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Keiner in Ägypten ist mächtiger als der Pharao Cheops, und die große Pyramide, an der seit zehn Jahren Tausende von Arbeitern bauen, wird seine Herrschaft im Reich der Toten fortsetzen. Dennoch findet Cheops an nichts mehr Gefallen, alles langweilt ihn. Um ihn zu zerstreuen, führen seine Höflinge einen berühmten Wahrsager und Zauberer zu ihm. Die Bestürzung ist allerdings groß, als der Zauberer nicht wie erwartet einige amüsante Geschichten zum Besten gibt, sondern prophezeit, dass ein an diesem Tag im Hause des Hohen Priesters geborenes Kind den Thron übernehmen wird. Cheops und seine Söhne setzen alles daran, das Kind aufzuspüren. »Ich bin ein Sohn zweier Zivilisationen, die sich zu einem fruchtbaren Bund vereint haben. Die eine ist die etwa 7000 Jahre alte Pharaonenzeit und die andere die islamische Zivilisation.« Nagib Machfus in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises
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Seitenzahl: 349
Um den von Langeweile geplagten Pharao Cheops zu zerstreuen, führen seine Höflinge einen berühmten Wahrsager und Zauberer zu ihm. Doch statt amüsante Geschichten zum Besten zu geben, prophezeit dieser, dass ein an diesem Tag geborenes Kind den Thron übernehmen wird. Cheops und seine Söhne setzen alles daran, das Kind aufzuspüren.
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Nagib Machfus (1911–2006) gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur.
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Doris Kilias (1942–2008) arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig.
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Nagib Machfus
Cheops
Roman
Aus dem Arabischen von Doris Kilias
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Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 1939 unter dem Titel Abath al-aqdar in Kairo.
Das Nachwort von Raymond Stock ist der englischen Ausgabe von Abath al-aqdar entnommen, die 2003 unter dem Titel Khufu’s Wisdom in der American University in Cairo Press erschien.
Originaltitel: Abath al-Aqdar (1939)
© by Nagib Machfus 1939
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Wandmalerei aus dem Grab des Nebamun in Theben, 18. Dynastie, um 1420 v. Chr.
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30568-7
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
CHEOPS
1 – Cheops, der Sohn des Chnum, Herrscher göttlicher Größe …2 – Nicht lange, und Prinz Hordadif kehrte in Begleitung …3 – Der Pharao brach mit hundert Streitwagen auf …4 – Der Hohe Priester kniete am Bett seiner Frau …5 – Der Hohe Priester hätte vor lauter Freude am …6 – Gemächlich rollte der Karren dahin. Zaja hielt die …7 – Kurz vor Mitternacht hatte man Memphis erreicht …8 – Die Häuser, die der Pharao für die Angehörigen …9 – In diesem Palast also sollte Dadaf-Ra seine Kindheit …10 – Man mag es bedauern, aber so ist es …11 – Der Monat Tut war fast verstrichen. Dadaf blieben …12 – Bei Sonnenaufgang erreichte der Wagen Mara-Abis, das schönste …13 – Der Bauherr Mirabu hatte den Pharao um eine …14 – Es war ein Tag, an dem in Bascharus …15 – Dadaf schritt die Snofru-Straße entlang. Er merkte gar …16 – Es war der Tag der Träume. Dadaf barg …17 – Die nächsten vier Wochen, die er in der …18 – Dadaf hatte das sechste und damit letzte Jahr …19 – Es war so weit: Dadaf sollte den väterlichen …20 – Dadaf hatte das sichere Gefühl, dass er hier …21 – Das Leben im Palast des Kronprinzen verlief für …22 – Einige Tage später verbreitete sich im Palast die …23 – Der Kronprinz hatte es ernst gemeint, als er …24 – Am nächsten Tag übernahm Dadaf sein neues Amt …25 – Ganz Ägypten erlebte eine Zeit größter Anstrengungen …26 – Der Tag brach an. Heerführer Dadaf befand sich …27 – Ein Wagen des Spähtrupps stürmte auf die Truppen …28 – In Memphis wartete man gelassen auf die ersten …29 – Das Heer stand unmittelbar vor der großen Mauer …30 – Memphis, die Stadt mit den weißen Mauern …31 – Die Unterredung mit dem Pharao, die einen so …32 – Ungewollt sollte der alte Bascharu Zeuge des Geschehens …33 – Bevor Rada Didit noch einmal auf das Misstrauen …34 – Der Tag war noch nicht angebrochen, da begann …35 – Als der Pharao mit seinem Gefolge in den …Von Raymond Stock: NachwortMehr über dieses Buch
Über Nagib Machfus
Nagib Machfus: Das Leben als höchstes Gut
Nagib Machfus: Rede zur Verleihung des Nobelpreises 1988
Tahar Ben Jelloun: Der Nobelpreis hat Nagib Machfus nicht verändert
Erdmute Heller: Nagib Machfus: Vater des ägyptischen Romans
Gamal al-Ghitani: Hommage für Nagib Machfus
Hartmut Fähndrich: Die Beunruhigung des Nobelpreisträgers
Über Doris Kilias
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Cheops, der Sohn des Chnum, Herrscher göttlicher Größe, saß auf einem goldenen Ruhebett, das auf der Terrasse seines Schlafgemachs stand. Er ließ den Blick über den weitläufigen und üppig grünenden Garten des Palasts schweifen – ein wahres Paradies in dem ewig ruhmvollen Memphis mit seinen weißen Mauern. Um Cheops scharten sich seine Söhne und einige Männer seines Vertrauens. Der goldene Saum seines Seidengewands glänzte im Licht der sich gen Westen neigenden Sonne. Entspannt lehnte er den Rücken an ein mit Straußenfedern prall gefülltes Kissen und stützte die Ellbogen auf brokatene Polster. Die hohe Stirn und der stolze Blick zeugten von seiner erhabenen Größe, der breite Brustkorb, die muskulösen Arme und die Adlernase von seiner männlichen Kraft. Er strahlte die Würde des Vierzigjährigen aus, den die Aura pharaonischen Ruhms umgab.
