Das Lied der Bettler - Nagib Machfus - E-Book

Das Lied der Bettler E-Book

Nagib Machfus

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Beschreibung

Die Altstadt von Kairo: Hier ist die Zeit stehengeblieben, das Viertel folgt seit jeher seinen eigenen Gesetzen. Die Betrüger und Bettler, die in den engen Gassen ihr Leben fristen, aber auch die Bediensteten, Trödler und Kneipenbesitzer stehen unter dem Schutz des Bandenkönigs und seiner Verbündeten. Ihr Urahne ist Aschur, ein Findelkind, das zu einem Mann heranwächst, stark wie das Tor eines Derwischklosters. Mit ihm steigt der Stern des Viertels, er sorgt für Ordnung, Wohlstand und Gerechtigkeit – bis er eines Tages spurlos verschwindet. Das Viertel droht in Chaos und Korruption zu versinken. In diesem Spätwerk fabuliert Machfus so kühn wie kaum je zuvor. In einer Sprache mit fantastischen und mystischen Untertönen, die von den Gesängen der Derwische inspiriert zu sein scheint, sinnt er über Glück und Unglück, Macht und Ohnmacht nach.

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Seitenzahl: 676

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Über dieses Buch

Alle, die in den engen Gassen von Kairos Altstadt ihr Leben fristen, stehen unter dem Schutz des Bandenkönigs. Ihr Urahne ist Aschur, ein Findelkind, das zu einem Mann heranwächst, stark wie das Tor eines Derwischklosters. Mit ihm steigt der Stern des Viertels, er sorgt für Ordnung, Wohlstand und Gerechtigkeit – bis er eines Tages spurlos verschwindet.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Nagib Machfus (1911–2006) gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur.

Zur Webseite von Nagib Machfus.

Doris Kilias (1942–2008) arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig.

Zur Webseite von Doris Kilias.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Nagib Machfus

Das Lied der Bettler

Roman

Aus dem Arabischen von Doris Kilias

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die arabische Originalausgabe erschien 1977 unter dem Titel Malhamat al-Harafish.

Originaltitel: Malhamat al-Harafish (1977)

© by Nagib Machfus 1977

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Dorothy Bohm

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30571-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 27.06.2022, 18:43h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DAS LIED DER BETTLER

Aschur an-Nagi — Die erste GeschichteSchamseddin — Die zweite GeschichteLiebe und Knüttel — Die dritte GeschichteDer Verbannte — Die vierte GeschichteKurra, die Augenweide — Die fünfte GeschichteDie Bienenkönigin — Die sechste GeschichteDer Dünkel Galals — Die siebente GeschichteGespenster — Die achte GeschichteDiebesgesang — Die neunte GeschichteKnüppel und Maulbeeren — Die zehnte GeschichteWorterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Nagib Machfus

Nagib Machfus: Das Leben als höchstes Gut

Nagib Machfus: Rede zur Verleihung des Nobelpreises 1988

Tahar Ben Jelloun: Der Nobelpreis hat Nagib Machfus nicht verändert

Erdmute Heller: Nagib Machfus: Vater des ägyptischen Romans

Gamal al-Ghitani: Hommage für Nagib Machfus

Hartmut Fähndrich: Die Beunruhigung des Nobelpreisträgers

Über Doris Kilias

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Aschur an-Nagi

Die erste Geschichte

1 Im brünstigen Zwielicht der Dämmerung, auf der schmalen Furt zwischen Leben und Tod, unter dem letzten Funkeln wachender Sterne, über dem Klang erhabener, dunkler Gesänge, hob an die Zwiesprache gewohnter Plagen und ersehnter Freuden.

2 Er schritt voran, und der grobe Stock, einziger Führer in ewiger Dunkelheit, ertastete den Weg. Nicht nur die Gerüche und die Anzahl der Schritte, sondern auch die mehr oder weniger deutlichen Gesänge und die innere Eingebung ließen ihn wissen, wo er sich befand. Er, der am Rand der Totenstadt wohnte, fühlte sehr wohl, dass er hier, in der engsten und für ihn schwierigsten Gasse, die beglückendste Etappe hinter sich brachte, stieß sie doch unmittelbar auf die Moschee von al-Hussain. Plötzlich vernahm sein geschärftes Gehör einen ungewöhnlichen Laut – das Wimmern eines Kindes. Möglich, dass sich das Stimmchen in der stillen Stunde der Morgendämmerung stärker als üblich ausnahm und ihn deshalb aus süßem Träumen und seligem Lauschen riss. Sollte zu so früher Stunde schon eine Mutter mit ihrem Kind unterwegs sein? Aber da – das Stimmchen wurde lauter, rückte näher, und gleich würde es unmittelbar vor ihm ertönen. Er räusperte sich laut und vernehmlich, um nicht durch einen läppischen Zusammenstoß den würdigen Ernst des Tagesanbruchs zu zerstören. Wann endlich würde das Kind aufhören zu weinen, damit sein Herz wieder zur Ruhe käme und er sich in Demut fasste? Ein Wimmern zur Linken schreckte ihn auf, sodass er mit einem Ruck nach rechts auswich und mit der Schulter die Mauer des Derwischklosters streifte. Er hielt inne und sprach: »Gute Frau, so stillen Sie doch Ihr Kind!«

Niemand antwortete, das Weinen hielt an. Da rief er: »Gute Frau! Liebe Leute!« Nichts regte sich, außer Wimmern und Schluchzen. Misstrauen überfiel ihn, sodass die fromme Unschuld, noch rein von der Waschung des frühen Morgens, ihn floh. Mit äußerster Vorsicht trat er vor, presste den Stock an den Körper. Er beugte sich, streckte die Hand mitleidig aus. Die Finger ertasteten ein Stoffbündel. Nein, das konnte er nicht glauben. Er strich weiter über die Falten, bis er plötzlich ein kleines Gesicht spürte, vom Weinen nass und verkrampft. Aufgeregt stieß er hervor: »O weh, wie tief sind menschliche Herzen in die Finsternis des Bösen gestürzt!« Wut packte ihn, und er rief: »Möge Gottes Fluch alle Frevler treffen!«

Er überlegte einen Moment, doch dann beschloss er, nicht einfach weiterzugehen, selbst wenn er das Morgengebet in der Hussain-Moschee verpassen würde. Zu dieser frühen Stunde wehte, obwohl es Sommer war, ein frischer Wind, und Ungeziefer gab es zur Genüge. Gott prüft seinen Diener, wenn er nicht damit rechnet. Er hob das Bündel vorsichtig auf und fasste den Beschluss, nach Hause zurückzukehren und seine Frau zurate zu ziehen. Stimmen drangen an sein Ohr. Offensichtlich waren noch andere Leute auf dem Weg zum Morgengebet. Er hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. Jemand sagte: »Gottes Frieden ruhe auf allen Gläubigen«, und er erwiderte: »Gottes Frieden sei mit euch.«

Der Mann musste seine Stimme erkannt haben, denn gleich darauf fragte er: »Scheich Afra Zaidan? Warum bist du so spät dran?«

»Ich kehre zurück nach Hause, bei Gott ist man überall.«

»Geh in Frieden …«

Er zögerte, bevor er sich entschloss zu sagen: »Ich habe ein Kind gefunden, hier an der alten Mauer.« Gemurmel breitete sich aus, und schließlich meinte einer der Männer: »Verflucht seien alle ruchlosen Sünder!« Ein anderer schlug vor: »Geh zur Polizei!« Und ein dritter fragte: »Was willst du mit dem Kind machen?«

Mit einer Ruhe, die in der allgemeinen Aufregung befremdlich wirkte, erklärte er: »Gott wird mir den rechten Weg weisen.«

3 Sakina hielt mit der linken Hand die Lampe in die Höhe, und als sie im Lichtschein ihren Gatten erblickte, fragte sie verstört: »Warum kommst du zurück? Möge Gott alles Übel fern von uns halten.« Im nächsten Moment erblickte sie das Bündel. »Was ist das, Scheich Afra?«

»Ich hab’s in dem engen Gässchen gefunden.«

»Barmherziger Gott!« -Behutsam nahm sie ihm das Kind ab. Mit dem Seufzer »Da ist kein Gott außer Gott« ließ sich der Scheich auf die Bank zwischen dem zugedeckten Brunnen und dem Ofen nieder.

Sakina wiegte das Kind in den Armen und sagte liebevoll: »Es ist ein Junge, Scheich Afra.« Wortlos nickte er. »Man muss ihm zu essen geben«, erklärte sie besorgt.

