Zwischen den Palästen - Nagib Machfus - E-Book
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Zwischen den Palästen E-Book

Nagib Machfus

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Beschreibung

Abd al-Gawwad, der übermächtige Herrscher der Familie, ist gefürchtet und geliebt zugleich: Strotzend vor Vitalität und Lebenslust, ist er ein liebenswürdiger Freund und geistreicher Unterhalter, ein Kenner von Kunst und Gesang, und nicht zuletzt ein feinfühliger Liebhaber schöner Frauen. Doch wenn er die Treppe zu seinem Palast hochsteigt, verwandelt er sich zum gnadenlosen Patriarchen, der Ehefrau, Töchter und Söhne an seinen Fäden führt. Als die Wünsche und Hoffnungen jedes Einzelnen an die Oberfläche kommen, verstricken sich die Familienmitglieder immer tiefer im Geflecht ihrer verunsicherten Beziehungen.

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Seitenzahl: 1090

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Über dieses Buch

Abd al-Gawwad, der übermächtige Herrscher der Familie, ist gefürchtet und geliebt zugleich. Strotzend vor Vitalität und Lebenslust, ist er zu Hause doch der gnadenlose Patriarch, der Ehefrau, Töchter und Söhne an seinen Fäden führt. Die Familienmitglieder verstricken sich immer tiefer im Geflecht ihrer verunsicherten Beziehungen.

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Nagib Machfus (1911–2006) gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur.

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Doris Kilias (1942–2008) arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Nagib Machfus

Zwischen den Palästen

Roman

Aus dem Arabischen von Doris Kilias

Die Kairo-Trilogie I

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die arabische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel Baina l-Kasrain in Kairo.

Ich danke Herrn Ahmed Ezzeldin für die hilfreiche Erläuterung schwieriger Textstellen. Doris Kilias

Originaltitel: Baina l-Kasrain

© by Nagib Machfus 1956

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30588-5

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 23.09.2022, 02:34h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

ZWISCHEN DEN PALÄSTEN

1 – Um Mitternacht wachte sie auf. Wie immer geschah …2 – Als er auf dem Absatz angekommen war …3 – In die Stille des frühen Morgens, den die …4 – Das Esszimmer befand sich ebenso wie das Schlafzimmer …5 – Die Mutter verließ den Erker, und Chadiga folgte …6 – Als die Frauen zu Ende gefrühstückt hatten …7 – Als Herr Abd al-Gawwad sein Geschäft erreichte …8 – Am Nachmittag kam Kamal aus der Chalil-Agha-Schule …9 – Bis auf den Vater trafen sich kurz vor …10 – Als Fahmi und Kamal auf das Dach des …11 – Kamal saß im Salon, um zu lernen …12 – Beim Verlassen des Hauses wusste Jasin genau …13 – Als wäre er am Ende seiner Kräfte …14 – Herr Abd al-Gawwad saß hinter seinem Schreibtisch …15 – Als es Abend war, schloss Herr Abd al-Gawwad …16 – Was im Haus der Tänzerin Zubaida als Festsaal …17 – Herr Abd al-Gawwad saß in seinem Geschäft …18 – Zwar trugen ihn die Füße zum Gamalija-Viertel …19 – Amina öffnete die Tür, steckte den Kopf ins …20 – Chadiga und Aischa hockten, die Gesichter einander zugewandt …21 – Als Kamal aus der Haustür trat, rückte die …22 – Die Augen unverwandt auf den Spiegel gerichtet …23 – Amina war gerade mit dem Kaffeegeschirr beschäftigt …24 – Zu Beginn des Winters erfuhr die »Kaffeeversammlung« eine …25 – Amina, an bittere Erfahrungen gewöhnt, traf das …26 – Kaum hatte Herr Abd al-Gawwad sich auf den …27 – Im Haus herrschte entspannte Stimmung. Jeder hatte das …28 – Umm Hanafi öffnete die Tür und hielt verblüfft …29 – Sie öffnete die Augen und sah Chadiga und …30 – Kaum hatte der Vater das Zimmer verlassen …31 – Am Morgen des lang versprochenen und sehnsüchtig erwarteten …32 – Im Salon angekommen, verließen sie ihre Kräfte …33 – Als Amina an die Tür des alten Hauses …34 – Chadiga und Aischa litten unter der Abwesenheit der …35 – Herr Abd al-Gawwad trank in seinem Zimmer den …36 – Die Gattin des verstorbenen Herrn Schaukat möchte Sie …37 – Amina hatte an ihrem Verbannungsort nichts weiter zu …38 – Aischa nahm die Nachricht freudig auf. Das war …39 – Ist es nicht längst Zeit, du kleine Schwulentochter …40 – Drei Bekannte von Herrn Abd al-Gawwad hatten sich …41 – Jasin, noch immer stark betrunken, flüchtete sofort ins …42 – Von dem Vorfall wussten außer dem Vater und …43 – Die Kutsche, die die Mutter, Chadiga und Kamal …44 – Aus der Menge schreiender und jauchzender Jungen …45 – Mit Zainab erschien in der Runde der »Kaffeeversammlung« …46 – Während der Flitterwochen widmete sich Jasin einzig und …47 – Aischa war damit beschäftigt, Chadiga zu schminken …48 – Die Stunde der »Kaffeeversammlung« war gekommen, doch weder …49 – Vor dem Geschäft von Herrn Achmed Abd al-Gawwad …50 – Zur gleichen Zeit, da das Land von der …51 – Herr Abd al-Gawwad saß über seine Bücher gebeugt …52 – England hat das Protektorat erklärt, ohne dass die …53 – Sieh dir nur die Straße an, schau auf …54 – Als vom Backraum das Klatschen des Teigs zu …55 – Niemand konnte behaupten, die Revolution hätte nicht auf …56 – Früh am Morgen, es war noch dunkel …57 – Bis in den späten Vormittag blieben die Brüder …58 – Am frühen Morgen klopfte es an der Tür …59 – Amina blieb den ganzen Tag über in Unruhe …60 – Jasins Eheproblem sollte sich zusehends schwieriger gestalten und …61 – Da die Demonstrationen im Hussain-Viertel nach der Besetzung …62 – Draußen, auf der Straße, kam er wieder ein …63 – Jasin war auf dem Weg zu Achmed Abduhs …64 – Die Beziehung zwischen Kamal und den englischen Soldaten …65 – Es war schon nach Mitternacht, als Herr Abd …66 – Am späten Nachmittag war Herr Abd al-Gawwad aufgewacht …67 – Herr Abd al-Gawwad saß an seinem Schreibtisch und …68 – Es war noch Nacht, aber schon brach sacht …69 – Was ging auf der Straße vor sich70 – In der Nacht fasste Fahmi den Entschluss …71 – Herr Abd al-Gawwad hörte Schritte an der Ladentür …

Mehr über dieses Buch

Über Nagib Machfus

Nagib Machfus: Das Leben als höchstes Gut

Nagib Machfus: Rede zur Verleihung des Nobelpreises 1988

Tahar Ben Jelloun: Der Nobelpreis hat Nagib Machfus nicht verändert

Erdmute Heller: Nagib Machfus: Vater des ägyptischen Romans

Gamal al-Ghitani: Hommage für Nagib Machfus

Hartmut Fähndrich: Die Beunruhigung des Nobelpreisträgers

Über Doris Kilias

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1

Um Mitternacht wachte sie auf. Wie immer geschah das ohne jeden Wecker. Es war lediglich eine Eingebung, die ihr den beharrlichen Wunsch einflößte, genau zu dieser Zeit munter zu werden. Für einen kurzen Moment zögerte sie, war sie sich doch nicht schlüssig, ob sie wirklich die Augen aufschlagen sollte. Noch stürmten Traumbilder und das Gewisper von Gefühlen auf sie ein. Schließlich wurde sie immer unruhiger, und sie bekam Angst, der Schlaf könnte sie betrügen. Sie schüttelte leicht den Kopf, hob die Lider und blickte in die Finsternis des stockdunklen Zimmers. Es gab nicht das geringste Zeichen, aus dem sie hätte schließen können, wie spät es war. Die Straße, die unter ihrem Zimmer lag, kam bis zur Morgendämmerung nicht zur Ruhe. Die Wortfetzen, die zu Beginn der Nacht aus den Kaffeehäusern und Schenken an ihr Ohr drangen, waren auch noch um Mitternacht und kurz vor Sonnenaufgang zu vernehmen. Nichts deutete auf die Zeit hin, außer einem verborgenen, dem Zeiger einer achtsamen Uhr ähnlichen Gefühl und dem Schweigen, das auf dem Haus lag. Es verriet ihr, dass ihr Gebieter noch nicht an die Tür seines Hauses gepocht und mit der Spitze des Stocks noch nicht auf die Stufen der Treppe geschlagen hatte.