Sein Blick streifte kurz die Söhne und Vertrauten, bevor er sich wieder der Sonne zuwandte, die sich hinter den hohen Palmen langsam senkte. Gelegentlich wandte er sich auch nach rechts, um den fernen Hügel zu betrachten, in dessen Erde die Gebeine unzähliger Vorfahren ruhten. Auf dem Hügel wimmelte es von Menschen. Tausende waren damit beschäftigt, Sand abzutragen und Felsblöcke zu spalten, um Platz für das gewaltige Fundament einer Pyramide zu schaffen. Sie sollte, so des Pharaos Wille, ein Wunder an Baukunst werden, das die Menschen für ewige Zeiten in ihren Bann zog.
Der Pharao liebte dieses abendliche Beisammensein in vertrauter Runde. Es war die Stunde, da die Last der zeremoniellen Förmlichkeiten und rituellen Vorschriften von ihm abfiel und er den Söhnen Kamerad und den Gefährten Freund sein konnte. Gelöst nahm er an den Gesprächen teil, bei denen es nicht nur um bedeutende Dinge ging, sondern auch um alltägliche Begebenheiten. Man erfreute sich an heiteren Anekdoten, sprach aber auch über die Widrigkeiten des Lebens und die unabwendbare Macht des Schicksals.
An jenem Tag, der in grauer Vorzeit liegt und von den Göttern als Beginn unserer Geschichte erkoren wurde, kam man auf die Pyramide zu sprechen, die Cheops als Heimstatt ewigen Lebens und Ruhestätte seines Leibes errichten ließ. Mirabu, der als Bauherr großen Anteil am künstlerischen Aufschwung Ägyptens hatte, war gerade dabei, seinem königlichen Gebieter den Entwurf zu erläutern. Er ging ausführlich darauf ein, wie er sich die weitere Arbeit an diesem gewaltigen Bauwerk vorstellte.
Der König hörte eine Weile aufmerksam zu, doch als er sich bewusst machte, dass der Beginn der Bauarbeiten bereits zehn Jahre zurücklag, konnte er seinen Ärger nicht länger unterdrücken. »Mein lieber Mirabu, ich weiß, dass du ein großartiger Künstler bist, aber wie lange willst du mich noch warten lassen? Du wirst nicht müde, von dem riesigen Ausmaß der Pyramide zu schwärmen, doch bislang wird noch immer am Fundament gebaut. Schon zehn Jahre lang stelle ich dir tausende von Menschen, alles kräftige Männer, zur Verfügung, und ich habe dafür gesorgt, dass dich die fähigsten Künstler meines Volks unterstützen. Aber trotzdem ist von dieser Pyramide, die du mir versprochen hast, nichts zu sehen. Allmählich habe ich das Gefühl, dass sich die anderen Grabbauten, die doch auch ihren Zweck erfüllen, über diesen sinnlosen Aufwand lustig machen. Immerhin kosteten sie nicht einmal ein Hundertstel von dem, was wir bereits ausgegeben haben.«
Mirabu machte ein zerknirschtes Gesicht und zog die dunkle Stirn in Falten. »Das mögen die Götter verhüten, mein Hoher Gebieter, dass ich unnötig Zeit verschwende und all die Mühe Spielerei für mich ist«, erwiderte er mit seiner sanften, wohlklingenden Stimme. »Von dem Augenblick an, in dem ich mich entschloss, die Verantwortung zu tragen, tat ich alles dafür, dass diese ewige Heimstatt meines Pharaos die Menschen alles vergessen lässt, was sie bisher für Ägyptens größte Wunder gehalten haben. Nein, wir haben in diesen zehn Jahren keine Zeit vergeudet, sondern Unglaubliches vollbracht. Keine Riesen, keine Dämonen hätten leisten können, was wir erreicht haben. Wir haben in das Felsmassiv einen Kanal geschlagen, damit das Wasser des Nils bis zum Hügel fließt. Wir haben Felsen, die fast schon die Größe eines Bergs hatten, gespalten und geschliffen, sind mit diesen Brocken umgegangen, als kneteten wir Teig. Wir bringen sie aus dem tiefsten Süden in den äußersten Norden. Wenn man sieht, wie sich die Felsblöcke auf den Schiffen zu Bergen türmen, könnte man glauben, mein Gebieter, dass die Sprüche eines mächtigen Zauberers sie über das Wasser gleiten lassen. Und schaut Euch an, wie die Arbeiter geradezu ehrfürchtig am Werk sind, als würde sich gleich die Erde spalten und als würden die Gebeine all jener ans Licht kommen, die seit tausenden von Jahren im Boden ruhen.«
Der König lächelte spöttisch. »Erstaunlich, wirklich erstaunlich. Da haben wir dich beauftragt, eine Pyramide zu bauen, und was machst du? Baust einen Fluss. Meinst du, dass dein Gebieter das Reich der Fische regiert?«
Er lachte schallend los, und auch die anderen schmunzelten. Nur der Kronprinz Rachuf blieb ernst. Trotz seines jugendlichen Alters neigte er dazu, eine besondere Strenge, ja Härte an den Tag zu legen. Er hatte vom Vater zwar die Fähigkeit geerbt, sich Respekt zu verschaffen, aber dessen freundliches Wesen besaß er nicht. »Auch ich kann mich nur wundern über die vielen Jahre, die mit der Vorbereitung des Baus vertan werden«, erklärte er in scharfem Ton. »Ich weiß, dass die heilige Pyramide, die König Snofru errichten ließ, in sehr viel kürzerer Zeit erbaut wurde.«
Mirabu legte die Hand auf die Stirn. Höflich, aber auch niedergeschlagen bemerkte er: »Königliche Hoheit, hier, in diesem Schädel, steckt ein Geist, der auf ungewöhnliche Weise arbeitet. Ständig ist er auf der Suche nach Neuem und drängt auf Vollkommenheit. Er strebt danach, das höchste Ideal in einer sichtbaren Form erstehen zu lassen, und deshalb hat er mir, nach vielen Mühen, eine unerhörte, großartige Idee aufgezwungen, für die ich alles gebe, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. So bitte ich Euch, mein Gebieter, und auch Euch, Prinz Rachuf, habt Geduld!«