»Was verstehst du schon davon? Weder hast du einen Jungen noch ein Mädchen zur Welt gebracht.«

»Ich weiß genug. Wer Rat sucht, findet auch welchen. Was willst du mit dem Kind machen?«

»Ein paar Männer haben mir geraten, es zur Polizei zu bringen.«

»Wird die Polizei es füttern? Lass uns warten, bis jemand kommt und nach dem Kind sucht.«

»Es wird keiner kommen.« Schweigen setzte ein, die Stimmung war gereizt. Schließlich murmelte Scheich Afra Zaidan: »Machen wir nicht einen Fehler, wenn wir das Kind länger als nötig hier behalten?«

»Einen Fehler hat der gemacht, der das Kind dort hingelegt hat«, stieß sie hitzig und aufgebracht hervor. In banger Erwartung und auf Einverständnis hoffend, fuhr sie fort: »Für mich ist längst alle Hoffnung dahin, ein Kind zur Welt zu bringen.«

Er setzte den Turban ab, und die riesige Stirn kam hervor, die wie der Griff eines Waschtrogs gewölbt war. »Was geht dir durch den Kopf, Sakina?«

Berauscht von ihrer Hoffnung, erklärte sie: »O Scheich, Gott hat mir ein Geschenk gemacht, wie sollte ich es ablehnen?« Da ihr Mann sich mit einem Tuch über die geschlossenen Augen wischte und keinen Laut von sich gab, fügte sie triumphierend hinzu: »Du willst es doch auch!«

Er überhörte ihre Worte und klagte stattdessen: »Ich habe das Morgengebet bei al-Hussain versäumt.«

Lächelnd und die Augen fest auf das gerötete Gesicht des Gatten gerichtet, sagte sie: »Das Licht bricht gerade erst an, Gott ist großzügig im Verzeihen.«

Scheich Afra Zaidan erhob sich, um das Gebet zu verrichten, da polterten auf der Treppe die Schritte von Darwisch Zaidan. Mit schlaftrunkenen Augen rief er: »Ich habe Hunger, Schwägerin!« Sein Blick fiel auf das Bündel, und völlig verblüfft, wie es bei einem Jungen von zehn Jahren zu erwarten war, fragte er: »Was ist das?«

»Ein Geschenk Gottes, des Allmächtigen«, erwiderte Sakina. Der Junge starrte den Winzling an. »Wie heißt er?«

Sakina zögerte, doch dann stammelte sie: »Geben wir ihm den Namen meines Vaters – Aschur Abdallah. Möge Gott ihm Wohlgefallen und Segen bescheren.«

Durch die Stille drang Scheich Afras Gebet.

4 Die Zeit floss dahin, eingehüllt in die Harmonie prächtiger, dunkler Gesänge. Eines Tages stellte Scheich Afra Zaidan seinem Bruder Darwisch die Frage: »Du bist jetzt zwanzig, wann wirst du heiraten?«

»Gott wird es richten …«, erwiderte Darwisch gleichgültig.

»Du bist kräftig und kannst von deiner Arbeit als Träger gut leben.«

»So Gott will …«

»Hast du nicht Angst vor sündhafter Verführung?«

»Gottes Schutz ruht auf den Gläubigen.«

Scheich Afra Zaidan, der blinde Koranrezitator, wiegte den Kopf und meinte bekümmert: »In der Koranschule hast du nichts gelernt, keine einzige Sure hast du aus Gottes Buch behalten.«

»Was zählt, ist die Arbeit«, stieß Darwisch unwillig hervor. »Ich kann mir meinen Lebensunterhalt durchaus allein im Schweiße meines Angesichts verdienen.«

Der Scheich zögerte für einen Moment nachdenklich, doch dann fragte er: »Was hat es mit den Flecken und Schnitten in deinem Gesicht auf sich?«

Darwisch begriff, dass seine Schwägerin ihn verraten hatte. Finster blickte er zu ihr hinüber. Sakina hantierte weiter am Ofen, wobei ihr Aschur half, und meinte nur lächelnd: »Hast du erwartet, dass ich es deinem Bruder verheimliche, wenn du verletzt wirst?«

»Eiferst du jetzt den Schlägern und Schurken nach?«, schalt ihn Scheich Afra.

»Wenn sie Streit mit mir suchen, muss ich mich verteidigen.«

»Hör mal, Darwisch, du bist in einem Haus groß geworden, das sich mit dem Dienst am Heiligen Buch Ehre und Ansehen verschafft hat. Warum nimmst du dir nicht am guten Benehmen deines Bruders Aschur ein Beispiel?«

»Das ist nicht mein Bruder«, erklärte Darwisch mit schneidender Stimme, worauf sich der Scheich verletzt in Schweigen hüllte.

Aschur, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, fuhr erschrocken zusammen. Zu unerwartet war der Schlag gekommen. Er tat alles, was in seinen Kräften stand, und forderte nie mehr für sich, als ihm zustand. Er machte das Haus sauber, kaufte auf dem Markt ein, führte jeden Morgen seinen blinden Wohltäter zur Hussain-Moschee, füllte die Eimer am Brunnen, zündete das Feuer im Ofen an, und am späten Nachmittag saß er zu Füßen des Scheichs, um ihm vorzutragen, was er vom Koran behalten hatte, und sich in guten Sitten und Lebenserfahrung unterweisen zu lassen.

O ja, der Scheich liebte Aschur und hatte sein Wohlgefallen an ihm, und wenn Sakina bewundernd auf den Jungen schaute und sagte: »Das wird ein guter und starker Mann«, dann fügte der Scheich nur hinzu: »Möge seine Kraft immer den Menschen und nie dem Satan dienen.«

5 Mit reichlichem Segen bedachte der Himmel Aschur, sodass sich Scheich Afras Herz im gleichen Maß an ihm erfreute, wie es sich über den Bruder, den er an Vaterstelle aufzog, erzürnte. Bei Gott, wie konnte das sein, da doch beide unter dem gleichen Dach heranwuchsen? Darwisch flüchtete sich vor Scheich Afra in die Arbeit, widersetzte sich hartnäckig aller Herzensbildung. Es trieb ihn hinaus in die Welt, und noch bevor er zum Mann herangereift und seine Seele standhaft und lauter werden konnte, ließ er sich willentlich in Bitternis und Härte treiben. Aschur hingegen öffnete von Beginn an sein Herz aller Herrlichkeit, allem Glanz, aller Pracht der Gesänge, und dennoch war sein Körper stark wie das Tor des Derwischklosters. Groß war er und breit; die Arme hart wie die Steine der alten Mauer; die Beine kräftig wie der Stamm eines Maulbeerbaums; der Kopf gewaltig, doch wohlgeformt; Gesichtszüge, energisch, getränkt vom Wasser des Lebens und dennoch fein geschnitten. Aschurs Stärke zeigte sich bei der Arbeit; geschickt war er, ertrug alle Strapazen, kannte weder Müdigkeit noch Langeweile, war immer zufrieden und voller Schwung. Mehr als einmal mahnte ihn der Scheich: »Möge deine Kraft immer den Menschen und nie dem Satan dienen.«

Es kam der Tag, da der Scheich seinen Wunsch verkündete, aus Aschur einen Koranrezitator, wie er selbst es war, zu machen. Darwisch lachte höhnisch, als er das hörte. »Meinst du nicht, dass seine riesige Gestalt die Herzen der Zuhörer einzig mit Furcht und Schrecken erfüllt?«

Der Scheich ließ sich auf keinen Streit mit ihm ein, aber er musste seine Absicht dennoch aufgeben. Es war ihm bewusst geworden, dass Aschurs Kehle nichts hergab. Er war unfähig, eine Melodie einzuhalten, und seiner Stimme fehlte jegliche Anmut und Geschmeidigkeit. Rau, wie sie war, schien sie aus der Tiefe eines dunklen Gewölbes zu kommen. Zudem war Aschur unfähig, die langen Suren auswendig zu beherrschen.

Aschur, an harte Arbeit gewöhnt, war mit seinem Leben zufrieden. Er glaubte, dass dieses Paradies ihm ewig erhalten bliebe. Der Scheich, so wurde ihm erzählt, hätte ihn nach dem frühzeitigen Tod seiner lieben Eltern in Obhut genommen. Für solch weisen Beschluss und solche Güte konnte man Gott nicht genug danken, denn der Scheich zog ihn mit einer Barmherzigkeit auf, die ihresgleichen im Viertel suchte. Doch schließlich kam der Tag, da Scheich Afra einsah, dass er lange genug für Aschurs Bildung und Erziehung gesorgt hatte. Es war Zeit für ihn, einen Beruf zu erlernen. Doch das Schicksal eilte seinem Beschluss voraus, denn der Scheich wurde von einem Fieber dahingerafft, gegen das alle im Volk gebräuchlichen Mittel nichts halfen. So berief ihn also der Herrgott zu sich. Sakina sah sich ohne Ernährer, und da sie nicht mehr kräftig genug war, um zu arbeiten, machte sie sich auf den Weg in ihr Heimatdorf in der Provinz Kaljubija. Der Abschied von Aschur war herzergreifend und tränenreich. Schließlich küsste sie ihn, beschwor ein letztes Mal alle guten Geister, ihm beizustehen, und dann zog sie von dannen.

Da stand er nun und war allein, verlassen von aller Welt. Nur der halsstarrige Darwisch Zaidan, sein neuer Herr, war ihm geblieben. Er schloss die schweren Lider und geriet ins Grübeln. Vor ihm tat sich eine Einöde auf, die alles verschlang. Oh, könnte er sich auf die Strahlen der Sonne schwingen, könnte er sich hineinschmiegen in einen Tropfen Tau, könnte er den Wind besteigen, der im Gewölbe vor dem Kloster tobte. Doch eine Stimme im Innern sagte ihm: Jede Einöde kann zu fruchtbarem Boden gewandelt und mit dem Atem des Barmherzigen, des Erhabenen, erfüllt werden.

