München sollte viel schöner sein als Köln.

Aber er wusste, dass er es nicht tun würde. Er war gekommen, um auszusteigen.

Er wollte das Grab seiner Mutter sehen, wollte an den Ort zurück, wo er sein Leben weggeworfen hatte. Kurz dachte er an die Prinzessinnengärten in Berlin. Zum ersten Mal hatte er etwas Vernünftiges in seinem Leben getan. In einer Bar an der Oranienstraße hatte er vor sechs Wochen Nora getroffen, eine blasse, wortkarge Frau mit einem Rosen-Tattoo auf der Schulter; sie hatte ihn noch am selben Abend mit in ihre Wohnung genommen. Wenn man das Fenster aufmachte, konnte man die U-Bahn, die hier nicht unter der Erde verlief, vorbeifahren sehen. Sie hatten zusammen geschlafen, und dann hatte sie ihm von den Gärten erzählt, mitten in der Stadt, am hässlichen Moritzplatz. Bis dahin hatte er sich nie für irgendwelche Pflanzen interessiert; er wusste, wie eine Sonnenblume aussah, aber sonst? Sie bauten Gemüse an, züchteten Bäume, kümmerten sich um Bienen, und mittags kochten sie und boten ein billiges Essen an. Sechs Wochen hatte er beinahe jeden Tag in den Gärten gearbeitet, eine einfache, sinnvolle Arbeit getan. Er war so glücklich gewesen wie noch nie in seinem Leben. Nora machte sich etwas aus ihm. Er war praktisch bei ihr eingezogen, ging nur noch zum Wäschewechsel in sein winziges Zimmer am Kottbusser Tor.

Sie hatte ihn Boris genannt.

Doch plötzlich, vor zwei Nächten, hatte er gewusst, was er tun musste.

Er musste zurückkehren.

Er war ein Mörder und würde es immer bleiben.

Noras Geruch war eine Erinnerung, die er wie einen Schatz hüten wollte. Morgens hatte sie ihn im Halbschlaf kurz angesehen.

»Ich komme bald zurück«, hatte er ihr zugeflüstert und ihr Tattoo geküsst. Eine Lüge. Er würde nicht zurückkommen – oder wenn, würde es Jahre dauern.

Sie hatte kurz genickt und die Augen sofort wieder geschlossen. Er hatte ihr einen Briefumschlag mit zwanzigtausend Euro dagelassen, den sie vermutlich nicht anrühren würde.

Als er ausstieg, ging er sofort zum Dom hinüber. Er hatte nur seinen Rucksack dabei. Es war kurz vor eins. Die Sonne schien. Im Dom war es wohltuend kühl.

Seine Mutter hatte an Gott geglaubt, sein Vater nur an den Alkohol, eine Flasche Wodka war für ihn wie ein Gott gewesen. Kasachstan war ein vom Alkohol verfluchtes Land. Sein Vater hatte geflucht und geprügelt, wenn er betrunken nach Hause gekommen war. Bis er eines Tages zurückgeschlagen hatte. Da war er fünfzehn gewesen. Nun war er achtundzwanzig. Zeit, Ordnung in sein Leben zu bringen.

Im Dom zündete er vier Kerzen an; eine für Nora, eine für seine Mutter, eine für Violetta, die Polin, die geglaubt hatte, dass er sie heiraten würde, und eine für den ersten Mann, den er getötet hatte.

Nein, fiel ihm dann ein, er musste auch eine Kerze für sich selbst aufstellen. Für das, was er vorhatte, würde er all seine Kraft brauchen.

Juri würde ihn nicht finden.

2.

Sie hatte geschrien, so laut, dass ihre Stimme von den Wänden widerhallte. Für einen Moment hatte sie sich erschreckt. Früher, mit Martin, hatte sie gestöhnt, geseufzt, hatte sanft seinen Namen geflüstert, aber nie hatte sie geschrien, wenn sie sich geliebt hatten. Aus schlechten Filmen kannte man diese Lustschreie, hatte sie gedacht. Doch nun war es ihr mit diesem Mann passiert, den sie gar nicht kannte.

Er war spät abends im Lapidarium am Eigelstein aufgetaucht, irgendwann hatte er neben ihr gestanden und hatte sie müde angelächelt. »Ich heiße Ben«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. »Wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

»Ich gehe auch nie in solche Kneipen«, hatte Birte Jessen entgegnet.