Um diese Zeit zu erwachen, war ihr in frühester Jugend zur Gewohnheit geworden, die sie auch in ihren alten Tagen noch bewahrte. Sie war damit vertraut gemacht worden, als sie die Sittsamkeit des ehelichen Lebens zu lernen hatte. Dazu gehörte, um Mitternacht aufzuwachen, zu warten, bis ihr Gebieter von seiner nächtlichen Feier heimkehrte, und ihm zu Diensten zu stehen, bis er endlich schlief. Ohne noch länger zu zögern, richtete sie sich im Bett auf, um der wohligen Verführung, weiterzuschlafen, zu widerstehen. Sie sprach die Worte »Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers«, schlüpfte unter der Bettdecke hervor und stellte die Füße auf den Boden. Sich an den Bettpfosten und Fensterläden entlangtastend, erreichte sie die Tür und öffnete sie. Schwacher Lichtschein drang von einer Lampe herein, die auf einer Konsole im Salon stand. Langsam ging sie auf sie zu, nahm sie in die Hand und kehrte ins Zimmer zurück. Die Öffnung der gläsernen Lampe spiegelte sich an der Decke als zittriger Kreis blassen Lichts wider, von einem Schattenrand umgeben. Sie stellte die Lampe auf den Tisch vor dem Sofa. Helligkeit breitete sich in dem großen viereckigen Raum mit den hohen Wänden und dem gleichmäßig verlaufenden Deckengebälk aus, wobei die kostbare Einrichtung mit dem Teppich aus Schiras, dem großen Bett mit den Messingsäulen, dem gewaltigen Schrank und dem breiten Sofa, bedeckt mit einem kleinen, vielfach gemusterten und farbenfrohen Teppich, im Verborgenen blieb. Die Frau ging zum Spiegel. Als sie ihr Bild betrachtete, bemerkte sie, dass das braune Kopftuch nach hinten verrutscht war und die kastanienbraunen Locken unordentlich auf der Stirn lagen. Sie griff nach dem Knoten, löste das Tuch, legte es sorgsam über das Haar und verknüpfte bedächtig und geschickt die beiden Enden. Dann strich sie sich über die Wangen, als wollte sie die letzten Schlafspuren verwischen. Sie war etwas über vierzig Jahre alt, mittelgroß und wirkte schmal, obwohl ihr ebenmäßiger, wohlproportionierter Körper gut gepolstert war. Das eher längliche, zart geschnittene Gesicht trug eine hohe Stirn. In den kleinen hübschen Augen lag ein träumerischer, honigfarben schimmernder Glanz. Die winzige feine Nase war bei den Flügeln ein wenig breiter. Unter den zart geschwungenen Lippen senkte sich ein spitzes Kinn, und auf der reinen, weizenfarbigen Haut prangte an ihrer rechten Wange ein tiefschwarzer Schönheitsfleck. Als wäre sie in Eile, legte sie sich, als sie auf den Holzerker zuging, den Schleier über Kopf und Gesicht, öffnete die Tür und trat hinein. Als sie in dem vom Zimmer getrennt gelegenen Käfig stand, wendete sie das Gesicht nach rechts und links, um durch die kleinen runden Löcher der geschlossenen Fensterläden einen Blick auf die Straße zu werfen.

Der Holzerker ging auf den Brunnen der Baina-l-Kasrain-Straße hinaus und überragte die Stelle, an der sich die Nahhasin-Straße, die in südlicher Richtung hinunterführte, mit der Baina-l-Kasrain-Straße kreuzte, die nach Norden hinaufstieg. Die Straße links war eng und vielfach gewunden. Dunkelheit hüllte sie ein, die nach oben hin noch dichter wurde, befanden sich doch dort die Fenster der im Schlaf liegenden Häuser. Unten war es ein wenig heller durch die Lichter der Handkarren, die Gaslampen von Kaffeehäusern und einigen Schenken, in denen die nächtlichen Unterhaltungen bis zum Sonnenaufgang andauerten. Die rechte Straße lag völlig im Dunkeln; dort gab es keine Wirtshäuser, sondern nur große Läden, deren Türen früh geschlossen wurden. Nichts lenkte den Blick auf sich, außer den Minaretten der Kalawun- und Barkuk-Moschee, die wie Trugbilder zaubernder Dämonen im Licht der strahlend hellen Sterne funkelten. Hatten sich ihre Augen an diesen Anblick auch seit einem Vierteljahrhundert gewöhnt, so waren sie doch dessen nie überdrüssig geworden. Vielleicht lag das daran, dass sie bei aller Eintönigkeit ihres Lebens nicht wusste, was Überdruss bedeutete. Im Gegenteil, gerade bei diesem Anblick hatte sie Vertrautheit und Freundlichkeit inmitten der Einsamkeit empfunden, die sie lange Zeit ihres Lebens hatte erdulden müssen. Das war, bevor die Kinder auf die Welt gekommen waren. Bis dahin hatte sie in dem großen Haus mit dem sandigen Hof, dem tiefen Brunnen, den zwei Geschossen und weiträumigen, hohen Zimmern den größten Teil des Tages und der Nacht allein zugebracht. Als sie heiratete, war sie ein junges Mädchen von weniger als vierzehn Jahren gewesen. Schon bald darauf, nachdem ihre Schwiegereltern gestorben waren, wurde sie die Herrin des Hauses. Eine alte Frau half ihr, die notwendigen Dinge zu erledigen, verließ sie aber bei Einbruch der Nacht, um im Backraum auf dem Hof zu schlafen. So blieb sie allein in der Welt der Nacht, die von Geistern und Gespenstern erfüllt war. Nickte sie für ein Stündchen ein, wachte sie die nächste Stunde, bis schließlich ihr Gebieter von einer seiner endlosen Nachtfeiern zurückkehrte.

Damit sich ihr Herz ein wenig beruhigte, hatte sie sich angewöhnt, gemeinsam mit der Dienerin, die eine Lampe vorantrug, durch alle Zimmer zu gehen, sich ängstlich in allen Winkeln umzusehen und dann die Räume, einen nach dem anderen, sorgfältig zu verschließen. Sie hatte immer mit dem ersten Geschoss begonnen, im oberen wurde der Vorgang auf die gleiche Weise wiederholt. Dabei sprach sie unentwegt Suren aus dem Koran, die ihr im Gedächtnis geblieben waren, um die Teufel zu vertreiben.

Hatte sie schließlich ihr Zimmer erreicht, schloss sie die Tür ab, schlüpfte ins Bett und hörte nicht auf, die Suren zu zitieren, bis sie eingeschlafen war. Wie sehr hatte sie doch damals, in den ersten Jahren, die Nacht gefürchtet. Über die Welt der Dämonen wusste sie viel mehr als über die Welt der Menschen, und so hatte sie denn auch nie das Gefühl verloren, in diesem großen Haus nicht allein zu leben. Auf längere Zeit konnten die Teufel den Weg zu diesen alten, großen, leeren Räumen nicht verfehlen. Vielleicht hatten sie sich dort sogar schon verkrochen, bevor sie in das Haus gebracht worden war, ja, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt hatte. Zu oft drang ihr deren Geflüster ans Ohr, zu oft streifte sie ihr sengender Atem. Nichts konnte helfen, außer die Fatiha und die Samadija zu sprechen oder in den Holzerker zu eilen und durch die Öffnungen den Blick über die Lichter der Karren und Kaffeehäuser schweifen zu lassen. Sie spitzte die Ohren, um ein Lachen oder Husten aufzuschnappen, das ihr den eigenen Atem wiedergab.

Dann waren nach und nach die Kinder geboren worden. Aber sie, die Neulinge auf dieser Welt, waren nichts weiter als zartes, frisches Fleisch, das weder die Furcht zerstreuen noch das Herz beruhigen konnte. Im Gegenteil, die Angst wuchs, bebte ihre Seele doch nun ihretwegen vor Kummer. Es nahm die Sorge zu, ihnen könnte Übles zustoßen. So barg sie die Kinder in ihren Armen, überschüttete sie mit dem warmen Atem liebevoller Zuneigung und umgab sie beim Schlafen und beim Wachsein mit dem schützenden Panzer von Suren und Amuletten, Beschwörungen und Zaubersprüchen. Aber wirkliche Ruhe fand sie erst dann, wenn der Gatte von seiner Nachtgesellschaft heimkehrte. Es geschah nicht selten, dass sie, wenn sie mit einem Kind gerade allein war, es liebkoste und in den Schlaf zu wiegen versuchte, das Kleine plötzlich an ihre Brust presste, angsterfüllt lauschte und dann laut, als wäre noch jemand im Raum, rief: »Geh weg von uns! Du hast hier nichts zu suchen! Wir sind fromme Muslims, die sich zu Gottes Einheit bekennen!« Voller Inbrunst sprach sie dann hastig die Samadija.