6 Darwisch hockte neben dem morschen Ofen und starrte auf Aschur. Was für ein Riese! Kinnladen hat er wie ein reißendes Tier, einen Schnurrbart wie Bockshörner. Brachliegende, nutzlose Kraft. Nicht einmal einen Beruf hatte er gelernt. Aber er durfte Aschur nicht unterschätzen. Warum bloß konnte er ihn nicht leiden? Aschur sah aus, als wäre er in die Erde eingerammt – wie ein massiger, hoher Stein, der den Weg versperrte, wie ein sandgewordener Stoß des heißen Chamsinwinds, wie ein drohendes Grab, das den Festtag trübt. Wie auch immer, er musste diesen Verfluchten für sich einspannen. Er lenkte den Blick in eine andere Richtung und fragte: »Wie gedenkst du fortan dein täglich Brot zu verdienen?«

Aschur riss die großen, honigfarbenen Augen auf und erwiderte ergeben: »Stehe zu Diensten, Meister Darwisch.«

»Ich brauche keinen Diener«, kam kalt die Antwort.

»Ich soll doch nicht etwa gehen?« Und flehentlich fügte Aschur hinzu: »Kannst du mich nicht hier bleiben lassen? Ich weiß nicht, wo ich sonst leben soll.«

»Das ist ein Haus, kein Hotel.« Dunkel gähnte das Loch des Ofens. Auf dem Gestell raschelte es; eine Ratte war wohl an einen Zopf trockenen Knoblauchs gestoßen. Darwisch hüstelte. »Also, wohin wirst du gehen?«

»Gottes Welt ist groß und weit.«

»Nur weißt du nichts von ihr. Es geht härter zu, als du denkst«, höhnte Darwisch.

»Gewiss werde ich eine Arbeit finden, die mich ernährt.«

»So riesig, wie du bist, wirst du Schwierigkeiten haben. Keiner wird dich aufnehmen, keiner wird dich ausbilden. Außerdem bist du fast zwanzig.«

»Ich habe noch nie jemandem mit meiner Kraft Schaden zugefügt.«

Darwisch lachte laut los. »Bloß wird dir niemand vertrauen. Die Schutzbanden werden dich als bedrohlichen Rivalen empfinden und die Händler als Straßenräuber.« Als er weitersprach, klang seine Stimme sanft und einschmeichelnd. »Du wirst hungers sterben, wenn du nicht deine Kraft nutzt.«

»Nichts wäre mir lieber, als sie in den Dienst der Menschen zu stellen, Gott ist mein Zeuge!«, rief Aschur begeistert.

»Was nützt dir deine ganze Kraft, wenn du zu blöd bist.«

Verwirrt sah Aschur ihn an. »Beschäftige mich doch als Träger bei dir.«

Darwisch grinste. »Ich habe noch nie, noch keine einzige Stunde, als Träger gearbeitet.«

»Aber …«

»Was ich gesagt habe, kannst du vergessen. Was hätte ich sonst meinem Bruder erzählen sollen?«

»Was tust du dann, Meister?«

»Gedulde dich, ich könnte dir das Tor zu einem guten Leben öffnen. Aber du verschwindest erst einmal.« Vom Friedhof drangen Stimmen herüber, einem Toten wurde das letzte Geleit gegeben. Darwisch murmelte: »Alles ist vergänglich …«, doch Aschur war am Ende seiner Geduld angelangt. »Ich habe Hunger, Meister Darwisch.«

Darwisch reichte ihm eine kleine Nickelmünze hinüber. »Da, nimm, mein letztes Geschenk für dich.«

Aschur verließ das Haus; die Abenddämmerung fiel auf die Gräber und die Einöde. Es war einer jener Sommerabende, an denen ein laues Lüftchen wehte und sich in den Staubgeruch der Duft von wohlriechenden Pflanzen mischte. Er schritt durch das enge Gässchen und kam auf den Platz vor dem Derwischkloster. Das Tor lag im Finstern, und über den Mauern zeichneten sich schemenhaft die Zweige des Maulbeerbaums ab. Gesänge von dunkler Geheimnishaftigkeit stiegen gen Himmel. Da beschloss er, alle Sorgen von sich zu schieben, und leise tröstete er sich mit den Worten: »Sei nicht traurig, Aschur, du wirst noch unzählige Brüder auf dieser Welt finden.« Als er weiter seines Weges zog, hallten ihm die Verse nach:

Ej forughe ma’e hosn

a­bruje chubi as tschahe

as ruje rochschane schoma

senachdane schoma

7 Tief atmete Aschur den Hauch der Nacht ein. Der glänzende Schein der Sterne erleuchtete sein Herz, und seine Seele drängte empor, hinauf zum klaren Himmel. Was könnte einer solchen Nacht würdiger sein, als Gott zu ehren. Du wirfst dich auf den Stufen nieder, beschwichtigst die zornige Seele und rufst die geliebten Wesen an, die sich hinter der Schranke des Unbekannten verbergen. Doch da, was war das? Zwei Handspannen vor ihm stand plötzlich eine Gestalt. Kaum hatte er Darwisch erkannt, war im Nu die frisch gewonnene Gemütsruhe dahin, zog es ihn wieder hinab in den Abgrund quälender Besorgnis. »Was tust du hier?«

Darwisch versetzte ihm einen Schlag vor die Brust und zischte wütend: »Sprich leise, du Esel!« Beide drängten sich hinter die Umzäunung am äußersten Ende der Totenstadt, am Rande der Wüste. Rechts ragte in der Ferne der Berg auf, links erstreckten sich die Gräber. Kein Geräusch war zu vernehmen, keine menschliche Seele zeigte sich. Selbst die Geister der Toten schienen sich zu dieser späten Stunde an einen unbekannten Ort verzogen zu haben. In der Finsternis überfiel Aschur eine böse Vorahnung und ließ sein gutmütiges Herz heftig klopfen. »Erleuchte mich mit Gottes Licht«, flüsterte er.

»Wart’s ab! Kannst du dich nicht gedulden?«, schalt ihn Darwisch leise. Er beugte sich zu ihm vor. »Du musst nichts tun, ich mache alles. Du sollst mir nur Rückendekung geben, wenn es notwendig ist.«

»Aber was hast du vor?«

»Sei still! Du wirst schon sehen.«

Vom Rand der Wüste kam ein Geräusch, der leichte Nachtwind trug den Geruch von Lebendem heran. Schon wenig später war eine Stimme zu vernehmen. Ein alter Mann brummelte: »Vertrau auf Gott …« Er kam näher, und die beiden erkannten, dass der Alte auf einem Esel ritt. Als er unmittelbar vor ihnen war, stürzte sich Darwisch auf ihn. Erschrocken fuhr Aschur zusammen – seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Was da vor sich ging, konnte er kaum erkennen, aber er hörte, wie Darwisch drohend rief: »Geld oder …!«

Eine vor Alter und Schrecken zittrige Stimme stammelte: »Erbarmen! Drück nicht so zu!« Da stürzte Aschur vor, ohne sich dessen bewusst zu werden, und schrie: »Lass los, Meister!«

»Halt’s Maul!«, brüllte Darwisch.

»Ich habe gesagt, dass du ihn loslassen sollst!« Aschur umklammerte Darwisch mit den Armen und hob ihn ohne große Mühe vom Boden. Darwisch versuchte, ihn mit den Ellbogen zu stoßen. »Wehe dir, pass auf!«, rief er. Aber außer der Zunge konnte er nichts mehr bewegen.

»Zieh in Frieden dahin«, sagte Aschur zu dem alten Mann. Als er sich vergewissert hatte, dass der Alte außer Reichweite war, ließ er Darwisch frei. »Entschuldige, dass ich so grob war«, brummelte er.

»Du aufgelesener Heidendreck! Du Findelkind, du!«

»Ich wollte dich nur vor dir selbst schützen.«

»Blöder Esel! Fürs Betteln taugst du vielleicht.«

»Vergebe dir Gott …«

»Dreckiges Findelkind!« Da Aschur bedrückt schwieg, fuhr Darwisch fort: »Du bist ein Findelkind, verstehst du? So sieht es in Wahrheit mit dir aus.«

»Sei nicht so wütend. Der selige Scheich Afra hat mir erklärt, dass …«

»Es stimmt, was ich gesagt habe. Er hat dich in dem engen Gässchen gefunden, ausgesetzt von einer verhurten Mutter!«

»Gott bewahre!«

»Bei meiner Ehre und der Barmherzigkeit meines Bruders, du bist die Frucht der Sünde! Warum hätte man dich sonst inmitten der Nacht aussetzen sollen?«

Aschur fühlte sich tief gekränkt. Er schwieg.

»Ich wollte dir eine Chance geben, du hast sie vertan. Du bist zwar stark, aber ein Feigling. Willst du einen Beweis dafür?« Er holte aus, schlug ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Aschur zuckte überrascht zusammen. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde er geschlagen.

»Du kleiner, mieser Feigling!«, schrie Darwisch und tobte weiter.