Es herrschte Schweigen. Durch die Stille des Abends drang Musik. Es war die Zeit der Ablösung der Palastwache, und die Kapelle begleitete die Soldaten in ihre Unterkunft. Der Pharao dachte über Mirabus Worte nach. Als die Musik nur noch aus der Ferne zu hören war, schaute er Chumini an, den Hohen Priester im Tempel des Gottes Ptah und Wesir des Königs. Mit dem ihm eigenen freundlichen Lächeln fragte er: »Was meinst du, Chumini, sollte Geduld zu den Tugenden eines Pharaos zählen?«
Der Hohe Priester strich sich nachdenklich den Bart und antwortete schließlich: »Der unsterbliche Philosoph Kakumna, der Wesir des Königs Huta, sagte: In Zeiten der Verzweiflung ist die Geduld des Menschen Zuflucht, denn sie schützt ihn vor Elend und Not.«
Der König lachte. »Das sind die Worte des Wesirs von König Huta, aber was sagt Chumini, der Wesir des Königs Cheops?«
Wieder dachte der Hohe Priester nach, doch gerade, als er sich anschickte zu antworten, rief Kronprinz Rachuf mit dem Ungestüm eines Zwanzigjährigen: »Hoher Gebieter, natürlich ist die Geduld eine Tugend, da hat der Philosoph Kakumna Recht. Nur geziemt sie nicht Königen. Den Schwachen mag sie Trost im Unglück bieten, aber Könige sind dazu ausersehen, Widrigkeiten nicht geduldig zu ertragen, sondern sie zu bezwingen. Statt Geduld haben die Götter dem Herrscher Stärke gegeben.«
Die Augen des Königs funkelten; das freundliche Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zu allem entschlossen war. O ja, er konnte sich noch gut daran erinnern, was er mit seiner Stärke im Leben erreicht hatte. Mit einem Feuer, als sei er der Zwanzigjährige, erklärte er: »Das hast du gut gesagt, mein Sohn, ich bin sehr stolz auf dich. Ja, Stärke ist die Tugend der Könige, und sie würde allen Menschen eigen sein, wenn sie wüssten, wie sie sie zur Richtschnur ihres Handelns machen können. Einst regierte ich als Prinz eine kleine Provinz, dann wurde ich der König von Ägypten. Dass ich mich vom Rang eines Prinzen in den des Königs erhob, gelang mir einzig und allein durch Stärke. Machthungrige, Aufsässige und Widersacher, die mich belauerten und darauf warteten, mich aus dem Weg zu schaffen, gab es zur Genüge. Dagegen half nur, sich stark zu zeigen und ihnen die Zungen abzuschneiden, die Hände abzuhacken und ihnen die Luft zum Atmen zu nehmen. Einmal verfielen die Nubier vor lauter Dummheit dem Wahn, den Gehorsam zu verweigern und einen Aufstand zu wagen. Und was brach ihren Widerstand und zwang sie zur Vernunft? Stärke zeigen und hart durchgreifen. Wie habe ich es erreicht, in den Rang eines Gottes aufzusteigen, sodass mein Wort Gesetz ist, aus meinem Mund göttliche Weisheit spricht und mir zu gehorchen, eine heilige Pflicht ist? Einzig und allein dank meiner Stärke.«
Eifrig ergänzte Mirabu: »Und dank Eurem göttlichen Wesen, mein Gebieter.«
Der Pharao schüttelte verächtlich den Kopf. »Göttliches Wesen? Ist das vielleicht etwas anderes als Stärke?«
»Gewiss«, bekannte Mirabu, »nämlich Barmherzigkeit und Liebe.«
Mit dem Finger auf Mirabu weisend, erklärte der Pharao: »So seid ihr Künstler. Ihr schleift die härtesten Felsen, aber eure Herzen sind lauer als die Morgenbrise. Doch statt mit dir herumzustreiten, will ich dir lieber eine Frage stellen. Mit deiner Antwort will ich unser Gespräch für heute beenden. Seit zehn Jahren arbeitet ein Heer von starken Männern für dich. Keiner kennt die Arbeiter so gut wie du, niemand weiß besser, was sie im Innersten denken und fühlen. Was ist der Grund, warum sie derart gehorsam sind und diese harte Arbeit geduldig ertragen? Sprich ehrlich und aufrichtig.«
Mirabu nahm sich Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Schließlich sagte er ruhig und durchaus selbstbewusst: »Bei den Arbeitern, mein Gebieter, gibt es zwei unterschiedliche Gruppen. Da sind zunächst die Kriegsgefangenen und fremden Zwangsarbeiter. Ihnen ist es völlig gleichgültig, was sie tun. Sie treten zur Arbeit an, ohne von irgendeinem höheren Gefühl beseelt zu sein. Sie verrichten sie genauso stumpf wie der Büffel, der seine Runden um das Wasserrad dreht. Ohne Aufsicht und ohne Stock könnten wir bei ihnen nichts ausrichten. Dann sind da die Einheimischen. Die meisten von ihnen kommen aus Oberägypten, und das sind Menschen, die gläubig, stolz und ausdauernd sind. Sie halten körperlichen Qualen stand und ertragen geduldig Not und Elend. Sie wissen genau, was sie tun. Mit ganzem Herzen glauben sie, dass diese schwere Arbeit, der sie ihr Leben widmen, eine heilige Aufgabe ist, mit der sie Gott dem Herrscher dienen. Leiden ist für sie Anbetung, Qualen sind süße Marter. Die gewaltigen Opfer, die sie bringen, betrachten sie als eine Pflicht, mit der sie sich dem Willen des göttlichen Wesens beugen, das über die Ewigkeit herrscht. Ihr müsstet nur einmal sehen, wie sie mittags in der Gluthitze der sengenden Sonne auf die Steine einschlagen, schnell wie der Blitz und beharrlich wie das Schicksal. Und dabei singen sie noch oder sprechen Gedichte.«
Die Mienen der Männer hatten sich während der langen Rede zusehends aufgeklärt; Freude und Stolz zeichneten sich auf den Gesichtern ab. Sogar der Pharao blickte weniger streng. Als er sich erhob, war das für sein Gefolge das Zeichen, ebenfalls aufzustehen. Gemessenen Schritts durchmaß er die große Terrasse, bis er das südliche Ende erreicht hatte. Er ließ den Blick in die Ferne schweifen, hin zu dem Hügel der Ewigkeit, auf dessen heiligem Boden die langen Reihen der Arbeiter zu sehen waren. Was für ein erhabener, großartiger Anblick! Wie viele Qualen diese Menschen auf sich nahmen. War es rechtens, dass sich tausende von ehrbaren Männern um seines Ruhmes willen so schwer plagten? War es geboten, dieses Volk nur um seines, des Pharaos, Glücks willen sich untertan zu machen?