Je länger sie die Geister im Verlauf der Zeit ertragen musste, desto mehr ließ ihre Ängstlichkeit nach, und sie gewöhnte sich sogar etwas an deren Scherze, die ihr ja nie Schaden zugefügt hatten. Das ging so weit, dass sie beim Gefühl, von einem der Geister gestreift worden zu sein, in familiärem Umgangston erklärte: »He, kannst du nicht die Diener des Herrn respektieren? Gott steht zwischen dir und uns, also verschwinde mit Anstand!«

Wirklich beruhigt war sie aber erst, wenn ihr Gebieter nach Hause gekommen war. Allein seine Anwesenheit, ob er nun schlief oder wach war, machte sie sicher und ließ Frieden in ihre Seele einkehren. Da war es ihr gleichgültig, ob die Türen offen oder verschlossen waren, ob das Licht brannte oder nicht. Einmal, im ersten Jahr ihrer Ehe, war sie auf den Gedanken gekommen, in aller Höflichkeit einen gewissen Widerstand gegen sein ständiges nächtliches Feiern laut werden zu lassen. Aber das Einzige, was er daraufhin tat, war, sie bei den Ohren zu fassen und mit kräftiger Stimme zu erklären: »Ich bin der Mann und damit der unumschränkte Herrscher. Ich will nicht die geringste Bemerkung über mein Tun und Lassen hören. Das Einzige, was du zu tun hast, ist zu gehorchen. Also hüte dich davor, mich so weit zu bringen, dich erziehen zu müssen!«

Dieser Vorfall und noch einige weitere Zurechtweisungen hatten sie gelehrt, alles, selbst die Anwesenheit der Teufel, zu ertragen, wollte sie sich nicht seinem Zorn aussetzen. Sie hatte eben ohne Wenn und Aber zu gehorchen. Sie war sogar so eifrig darin, dass sie es nicht einmal mehr wagte, ihn in Gedanken wegen seines nächtlichen Ausbleibens zu schelten. Ihre ganze Seele war von der Achtung seiner würdevollen Männlichkeit erfüllt. Willkür und nächtliches Fernbleiben, selbst über Mitternacht hinaus, gehörten zu den notwendigen Eigenschaften eines solch einzigartigen Wesens. Im Lauf der Zeit kam es sogar so weit, dass sie auf alles, was er tat – gleichgültig, ob ihr das Freude oder Leid bereitete –, stolz war. Sie blieb bei allem, was geschah, die liebende, folgsame, unterwürfige Ehefrau. Keinen einzigen Tag hatte sie es je bereut, sich mit Demut und Sittsamkeit zufriedengegeben zu haben. Wann immer sie sich ihr Leben in Erinnerung rief, zeigten sich ihr nur schöne und glückliche Stunden. Zogen aber zuweilen, trostlosen Schreckensbildern gleich, Ängste und beklemmende Gefühle auf, so rang ihr das nichts als ein bedauerndes Lächeln ab. Hatte sie nicht mit diesem Ehemann, trotz all seiner Schwächen, ein Vierteljahrhundert gemeinsam verbracht und reiche Ernte aus diesem Zusammenleben getragen? Da waren die Kinder – ihre größte Freude. Da war das Haus – voller Hab und Gut und reich gesegnet. Ja, es war ein ausgewogenes, glückliches Leben. Und was die Gesellschaft der Dämonen betraf, so ging das ja immer wieder vorbei, und bisher hatte sie noch jede Nacht ohne Schaden überstanden. Keiner dieser Geister hatte je nach ihr oder einem der Kinder die Hand in böser Absicht ausgestreckt, vielmehr ähnelte ihr Treiben einem Scherzen und Necken. Also gab es auch keinen Grund, sich zu beklagen. Es konnte Gott nicht genug dafür gedankt werden, mit seinen Worten ihr Herz mit Zuversicht erfüllt und mit seiner Gnade ihr ein gutes Leben beschert zu haben.

Selbst die Stunde des nächtlichen Wartens liebte sie von ganzem Herzen, auch wenn dadurch der wohlige Schlaf unterbrochen wurde. Was sie an Handreichungen für den Gebieter noch tun konnte, war ein Dienst, mit dem der Tag sein würdiges Ende fand. Diese Stunde war zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil ihres Lebens geworden, bot sie doch nicht nur reichlich Gelegenheit, den Erinnerungen nachzuhängen, sondern war und blieb auch das lebendige Zeichen liebevoller Fürsorge und aufopfernder Hingabe. Nacht für Nacht wollte sie den Gebieter spüren lassen, mit welchem Glück sie dieser Dienst erfüllte.

So stand sie auch jetzt ruhig und entspannt im Holzerker und schaute durch die Öffnungen hindurch. Mal schweifte ihr Blick zum Baina-l-Kasrain-Brunnen und zur Churunfisch-Gasse hinüber, mal zum Portal des Sultanbads und zu den Minaretten. Dann wieder glitten ihre Augen über die Häuser, die sich auf beiden Seiten der Straße ungleichmäßig und unordentlich aneinanderdrängten, was einer Kolonne von Soldaten glich, die eine bequeme Haltung einnehmen und sich von der harten Disziplin erholen dürfen. Sie lächelte, denn sie liebte die Aussicht auf diese Straße sehr, die, auch wenn alle Gassen und Gässchen schon in tiefem Schlummer ruhten, bis zum Morgengrauen noch wach blieb. Wie viel Zerstreuung fand sie da, wenn sie nicht schlafen konnte, wie sehr fühlte sie sich durch das Treiben in ihrer Einsamkeit erheitert und in ihren Ängsten erleichtert, denn die Nacht bewirkte nichts anderes, als alles Leben mit einer Hülle tiefsten Schweigens zu bedecken, unter der die Stimmen tönten und sich deutlich machen konnten – ähnlich den Schatten auf einem Bild, die dem Porträt Tiefe geben und es klarer hervortreten lassen. Hallte ein Lachen über die Straße, so schien es, als tönte es aus ihrem Zimmer. Floss eine Unterhaltung in normaler Lautstärke, so konnte sie Wort für Wort unterscheiden. Dröhnte ein Husten, so drang noch selbst das letzte Keuchen, gleich einem ächzenden Stöhnen, zu ihr herauf. Und wenn ein Kellner, ähnlich laut wie der Ruf des Muezzins, forderte: »Her mit einer neuen Pfeifenfüllung!«, dann sagte sie sich voller Freude: »Bei Gott, was sind das doch für prächtige Menschen! Selbst zu dieser späten Stunde verlangen sie noch nach Tabak!« Aber dann, wenn sie sich daran erinnerte, dass ihr Mann noch immer nicht zu Hause war, fragte sie sich: »Wo weilt wohl mein Gebieter? Was wird er gerade tun? Möge er wohlauf sein, beim Kommen und beim Gehen.«

Einmal war ihr zugetragen worden, dass es bei einem so wohlhabenden, kräftigen und gut aussehenden Mann wie Herrn Achmed Abd al-Gawwad, der nachts ständig unterwegs war, nicht ausbleiben konnte, mit anderen Frauen zu tun zu haben. An jenem Tag hatte ihr die Eifersucht das Leben vergiftet, und tiefe Trauer hatte sie erfasst. Da sie nicht den Mut fand, mit ihm über das Gehörte zu sprechen, hatte sie sich ihrer Mutter anvertraut. Eine Weile versuchte diese, so gut sie nur irgend konnte, sie mit den sanftesten Worten zu trösten. Dann aber sagte sie: »Er hat dich geheiratet, nachdem er seine erste Frau verstoßen hat. Er hätte sie auch wieder aufnehmen oder neben dir noch eine zweite, dritte oder vierte Frau heiraten können. Sein Vater hat das getan. Also danke Gott, dass er nur dich als einzige Ehefrau behalten hat.«

Wenn dieser Rat der Mutter in jenem Moment, da die Traurigkeit sie gerade am stärksten peinigte, auch nicht viel half, so gestand sie sich im Lauf der Zeit doch ein, dass deren Worte richtig und begründet waren. Selbst wenn das, was ihr da zugetragen worden war, stimmte, dann gehörte eben solch ein Verhalten zu den Eigenschaften eines richtigen Mannes – genauso wie das nächtliche Feiern und das despotische Benehmen. Ein Übel allein war auf jeden Fall besser als mehrere. Sie täte nicht recht daran, einer argwöhnischen Einflüsterung zu erlauben, ihr das angenehme und glückliche Leben zu verderben. Es konnte ja ebenso gut alles nur böser Klatsch oder Lüge sein. So kam sie zu der Meinung, dass sie, die den Mühen des Lebens zu trotzen hatte, sich in die Eifersucht wie in ein rechtskräftiges Urteil, bei dem kein Einspruch erhoben werden konnte, zu schicken hatte. Wollte sie standhaft bleiben, bot sich als einziges Mittel an, sich Geduld zuzusprechen und die eigene Stärke zu beschwören. Das war der einzige Weg, um das, was sie verabscheute, zu bekämpfen. Schließlich wurden die Eifersucht und das Benehmen ihres Gebieters ebenso erträglich wie das Zusammenleben mit den Dämonen.