Da bäumte Aschur sich vor Wut auf, und es packte ihn ein Zorn, der wie ein Sturm die Mauern des Tempels der Nacht hinwegzufegen drohte. Er hob die schwere Pranke und schlug zu. Darwisch fiel bewusstlos zu Boden. Nur mühsam gelang es Aschur, seinen Wutanfall zu bezwingen und wieder ruhig zu werden. Allmählich wurde ihm bewusst, wie schwerwiegend seine Tat war. »Vergib mir, Scheich Afra«, murmelte er. Er beugte sich zu Darwisch hinunter und hob ihn auf. Mit der Last auf den Armen suchte er sich einen Weg durch die Reihen der Gräber, bis er schließlich zu Hause ankam. Er legte Darwisch auf den Diwan und zündete die Lampe an. Besorgt und von tiefem Mitleid erfüllt, betrachtete er Darwisch. Lange, quälende Minuten vergingen, bis dieser die Augen öffnete und den Kopf bewegte. Der böse funkelnde Blick sagte Aschur, dass sich sein Meister an alles erinnerte. Die beiden starrten sich schweigend an. Aschur glaubte zu spüren, dass Scheich Afra und Frau Sakina bei ihnen weilten und das Geschehen betrübt verfolgten.

»Ich vertraue auf Gott, den Herrn der Himmel und der Erde«, murmelte er und verließ das Haus.

8 Ziellos streifte Aschur umher. Sein Heim war überall und nirgends. Wer keine Mutter und keinen Vater hat, dem bleibt nichts anderes übrig. Er aß, was er zufällig fand. In den warmen Sommernächten legte er sich an der Mauer des Klosters schlafen, im kalten Winter suchte er Schutz im dunklen Gewölbe davor. Was Darwisch über seine Herkunft gesagt hatte, glaubte er. Die bittere Wahrheit verfolgte ihn, ließ ihn nicht mehr los. In einer Nacht hatte ihm Darwisch mehr über die Welt beigebracht als der gütige Scheich Afra Zaidan in zwanzig Jahren. Schlechte Menschen sind harte, aber glaubwürdige Lehrmeister. Ein Fehltritt hatte ihm also das Leben geschenkt, eine verborgen gehaltene Sünde, und das bedeutete, dass er allein auf sich gestellt war und das Leben ohne die Hilfe anderer Menschen meistern musste. Vielleicht lebte zumindest die Erinnerung an ihn in einem Herzen, das seit zwanzig Jahren nicht zur Ruhe kam.

Vor lauter Traurigkeit lauschte er hingebungsvoll den Gesängen, die aus dem Kloster drangen. Ihr Sinn verbarg sich hinter den persischen Wörtern, wie sich seine Eltern hinter fremden Gesichtern versteckten. Würde er eines Tages einer Frau oder einem Mann oder der Bedeutung eines dieser persischen Verse auf die Spur kommen? Vielleicht löste er dann eins der vielen Rätsel, vielleicht weinte er dann eine Träne des Glücks, vielleicht sah er dann seine geheimsten Wünsche in Gestalt eines liebevollen Geschöpfs wahr werden.

Sein Blick ruhte auf dem Garten mit den schlanken, biegsamen Bäumen. Im dichten Blätterwerk nisteten zwitschernde Vögel. Er beobachtete die Derwische, die mit wallender Abaja und hoher Filzkappe leichtfüßig einherschritten. Warum, fragte er sich, arbeiten sie wie die armen Leute? Warum fegen, gießen und sprengen sie selbst? Vielleicht brauchen sie einen zuverlässigen Diener? Das Tor rief nach ihm. Klopfe an, flüsterte es, bitte um Einlass, tritt ein. Lass Sanftmut, Frieden und Freude um dich sein. Werde zu einer reifen Maulbeerfrucht, strotze vor süßem Nektar, diene dem Seidenspinner, lass keusche Hände entzückt und freudig nach dir greifen.

Das zarte Flüstern hielt ihn gefangen. Er schritt auf das geschlossene Tor zu und rief unterwürfig und sittsam: »Ihr Männer Gottes!«

Wieder und wieder rief er. Die Derwische hielten sich verborgen, gaben keine Antwort. Sie kannten nicht seine Sprache und er nicht ihre. Der Bach hörte auf zu plätschern, die Blätter hielten inne im Tanz. Niemand und nichts brauchte ihn.

Sein Eifer schwand. Die Hoffnung erlosch. Scham befiel ihn. Er schalt sich selbst, tadelte seine Hitzigkeit. Er riss sich zusammen, packte die trotzig hochragenden Schnurrbartenden und sprach vor sich hin: »Mach dich nicht zum Gespött von allem, was da kreucht und fleucht.« Er trat weg vom Tor. »Halt dich fern von allen, die deine Hand nicht ergreifen und dich nicht brauchen. Such dir jemanden, der deine Hilfe nötig hat.«

Von nun an zog er umher auf der Suche nach dem täglichen Brot. Wo es eine Hochzeit gab, bot er seine Dienste an, und wo ein Begräbnis stattfand, verdiente er sich etwas dazu. Brauchte jemand einen Träger, musste ein Brief überbracht werden, stellte er sich zur Verfügung. Er begnügte sich mit einem Millim, einem Brotfladen oder auch nur mit einem freundlichen Wort.

Eines Tages kreuzte er den Weg eines mittelgrossen Mannes, dessen Gesicht so hässlich war, als stamme er von einer Ratte. Der Mann rief: »He du, Bursche!«

Höflich und dienstbereit trat Aschur auf ihn zu. »Kennst du mich nicht?«, fragte der Mann.

»Entschuldige«, antwortete Aschur etwas verwirrt, »nicht, dass ich wüsste …«

»Kommst du nicht aus unserem Viertel?«

»Ich bin erst seit Kurzem hier.«

»Mein Name ist Kulaib as-Sammani, und ich gehöre zur Truppe unseres Führers Kanswah.«

»Habe die Ehre, Meister.«

Ein prüfender Blick, dann fragte der Mann: »Willst du dich uns anschließen?«

Die Antwort kam ohne Zögern. »Dafür habe ich nicht das richtige Gemüt.«

Kulaib lachte spöttisch. Schon im Weitergehen rief er: »Ein Körper wie ein Stier, aber ein Herz wie ein Spatz.«

In der letzten Zeit hatte sich Aschur um den Esel von Meister Zain an-Naturi gekümmert, wenn dieser nach dem langen Arbeitstag im Pferch festgebunden wurde. Freiwillig übernahm er es, ihn zu säubern, zu füttern und mit Wasser zu besprengen. War die Arbeit getan, ging Aschur weg, ohne um ein Entgelt zu bitten. Eines Tages rief Meister Zain ihn zu sich. »Bist du der Junge vom seligen Scheich Afra Zaidan?«, fragte er.

Unterwürfig erwiderte Aschur: »O ja, möge Gott ihn mit seiner unendlichen Barmherzigkeit beschenken.«

»Ich habe gehört, dass du den Dienst bei Kanswahs Truppe abgelehnt hast?«

»Damit will ich nichts zu schaffen haben.«

Der Meister lächelte, und als er ihn fragte, ob er nicht bei ihm als Eseltreiber arbeiten wolle, stimmte Aschur sofort freudigen Herzens zu.

Begeistert nahm sich Aschur der neuen Aufgabe an und gab all seine Kraft daran. Meister Zain konnte sich jeden Tag aufs Neue von Aschurs gutem Benehmen, seinem Fleiß und seiner Ausdauer überzeugen. Das einmal in ihn gesetzte Vertrauen enttäuschte er nicht. Wann immer er auf dem Hof arbeitete, sah er niemals in die Richtung, wo Zains Ehefrau sich vermutlich aufhielt. Aber dann, als dessen Tochter Zainab unweit von ihm vorbeikam, ließen ihn seine Augen im Stich, und er warf ihr einen zwar flüchtigen, aber doch bereuenswerten Blick hinterher. Ja, die Reue wuchs noch an, als eine Flamme in Brust und Eingeweide aufloderte und das unbändige Verlangen zum glutroten Edelstein werden ließ. Trunken von unersättlicher Begierde, murmelte er: »Bewahre uns Gott …« Zum ersten Mal nahm er den Namen des Herrn in den Mund und dachte doch an ganz anderes. In einem Schauer von Verwirrtheit, Besorgnis, Befremdung beobachtete er an sich Regungen einer bisher wenig wahrgenommenen Geschlechtlichkeit.

Eines Tages fragte ihn Meister Zain, der immer stärker von Aschurs Fähigkeiten als Eselshüter überzeugt war: »Wo schläfst du eigentlich?«

»Entweder an der Klostermauer oder im Gewölbe«, lautete die schlichte Antwort.

»Würde es dir vielleicht gefallen, wenn du im Pferch schlafen könntest?«

»Für eine solche Wohltat wäre ich unendlich dankbar, Meister.«

9 Zu frühster Morgenstunde stand er auf. Ihm gefiel die Dunkelheit, die das Lächeln des Zwielichts in sich barg. Gottesfürchtige wie Lasterhafte begannen sich zu regen, aber noch schmückte sich der reine Atem des Alls mit Träumen. Bemüht, Zainabs aufdringliches Bild aus dem Herzen zurückzudrängen, widmete er sich dem Gebet. Er schlang einen Brotfladen, ein paar in Essig eingelegte Oliven und grüne Zwiebeln hinunter, gab dem Esel einen Klaps auf den Rücken und führte ihn hin zum Platz, um seinem Broterwerb nachzugehen. Vor lauter Lebenskraft schien er schier zu bersten, und mit nahezu grenzenlosem Vertrauen baute er auf seine Stärke, seine Geduld und die Fähigkeit, sich alles Unbekannte zu erobern. Ein Strudel hielt ihn gepackt, der ihn zu entwurzeln drohte. Wo immer er auch ging – Zainab lief ihm voraus, rief ihm etwas zu, das er nicht enträtseln konnte. Ihr Gesicht war blass, mit kräftiger Nase und wulstigen Lippen, der Körper klein und gedrungen, und dennoch ging von ihr ein Zauber aus, den er sich nicht erklären konnte. Unablässig lohte ein Feuer in seinem Innern, und es kam schon vor, dass er vor lauter Hitze weder den Esel noch die Kunden wahrnahm.