Von Zeit zu Zeit regte sich sein Gewissen, und dann überkam ihn eine Unruhe, die an seiner Stärke und seinem Selbstvertrauen nagte. Eine kleine Wolke hatte sich am klaren, blauen Himmel verirrt, die ihn beunruhigte, ihm die Brust eng machte und sein Glück trübte. Jäh drehte er dem Hügel den Rücken zu und starrte sein Gefolge zornig an. Die Männer schauten bestürzt drein.
»Wer muss sein Leben für einen anderen aufs Spiel setzen?«, fragte er. »Soll sich das Volk für den Pharao opfern oder der Pharao für das Volk?«
Alle schwiegen betreten, nur der Heerführer Arbu bewahrte Haltung und sagte mit kräftiger Stimme: »Jeder von uns, ob er nun zum Volk gehört oder Führer oder Priester ist, würde sein Leben für den Pharao opfern.«
»Und die Prinzen auch!«, rief einer der Söhne des Pharaos. Es war Harsadif.
Der Pharao verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln, trotzdem war ihm sein Unmut noch deutlich anzusehen.
»Mein Hoher Gebieter, göttlicher Herrscher«, sprach Chumini, »wie sollte man zwischen Eurem erhabenen Wesen und dem Volk Ägyptens einen Trennungsstrich ziehen? Das wäre, als trennte man den Kopf vom Herzen, als risse man die Seele aus dem Leib. Ihr steht ein für des Volkes Ruhm, Ehre, Macht und Stärke. Es verdankt Euch nicht nur sein Leben, sondern auch sein Glück. Die Zuneigung, die das Volk für Euch empfindet, ist frei von Unterwürfigkeit oder knechtischem Dienen. Sie ist gezeichnet von ehrlicher Treue, von steter Liebe für Euch und das Land.«
Wieder lächelte der Pharao, und nun wirkte er schon wesentlich entspannter. Mit großen Schritten kehrte er zu dem goldenen Ruhebett zurück und nahm Platz, worauf sich auch die Männer seines Gefolges setzten. Sie waren sichtlich erleichtert, nur Rachuf, der Kronprinz, schien sich noch wegen der Grübeleien des Vaters Sorgen zu machen. »Warum lasst Ihr Euch von irgendwelchen trüben Gedanken Euren inneren Frieden nehmen? Ihr regiert auf Geheiß der Götter und nicht im Auftrag eines Menschen. Deshalb könnt Ihr über die Menschen herrschen, wie es Euch beliebt, und braucht Euch keine Gedanken darüber zu machen, dass Euch jemand wegen Eures Handelns befragen könnte.«
»Mein lieber Sohn«, entgegnete der Pharao, »ich weiß um meine Stellung. Wenn andere Könige sich darum streiten, wer mehr Macht besitzt, muss ich nur sagen – ich bin der König von Ägypten.« Er seufzte, bevor er leise, als spräche er zu sich selbst, sagte: »Die Worte des Prinzen Rachuf sind einem schwachen Herrscher, nicht aber dem mächtigen Cheops, dem Pharao Ägyptens, angemessen. Dieses Reich ist das gewaltige Werk vieler Menschen, die ihr Leben geopfert haben. Doch was ist das Leben des Einzelnen schon wert? Für den, der weit vorausschaut und den Ruhm unvergänglich machen will, ist ein einzelnes Leben keine Träne wert. Deshalb greife ich hart und ohne Zögern durch, deshalb regiere ich mit starker Hand. Und wenn ich Hunderttausende ins Unglück treibe, geschieht das nicht, weil ich einfältig oder selbstsüchtig bin, sondern weil mein Blick den grauen Schleier des Horizonts durchdringt und meine Augen den erwarteten Ruhm dieses Landes erschauen. Die Königin hat mich einmal bezichtigt, ein grausamer Herrscher zu sein. Nein, Cheops ist lediglich ein weitsichtiger König. Er gebärdet sich wie ein reißender Tiger, aber in seiner Brust schlägt das Herz eines großmütigen Hirten.«
Es setzte Schweigen ein. Die Männer waren des langen, ernsthaften Gesprächs überdrüssig. Nichts wünschten sie sich mehr, als einfach miteinander zu plaudern und die alltäglichen Sorgen zu vergessen. Auch die Einladung zu einem sportlichen Wettkampf oder einem köstlichen Gelage mit Musik hätte ihnen gefallen. Aber in letzter Zeit empfand der König alle Vergnügungen, die ihm die eng bemessene Freizeit ließ, als eintönig. Kaum merkte der Tagesplan eine erholsame Pause vor, empfand er Überdruss und schaute sein Gefolge gelangweilt an.
»Soll ich meinem Gebieter ein Getränk reichen?«, fragte Chumini.
Der Pharao schüttelte den Kopf. »Ich trank heute, ich trank gestern, ich trank vorgestern …«
»Ich könnte die Musikerinnen rufen«, schlug Arbu vor.
»Die höre ich ständig, von morgens bis abends.«
»Wie wäre es, wenn wir auf die Jagd gingen?«, meinte Mirabu.