Noch immer schaute sie auf die Straße hinunter und lauschte den Geräuschen der Nacht, bis plötzlich Hufgeklapper an ihr Ohr drang und sie den Kopf in Richtung der Nahhasin-Straße wendete. Gemächlich näherte sich eine Kutsche, beleuchtet von zwei Lampen. Erleichtert atmete sie auf und flüsterte: »Endlich!« Der Wagen eines Freundes brachte den Gatten wie immer nach der nächtlichen Feier heim und zog dann mit den anderen Männern, die in der Churunfisch-Gasse wohnten, weiter. Als die Kutsche vor dem Haus hielt, hörte sie ihren Mann lachend sagen: »Lebt wohl, mit Gottes Schutz.«

Voller Liebe, aber auch voller Staunen, lauschte sie seiner Stimme. Würde sie ihn nicht jede Nacht zur gleichen Zeit so heiter erleben, dann könnte sie nicht glauben, dass das wirklich ihr Gebieter war. Nicht nur sie, auch die Kinder erlebten ihn durchweg gesetzt, ernst und streng. Woher nahm seine Stimme diesen fröhlichen, lachenden Klang? Was gab ihr diesen leichten, liebenswürdigen Schmelz? Als wollte der Freund, der die Kutsche lenkte, noch ein wenig mit ihm scherzen, sagte er: »Hast du gehört, was das Pferd gesagt hat, als du ausgestiegen bist? Es sei schlimm, einen wie dich jede Nacht nach Hause bringen zu müssen, wo du doch höchstens einen Esel verdient hast.«

Die anderen Männer, die noch im Wagen saßen, brachen in schallendes Gelächter aus. Ihr Ehemann wartete, bis wieder Schweigen einsetzte. Dann erwiderte er: »Hast du nicht gehört, was sich das Pferd darauf selbst antwortete? Bringst du ihn nicht, sagte es, dann besteigt der Bey noch unseren Freund.«

Wieder brüllten die Männer los. Dann aber entschied einer: »Lasst uns den Rest morgen Abend hören«, und der Wagen fuhr in Richtung der Baina-l-Kasrain-Straße weiter. Herr Abd al-Gawwad ging auf die Haustür zu. Die Frau eilte vom Holzerker ins Zimmer und nahm die Lampe. Sie durchquerte den Salon, lief den offenen Gang entlang und blieb auf dem obersten Treppenabsatz stehen. Sie konnte hören, wie das Außentor zuschlug und ihr Gatte es abschloss. Dann schob er den schweren Riegel vor. Sie wusste genau, was jetzt geschah: Beim Schreiten über den Hof nahm seine hochgewachsene Gestalt all die gewohnte Würde und Ernsthaftigkeit an. Mit dem Spaßen war es nun vorbei, und hätte sie nicht gelauscht, wäre ihr seine Heiterkeit als ganz und gar unmöglich erschienen. Nun aber, da der Stock schon auf der Treppe aufschlug, streckte sie den Arm aus, um ihm den Weg zu leuchten.

2

Als er auf dem Absatz angekommen war, eilte sie ihm mit erhobener Lampe voraus. Er folgte ihr, nachdem er ein »Guten Abend, Amina« gebrummelt hatte. Sie antwortete: »Guten Abend, Herr«, und ihre Stimme klang wohlerzogen und demütig.

Nach wenigen Minuten befanden sich beide allein im Zimmer. Amina ging zum Tisch, um die Lampe abzustellen. Der Hausherr hängte den Stock an den Querstab des Bettgestells, nahm den Tarbusch vom Kopf und legte ihn auf das Kissen, das mitten auf dem Diwan prangte. Die Frau trat zu ihm, um ihn zu entkleiden. Da stand er also – groß, mit breiten Schultern, einem gewaltigen Körper und Bauch, zusammengehalten durch die Gubba und den Kaftan, beides sehr elegant und von bester Qualität, Zeichen eines gehobenen, kostspieligen Geschmacks. Das schwarze Haar, das, durch einen Mittelscheitel geteilt, beide Kopfhälften bedeckte, war nicht ganz so ordentlich wie üblich gekämmt. Der große Diamantring und die goldene Uhr sprachen von Reichtum und Wohlstand. Das ovale Gesicht, mit glatter Haut und klaren Zügen, war ausdrucksvoll und zeugte, noch unterstützt durch die Schönheit der großen blauen Augen, von einer starken Persönlichkeit. Die kräftige Nase entsprach der Wohlgeformtheit des Gesichts. Über den vollen Lippen saß ein tiefschwarzer dichter Schnurrbart, dessen Enden mit nicht zu überbietender Sorgfalt gezwirbelt waren. Als die Frau sich ihm näherte, breitete er die Arme aus, damit sie die Gubba abnehmen konnte. Sie faltete sie sorgsam zusammen und legte sie auf den Diwan. Dann trat sie wieder zu ihm, löste den Gürtel des Kaftans, zog ihn herunter, faltete auch diesen achtsam zusammen, um ihn dann auf die Gubba zu legen. Der Herr griff indessen nach dem Gilbab, streifte ihn über, zog sich das weiße Käppchen auf den Kopf. Er gähnte, räkelte sich und setzte sich auf den Diwan. Die Beine von sich streckend, lehnte er den Kopf an die Wand. Die Frau, die indessen die Kleidung beiseitegelegt hatte, hockte sich zu seinen Füßen nieder und zog ihm Schuhe und Strümpfe aus. Als sein rechter Fuß entblößt war, zeigte sich an diesem gut gebauten Körper der einzige Makel: Sein kleiner Zeh hatte durch den ständigen Gebrauch einer Rasierklinge, eines Hühnerauges wegen, Schaden erlitten. Amina ging hinaus, blieb ein paar Minuten fort und kehrte dann mit einer Waschschüssel und einem Krug zurück. Sie stellte die Schüssel auf dem Boden ab, richtete sich auf und hielt den Krug bereit. Der Hausherr richtete sich auf, streckte ihr die Arme entgegen. Sie neigte den Krug, sodass er sich Gesicht und Kopf ausgiebig waschen konnte. Danach nahm er ein Handtuch von der Lehne des Diwans, trocknete sich Kopf, Gesicht und Hände ab, während die Frau die Schüssel ins Bad trug und das Wasser ausschüttete. Das war der letzte Dienst, der zu ihren täglichen Obliegenheiten im großen Haus gehörte und dem sie nun seit einem Vierteljahrhundert, ohne je die geringste Nachlässigkeit zu zeigen, unermüdlich nachkam. Im Gegenteil, sie empfand Freude und heitere Entspanntheit dabei. Sie nahm diesen letzten Dienst mit der gleichen Begeisterung wahr, mit der sie jegliche Tagesarbeit, beginnend kurz vor Sonnenaufgang und endend nach Sonnenuntergang, ausführte. Weil sie unermüdlich arbeitete, trug sie zu Recht den Spitznamen, den ihr die Nachbarinnen gegeben hatten: »die Biene«.