Wenn es Zeit für eine Pause gab, trat er vors Haus und beobachtete den Strom der Menschen – all die Händler in den Läden, die Karrenschieber, die Gemüsehändler, die Obstverkäufer. War einer von ihnen sein Vater? Welche der Frauen war seine Mutter? Hatten die Eltern die irdische Welt schon verlassen, oder lebten sie noch? Wussten sie, dass es ihn gab? Wer hatte ihm diesen riesigen Körper vererbt, der dank Scheich Afras Güte noch stärker geworden war? Was soll’s! Weg mit den nutzlosen, aufreibenden Gedanken. Dafür drängte sich ihm sofort wieder Zainabs Bild auf, und er meinte, ihr dunkles Rufen zu vernehmen. Nun ja, sagte er sich, nichts bleibt, wie es ist, und etwas wird geschehen. Und er sagte sich auch, dass das Gute, als Dank für all seine reinen Vorsätze, gewiss sein Verbündeter bliebe.

Eines Tages war schon von Weitem Zain an-Naturis zornige Stimme zu hören. Er stand mit einem Kunden auf dem Hof und brüllte wütend: »Du bist ein Dieb, nicht mehr und nicht weniger!«

»Hüte deine schmutzige Zunge!«, schrie der andere. Da versetzte ihm an-Naturi eine Ohrfeige und packte ihn am Kragen. Aschur stürzte zu den beiden hin und rief: »Bekennt euch zu Gott!« Er warf sich zwischen die Streithähne, worauf ihn der Kunde mit Fußtritten traktierte und mit Flüchen überschüttete. Aschur griff sich ihn, presste ihn an die Brust, bis er schrie. Erst da ließ er los. »Zieh in Frieden, das ist besser für dich.«

Im Nu war auf dem Hof nichts mehr vom Dieb zu sehen. An den Fenstern drängten sich die Frauen. Zainabs Mutter rief: »Fehlt bloß noch, dass der Kerl uns noch im Haus beschimpft!«

Zain an-Naturi sah Aschur dankbar an. Um nicht zu zeigen, wie verlegen er war, sagte er mit fester Stimme: »Möge dir Gott immer Gutes tun.« Er ging ins Haus, aber Zainab blieb am Fenster stehen.

Aschur kehrte zurück zum Toreingang. Nur Blicke können wir wechseln, dachte er betrübt und lehnte sich an die Mauer. Unweit von ihm duckte sich eine Katze, bereit, sich auf einen schwarzen Hund zu stürzen. Eingeschüchtert schlich der Hund davon. Hab acht, Aschur, sagte er sich, das ist ein Zeichen, eine Mahnung deiner Eltern. Er sank in die Arme zarter Träume, bis ihn die heißen Sommerstrahlen zu verbrennen drohten.

10 »Bist du überzeugt, dass man ihm vertrauen kann?«, fragte Adlat ihren Mann Zain.

»Aber ja, er ist mir wie ein Sohn geworden.«

»Großartig«, stieß sie ungeduldig hervor. »Verheirate ihn mit Zainab.«

Zain an-Naturi runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich hatte auf jemand Besseres gehofft.«

»Wir haben lang genug gewartet. Wegen ihr, der Ältesten, lehnst du jeden ab, der um eine ihrer Schwestern anhält.«

»Wäre Zainab dein Fleisch und Blut, würdest du nicht so reden«, erwiderte er verärgert.

»Sie steht ihren Schwestern im Weg. Außerdem ist sie schon fünfundzwanzig und nicht sonderlich hübsch. Von Tag zu Tag wird es schwieriger mit ihr.«

»Wäre sie dein Fleisch und Blut, würdest du anders reden«, wiederholte Zain.

»Reicht es nicht, dass du ihm vertraust? In deinem Alter brauchst du einen zuverlässigen Menschen.«

»Und Zainab?«

»Sie wird froh sein. Bewahre sie vor einem Leben in Unglück!«

11 Aschur hörte, dass Meister Zain ihn rief. Er wartete im Empfangsraum auf ihn. Er solle, so Meister Zain, doch neben ihm Platz nehmen. Aschur zögerte, sich auf die mit einem Schafsfell gepolsterte Holzbank zu setzen. Als er es schließlich doch tat, fragte der Meister freundlich: »Meinst du nicht, Aschur, dass es Zeit wäre, Gottes Gebot zu folgen und dich zu verehelichen?«

12 Freude und Licht. Wird der Traum zur Gnade, klingt Jubel im Ohr und im Herzen. Sind Gottes Diener von des Herrn Großmut erleuchtet, wagt es selbst Ungeziefer nicht, Schaden anzurichten.

Aschur ging ins Sultansbad, rasierte und wusch sich. Er striegelte das Haar, stutzte den Schnurrbart. Er besprengte sich mit Rosenwasser, reinigte sich die Zähne mit Zahnstochern, schlüpfte in die weiße Galabija und stolzierte in den eigens für seine gewaltigen Füße angefertigten Schuhen umher.

Es war eine Hochzeit, die dem Haus von an-Naturi ziemte. Danach richtete sich das neu vermählte Paar in einer Kellerwohnung gegenüber von an-Naturis Haus ein, die aus einem Zimmer und einem Vorraum bestand. Aschur überließ sich mit Haut und Haaren seiner leidenschaftlichen Liebe, und es gab etliche lüsterne Männer, die sich im Dunkel der Nacht dicht vor das Fenster hockten und hingebungsvoll lauschten.

Im Lauf der Jahre wurden Aschur drei Söhne geboren: Hasballah, Rizkallah, Hibatallah. Längst waren Meister Zain und seine Frau verstorben und alle Schwestern von Zainab verheiratet.

Aschur genoss das Eheleben. Er arbeitete noch immer als Eselstreiber, konnte den Esel sogar sein Eigentum nennen, da Meister Zain ihm das Tier zur Hochzeit geschenkt hatte. Zainab kümmerte sich um die Hühner und verdiente mit dem Verkauf von Eiern noch Geld hinzu. Die beiden hatten also ein gutes Auskommen, und oft genug duftete die Kellerwohnung nach einem köstlichen Braten.

Die Jungen waren herangewachsen und gingen verschiedenen Berufen nach. Hasballah arbeitete bei einem Tischler, Rizkallah bei einem Verzinner und Hibatallah in einer Bügelstube. Hatte auch keiner der Söhne Aschurs riesige Figur geerbt, so waren doch alle drei stattliche, kräftige Burschen und genossen im Viertel großen Respekt.

Trotz Aschurs allgemein bekannter Sanftmut wagte es keiner der Kanswah-Männer, mit ihm Händel zu suchen. Zainab hingegen war aus ganz anderem Holz geschnitzt – sie regte sich leicht auf, dachte nur Schlechtes über andere, klatschte gern herum. Aber was Fleiß und Treue betraf, ließ sich kaum eine bessere Frau finden. Aschur hatte seine Jugendlichkeit und Vitalität bewahrt, während Zainab, obwohl sie nur fünf Jahre älter war, vorzeitig an Frische und Lebendigkeit verlor. Trotzdem wandte er kein Auge von ihr ab und ließ in seiner Liebe zu ihr nicht nach.

Im Verlauf der Zeit konnte er mit seinem und ihrem Geld einen Karren kaufen, und so wurde aus dem Eselstreiber ein Fuhrmann. Zainab veranlasste diese Veränderung zu der bissigen Bemerkung: »Bisher waren deine Kunden Männer, jetzt wirst du es ja wohl vor allem mit Frauen zu tun haben.« Da lachte er und fragte: »Meinst du vielleicht, dass ich jetzt nur zum Friedhof, zu Gräbern und Heiligenstätten, unterwegs bin?«

»Da sei der Herrgott vor!«, empörte sie sich.