»Und warum bist du jetzt hier?« Er hatte gelächelt, ein großer, dünner, schwarzhaariger Mann, den ein Geheimnis umgab. Ja, so hatte er auf sie gewirkt – geheimnisvoll und gleichzeitig ehrlich. Er war attraktiv, hatte ein paar interessante Falten um die dunklen Augen und den Mund. Ein Schweiger, dachte sie. So einer redet nicht viel.

»Ich habe mich gelangweilt«, erwiderte sie und nahm das Glas Kölsch, das er ihr reichte.

Er hatte nur die Augenbrauen in die Höhe gezogen. Im Hintergrund hatte ein Mann Gitarre gespielt, kölschen Blues. So etwas gab es in dieser Stadt. Es musste halb vier gewesen sein, als sie die Kneipe zusammen verließen.

Irgendwie war klar gewesen, dass sie in seine Wohnung fahren würden.

Ich bin sonst nicht so, hatte sie ihm nicht gesagt. Ich habe mich nur einmal zu einem One-Night-Stand hinreißen lassen, und diese Nacht ist in einer Katastrophe geendet. Doch seit sie ihr Kind verloren hatte, war alles anders.

Das Gefühl der Leere trieb sie in solche Kneipen – um der Stille und Leere zu entgehen, tat sie Dinge, die ihr früher im Traum nicht eingefallen wären.

Birte Jessen war überrascht gewesen, als das Taxi sie in die Südstadt fuhr, vorbei an den superschicken Kranhäusern. Wohnte Ben etwa hier? Medien, hatte er ziemlich vage auf ihre Frage erwidert, mit was er sein Geld verdiene. Sie hatte sich als Geigenbauerin ausgegeben, eine Lüge, die ihr plötzlich gefiel. Und weil sie die Lüge noch größer machen wollte, hatte sie hinzugefügt, ihr Mann baue auch Geigen.

Ben hatte sie zu den alten Speicherhäusern geführt. Ihr Gerede von einem Ehemann hatte ihn nicht abgeschreckt. Mit dem Fahrstuhl waren sie hinaufgefahren, und plötzlich hatte sie sich gegen seine Brust gelehnt und mit den Tränen gekämpft, aber er hatte es nicht gemerkt.

Die Wohnung war groß und vollkommen leer. Nur die Küche war eingerichtet – Chrom und Glas und eine silbern schimmernde Kochinsel inmitten des Raumes. Im Wohnzimmer standen als einziges Mobiliar ein riesiger Flachbildschirm und ein teures, nagelneues Ledersofa. Im Schlafzimmer befanden sich eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug und ein eingebauter Spiegelschrank. Jeder andere Mann hätte sich sogleich für den Zustand der Wohnung entschuldigt oder ihr eine Erklärung geboten. Ben jedoch hatte ihr ein Glas Wasser gereicht, als wäre sie eine Verdurstende, und dann hatten sie sich auf der Matratze gegenseitig im Dunkeln ausgezogen. Vor einer lang gestreckten Fensterfront schwebte ein sanftes Licht, das von einem halben Mond oder einer Laterne stammen konnte. Es roch nach Diesel; von irgendwoher war das Tuckern eines Schiffsmotors zu hören. Sein magerer Körper hatte ihr gefallen und auch die Art, wie er sie an den Hüften packte und wie er ihre Brust mit seiner Zunge liebkoste.

Er war so anders als Hinrichs, der Pressesprecher der Kölner Polizei, ihr erster One-Night-Stand – eine Art Gegengift. Ja, so redete sie sich ein, sie tat das alles, um endlich diesen verdammten Schatten loszuwerden, den Hinrichs auf sie warf. Er verfolgte sie, lief ihr nach, bedachte sie mit verdeckten Komplimenten und Beschimpfungen. Und nun hatte er auch noch durch eine unbedachte Bemerkung von Nele Kracht, ihrer Assistentin, erfahren, dass sie schwanger gewesen war und ihr Kind bei dem letzten großen Einsatz verloren hatte.

Als Ben eine Zigarette geraucht hatte, war sie eingeschlafen. Lüge, hatte sie gedacht, irgendwie ist alles Lüge und falscher Schein. Sie war ein wenig betrunken, aber nicht so sehr, wie sie es sich wünschte.