Sie kehrte ins Zimmer zurück, schloss die Tür und zog unter dem Bett ein Sitzkissen hervor, das sie vor den Diwan legte. Sie setzte sich mit verschränkten Beinen darauf nieder, räumte sie sich doch nicht, höflich, wie sie war, das Recht ein, neben ihrem Gatten zu sitzen. Die Zeit verstrich, es herrschte Schweigen. Erst wenn er sie aufforderte, etwas zu sagen, würde sie sprechen. Der Gatte lehnte sich zurück. Das lange Feiern schien ihn erschöpft zu haben, und seine Augenlider, die in dieser Nacht vom Trinken sogar etwas gerötet waren, schienen schwer zu werden. Sein Atem ging keuchend, verbreitete Weingeruch. Obwohl er sich jede Nacht bis zum Vollrausch dem Trinken hingab, achtete er immer streng darauf, erst dann nach Hause zu kehren, wenn die Wirkung des Weins nachgelassen und er die volle Herrschaft über sich selbst wiedererlangt hatte. Er war stets darauf bedacht, den Eindruck in seinem Haus zu verbreiten, auf den er Wert legte – Respekt gebietende Würde. Seine Ehefrau war die einzige Person, die ihm nach dem nächtlichen Feiern begegnen durfte. Aber auch sie bekam nie, außer dem leichten Geruch, etwas von den Folgen zu spüren. Nie war ihr an seinem Verhalten etwas Ungewöhnliches oder gar Zweifelhaftes aufgefallen, abgesehen von der Zeit, als er sich mit ihr gerade verheiratet hatte; doch das war ihr aus der Erinnerung geschwunden. Sie war, was vielleicht seltsam anmutet, geradezu versessen darauf, ihm zu dieser nächtlichen Stunde Gesellschaft zu leisten, denn da sprach er zu ihr und erörterte eingehend die ihn betreffenden Angelegenheiten, was in wachem Zustand sehr selten geschah. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, welch schrecklicher Angst sie an jenem Tag verfallen war, an dem sie gewahr wurde, dass er von seinem nächtlichen Feiern berauscht zurückkehrte. Der Genuss von Wein beschwor alles herauf, was für sie mit ungezügelter Hemmungslosigkeit, mit Wahnsinn und – das war das Abstoßendste – Zuwiderhandlung gegen die Religion verbunden war. Und so hatte sie denn auch immer Ekel und Angst befallen, was so weit ging, dass sie, wenn er zurückkehrte, unter unsäglichen Schmerzen litt. Aber im Verlauf der vielen Tage und Nächte stellte sie fest, dass er bei der Rückkehr von diesen Abendvergnügungen viel liebenswürdiger war als sonst, sein scharfes Auge wurde milder, und er war bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Das ließ ihn vertrauter werden, sodass sie sich heimischer fühlen konnte – auch wenn sie nie vergaß, Gott flehentlich darum zu bitten, ihrem Gebieter den Ungehorsam zu verzeihen. Wie sehr wünschte sie sich, diese Sanftmut an ihm zu erleben, wenn er nüchtern und wach war. Wie sehr war sie über diesen Ungehorsam gegenüber der Religion erstaunt, der ihn geradezu liebenswürdig machte. Lange Zeit war sie hin- und hergerissen zwischen überkommenem religiösem Abscheu einerseits und der Freude über Ruhe und Frieden andererseits. Aber sie verstand es, solcherlei Überlegungen tief im Innern zu begraben, diese so gut zu verbergen, dass sie es sich selbst nicht einmal einzugestehen wagte.

Was nun den Gatten betraf, so war der auf nichts anderes stärker bedacht als auf Autorität und Würde. Zeigte er sich einmal freundlicher gestimmt, schien ihm das ohne eigenes Zutun abgerungen worden zu sein. Zeichnete sich tatsächlich einmal ein Lächeln auf seinen Lippen ab, so wenn er auf dem Diwan saß und in Gedanken noch den nächtlichen Vergnügungen nachhing, wurde ihm das im Handumdrehen bewusst, und gleich kniff er die Lippen wieder zusammen. Ein rascher Blick auf seine Frau versicherte ihm, dass sie wie immer mit gesenktem Blick vor ihm saß. Da kehrte er wieder beruhigt zu seinen Erinnerungen zurück. In der Tat, seine nächtlichen Ausflüge waren nicht mit dem Nachhausekommen beendet, denn in Gedanken hauchte er ihnen neues Leben ein. Sein Herz konnte nicht genug davon bekommen, sich mit unersättlichem Heißhunger von den Freuden des Lebens locken zu lassen. Es war, als sähe er noch immer die fröhliche Runde vor sich, gekrönt von der auserwählten Schar seiner edelsten und engsten Freunde, geschart um eine jener Schönheiten, die sich von Zeit zu Zeit am Himmel seines Lebens zeigten. Noch klangen ihm die Scherze, Geistreicheleien und Wortspiele in den Ohren, für die er eine natürliche Begabung zeigte, sobald ihn der Rausch und die Freude an der Unterhaltung dazu verleiteten. Besonders die schlagfertigen Witzeleien ging er nochmals mit aller Sorgfalt und Genauigkeit durch, woran sich denn auch Stolz und Bewunderung knüpften. Er vergegenwärtigte sich deren Eindruck auf die Anwesenden, waren doch das Frohlocken und der Erfolg groß gewesen, und ein jeder der Männer hatte ihn als liebsten Freund empfunden. Kein Wunder, dass er da oft genug das Gefühl verspürte, die Rolle, die er in einer solchen Runde spielte, käme dem gesuchten Sinn des Lebens gleich. Ihm schien, sein alltägliches Leben wäre nur die Grundlage dafür, in den von Trinken, Lachen, Gesang und Liebe erfüllten Stunden, die er mit seinen besten Freunden verbrachte, den Sieg davonzutragen. Hier und da erstand tagsüber in seinem Innersten wieder einer der trefflichen, schönen Gesänge auf, die im glücklichen Kreis der Freunde erklungen waren, und wenn ihn die Begeisterung zu sehr mitriss, konnte er nicht anders, als von ganzem Herzen auszurufen: »Gott ist groß!« Er liebte diese Gesänge ebenso wie das Trinken, das Lachen, die Freunde, die Frauen. Er hätte es nicht ertragen, wenn er diese Vergnügungen am Abend hätte missen müssen, und selbst der Umstand, dass er sich bisweilen ans andere Ende von Kairo begeben musste, nur um die Lieder von al-Hamuli oder Osman oder al-Manjalawi hören zu können, störte ihn nicht. Ihre Gesänge nisteten sich in seiner großmütigen Seele ein wie die Nachtigall in einem grünenden Baum. Auf diese Weise hatte er sich ein so großes Wissen um das Liedgut und dessen verschiedene Schulen erworben, dass er als Meister im Hören und Verstehen musikalischer Kunst galt. Er liebte den Gesang mit Leib und Seele, und gerade sie, die Seele, wurde beim Hören der Lieder von Großmut überschwemmt. Was aber den Leib betraf, so wühlte ihm gar ein Sturm die Sinne auf, brachte ihn zum Tanzen, vor allem den Kopf und die Hände. Deshalb verbanden sich für Herrn Abd al-Gawwad mit einzelnen Gesangsstücken unvergessliche seelische und körperliche Erinnerungen. Da war zum Beispiel die Zeile »Warum nur ließest du mir die Marter der Liebe und Trennung …« oder »Was morgen geschieht, wissen wir, doch was dann kommt …« oder »Komm doch her und hör dir an, was ich dir zu sagen habe«. Kaum flatterte ihm eine dieser Zeilen zu, an den großen Schatz der Erinnerungen rührend und jene Stätte wieder auferstehen lassend, wo er mit den Freunden getrunken hatte, da schüttelte er verzückt den Kopf, und die Lippen zeigten ein sehnsuchtsvolles Lächeln. Erregt ließ er die Fingergelenke knacken, und manchmal, wenn er allein war, fing er sogar an zu summen. Trotz allem war aber die Musik nicht das Einzige, was ihn in den Bann zog. Der Gesang war wie eine Blume in einem großen Strauß, die darin zwar nicht fehlen durfte, doch nur durch ihn ihre volle Schönheit erfuhr. Der Blume des Gesangs galt der Gruß, aber dem Strauß galt das herzlichste Willkommen des aufrichtigen Freundes, des treuen Gefährten, des edlen Weins, des spritzigen Wortgefechts. Wenn es da Menschen gab, die dem Gesang für sich allein lauschten, wie jene zum Beispiel, die in ihren Häusern vor einem Phonographen saßen, dann war das ohne Zweifel auch sehr hübsch. Doch solche Menschen mussten die Stimmung ebenso missen wie die Vertrautheit der Umgebung und die Beziehungen zu Freunden. Weit gefehlt, dass sein Herz sich damit hätte begnügen können. Ihn verlangte vielmehr danach, zwischen einem Lied und dem nächsten einen Scherz einzuflechten, der die Freunde vor Lachen erbeben ließ. Er suchte den zeitlichen Wettlauf zwischen der Wiederholung eines Verses und dem Schluck aus dem vollen Glas. Er wollte die Spur der Verzückung auf dem Gesicht des Freundes und im Auge des Gefährten sehen. Er wollte hören, wie alle gemeinsam in das Lob von Gottes Einzigartigkeit und Größe einstimmten. Es verstand sich von selbst, dass sich der Nachhall eines solchen Abends nicht allein darauf beschränkte, Erinnerungen nachzuhängen. Zu den guten Wirkungen gehörte auch, dass er nach diesen Feiern fähig war, angenehm entspannt zu wirken, wonach sich seine ihm ergebene, folgsame Frau sehnte. Es machte sie glücklich, wenn sie vor dem heiter gestimmten Mann saß, der sich bereitwillig in ein Gespräch mit ihr einließ, ihr anvertraute, was ihm durch den Kopf ging, und ihr – wenigstens für gewisse Zeit – das Gefühl gab, sie nicht nur als Dienerin um sich zu haben, sondern auch als Lebensgefährtin. So hub er denn auch jetzt an, ihr von den häuslichen Angelegenheiten zu erzählen, teilte ihr mit, dass einige ihm bekannte Händler empfohlen hätten, sich einen Vorrat an Butter, Weizen und Käse anzulegen, ging dazu über, sich über die Preissteigerung zu beschweren sowie über das Fehlen notwendiger Waren, verursacht durch diesen Krieg, der die Welt nun schon seit drei Jahren aufrieb. Wie immer, wenn er auf den Krieg zu sprechen kam, zog er fluchend über die australischen Soldaten her, die sich in der Stadt wie Heuschrecken ausbreiteten und Verderbtheit säten. Tatsächlich aber hasste er die Australier aus einem ganz persönlichen Grund, und zwar weil sie mit ihrer Allgewalt zwischen ihm und den Vergnügungsstätten in Ezbekija den Weg versperrten, denen er deshalb – bis auf wenige Ausnahmen – fernbleiben musste. Er brachte es nicht fertig, sich diesen Soldaten gegenübergestellt zu sehen, die den Leuten in aller Öffentlichkeit ihr Hab und Gut stahlen und sich daran ergötzten, ohne jede Hemmung über die Menschen herzufallen und sie auf alle möglichen Arten zu beleidigen. Nach dem Thema Krieg ging er dazu über, danach zu fragen, wie es »den Kindern« ging, denn so nannte er sie ohne jeden Unterschied, ob das nun der Älteste war, der bereits als Sekretär in der Nahhasin-Schule tätig war, oder der Jüngste, der noch in die Chalil-Agha-Schule ging. Er unterlegte seinem Tonfall besondere Betonung, als er fragte: »Und Kamal? Wehe dir, wenn du mir etwas von seinen Teufelsstreichen verheimlichst!«