Was Aschur wirklich bekümmerte, war, dass er bis auf die kurzen Suren, die er beim Gebet sprach, alles andere vom Koran vergessen hatte. Aber das tat seinem Glauben an das Gute keinen Abbruch, auch wenn er erfahren musste, dass Darwisch nicht der einzige Böse war, der auf der Welt herumlief. Er wusste, dass das Leben voller List und Tücken und unzähliger Laster war. Gerade deshalb ließ er in seiner Aufrichtigkeit nicht nach und ging hart mit sich ins Gericht, wenn er einen Fehler begangen hatte. Nie vergaß er, dass er seinen Söhnen manchen Wutanfall zugemutet hatte, weil sie sich bei ihren Ausgaben nicht hatten einschränken wollen. Dabei musste er doch, abgesehen von Zainabs Ersparnissen, einige ihrer Monatslöhne für den Kauf des Karrens einsetzen. Es blieb ihm nicht verborgen, dass etliche Nachbarn durch die Männer der Schutzbande drangsaliert wurden. Aber er unterdrückte seine Wut und versuchte, die Leidtragenden mit – für sie wahrscheinlich – überflüssigen Reden zu beschwichtigen. Immer wieder ermahnte er alle, auf den rechten Weg zurückzufinden. Einer der Nachbarn hatte ihn eines Tages mit der Frage aufgeschreckt, wozu all seine Kraft eigentlich nütze sei. Was sollte das? Warum schmähte ihn der Mann? Wollte er ihn aufhetzen? Reichte es nicht, dass er sich geweigert hatte, an der Tyrannei der Schutzbande teilzuhaben? Genügte es denn nicht, dass er seine Kraft in den Dienst der Menschen stellte? Trotzdem nagte der Zweifel an seinem Gewissen, lästig wie Fliegen an einem stickig heißen Tag. Doch zumeist kam er zum Schluss, dass die Leute ihn einfach nicht richtig einschätzten, und bekümmert endete sein inneres Zwiegespräch mit der Frage: Ach ja, wo findet sich noch heiteres, ungetrübtes Glück?«

13 Die Beine gekreuzt, saß er auf dem Platz vor dem Kloster und sah zu, wie die Sonne unterging und der Abend dämmerte. Er wartete auf das sanfte Fließen der Gesänge. Ein leichter, schon etwas kühler Herbstwind und ein Hauch von Wehmut drangen über die alte Mauer – Vorboten nächtlicher Traumbilder. Schweigen hüllte ihn ein, und auch nicht das kleinste Härchen regte sich. Vierzig Lebensjahre lasteten auf seinen Schultern, doch es schien, als hätten sie einzig bewirkt, ihm den jugendlichen Schwung der ewig Lebenden zu bewahren.

Eine innere Stimme schien ihm etwas zuzuraunen, und so schaute er auf. Auf dem schmalen Pfad, der vom Friedhof herführte, schlenderte ein Mann heran. Wie gebannt blieb sein Blick auf der Gestalt ruhen, denn trotz des Zwielichts, mit dem sich der Tag verabschiedete, hatte er ihn erkannt. Sein Herz klopfte, die heitere Gelassenheit erstarrte. Immer näher kam der Mann, bis er schließlich grinsend und den Blick aufs Kloster verwehrend vor ihm stand.

»Darwisch Zaidan!«, stammelte Aschur.

»Willst du mich nicht begrüßen? Einen recht schönen, guten Abend, Aschur!«, tönte Darwisch vorwurfsvoll.

Aschur erhob sich. Als er ihm die Hand reichte, sagte er, bemüht um Gelassenheit: »Sei willkommen, Darwisch.«

»Na bitte, ich scheine mich nicht groß verändert zu haben.«

Es war bedrückend, dass er dem seligen Scheich Afra so sehr ähnelte. Nur die schon immer gröberen Gesichtszüge wirkten nun wie versteinert. »Aber nein, überhaupt nicht«, murmelte Aschur.

»Erstaunlich, da sich doch alles verändert«, sagte Darwisch und sah ihn bedeutungsvoll an.

Ohne auf die Anspielung einzugehen, fragte Aschur: »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«

Darwisch kicherte. »Im Gefängnis.«

Obwohl ihn die Antwort nicht völlig unerwartet traf, rief er entsetzt: »Im Gefängnis?!«

»Alle haben Dreck am Stecken, aber mich hat’s eben erwischt.«

»Gott verzeiht und vergibt gern …«

»Wie ich höre, lebst du bestens?«

»Man hat sein Auskommen, mehr auch nicht.«

»Ich brauche Geld.«

Aschur fühlte Wut aufsteigen, trotzdem steckte er die Hand in die Brusttasche und holte einen Rijal heraus. »Es ist nicht viel, aber gemessen daran, wie es mir zurzeit geht, ist es eine Menge.« Mit finsterem Gesicht nahm Darwisch das Geld, bevor er hochtrabend erklärte: »Lass uns für meinen Bruder Afra die Fatiha beten.«

Nachdem sie das Gebet beendet hatten, sagte Aschur: »Ich besuche regelmäßig sein Grab.« Darwisch kümmerte das nicht, vielmehr fragte er dreist: »Kann ich bei dir wohnen, bis ich auf eigenen Füßen stehe?«

Ehe er sich versah, erwiderte Aschur: »Ich habe keinen Platz für einen Fremden.«

»Einen Fremden?!«

Entschlossenen Muts fuhr Aschur fort: »Wenn es nicht das Gedenken an meinen seligen Meister gäbe, hätte ich dir nicht einmal die Hand gereicht.«

Unbeirrt in seiner Frechheit, forderte Darwisch: »Gib mir noch einen Rijal. Wenn es mir besser geht, zahle ich meine Schulden zurück.« Aufs äußerste verärgert, gab ihm Aschur das Geld.

Als Darwisch, ohne ein Wort zu sagen, sich auf den Weg in Richtung des Friedhofs machte, erscholl vom Kloster her eine klare, reine Stimme.

Segerije mardome tschaschm neschaste dar chun ast

14 Aschur war gerade mit seinem Karren unterwegs, als er bei einer Ruine gleich zu Beginn des Viertels eine Menge Leute herumstehen sah. Beim Näherkommen entdeckte er, dass es sich um Bauarbeiter handelte. Blechplatten, Holzbohlen und Palmzweige lagen vor ihnen. Mitten unter den Männern befand sich Darwisch Zaidan. Beim Gedanken, dass sich Darwisch hier niederlassen wollte, wurde Aschur beklommen zumute. Schon wollte er weiterziehen, da rief Darwisch: »Wie du siehst, tue ich alles, um dir nicht zur Last zu fallen!«

»Gut, wenn der Mensch ein Heim hat«, lautete Aschurs frostige Antwort.

»Ein Heim?« Darwisch brüllte vor Lachen los. »Genau, und zwar für alle, die keins haben.«

15 »Die Sache ist klar, der Kerl baut eine Schänke«, erklärte Hasballah seinem Vater.

»Eine Kneipe?«, fragte Aschur ungläubig.

»Alle sagen das«, bestätigte Rizkallah.

»Großer Gott, und ich habe ihm auch noch Geld gegeben!«, stöhnte Aschur.

»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, meinte Hibatallah.

»Und was sagen die Behörden dazu?«

»Offensichtlich hat er die Konzession bekommen.«

»Wie kann es sein, dass im Viertel, wo es weder einen Brunnen noch einen Betraum gibt, eine Schänke gebaut wird?«, fragte Aschur bekümmert.

Bald wurde das Lokal von Kanswah und den Männern seiner Schutzbande eröffnet. Aschur wurde es noch schwerer ums Herz, und niedergeschlagen murmelte er: »Schutz hat er also auch schon gefunden.«

16 Durch das Fenster scholl Lärm herein. Was ging da vor sich? Konnte das Viertel nie aufhören zu streiten? Aschur saß auf dem einzigen Diwan, der im Zimmer stand, und schlürfte seinen Kaffee. Das Licht war noch nicht angezündet. Es war Winter, und der kalte Wind zerrte an den Fensterläden. Zainab, die eifrig mit Bügeln beschäftigt war, lauschte hinaus auf die Straße. »Das ist Rizkallahs Stimme«, meinte sie beunruhigt.

»Du glaubst, dass die Jungen sich streiten?!«

Zainab lief hinaus, und gleich darauf hörte Aschur sie schreien: »Ihr verrückten Kerle, ihr solltet euch schämen!«

Aschur sprang auf, und schon im nächsten Moment stand er bei den Söhnen. Kein Wort kam mehr über ihre Lippen, aber noch stand die Wut in ihren Gesichtern geschrieben. »Was, um Gottes willen, geht hier vor?«, rief er. Als sein Blick zufällig auf die Erde fiel, sah er ein Damespiel aufgezeichnet. Steine lagen herum. »Spielt ihr nur so oder gegen Geld?«, fragte er scharf. Niemand antwortete. Er kochte vor Wut. »Wann werdet ihr endlich Männer?«, brüllte er und griff sich Hasballah. »Du bist der Älteste, ist es nicht so?« Ein eigenartiger Geruch schlug ihm entgegen. Besorgt holte er sich die beiden anderen heran und schnüffelte. Ah, sollte doch die Erde alles verschlingen! »Ihr seid betrunken, ihr Hunde!« Er riss sie an den Ohren. Vor lauter Wut schwollen ihm die Adern, und er lief rot an. Eine Menge junger Burschen hatte sich angesammelt, die das Schauspiel genossen. Flehentlich rief Hasballah: »Lass uns wenigstens hineingehen!«

»Ach so!«, fuhr er ihn barsch an. »Vor den Menschen schämt ihr euch, aber nicht vor Gott!«

Verzweifelt zerrte Zainab an seinem Arm. »Mach uns nicht zum Gespött des Pöbels«, rief sie.

»Die hier, die sind der Pöbel!« Trotzdem ließ er von den Söhnen ab.

»So kannst du nicht mit ihnen umspringen, sie sind keine kleinen Kinder mehr«, zischte Zainab ihn an.