Gegen sieben war Birte aufgewacht und hatte sich aus der Wohnung geschlichen, und nun ging sie an den Kranhäusern vorbei und blickte auf den schmutzig grauen Rhein. Vielleicht sollte sie einmal auf den Strom hinausrudern, nicht immer nur auf den Fühlinger See; allein in einem Skiff, gegen die Wellen ankämpfen, die von den Lastkähnen verursacht wurden, und sich völlig verausgaben, wie damals in ihrer Jugend, als sie mit drei Freundinnen Regatten gefahren war und fast immer gewonnen hatte.

Wenn sie ehrlich war, war neben dem Dom der Rhein das Einzige, was ihr wirklich an Köln gefiel. Wie oft hatte sie schon daran gedacht, nach Hamburg zurückzukehren, sich in St. Georg oder im Schanzenviertel eine Wohnung zu nehmen, aber Martin war tot, und vor Kurzem war auch seine Mutter gestorben. Ihre Wohnung und das Atelier auf St. Pauli, wo sie ihre Geigen gebaut hatten, existierten nicht mehr.

Birte überlegte, auf der Rheinuferstraße ein Taxi anzuhalten. Sie kam sich ungewaschen vor und brauchte dringend einen Kaffee. Als ihr Mobiltelefon klingelte, dachte sie sofort an Ben. Er vermisste sie, dann fiel ihr ein, dass sie ihm ihre Nummer gar nicht gegeben hatte. Er wusste nichts von ihr, nicht einmal ihren richtigen Vornamen. Sie hatte sich Heidi genannt – wie dieses blonde, geschäftstüchtige Fotomodell, das immer in der Zeitung stand.

»Hallo, Bella«, sagte eine dunkle, unausgeschlafene Stimme. Auch Jan Schiller hatte offenbar eine kurze, schwierige Nacht verbracht. »Wieso bist du nicht zu Hause?«

Birte räusperte sich. »Ich mache einen Spaziergang«, sagte sie unfreundlich. »Sehe mir die Stadt an. Ist Samstag – mein freier Tag.«

Sie hörte, wie er einen Schluck Kaffee trank – er war ein Kaffeesüchtiger und kippte an manchen Tagen, wenn sie Dienst hatten, ein, zwei Liter von dieser schwarzen Brühe in sich hinein.

»Tut mir leid«, sagte er ein wenig spöttisch. »Wird heute nichts mit Shoppengehen oder Schönheitsschlaf. Warst du schon mal im Theater?«

Sie schwieg. Ein erster Jogger rannte an ihr vorbei, und im Innern des Olympiamuseums sprangen die Lichter an.

»Da müssen wir hin«, fuhr Jan fort. »Schauspielhaus – wir haben eine Tote.«

3.

Jan Schiller fühlte sich beobachtet, als er auf die Straße trat. So war es ihm in den letzten Tagen häufiger gegangen, als würde ihn jemand verfolgen und beschatten.

Die Paranoia greift um sich, dachte er bitter.

Carla und er wohnten wieder unter einem Dach in ihrer gemeinsamen Wohnung in der Sülzburgstraße, doch von neuer Liebe und Zweisamkeit konnte keine Rede sein.

Carla war krank. Seit ein Mörder sie in einem alten Rauchhaus in der Eifel tagelang in völliger Dunkelheit gefangen gehalten hatte, konnte sie kaum mehr auf die Straße gehen. Nachts musste er das Licht brennen lassen; jede Art von Dunkelheit ließ sie zittern und verursachte ihr Schweißausbrüche. Sie war eine andere geworden. Ein Besuch im Cinenova in Ehrenfeld, ihrem Lieblingskino, war zur Katastrophe geworden. Kaum war das Licht gelöscht worden, hatte sie neben ihm Atemnot bekommen; er hatte gehört, wie sie zu keuchen und zu würgen begann. Andere Paare in ihrer Nähe hatten entrüstet gezischt, und dann war Carla förmlich über sie gesprungen und hatte sich im Foyer übergeben müssen.

Seit fünf Wochen ging das schon so, und nun hatte sie, die erfolgreiche Kindertherapeutin, selbst eine Therapie beginnen müssen.