»Ich bin es satt, zu jagen, sei es zu Wasser oder zu Lande.«
»Wir könnten eine Spazierfahrt machen und uns die Bäume und Blumen ansehen.«
»Gibt es im Tal irgendetwas, das ich noch nicht gesehen habe?«
Alle schwiegen bedrückt. Den König in diesem Zustand zu sehen, machte den Männern das Herz schwer. Niemand wusste Rat, bis auf Prinz Hordadif. Er hielt für den Vater eine Überraschung bereit. »Königlicher Vater, falls Ihr es wünscht, könnte ich Euch einen großartigen Zauberer kommen lassen. Er sieht das Verborgene und kennt alle Geheimnisse des Lebens und des Todes. Wenn er zu einem Ding sagt: Sei!, dann ist es«, erklärte er.
Dieses Mal winkte der Pharao nicht vorschnell ab; er schwieg und schaute seinen Sohn neugierig an. Er hatte schon viel über die Wunder der Magie gehört, ließ sich auch öfter von den seltsamen Kunststücken der Zauberer erzählen. Umso mehr freute er sich, dass er einen dieser seltsamen Männer kennen lernen könnte. »Was ist das für ein Mensch, Prinz Hordadif?«
»Er heißt Dedi, mein Gebieter. Er ist bereits einhundertzehn Jahre alt und hat sich trotzdem die Frische und Stärke eines jungen Mannes bewahrt. Er besitzt die erstaunliche Gabe, den Willen von Menschen und Tieren zu beherrschen, und er kann mit seinem Blick den Schleier durchdringen, hinter dem das Verborgene liegt.«
Plötzlich fiel aller Überdruss vom König ab, und erwartungsvoll fragte er: »Kannst du ihn gleich jetzt herbeischaffen?«
»Gebt mir ein wenig Zeit, ein paar Minuten, dann bin ich mit ihm hier.« Er sprang auf, verbeugte sich tief vor seinem Vater und lief fort.
Nicht lange, und Prinz Hordadif kehrte in Begleitung eines Mannes zurück. Er war groß, hatte breite Schultern und einen durchdringenden Blick. Seinen Kopf krönte weißes, weiches Haar, und der dichte Bart reichte ihm bis auf die Brust. Er trug ein langes, locker fallendes Gewand und stützte sich auf einen dicken Stock.
Der Prinz verbeugte sich und sagte: »Mein Gebieter, vor Euch steht Euer gehorsamer Diener, der Zauberer Dedi.«
Der Zauberer warf sich vor dem König nieder, küsste den Boden, und als er sich erhob, sprach er: »Hoher Gebieter, Sohn des Chnum, Licht der strahlenden Sonne, Herrscher der Welten, auf ewig sei Ruhm mit Euch und Glück für alle Zeiten.« Seine Stimme klang so mächtig, dass alle ergriffen schwiegen.
Der Pharao antwortete freundlich. »Warum habe ich dich noch nie gesehen, obwohl du doch schon siebzig Jahre vor mir das Licht der Welt erblickt hast?«
»Mögen Euch die Götter ein langes Leben, Gesundheit und Kraft schenken«, erwiderte der betagte Mann. »Menschen meines Schlags haben nur dann das Glück, vor Euch zu erscheinen, wenn Ihr sie auffordert zu kommen.«
Der König lächelte und sah den Zauberer neugierig an. »Kannst du wirklich Wunder vollbringen? Und ist es wahr, dass du dir Menschen und Tiere zu Willen machen kannst und den Schleier zu lüften weißt, hinter dem die Zeit das Künftige verbirgt?«
Dedi nickte so heftig, dass sein Bart auf der Brust auf und ab wippte. »So ist es, mein Gebieter.«
»Ich möchte, dass du mir einige deiner Wunder zeigst.«
Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Mit großen Augen starrten alle den Zauberer an. Aber der schien keine Eile zu haben, denn statt an die Arbeit zu gehen, blieb er stocksteif stehen. Nach etlichen Minuten lächelte er grimmig. Sein Blick streifte flüchtig die Gesichter der Anwesenden, dann sagte er: »Zu meiner Rechten schlägt ein Herz, das nicht an mich glaubt.«
Erschrocken schauten die Männer einander an. Der König, den der Scharfsinn des Zauberers tief beeindruckte, fragte: »Befindet sich unter euch jemand, der an Dedis Zauberkunst zweifelt?«
Der Heerführer Arbu zuckte verächtlich mit den Schultern. Er trat an den König heran und sagte: »Hoher Gebieter, ich halte solche Kunststücke für reine Spielerei. Mehr noch, es sind listige Betrügereien, mit denen sich Müßiggänger und Faulenzer die Zeit vertreiben.«
»Wozu lange reden, wenn wir den Mann hier haben«, entgegnete der König. »Bringt einen Löwen her und lasst ihn auf ihn los. Dann werden wir sehen, ob er ihn mit seiner Zauberkraft bändigen kann.«
»Vergebt mir, Hoher Gebieter«, erwiderte Arbu. »Wozu brauchen wir einen Löwen, soll er doch an mir seinen Zauber vorführen. Wenn er will, dass ich an ihn glaube, müsste er es schaffen, meinen Willen zu brechen und mich meiner Kraft zu berauben.«
Es trat bedrückte Stille ein. Auf manchen Gesichtern zeichnete sich Besorgnis ab, auf anderen höchste Erwartung. Offenbar hofften etliche Männer darauf, dass dem Heerführer gleich etwas Ungeheures zustoßen würde. Alle starrten den Zauberer an, denn keiner wollte sich entgehen lassen, was er mit dem widerspenstigen Arbu tun würde. Der Zauberer jedoch regte sich nicht, sondern lächelte nur selbstsicher.
Der Pharao lachte laut los und fragte mit unverhohlenem Spott: »Bist du dir selbst so wenig wert, Arbu?«
Mit kräftiger Stimme tönte Arbu: »Ich bin mir, Hoher Gebieter, sehr viel wert, aber ich verlasse mich auf meinen Verstand, der über solchen Unfug nur spotten kann.«
Prinz Hordadif fuhr den Heerführer scharf an: »Dann sollst du haben, was du willst! Mein König, lasst Dedi auf diese Herausforderung antworten.«
Der Pharao schaute erst seinen aufgebrachten Sohn, dann den Zauberer an und sprach: »Nun denn, zeig uns, wie du mit deiner Kunst den Riesen Arbu besiegst.«
Der Heerführer bedachte den Zauberer mit einem verächtlichen Blick, und gerade als er sich wieder von ihm abwenden wollte, spürte er auf einmal, wie ihn eine ungeheure Kraft zu dem alten Mann zog, näher und näher, sodass er ihm schließlich Auge in Auge gegenüberstand. Rasend vor Wut versuchte er, seinem Blick auszuweichen, aber seine Augen rührten sich nicht. Ohnmächtig musste er sich darein ergeben, in die hervortretenden, glühenden Augen des Zauberers zu starren, die wie zwei Kristalle die Strahlen der Sonne zurückwarfen. Der starke Glanz blendete ihn, seine Augen verloren ihre Kraft, und plötzlich wurde es finster um ihn.