»Ihr habt alle keinen Anstand, die Jungen nicht und du auch nicht.«

»Aber das Lokal ist voll von Leuten!«

Drinnen ließ er sich auf den Diwan fallen und seufzte: »Was für ein Jammer! Nicht einmal von dir kann man sich Unterstützung erhoffen.« Zainab zündete das Licht an und stellte die Lampe auf das Fensterbrett. Bemüht freundlich erwiderte sie: »Ich arbeite mehr als du. Und ohne mich hättest du keinen Karren, und niemand würde dir den Ofen heizen.«

»Das einzige, was dir geblieben ist, ist deine Zunge, scharf wie eine Peitsche«, brummte er griesgrämig.

»Weil ich mich für dich und die Jungen aufgeopfert habe.«

»Sie verdienen Strafe«, überlegte er laut.

»Das sind doch keine Kinder mehr! Nicht lange, und sie gehen aus dem Haus.« Aus Erfahrung wusste Zainab, dass sein Ärger nicht lange anhalten würde. Harte Worte und zartes Geflüster verschmelzen leicht in einer Glut.

Doch Aschur blieb besorgt, was die Söhne betraf. Keiner von ihnen hatte die Koranschule erfolgreich beendet. Aber mangelte es ihnen nicht auch an der notwendigen Fürsorge, weil er und Zainab unentwegt arbeiteten? Die Söhne waren nicht so glücklich dran wie er damals, als sich Scheich Afra liebevoll um ihn kümmerte. Die Gewalt und den Aberglauben des Viertels hatten die Söhne in sich aufgesogen, nicht aber dessen Tugenden. Keiner von ihnen war auch nur annähernd so kräftig wie er. An Vater und Mutter hingen sie nicht, ihre Liebe war oberflächlich und wankelmütig. Im Herzen waren sie von jeher widerspenstig, auch wenn sie sich meistens in Schweigen hüllten. Ohne alles Talent, ohne sonderliche Fähigkeiten würden sie immer dumme Jungen bleiben. Keiner von ihnen würde es je schaffen, sich Meister zu nennen. Wie auch? Ein Wink, und sie rannten in die Kneipe. Was das betraf, kannten sie keine Grenze. »Ach ja«, seufzte er, »alles, was sie können, ist, einem das Herz schwer machen.«

»Sie sind erwachsen, Meister«, erwiderte Zainab nachsichtig.

17 Eines Tages, als er an der Schänke vorbeikam, stellte sich ihm Darwisch in den Weg. »Herzlich willkommen …«, rief er. Diesmal wollte Aschur ihm nicht ausweichen. Nein, trotz allem Hass würde er keinen Rückzieher machen. Er zog die Zügel stramm, sodass der Esel stehen blieb, und sprang vom Karren. Entschlossen baute er sich vor Darwisch auf. »Deine neue Beschäftigung schmäht das Andenken an deinen Bruder«, erklärte er vorwurfsvoll.

Darwisch grinste spöttisch. »Immer noch besser, als Leute zu überfallen, oder nicht?«

»Das ist genauso widerlich.«

»Tut mir leid, aber ich liebe nun mal das Abenteuer.«

»Es gibt schon mehr als genug Sünde in unserem Viertel.«

»Der Rausch macht nicht nur den Bösen böser, er macht auch den Guten gütiger. Komm doch mal vorbei!«

»Verflucht soll deine Spelunke sein!« Er sah sich um, und plötzlich entdeckte er im Lokal eine Gestalt, die flink mal hier-, mal dorthin eilte. Völlig verwirrt fragte er: »Was denn, Frauen gibt’s da auch?«

»Wahrscheinlich hast du Fulla gesehen.«

Da Aschur nichts Genaues hatte ausmachen können, fragte er nochmals: »Kommen auch Frauen zu dir?«

»Aber nein. Fulla ist eine Waise, die ich adoptiert habe.« Darwisch lächelte ironisch. »Du kannst dir wohl nicht vorstellen, dass ich einer guten Tat fähig bin. Ist es nicht besser, ein Findelkind aufzunehmen, als eine Moschee zu bauen?«

Aschur hielt der Anspielung geduldig stand. »Und was hat sie in der Kneipe zu suchen?«

»Sie verdient sich ihren Lebensunterhalt.«

»Was soll’s,«, murmelte er traurig. »Es nützt nichts, mit dir zu reden.« Mit diesen Worten schwang er sich auf den Kutschbock, und kaum hatte er »Hü!« gerufen, setzte sich der Esel in Bewegung. Noch lange war das gleichmäßige Klappern der Hufe zu hören.

18 Den Tag erlebte Aschur nur noch in Grau, die Nacht in Schwarz. Wann immer er an eine Biegung kam, stieß er unverhofft auf ein Hindernis. Die Lider flatterten ihm, und er bat Gott inständig, alles zum Guten zu wenden. Warum sollte es nicht möglich sein, dass das verruchte Lokal einen Schaden nahm, der es ein für alle Mal vernichtete?

Es war kurz nach Mitternacht. Er hatte sich gerade hingelegt. Plötzlich rief draußen jemand: »Meister Aschur! Meister Aschur!« Er stürzte ans Fenster, öffnete es. Seine Gedanken kreisten nur um eins – die Jungen. Vor dem Fenster beugte sich eine Gestalt zu ihm hinunter. »Was ist los?«, fragte er. »Hol dir deine Jungen! Sie bringen sich gegenseitig wegen dieser Fulla um!«

Hinter ihm rief Zainab: »Du bleibst! Ich gehe hin!« Er schob sie beiseite, schlüpfte in die Schuhe und stürzte davon.

19 Wie ein Riese stand er in der Tür und füllte sie voll aus. Alle Augen richteten sich auf ihn. Der Raum war voll von Betrunkenen, die sich an den Wänden herumdrückten. Darwisch stürzte zu ihm und schrie: »Deine Bengel werden alles kaputtschlagen!«

Hibatallah lag regungslos auf dem Boden. Die beiden anderen waren mit hasserfüllten Gesichtern ineinander verknäult. Keiner der Betrunkenen machte den Eindruck, dass ihn das etwas anginge.

»Schluss! Benehmt euch!«, brüllte er mit donnernder Stimme. Auf einen Schlag lösten sich Rizkallah und Hasballah voneinander. Entsetzt starrten sie zur Tür. Aschur holte aus und schlug mit dem Handrücken erst den einen, dann den anderen. Beide gingen zu Boden. Drohend sah er sich um, aber niemand wagte etwas zu sagen. Mit einem Blick, der Darwisch hätte versteinern können, schrie er: »Verflucht sollst du sein, du und deine Pesthöhle!«

Plötzlich, als hätte sie der Boden ausgespuckt, stand Fulla vor ihm. »Ich bin unschuldig«, stammelte sie.

»Sie hat hier nur zu bedienen«, warf Darwisch ein. »Aber deine Burschen können es nicht lassen, ihr nachzustellen.«

»Halt’s Maul, du dreckiger Zuhälter!«, brüllte Aschur.

Darwisch wich zurück. »Möge dir Gott vergeben«, lallte er.

Aschur griff nach einem Schemel. »Wenn ich wollte, könnte ich damit jedem den Schädel zertrümmern …«

Bei dieser Drohung trat Fulla noch einen Schritt vor, sodass sie unmittelbar vor ihm stand. Wieder stammelte sie: »Ich kann nichts dafür.« Er wandte den Blick ab. »Geh mir aus den Augen!«, fuhr er sie grob an. Dann griff er sich die Jungen und beförderte einen nach dem andern, sosehr sie auch wankten, mit einem kräftigen Stoß ins Freie. Doch erneut trat Fulla an ihn heran. »Glaubst du mir nicht, dass ich unschuldig bin?«

Ohne sie anzusehen, schleuderte er ihr entgegen: »Eine Teufelsbrut bist du, ein böser Geist!« Ohne sie des geringsten Blicks zu würdigen, trat er hinaus.

Als er durchs dunkle Viertel schritt, atmete er kräftig durch. Er fühlte sich befreit, als sei er den Fängen des Bösen entwischt. Es war so finster, dass man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Sosehr er sich auch mühte, die Jungen zu entdecken, er konnte sie nicht finden. »Hasballah!«

Nichts, nur Stille und Finsternis. Ein schwaches Licht drang aus dem Kaffeehaus, aber dann kam nur noch Dunkel. Sein Herz sagte ihm, dass die Jungen nicht heimkehren würden. Sie waren vor ihm geflohen, vor seinem Bemühen, seiner Macht. Künftig würden sie Fremde sein. In diesem Viertel fühlte sich kein Kind den Wurzeln verpflichtet, so etwas kam nur bei den Reichen vor.

Mühsam tappte er durchs Dunkel. Er spürte, dass Sorglosigkeit und Vertrauen verloren waren. Eine reißende Strömung hielt ihn gefangen, ließ ihn nicht los. Angst überfiel ihn. Gewiss hatte das Mädchen die Jungen mit seiner Schönheit geblendet. Eine verführerische Schönheit. Warum haben diese Idioten nicht geheiratet? War nicht die Ehe sowohl Gottes Gebot als auch Schutz?

20 Zainab war vor die Tür geeilt, um auf ihn zu warten. Die Lampe hatte sie auf die Schwelle gestellt, sodass er im Lichtschein eintreten konnte. »Wo sind die Jungen?«, fragte sie besorgt.