Die Frau ging in Gedanken schnell durch, was sie über ihren jüngsten Sohn tatsächlich alles verschwiegen hatte – im Grunde unschuldige Spielereien. Nur leider war der Herr Vater nicht im Geringsten bereit, auch nur einer einzigen Spielerei, einem einzigen Vergnügen Unschuld zuzuerkennen. Also erwiderte sie unterwürfig wie immer: »Er hält sich an die Anweisungen seines Vaters.«

Der Herr des Hauses schwieg gedankenverloren, noch einmal in Erinnerungen an den glücklichen Abend schwelgend. Doch da ging der Zeiger seiner Erinnerungsuhr auf jene Stunden zurück, die dem Abend vorausgegangen waren, und ihm fiel plötzlich ein, dass das ja ein recht bedeutungsvoller Tag gewesen war. Da er nur schwerlich verschweigen konnte, was auf dem Spiegel seines Bewusstseins trieb, erklärte er, als spräche er zu sich selbst: »Was ist doch Prinz Kamal ad-Din Hussain für ein prächtiger Mann! Weißt du, was er gemacht hat? Er hat es abgelehnt, den Thron seines verstorbenen Vaters unter der Vormundschaft der Engländer zu besteigen.«

Die Frau hatte zwar erfahren, dass Sultan Hussain Kamil gestern gestorben war, aber den Namen seines Sohns hörte sie zum ersten Mal. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Einerseits fühlte sie sich aus lauter Ehrerbietung vor ihrem Mann dazu gedrängt, andererseits fürchtete sie, eine Antwort zu geben, die ihn vielleicht nicht befriedigte. Also erwiderte sie lediglich: »Möge sich Gott des Sultans erbarmen und seinem Sohn Ehre zuteilwerden lassen.«

Der Herr des Hauses fuhr fort: »Hingegen hat Prinz Achmed Fuad, oder Sultan Fuad, wie er von jetzt an heißt, zugestimmt, den Thron anzunehmen. Heute hat die Feier anlässlich seiner Ernennung stattgefunden, und so hat ihn sein Gefolge von Kasr al-Bustan zum Abidin-Palast geleitet. Gelobt sei der Ewige.« Amina hörte ihm gerne und aufmerksam zu, denn jegliche Nachricht aus der Außenwelt, von der sie fast nichts wusste, erregte ihr Interesse. Sie empfand Freude darüber, dass der Gatte mit ihr über solch bedeutende Angelegenheiten sprach, und wenn er dabei noch Zuneigung erkennen ließ, dann erfüllte sie das mit umso mehr Stolz. Darüber hinaus hatte ein solches Gespräch auch einen hohen Bildungswert, weshalb sie sich denn auch immer das Vergnügen bereitete, das Gehörte im Beisein ihrer Kinder, vor allem ihrer zwei Töchter, die wie sie wenig von der Welt wussten, wiederzugeben. Um den Gatten für seine großherzige Tat zu belohnen, kannte sie kein besseres Mittel, als in seiner Reichweite eine Bitte zu wiederholen, von der sie im Voraus wusste, dass auch er dabei große Freude empfand. Also sagte sie: »Der Herrgott allein vermag, uns unseren Effendi Abbas zurückzugeben.«

Der Mann schüttelte den Kopf und murmelte: »Aber wann nur, wann? Gott allein weiß das. In den Zeitungen kann man nur noch über Siege der Engländer lesen. Werden sie wirklich siegen, oder triumphieren am Ende doch die Deutschen und die Türken? Wollte Gott nur die Antwort geben!« Müde schloss er die Augen und gähnte. Dann reckte er sich und sagte: »Bring die Lampe in den Salon.«

Die Frau stand auf, nahm die Lampe vom Tisch und ging zur Tür. Noch bevor sie die Schwelle übertreten hatte, hörte sie, wie er rülpste. »Gesundheit und Wohlergehen«, murmelte sie.

3

In die Stille des frühen Morgens, den die Vorboten des ersten Lichts nur zögernd erhellten, schallten aus dem Backraum im Hof, dumpf wie eine Trommel, die gleichmäßigen Schläge des Teigknetens. Amina hatte das Bett schon vor etwa einer halben Stunde verlassen. Sie hatte die rituelle Waschung vollzogen, gebetet und war dann in die Backstube hinuntergegangen, um Umm Hanafi zu wecken – eine Frau von vierzig Jahren, die schon als junges Mädchen im Haus gedient, es aber nach der Heirat verlassen hatte und nach der Scheidung wieder zurückgekehrt war. Während sich die Dienerin daranmachte, den Teig zu kneten, war Amina eifrig mit der Vorbereitung des Frühstücks beschäftigt. Zum Haus gehörte ein weiträumiger Hof, in dessen hinterem rechtem Winkel ein Brunnen lag. Seitdem hier Kinderfüße herumgetappt waren, hatte man die Öffnung mit einem Holzgitter bedeckt und später Rohrleitungen verlegt. In der hinteren linken Ecke des Hofes lagen unweit des Eingangs zum Harem zwei große Räume. Der eine war mit Backofen und Herd ausgestattet und diente als Küche und Backraum, der andere Raum war die Vorratskammer. So abgeschieden der Backraum auch lag – Aminas Herzen war er sehr nahe. Die Zeit, die sie dort verbracht hatte, umfasste ein ganzes Leben. Wie viel Freude hatte diesen Raum verschönt, wenn die Zeit der Pilgerfahrt herangerückt war, die Herzen sich erwartungsvoll den Freuden des Lebens öffneten und einem beim Anblick der köstlichen Speisen der Mund wässrig wurde, die Jahr um Jahr jedes Fest versüßten – Scherbet aus Rosinensaft und Blätterteig mit Honig, Mandeln und Nüssen im Ramadan, Biskuitgebäck und in Öl gebackene Kekse zum Fest des Fastenbrechens, der Hammel zum Opferfest, der gemästet und verwöhnt und dann im Beisein der Kinder geschlachtet wurde, nicht ohne Tränen der Trauer inmitten großer Freude. An solchen Festtagen schien aus dem gekrümmten Auge des Ofens die Glut ähnlich zu funkeln wie die Fröhlichkeit, die sich in den Herzen ausbreitete, gerade so, als wäre sie der höchste Schmuck des Festes und dessen frohe Botschaft. Und wenn auch Amina zuweilen fühlte, dass sie im Haus zwar eine gehobene, jedoch nur zweitrangige Stellung einnahm und lediglich eine Macht darstellte, von der sie in Wirklichkeit nichts besaß, so herrschte sie hier in der Küche wie eine Königin, der niemand auch nur den kleinsten Teil des Besitztums streitig machen konnte. Ein Wink von ihr, und der Backofen glühte oder verlosch. Ein Wort nur, und der Stapel von Holz und Kohle in der rechten Ecke erfuhr das ihm beschiedene Schicksal. Ein Fingerzeig, und der Kochherd auf der gegenüberliegenden Seite, unter den aneinandergereihten Kupfergefäßen, Tellern und Platten, ruhte im Schlaf oder jubelte mit lodernder Zunge. Hier war sie alles – Mutter, Ehefrau, Meisterin und Künstlerin, deren Werk alle im vollen Vertrauen darauf erwarteten, dass es ihren Händen wieder einmal gelungen sein würde. Ein Beweis dafür war, dass ihr Gebieter überhaupt nur geruhte, ihr ein Lob auszusprechen, wenn sie ein Gericht mit größtem Geschick und meisterlicher Kunst hergerichtet hatte.