Außerdem hatte er sie zweimal dabei ertappt, wie sie mit Gabriel Hagen redete, dem alten Schriftsteller, der über ihnen gewohnt hatte. Gemeinsam mit Hagen hatte Carla einen vermeintlichen Kinderschänder zur Strecke bringen wollen – Hagen hatte es mit dem Leben bezahlt. Nun machte sie sich Vorwürfe, an seinem Tod schuld zu sein. Schiller versuchte es ihr auszureden, aber vergeblich. Manchmal meinte er, dass sie jedes tröstende Wort, das er ihr sagte, wie eine weitere Verwundung empfand.

Verdammt, er war kein Therapeut – er wollte einfach nur mit ihr zusammenleben und glücklich sein.

Als der Anruf aus dem Präsidium kam, dass man im Schauspielhaus eine Leiche gefunden hatte, war er beinahe froh, die Wohnung verlassen zu können. Er hatte auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen – im Dunkeln.

Schiller hatte keine Ahnung, wann er das letzte Mal im Theater gewesen war. Carla hatte ihn einmal mitgeschleppt. Peer Gynt – die Geschichte eines eitlen, halb wahnsinnigen Norwegers, die von der Regisseurin in ein Altenheim verlegt worden war. Er wäre am liebsten in der Pause an der Bar stehen geblieben, aber Carla hatte ihm unbedingt die Szene mit der Zwiebel zeigen wollen, die ihn dann jedoch nicht besonders beeindruckt hatte. Der irre Norweger schälte eine Zwiebel und stellte fest, dass sie nur aus Hüllen besteht, aber keinen Kern besitzt. Eine fulminante Erkenntnis!

Schiller fuhr über die Nord-Süd-Fahrt heran, drehte am 4711-Haus und parkte direkt vor dem Schauspielhaus, einem hässlichen, unscheinbaren Bau, der eigentlich abgerissen werden sollte. Nun hatte man sich offenbar dazu entschieden, das Haus lediglich zu renovieren. Zwei uniformierte Beamte standen vor der Tür und nickten ihm zu. Einer begleitete ihn am Aufgang zu den Zuschauerräumen vorbei hinter die Bühne. Sie gingen einen dunklen Betongang entlang, in dem es muffig roch und der von nackten Neonröhren erleuchtet wurde.

»Der Hausmeister hat die Leiche entdeckt«, sagte er. »Er hat noch den Notruf absetzen können, dann ist er zusammengebrochen. Er liegt in der Uniklinik.«

Schiller nickte. Verstohlen schaute er sich nach einem Kaffeeautomaten um. So früh am Morgen würde er ohne einen Kaffee kaum auf Touren kommen.

Bert Cremer, neben Birte Jessen der Dritte in ihrem Team, war schon da; er stand an der Tür und wischte sich müde über das Gesicht. Eigentlich war er der Frühaufsteher unter ihnen.

»Sieht übel aus, die Lady«, sagte er und machte einen Schritt zur Seite.

Schiller blickte in ein mittelgroßes, fensterloses Büro. Zuerst sah er einen vollgekritzelten Wandkalender, daneben gerahmte Fotos – manchmal lächelnde, manchmal ernst schauende Schauspieler. Einige Gesichter meinte er zu kennen. Dann glitt sein Blick zu einem sehr aufgeräumten, fast leeren Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop stand, schließlich zu der Person, die daneben lag: eine schöne, schlanke Frau, schwarzhaarig, Anfang vierzig. Ihre dunklen Augen blickten starr zur Decke, sie trug ein schwarzes Kleid und lag mit verdrehten Beinen da; aus ihrer Brust ragten zwei Pfeile.

»Sie ist wahrscheinlich verblutet«, sagte Cremer und deutete in das Zimmer. »Der Hausmeister hat gemeint, die Armbrust hat an der Wand gehangen.« Er seufzte. »Da musste der Täter nicht lange nach einer Waffe suchen.«

Eine antik aussehende Armbrust war sorgsam drei Meter neben der Leiche abgelegt worden. Schiller schloss für einen Moment die Augen. Das Bild des Tatorts hatte sich bereits in sein Gehirn eingebrannt. Die Leiche lag in einem Theater, und wie inszeniert sah dieser Mord aus, als würde der Täter sich in diesem Metier bestens auskennen.