Als Dedi sicher war, dass sich der Heerführer nicht mehr regte, erhob er sich, wies auf dessen Platz und befahl mit donnernder Stimme: »Setz dich!«
Folgsam kam Arbu dem Befehl nach. Taumelnd wie ein Berauschter ging er zum Sessel und nahm Platz. Die Unterwürfigkeit, mit der er sich in sein Verderben schickte, konnte einen jammern.
Vor Verblüffung entfuhr allen ein »Ah!«. Prinz Hordadif lächelte voller Genugtuung. Dedi hingegen schaute ehrerbietig den Pharao an und sagte höflich: »Hoher Gebieter, ich könnte ihm jetzt alles befehlen, was gewünscht wird, und er würde es tun. Aber es tut mir Leid, einen Mann vorzuführen, der der größte Heerführer unseres Landes und ein treuer Begleiter unseres Pharaos ist. Gebt Ihr Euch mit dem zufrieden, was Ihr gesehen habt?«
Der König nickte. Dedi eilte zu dem immer noch vor sich hin dämmernden Arbu. Während seine Finger sacht über dessen Stirn glitten, sprach er mit leiser Stimme seltsame Formeln. Ganz allmählich wachte der Heerführer auf. Seine Sinne regten sich wieder, und er kam zu Bewusstsein. Er richtete sich auf und schaute sich verwirrt um. Offenbar begriff er nicht, wo er sich befand. Als aber sein Blick auf Dedi fiel, schien er sich auf der Stelle zu erinnern; sein Gesicht färbte sich rot. Er stand auf und machte ein paar unsichere Schritte, wobei er es tunlichst vermied, den Furcht einflößenden Mann anzublicken.
Der König lächelte. »Nun bist du wohl eines Besseren belehrt.«
Der Heerführer senkte den Kopf und erwiderte mit gedämpfter Stimme: »Groß ist die Macht der Götter, und erhaben sind ihre Wunder im Himmel und auf Erden.«
»Gut gemacht, großartig«, sagte der König zum Zauberer. »Aber hast du über das Verborgene genauso viel Macht wie über die Geschöpfe?«
»Ja, Hoher Gebieter.«
Für eine Weile schwieg der König, als müsse er überlegen, welche Frage er dem Zauberer stellen könnte. Endlich hellte sich sein Gesicht auf. »Kannst du mir sagen, welchem von meinen Söhnen es beschieden ist, einst den Thron zu besteigen?«
Der Mann schaute bestürzt auf, Schrecken zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Der Pharao begriff, dass ihm die Antwort auf eine so wichtige Frage schwer fiel. »Sprich frei heraus, du brauchst nichts zu befürchten«, versicherte er ihm.
Der Zauberer sah den König eindringlich an, dann hob er den Kopf gen Himmel und schien inbrünstig zu beten. Es verging eine lange Zeit, ohne dass er auch nur eine Regung machte oder ein einziges Wort sprach. Als er den Kopf wieder senkte, war sein Gesicht aschfahl, die Lippen waren blutleer und sein Blick verstört. Vor Schreck verkrampften sich die Herzen, denn jeder fühlte, dass Unheil drohte.
Prinz Rachuf verlor die Geduld. »Wieso redest du nicht, obwohl dir der Pharao zugesichert hat, dass dir nichts geschieht?«
Da stieß der Zauberer hervor: »Hoher Gebieter, nach Euch wird keiner Eurer Nachkommen auf dem Thron Ägyptens sitzen.«
Das war ein Schlag, der dem Schrecken eines plötzlich aufkommenden, verheerenden Sturms glich. Alle starrten den Zauberer zornig an, und ihre Augen funkelten derart böse, dass man glauben konnte, das Weiß des Augapfels würde Funken sprühen. Das Gesicht des Pharaos sah finster und bedrohlich aus, gleich einem Löwen, der zum Sprung ansetzt. Prinz Rachuf presste die Lippen zusammen, sein bleiches Gesicht kündete Unheil an.
Als wollte der Zauberer die Wirkung seiner Worte ein wenig mildern, stammelte er: »Hoher Gebieter, Ihr werdet bis zum Ende Eures langen und glücklichen Lebens ungefährdet herrschen.«
Der König zuckte verächtlich mit den Schultern und fuhr den Mann an: »Wem es nur darum geht, seine Haut zu retten, ist dem Untergang geweiht. Also hör auf, mich besänftigen zu wollen, und sag mir lieber, ob du weißt, wen die Götter dazu erkoren haben, ihnen auf den Thron zu folgen.«
»Sehr wohl, Hoher Gebieter. Es ist ein Kind, das an diesem Morgen das Licht der Welt erblickt hat.«
»Wer ist der Vater?«
»Der Vater ist Mun-Ra, der Hohe Priester im Tempel Ra in der Stadt Un. Seine Mutter ist eine junge Frau mit Namen Rada Didit, die der Priester in hohem Alter geheiratet hat, damit sie ihm dieses Kind, das das Schicksal als Herrscher vorgesehen hat, gebärt.«
Von Zorn überwältigt, sprang der Pharao vom Ruhebett auf und stürzte wie ein wütender Löwe in zwei Sätzen zum Zauberer hin. »Bist du dir bei dem, was du da sagst, ganz sicher?«
Mit heiserer Stimme erwiderte Dedi: »Ich habe Euch, hoher Gebieter, das enthüllt, was im Buch des Verborgenen geschrieben steht.«
»Nun gut, sei unbesorgt. Du hast getan, was du tun musstest, deshalb sollst du auch deinen Lohn bekommen.« Er winkte einen Kammerherrn herbei und befahl ihm, dem Zauberer Dedi fünfzig Goldstücke auszuhändigen. In Begleitung des Kammerherrn verließ der Zauberer die Terrasse.