In diesem kleinen Königreich stellte Umm Hanafi immer die rechte Hand dar, gleichgültig, ob Amina selbst die Führung und die Arbeit wahrnahm oder ob sie ihren Platz einer der beiden Töchter überließ, um diese unter ihrer Aufsicht ihre Kunst beweisen zu lassen. Umm Hanafi war eine beleibte und wie aus einem Stück geformte Frau. Ihr Körper schien geradezu verschwenderisch auf Korpulenz ausgerichtet zu sein, vernachlässigte hingegen alle Merkmale von Schönheit. Doch Umm Hanafi war damit höchst zufrieden, stellte doch für sie das Dicksein das Maß aller Schönheit dar. Im Vergleich zu ihren anderen Pflichten galt für sie das Mästen der Familie – zumindest der weiblichen Mitglieder – als vorrangigste Aufgabe, wofür sie ihnen auch geheimnisvolle »Zauberpillen« zubereitete, die diese Art von Schönheit noch fördern sollten. Waren diese Zauberpillen auch nicht immer verträglich, so hatten sie doch des Öfteren ihre Tauglichkeit bewiesen und damit die mit ihnen verbundenen Hoffnungen und Träume gerechtfertigt. Jedenfalls war es nicht verwunderlich, wenn Umm Hanafi immer dicker wurde, was aber ihre Emsigkeit keinesfalls einschränkte. Denn kaum dass ihre Herrin sie geweckt hatte, erhob sie sich fröhlichen Herzens, erfüllt von Freude auf die Arbeit, und eilte flink an den Teigtrog.

Der Lärm klopfender Schläge hallte durch das Haus und diente zugleich als Wecker. Zuerst vernahmen die Kinder im ersten Stockwerk das klatschende Dröhnen, dann stieg es in die obere Etage zum Vater hinauf, sodass auf diese Weise schließlich alle wussten: Zeit zum Aufstehen. Herr Abd al-Gawwad wälzte sich von einer auf die andere Seite, öffnete die Augen und runzelte, verärgert über den schlafstörenden Lärm, die Stirn. Schon im nächsten Moment unterdrückte er den Groll; er wusste, dass er aufstehen musste. Wie immer beim Erwachen überfiel ihn als erstes Gefühl die Schwere des Kopfes, gegen die er mit ganzer Willenskraft ankämpfte. Also richtete er sich im Bett auf, obwohl er am liebsten weitergeschlafen hätte. Noch nie hatten ihn die stürmischen Nächte die Pflichten des Tages vergessen lassen. Unabhängig davon, wie spät er ins Bett gekommen war, stand er immer frühzeitig auf, damit er gegen acht Uhr im Geschäft sein konnte. Das Mittagsschläfchen würde ihm nicht nur das an Schlaf ersetzen, was er am Morgen hatte entbehren müssen, es würde ihm auch wieder die für die nächste nächtliche Feier notwendige Munterkeit bringen. Die Morgenstunden waren jedenfalls für ihn die schlechtesten vom ganzen Tag. Schwindlig und schlapp mühte er sich aus dem Bett und sah sich einem Leben gegenübergestellt, das – bar aller süßen Erinnerungen und angenehmen Gefühle – aus nichts anderem bestand als Kopfschmerzen und Liderzucken.

Auch in den Köpfen der im ersten Stockwerk Schlafenden dröhnte das Klatschen des Teigknetens, und so erwachte denn Fahmi. Es fiel ihm nicht schwer, die Augen zu öffnen, auch wenn er bis spät in die Nacht hinein eifrig in Gesetzesbüchern gelesen hatte. Als Erstes überfiel ihn die Vorstellung von einem rundlichen Gesicht mit elfenbeinfarbener Haut und schwarzen Augen, sodass er leise vor sich hin flüsterte: »Marjam.« Wäre er dem verführerischen Wunsch gefolgt, noch unter der Bettdecke liegen zu bleiben und sich der flüchtigen Vision hinzugeben, die in Begleitung wärmster Zuneigung erschien, dann hätte er dem Gefühl nachgehangen, das ihn sehnsüchtig werden ließ und in ein Zwiegespräch verwickelte, bei dem er sich Geheimnis über Geheimnis eingestand. Nur in diesen Minuten warmer Schläfrigkeit am frühen Morgen wagten es die Bilder seiner Vorstellung, sich ihm dermaßen kühn zu nähern. Doch wie gewohnt verschob er sein heimliches Zwiegespräch auf den Morgen am Freitag und richtete sich stattdessen im Bett auf. Sein Blick fiel auf den Bruder neben ihm, der noch immer schlief. Also rief er: »Jasin … Jasin, wach auf!«

Das Schnarchen brach ab, ärgerliches Schnauben war zu hören. »Ich bin längst wach«, brummelte Jasin unwillig, »schon eher als du.« Fahmi wartete lächelnd ab, doch als das Schnarchen wieder einsetzte, rief er nochmals: »Aufwachen!«

Jasin murrte und drehte sich auf die andere Seite. Die Bettdecke rutschte ein Stück herunter, sodass sein Körper, der dem des Vaters an Fülle und Schwere glich, frei lag. Als Jasin die Augen öffnete, wirkte sein Blick noch recht verloren. Doch schon im nächsten Moment kehrte Leben ein, als er verdrossen schnaufte: »Puh! Wieso kommt der Morgen nur so schnell? Warum kann man nicht schlafen, bis man genug hat? Disziplin, immer nur Disziplin! Als ob wir bei der Armee wären.« Sich erst auf die Hände, dann auf die Knie stützend, schob er sich in die Höhe, wackelte mit dem Kopf, als wollte er die Schläfrigkeit abschütteln, und sah dann zu dem dritten Bett hinüber, in dem Kamal noch in tiefem Schlaf versunken lag.

Da der von niemandem in der nächsten halben Stunde geweckt werden würde, stöhnte er neidisch: »Was für ein glücklicher Mensch.«

Allmählich wurde er munterer. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen hin und stützte den Kopf mit beiden Händen. Wie gerne hätte er sich noch allerlei köstlichen Gedanken hingegeben, die das Dösen beim Aufwachen so angenehm machten. Aber wie seinen Vater plagte auch ihn ein schwerer Kopf, mit dem es sich schwerlich träumen ließ. Selbst als er sich in Gedanken Zanuba, die Lautenspielerin, vorstellte, rief ihr Bild, im Unterschied zum hellwachen Zustand, kaum mehr als ein Lächeln hervor.

Nebenan, im anderen Zimmer, war Chadiga bereits aufgestanden. Sie musste nicht erst vom Lärm des Knetens geweckt werden. Von allen Familienmitgliedern ähnelte sie, was Emsigkeit und frühes Aufstehen betraf, am stärksten der Mutter. Aischa hingegen wachte erst auf, wenn das Bett durch das schwungvolle Aufstehen der Schwester erschüttert wurde, die gerne absichtlich heftig auf den Fußboden sprang. Das zog immer Streit und Beschimpfungen nach sich, was sich durch die ständige Wiederholung zu einem recht groben Spiel entwickelt hatte. Wenn Aischa erwacht war und genug gezankt hatte, stand sie noch lange nicht auf. Sie gab sich gelassen den schönsten Träumen des halb wachen Zustands hin, bevor sie endgültig das Bett verließ.

Allmählich regte sich im Haus das Leben, erfasste auch das erste Stockwerk. Die Fenster wurden geöffnet, Licht strömte ins Innere und brachte einen frischen Lufthauch mit sich, der vom Geklapper der alten, von Maultieren gezogenen Straßenbahn, von den Stimmen der Arbeiter und den Rufen der Verkäufer von gezuckertem Weizenbrei erfüllt war. Zwischen den beiden Schlafzimmern und dem Bad herrschte reges Treiben. Da war Jasins massiger Körper zu sehen, bekleidet mit wallendem Gilbab, dann der hochgestreckte und magere Körper von Fahmi, der – abgesehen von seinem schlanken Wuchs – ganz dem Bild des Vaters glich. Die beiden Mädchen aber gingen in den Hof hinunter, um der Mutter im Backraum zu helfen. Sie hatten, was selten in einer Familie vorkam, sehr wenig Ähnlichkeit miteinander. Chadiga hatte dunkle Haut, und ihr Gesicht trug deutlich unebenmäßige Züge. Aischa hingegen war hellhäutig und verbreitete um sich den Glanz von Harmonie und Schönheit.