»Sie ist barfuß«, fuhr Cremer fort. »Trägt keine Schuhe, aber vielleicht gehörte sie zu diesen Leuten, die am liebsten barfuß laufen.«

Schiller öffnete die Augen wieder. Für einen Moment dachte er an Carla. Er musste sie anrufen. Er hatte ihr nicht Bescheid gesagt. Wenn sie aufwachte, würde sie sich in einer leeren Wohnung wiederfinden.

»Wer ist die Frau?«, fragte er.

Cremer schnaubte, und eine Frauenstimme sagte: »He, Jan, du hast wirklich keine Kultur. Sie ist Inka Boog, die Intendantin, ein Genie und eine Hexe – so steht es jedenfalls in der Zeitung.«

Birte Jessen stand hinter ihnen in der Tür.

Sie sieht krank aus, dachte Schiller, als er sich zu ihr umwandte, fast so krank wie Carla. Es war seltsam. Dass sie ihr Kind, das sie eigentlich nicht hatte haben wollen, verloren hatte, schien sie aus der Bahn geworfen zu haben. Wo habe ich dich am Telefon erwischt?, wollte er sie fragen. Zu Hause in ihrer schicken Wohnung am Hermeskeiler Platz war sie jedenfalls nicht gewesen.

»Seit wann kennst du dich mit Theater aus?«, fragte er unfreundlicher, als er klingen wollte.

Birte verzog das Gesicht. Hinter ihr tauchte Schultke von der Spurensicherung mit zwei Männern auf. Sie hatten schon ihre obligatorischen weißen Papieranzüge übergestreift. Nun musste nur noch Schroeter, der Rechtsmediziner, erscheinen. Und wahrscheinlich würde sich auch jemand von der Staatsanwaltschaft blicken lassen.

»Eigentlich sollte ich heute mit meinen Kindern Schuhe kaufen gehen – mit allen sieben«, sagte Schultke und lächelte. »Was für ein Glück, dass ihr mich gerufen habt!«

Im nächsten Moment klingelte ein Handy. Sofort dachte Schiller an Carla. Sie wollte wissen, wo er abgeblieben war, doch das Summen drang vom Schreibtisch. Neben dem Laptop lag ein iPhone, wie ihm erst jetzt auffiel. Mit drei Schritten war er im Zimmer. Gegen seinen Willen warf er einen Blick auf die Tote, die trotz der blutigen Pfeile in der Brust ungeheuer schön war, und ging an den Apparat.

Er brachte ein tonloses »Ja?« heraus.

»Was soll das?«, sagte eine aufgebrachte Männerstimme. »Wo bist du? Bist du mit zu ihm gegangen? Du hättest diese Nacht mit mir verbringen müssen …« Der Mann verstummte, es hörte sich an, als würde er an einer Zigarette ziehen. »Ich wünschte«, setzte er dann hinzu, »ich könnte ohne dich leben.«

»Wer sind Sie?«, fragte Schiller. Er spürte die Blicke der anderen auf sich gerichtet, und irgendwie hatte er das Gefühl, auch die Tote würde ihn anschauen.

»Was ist los?«, fragte der Mann, nun überrascht. »Habe ich mich verwählt? Spreche ich gar nicht mit dir, Inka?«

»Nein«, erwiderte Schiller. »Hier spricht Jan Schiller, Hauptkommissar bei der Kölner Polizei.«

4.

Jan machte sich tatsächlich auf, um irgendwo im Haus einen Kaffee zu besorgen. Birte beobachtete von der Tür, wie Schroeter an die Arbeit ging. Grauer von der Spurensicherung begann Fotos zu machen, und später würde vermutlich auch Hinrichs auftauchen. Als Pressesprecher der Kölner Polizei nutzte er jede Gelegenheit, sich ihr zu nähern.

»War das Kind von mir?«, hatte er sie gestern Abend am Telefon gefragt. Als sie aus dem Fenster geblickt hatte, hatte sie gesehen, dass er in ihrem Innenhof stand, an dem künstlich angelegten Teich, und zu ihr heraufschaute. Ein Schauer war ihr über den Rücken gefahren.

»Nein«, hatte sie gesagt. »Nicht von dir…«

»Von wem dann?« Er hatte die Worte förmlich ins Telefon gespien.

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