Prinz Rachuf befand sich im Zustand äußerster Erregung. Seinen Augen war anzusehen, welche Grausamkeit sein Herz beherrschte. Das versteinerte Gesicht kündete von Tod und Verderben.
Der Pharao hatte seine eigene Art, seinen Zorn zu bändigen. Er raste und brüllte nicht, sondern bezwang mit starkem Willen den Aufruhr seiner Gefühle. In widrigen Zeiten war ihm eine Entschlossenheit eigen, als könnte er Berge niederstampfen und die Gestirne in andere Bahnen lenken. Er drehte sich zu seinem Wesir um und fragte mit dröhnender Stimme: »Weiser Chumini, meinst du, dass man gegen das Schicksal etwas ausrichten kann?«
Der Wesir zog nachdenklich die Augenbrauen in die Höhe, presste die Lippen aufeinander und war bemüht, einen ruhigen und gefassten Eindruck zu machen.
»Ich sehe, dass du Furcht hast, die Wahrheit zu sagen, Chumini. Um mich zufrieden zu stellen, würdest du lieber bestreiten, weise zu sein. Das musst du nicht, denn dein Gebieter ist darüber erhaben, zornig zu werden, wenn er die Wahrheit hört.«
Chumini war kein Feigling und auch kein Schmeichler, er war ein treuer Untertan des Königs und des Kronprinzen. Es schmerzte ihn, sie in solcher Bedrängnis zu sehen. Dennoch musste er ihnen seine ehrliche Meinung sagen. »Mein Gebieter, ich stehe zu der Weisheit der Ägypter, mit der die Götter sie beschenkt haben, und ich stehe auch zu den Worten, die der Priester Kakumna verkündete – gegen das Schicksal kann man sich nicht wehren.«
König Cheops sah den Kronprinzen an. »Und was meinst du?«
Rachufs Augen glühten zornig – ein Löwe, der in eine Falle geraten war.
Der König lächelte. »Wenn das Schicksal wirklich unabwendbar ist, wären die schöpferischen Fähigkeiten der Menschen genauso überflüssig wie die Weisheit des Lebens. Das aber bedeutet, dass die Würde des Menschen verächtlich gemacht wird, dass eifriges Streben und Faulheit, Wachheit und Schlafen, Stärke und Schwäche, Standhaftigkeit und Unterwürfigkeit auf eine Stufe gestellt werden. Nein, dem Schicksal blind zu folgen, ist ein Irrglaube. Niemand, der stark und tatkräftig ist, wird sich ihm unterwerfen.«
Begeistert rief Arbu: »Groß ist Eure Weisheit, mein Gebieter!«
Wieder lächelte der Pharao, und mit fester Stimme sprach er: »Unweit von uns befindet sich ein Säugling. Also auf, mein Heerführer Arbu, stelle mir Streitwagen bereit. Ich werde mich nach Un begeben, um mir mit eigenen Augen diesen schicksalhaften Sprössling anzusehen.«
Überrascht fragte Chumini: »Wie das? Der Pharao will höchstpersönlich dort erscheinen?«
Der König lachte. »Wenn ich mich jetzt nicht daranmache, meinen Thron zu verteidigen, wann sollte ich es dann tun? Wer bei der großen Schlacht zwischen Cheops und dem Schicksal dabei sein will, kann mich gern begleiten.«
Der Pharao brach mit hundert Streitwagen auf, die je von zwei Soldaten gelenkt wurden. Heerführer Arbu hatte die stärksten Männer ausgewählt. Der König führte die Garde an, umgeben von der Schar der Prinzen und seinem Gefolge. Zu seiner Rechten befand sich Rachuf, zu seiner Linken der Heerführer.
Sie folgten dem rechten Nilufer in nordöstliche Richtung. Die Räder dröhnten wie Donner, und die Erde erbebte unter ihnen. Hinter der Garde wirbelten Wolken aus Sand und Staub auf, sodass dem schönen Memphis ein prächtiges Schauspiel entging: die dahinfliegenden Wagen, die edlen Pferde, die Männer, die wie Statuen auf den Wagen standen, bewaffnet mit Schwertern, Bogen, Pfeilen und geschützt von glänzenden Schilden. Es war ein Anblick, der die in der Erde Schlummernden an die Garde Minas erinnert hätte. Vor zweihundert Jahren hatten sie dem Norden einen großartigen Sieg und damit die ersehnte Einheit des Reichs und eine ruhmvolle Geschichte gebracht.
Sie stürmten voran, weiter und weiter, angeführt von dem allgewaltigen Herrscher, dessen Name allein schon die Herzen erschauern und die Blicke senken ließ. Nein, kein Land sollte erobert, kein Heer in die Knie gezwungen werden, es galt, ein kleines Kind zu überwältigen, das noch in den Windeln lag und scheu ins Licht der Welt blinzelte. Es galt, die Vision eines Zauberers zunichte zu machen, die besagte, dass dieses Kind den mächtigsten Thron der Welt bedrohen und die edelsten Herzen der Menschheit beben machen würde.
Mit unglaublicher Schnelligkeit kam die Garde im Niltal voran, vorbei an Weilern und Dörfern. Die Männer richteten den Blick drohend in die Weite des Horizonts, der sich auch über dem Winzling wölbte, den das Schicksal für ein beängstigendes Spiel erwählt hatte.