Obwohl der Hausherr allein war, brauchte er, dank Aminas Fürsorge, nach niemandem zu rufen. Auf dem Tisch fand er eine große Tasse Kräutertee vor, um gleich nach dem Aufstehen einen besseren Geschmack im Mund zu bekommen. Als er ins Badezimmer ging, stieg ihm der Duft wohlriechenden Räucherwerks in die Nase. Auf einem Stuhl lag saubere und sorgsam gefaltete Kleidung. Wie jeden Morgen, sommers oder winters, nahm er ein Bad in kaltem Wasser und fühlte sich, als er ins Zimmer zurückkehrte, erfrischt und voller Tatkraft. Er nahm den Gebetsteppich von der Diwanlehne, breitete ihn aus, um pflichtgemäß das Morgengebet zu verrichten. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Demut ab. Da war nichts mehr vom strahlenden Lächeln, das er seinen Freunden zeigte. Da war auch nichts mehr von der Strenge und Härte, mit der er der Familie entgegentrat. Das war ein Gesicht, das Unterwerfung ausstrahlte, von Gottesfurcht, Liebe und inbrünstiger Bitte erfüllt war und entspannte Züge trug, die das Verlangen nach göttlicher Gunst, Freundlichkeit und Vergebung weich und sanft werden ließ. Noch nie hatte er das Gebet in rein mechanischer Abfolge mit Rezitation, Aufstehen und Niederwerfen gesprochen. Immer legte er all seine Gefühle, innersten Regungen und Empfindungen hinein und verströmte dabei die gleiche Begeisterung, mit der er das Leben in allen seinen Farben genoss. Wenn er arbeitete, ging er in der Arbeit auf. Wenn er einen Freund gewann, überschüttete er ihn mit Zuneigung. Wenn er liebte, schmolz er vor Leidenschaft. Wenn er trank, ertränkte er sich in Wein. Was auch immer er tat, er machte es ehrlichen und aufrichtigen Herzens. So empfand er denn auch das Morgengebet als willkommenen Anlass, seine Gedanken in den weitläufigen Fluren des Herrn schweifen zu lassen. Näherte er sich dem Ende des Gebets, so setzte er sich mit gekreuzten Beinen hin, breitete die geöffneten Handflächen aus und rief Gott an, ihn seinem Schutz anheimzustellen, ihm zu vergeben und seine Nachkommenschaft und sein Geschäft zu segnen.

Amina hatte das Frühstück vorbereitet und überließ nun den beiden Mädchen das Herrichten der Tafel. Sie ging zu den Jungen, und da sie Kamal noch in tiefem Schlaf fand, trat sie lächelnd näher, legte ihm die Hand auf die Stirn und sprach die Fatiha. Dann rief sie ihn leise und schüttelte ihn vorsichtig, bis er die Augen öffnete. Erst als er aufgestanden war, wandte sie sich von ihm ab. Da kam Fahmi ins Zimmer. Er lächelte ihr zu und wünschte einen guten Morgen. Als sie ihn ansah, war ihr Blick von übergroßer Liebe erfüllt. »Dein Morgen sei voller Licht, du Glanz meiner Augen«, dankte sie. Mit gleicher Zärtlichkeit grüßte sie Jasin, den »Sohn« ihres Gatten, und er dankte ihr mit liebevoller Zuvorkommenheit, entsprach doch diese Frau in seinen Augen voll und ganz der Würde einer Mutter.

Als Chadiga aus dem Backraum zurückkehrte, wurde sie von Fahmi, vor allem aber von Jasin mit den gewohnten Scherzen empfangen, die auf ihr unansehnliches Äußeres und ihre spitze Zunge abzielten. Dabei genoss sie durchaus Autorität bei den beiden Brüdern, verstand sie es doch trefflich, sich deren Probleme geschickt anzunehmen. Ähnliches traf für Aischa nicht zu, denn wenn sie in der Familie auch als Inbegriff von Schönheit und Anmut galt, so kam ihr ebenso sehr der Ruf von Nutzlosigkeit zu. Jasin wandte sich also an seine Schwester und sagte: »Wir haben gerade über dich gesprochen, Chadiga, und sind zu der Meinung gekommen, dass die Männer ihre Herzensprobleme los wären, wenn alle Frauen so aussähen wie du.«

Schlagfertig erwiderte sie: »Und wenn alle Männer so wie du wären, hätten sie auch keine Probleme mehr mit ihrem Kopf.«

Da aber ertönte der Ruf der Mutter: »Das Frühstück ist fertig, Herrschaften.«

4

Das Esszimmer befand sich ebenso wie das Schlafzimmer der Eltern im oberen Stockwerk. Es gab noch zwei andere Räume: Der eine war mit Sitzmöbeln eingerichtet, der andere war bis auf ein paar Spielsachen, mit denen sich Kamal in seiner Freizeit vergnügte, leer.

Ein Tuch war ausgebreitet, die Sitzkissen darum herum angeordnet. Als Erster erschien der Hausherr, der sich mit gekreuzten Beinen auf dem Ehrenplatz niederließ. Dann traten nacheinander die Brüder ein. Jasin setzte sich zur Rechten des Vaters, Fahmi zu seiner Linken, und Kamal nahm gegenüber Platz. Die Brüder bewegten sich wohlerzogen und unterwürfig. Sie hielten die Köpfe gesenkt, als würden sie einem gemeinschaftlichen Gebet beiwohnen. Da gab es keinen Unterschied, gleich ob der eine schon Sekretär der Nahhasin-Schule war, der andere Jura studierte und der Letzte noch zur Agha-Schule ging. Kein Einziger von ihnen hätte gewagt, dem Vater ins Gesicht zu sehen. Ja, mehr noch – in Gegenwart des Vaters vermieden sie es sogar, untereinander Blicke auszutauschen, wenn einer von ihnen aus diesem oder jenem Grund lachen musste und sich damit unausweichlich Furcht einflößendem Tadel aussetzte. Das Frühstück war die einzige Gelegenheit, bei der sie mit dem Vater zusammentrafen, denn wenn sie am Nachmittag heimkehrten, hatte er sich schon, nach Mittagessen und Ruhepause, in das Geschäft begeben. Er kam dann erst wieder nach Mitternacht nach Hause. Dieses Beisammensein dauerte zwar nicht lange, aber die Anspannung, unter der die Söhne standen, war ungeheuer groß. Es galt, militärische Disziplin einzuhalten, und das, obwohl sie ohnehin völlig verängstigt dasaßen, was wiederum ihren Gemütszustand schwächte und sie, immer nur darauf bedacht, keinen Fehler zu begehen, sich geradezu selbst die Fallen stellten.

Was alles noch schwerer machte, war, dass das Frühstück in einer Atmosphäre verlief, die ihnen jeglichen Genuss und Gefallen daran verdarb. Nicht selten benutzte der Hausherr die kurze Zeitspanne bis zum Auftragen des Essens, mit prüfendem Blick seine Söhne zu mustern. Fiel ihm an der Haltung von einem der Söhne eine Nachlässigkeit auf, oder bemerkte er auch nur einen Fleck auf der Kleidung, so überschüttete er ihn mit einer Flut von Tadel und Schelte. Es kam vor, dass er Kamal barsch die Frage stellte: »Hast du die Hände gewaschen?«, und dann, wenn der mit Ja geantwortet hatte, befahl: »Zeig sie her!« Streckte der Junge ihm, vor Angst schwitzend, seine sauberen Hände entgegen, kam keineswegs ein Wort aufmunternden Lobs, sondern die Drohung: »Wenn du auch nur einmal vergessen solltest, sie vor dem Essen zu waschen, hacke ich sie dir ab. Dann bist du sie los und hast Ruhe!« Oder er wandte sich an Fahmi und fragte: »Hat der Hundesohn seine Lektionen gelernt oder nicht?« Fahmi wusste auf Anhieb, dass mit »Hundesohn« Kamal gemeint war, und so gab er umgehend zur Antwort, Kamal hätte alles gut gelernt. Tatsächlich war die Gescheitheit des Jungen, ohnehin schon Grund genug für den väterlichen Groll, nicht unbedingt von solchem Ernst und Fleiß begleitet, wie es sein Erfolg in der Klasse hätte vermuten lassen. Der Vater, von seinen Söhnen blinden Gehorsam erwartend, konnte es nicht verstehen, dass Kamal das Spielen mehr als das Essen liebte. Deshalb erwiderte er auf Fahmis Antwort verärgert: »Gutes Benehmen ist dem Wissen vorzuziehen.«

Dann wandte er sich an Kamal und wiederholte in scharfem Ton: »Hör gut zu, du Hundesohn!«