Niedergeschlagen fragte er zurück: »Sie sind also nicht heimgekehrt?« Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust. »Gottes Wille geschehe«, murmelte er und setzte sich auf den Diwan.

»Du hättest mich gehen lassen sollen«, fuhr Zainab ihn heftig an.

»In eine Spelunke? Mit lauter Betrunkenen?«

»Du hast sie geschlagen. Obwohl sie keine Kinder mehr sind. Sie werden nicht zurückkommen.«

»Ach was. Einen Tag lungern sie irgendwo herum, und dann sind sie wieder da.«

»Ich kenne sie besser als du.« Da er schwieg, fuhr sie fort: »Was hat es mit dieser Fulla auf sich, von der Darwisch immer redet?«

Er wich ihren Blicken aus und erklärte verächtlich: »Was fragst du? Ein dummes Ding, das sich in einer Kneipe herumtreibt.«

»Ist sie hübsch?«

»Eine schamlose Person ist sie.«

»Eine hübsche?«

Er zögerte. »Ich habe sie mir nicht angeschaut.«

»Aschur, sie werden nicht zurückkommen«, klagte Zainab.

»Gottes Wille geschehe …«

»Was weißt du schon von Jugendlichen!« Da er nicht widersprach, fügte sie hinzu: »Man muss großzügig sein und Fehler verzeihen können.«

Überrascht sah er auf. »Meinst du das wirklich?« Er betrachtete sie. Blass und ausgedörrt sah sie aus, frühzeitig gealtert, bejahrt wie die alte Mauer des Klosters. »Ach, Zainab, du tust mir leid.«

»Künftig wird’s reichlich Gelegenheit geben, uns gemeinsam auszuklagen«, zischte sie ihn an.

»Wie auch immer, die Jungen brauchen uns nicht mehr.«

»Ohne sie wird die Wohnung wie ausgestorben sein.«

»Arme Zainab, wie leid du mir tust.«

Sie legte den Kopf zwischen die Hände. »Es ist so viel zu tun am frühen Morgen«, seufzte sie.

»Versuch noch zu schlafen.«

»In einer solchen Nacht?«

Verärgert fuhr er sie an: »Es ist eine Nacht wie jede andere.«

»Und du? Kannst du schlafen?«

»Ehrlich gesagt, brauche ich frische Luft.«

21 Finsternis. Im dunklen Gewölbe mit Händen greifbar, Hülle von Bettlern und Strolchen. Stille. Eindringliche Sprache, Umarmung für Engel und Teufel. Zuflucht für den Bedrängten vor sich selbst, versinken ins Ich. Dringt Furcht durch die Mauerritzen, ist Hoffnung auf Rettung vergebens.

22 Er trat aus dem Gewölbe. Da stand er, allein mit den Gesängen der Derwische, der alten Mauer, dem sternenbesetzten Himmel. Er hockte sich auf den Boden, verbarg das Gesicht zwischen den Knien. Ein Fehltritt, vor mehr als vierzig Jahren vertuscht im engen Gässchen, verfolgte ihn bis heute. Wie hatte es dazu kommen können? Wo war es geschehen? Unter welchen Umständen? War er das einzige Opfer dieser Frau? Versuch, so du kannst, dir alles vorzustellen. Die Mutter mit verliebtem Gesicht, der Vater vor Gier rot angelaufen. Lausch, so du kannst, den gefährlich einschmeichelnden, zuckersüßen Worten. Ruf dir, so du kannst, den Augenblick ins Gedächtnis zurück, in dem dein Schicksal entschieden wurde. Ein Mann und eine Frau, und an ihrer Seite standen Engel und Teufel. Doch die Begierde besiegte die Engel. Stell dir die Mutter vor. Vielleicht hat sie ausgesehen wie … Um die Schlacht zu entfachen, muss sie schön gewesen sein – helle Haut, kuhlgeschminkte schwarze Augen, knospenzarte Gesichtszüge. Eine geschmeidige, betörende, sanfte Stimme. Aber zuallererst müssen verborgene Kräfte im Spiel gewesen sein, überschwänglich und verströmend, aber auch treulos und gewalttätig und ohne jede Spur von Gewissen. Ein leckerer Köder, den das Leben in die Falle legt, und dann wartet es. Fünfzehn Jahre lang. Deshalb hat sich das Tor der Gesänge nicht geöffnet, als du geklopft hast. Stark, wie du bist, hättest du es mit Gewalt aufstoßen können. Aber das hast du nicht gewollt. Wer mit dem Leben den Bund schließt, muss auch dessen Sprösslinge, verpestet vom Gestank der Geilheit, in die Arme schließen. Nur eines ist sicher – die Wahrheit wirst du nicht finden, obwohl du, auf ewig leidend, ihr hinterherjagen musst. Dem einen ist Lächeln vorherbestimmt, des anderen Los sind Tränen. Ein neues Geschöpf kam in die Welt, geschlagen mit blindem Eifer, Besessenheit, Reue. Nun, da es Hilfe bei Gott dem Barmherzigen sucht, ertrinkt es schier im Rausch der Versuchung.

Da war er – Scheich Afra Zaidan, vor seinem Grab. Er packte ihn, sodass er ängstlich fragte: »Wohin, mein Gebieter? Ins Grab?« Doch der Scheich schritt mit ihm aus, durchs enge Gässchen und dunkle Gewölbe, bis hin zum Platz vor dem Kloster …

Er schreckte auf, rieb sich die Augen. Zainab stand vor ihm und schimpfte: »Ha, das habe ich vermutet. Willst du hier bis in den Morgen schlafen?« Verstört sprang er auf. Er nahm sie an die Hand, und schweigend kehrten sie heim.

23 Was war das? Die Männer verstummten ratlos: Aschurs riesige Gestalt stand in der Tür. Die trunkenen Lider zuckten, die benebelten Augen starrten ihn an. Was hatte er vor? Suchte er nach seinen Jungen? Warnend sah man sich an, es war nichts Gutes zu erwarten.

Aschur ließ den Blick schweifen. Auf der linken Seite entdeckte er einen freien Platz. Er ging hin, setzte sich. Mit der zur Schau getragenen Ruhe überspielte er die eigene Verlegenheit. Darwisch eilte zu ihm. »Eine gute Idee.« Er lächelte. »Kaum zu glauben.«

Aschur sah durch ihn hindurch. Da kam Fulla angelaufen, mit Bier in einer Kürbisflasche und einer spitzen Tüte mit zerstoßenen Pfefferlupinen. Er schloss die Augen. Die Geschichte der Sintflut fiel ihm ein. Er schob die Flasche beiseite, zahlte wortlos. Darwisch beobachtete ihn verwirrt, und als er merkte, dass Aschur wieder hinausgehen wollte, murmelte er: »Wir stehen zu Diensten, was immer du auch willst.«

Die anderen Männer kümmerten sich nicht mehr um ihn. Fulla wunderte sich, warum er nichts trinken wollte. Sie trat noch einmal an ihn heran, zeigte auf die Flasche und sagte: »Das Bier ist wirklich gut.« Er senkte den Kopf, was aussah, als wollte er ihr danken. Einer der Betrunkenen rief Fulla zu: »Komm ihm nicht zu nahe, Mädchen!« Lachend drehte sich Fulla um, seufzte laut und sagte: »Findest du nicht, dass er wie ein Löwe aussieht?«

Ihm war, als überströme ihn der Himmel mit geradezu kindlicher Freude, und er musste sich Mühe geben, eine harte Miene aufzusetzen. Seine Seele schien bloßzuliegen. Das ganze Leben beschränkte sich plötzlich auf die kurze Spanne zwischen dem Klostergässchen und dieser Spelunke. Alles, was es sonst noch gegeben hatte, floss ein und zerschmolz in einer überwältigenden, neuen Melodie. Sie riss ihn fort, und willentlich überließ er sich der Niederlage, frohlockend wie bei einem Sieg.

Fulla, die wieder bei den Krügen und Flaschen stand, beobachtete ihn gespannt. Aber plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und herein stürmten Hasballah, Rizkallah und Hibatallah. Die berauschte Trägheit der Männer schlug um in furchtsames Schweigen, und die Hälse wurden vor Spannung immer länger.

»Guten Abend, ihr Leute!«, rief Hasballah ausgelassen. Erst da bemerkte er seinen Vater. Er würgte und schluckte, und dann erstarrte er. Im Nu war auch Rizkallah und Hibatallah die Freude auf einen lustigen Abend vergangen. Für einen Moment standen die drei reglos da, dann drehten sie sich um und waren, als hätte es sie nie gegeben, verschwunden.

Der Raum bebte vor brüllendem Gelächter. Fulla blickte zu Darwisch hinüber. Doch der schwieg, und nur seiner Miene war anzusehen, wie peinlich ihm die Geschichte war.

24 »Soll das so weitergehen?« Empört sah Zainab ihren Mann an.

»Was soll ich machen?«, erwiderte Aschur gequält.

»Wunderbar, dass du die Jungen daran hinderst, in die Schänke zu gehen, aber um diesen Preis?«

Verlegen wiegte er den gewaltigen Schädel und verharrte schweigend. Doch Zainab schrie dafür umso lauter los. »Und was kommt dabei heraus? Du bist Darwischs bester Kunde geworden!«

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