In etlicher Entfernung wirbelten plötzlich Sandwolken auf, doch noch war nicht zu erkennen, was der Grund dafür war. Es dauerte eine Weile, bis sie erkennen konnten, dass eine Schar Reiter auf sie zukam, die zweifellos aus der Provinz Ra stammte. Diese rückten näher und näher, und schließlich sahen sie, dass ein Reiter vorauspreschte und die anderen ihm nachsetzten. Entweder war er der Anführer der Gruppe, oder er wurde verfolgt. Als nur noch wenige hundert Meter die Garde des Pharaos von der Reiterschar trennte, verschlug es den Männern den Atem – der einzelne Reiter war eine Frau, die auf einem ungesattelten Pferd ritt. Ihre Zöpfe hatten sich aufgelöst, und das lange Haar flatterte im Wind wie Segel am Mast. Offenbar ließen ihre Kräfte nach, denn sie wurde langsamer. Die Reiter holten sie ein und umzingelten sie.
Genau in diesem Augenblick stieß die Garde des Pharaos auf die Reiterschar. Die Männer mussten die Pferde zügeln, um ausweichen zu können. Weder den Pharao noch sonst einen seiner Männer kümmerte es, warum die Reiter die Frau verfolgten. Wahrscheinlich hatte sie etwas verbrochen, und die Reiter sollten sie ihrer gerechten Strafe zuführen. Schon wollten sie weiterpreschen, da hörten sie die Frau plötzlich rufen: »Zu Hilfe, Soldaten, helft mir! Diese Männer wollen verhindern, dass ich zum Pharao reite!«
Mit einem Ruck blieb der Wagen des Pharaos stehen, und auch die anderen Wagen hielten an. Er schaute auf die Reiter und rief in Befehlston: »Lasst die Frau in Ruhe!«
Aber die Reiter dachten nicht daran, dem Befehl zu folgen. Einer von ihnen, er trug das Rangzeichen eines Offiziers, trat an den Pharao heran und erklärte barsch: »Wir gehören zum Wachtrupp von Un und führen einen Befehl des Hohen Priesters aus. Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?«
So viel Unverschämtheit musste die Männer empören. Schon holte Arbu Luft, um den Kerl in seine Schranken zu weisen, da gab ihm der König heimlich ein Zeichen, sich zurückzuhalten. Dass die Reiter einem Befehl des Hohen Priesters folgten, stimmte ihn nachdenklich. Er wollte herausfinden, was es damit auf sich hatte. »Warum verfolgt ihr diese Frau?«
»Ich erteile nur meinem Kommandanten Auskunft über mein Tun«, erklärte der Offizier von oben herab.
Von Zorn gepackt, brüllte der Pharao ihn an: »Lass diese Frau sofort los!«
Die Soldaten begriffen, dass es jemand Wichtiges sein musste, der vor ihnen stand. Sie ließen von der Frau ab, die noch im gleichen Augenblick zum Wagen des Pharaos stürzte und sich ängstlich darunter verbarg. »Helft mir, Herr, helft mir!«, flehte sie.
Arbu stieg von seinem Wagen herunter und ging auf den Offizier zu. Kaum sah der auf Arbus Schulter den Adler und das pharaonische Hoheitszeichen prangen, fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Er nahm Haltung an, grüßte, indem er das Schwert hob, und rief seinen Soldaten zu: »Salutiert vor dem Führer der Garde des Pharaos!«
Die Männer hoben die Schwerter und standen wie Statuen da.
Kaum hatte die Frau vernommen, vor wem sie sich befand, richtete sie sich auf und stammelte: »Seid Ihr wirklich der Führer der Garde unseres Gebieters, des Königs? Die Götter haben mich auf den Weg zu ihm geschickt. Ich bin vor meiner Herrin geflohen und will zum Palast des Pharaos, denn er ist groß in seiner Güte.«
»Hast du ein Anliegen, das du vorbringen möchtest?«, fragte Arbu.
»Ja, Herr. Ich weiß um ein gefährliches Geheimnis, das ich unserem anbetungswürdigen Gebieter anvertrauen will.«
»Was ist das für ein gefährliches Geheimnis, gute Frau?«
»Ich kann es nur Seiner Heiligkeit, dem Pharao, sagen.«
»Aber ich bin sein getreuer Diener, der ein Geheimnis zu hüten weiß.«
Verwirrt sah die Frau von einem zum anderen. Sie sah blass aus und atmete heftig. Sie machte einen so verstörten Eindruck, dass es der Heerführer für besser hielt, sie mit freundlichen Worten abzulenken. »Wie heißt du, und wo lebst du?«
»Ich heiße Sarga, Herr, und war bis heute Morgen Dienerin im Palast des Hohen Priesters des Ra-Tempels.«
»Und warum verfolgen dich diese Männer? Hast du eine Schuld auf dich geladen, wegen der dein Herr Klage gegen dich erhebt?«
»Ich bin eine ehrenwerte Frau, aber mein Herr hat mich schändlich behandelt.«
»Bist du deshalb geflohen? Willst du etwa diese Klage beim Pharao vorbringen?«
»Aber nein, Herr. Es geht um viel Wichtigeres. Die Sache ist gefährlicher, als Ihr denkt. Ich muss unseren Hohen Gebieter warnen, deshalb bin ich geflohen. Wenn unserem göttlichen Pharao Gefahr droht, ist es meine Pflicht, ihn zu warnen. Aber mein Herr hat mir die Soldaten hinterhergeschickt, damit sie mich aufhalten.«
Durch die Reihe der Soldaten ging ein Raunen. Bemüht, jedwede Schuld von sich zu weisen, erklärte der Offizier hastig: »Unser Befehl lautet, eine flüchtige Frau zu verhaften, die mit dem Pferd nach Memphis reiten will. Weder wussten wir, worum es geht, noch, was es mit der Frau auf sich hat.«
»Hast du vor, den Hohen Priester des Verrats zu bezichtigen?«, fragte Arbu die Frau.
»Bitte, lasst mich zu Seiner Hoheit reiten, um ihm das anzuvertrauen, was mir das Herz so schwer macht.«
Der Pharao, der sich die ganze Zeit über abseits gehalten hatte, verlor die Geduld. »Ist dem Priester heute Morgen ein Kind geboren worden?«
Die Frau drehte sich zu ihm um und schaute ihn bestürzt an. »Woher wisst Ihr das, Herr?«, stammelte sie. »Das durfte doch niemand erfahren? Also, das ist wirklich sehr seltsam.«
Die Soldaten warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu, kein Laut kam über ihre Lippen.