Die Nacht der Tausend Nächte - Nagib Machfus - E-Book

Die Nacht der Tausend Nächte E-Book

Nagib Machfus

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Beschreibung

Am Morgen der Tausendundersten Nacht übernimmt Nagib Machfus von Schehrezad den Erzählfaden und spinnt ihn weiter: von einem grüblerischen Sultan, der sich nachts unter die Untertanen mischt, um die Wahrheit zu suchen. Vom Widerwillen Schehrezads vor ihrem blutbefleckten Gatten. Von Geistern und Dämonen, die mit den Menschen spielen und sie auf die Probe stellen. Vom Schneider, der Wunder vollbringt und gar nicht weiß, warum. Von Sindbad, der im Kaffeehaus seine Abenteuer erzählt, von Liebenden, Aufrührern, Weisen und Narren. Machfus wäre nicht Machfus, wenn er dabei nicht mit liebevollem Spott dem Menschengeschlecht einen Spiegel seiner Schwächen und Eitelkeiten vorhalten würde und seinen Zorn aufblitzen ließe über eine Welt, in der »der Donner lauter grollt als die Tauben gurren«.

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Seitenzahl: 385

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Über dieses Buch

Am Morgen der Tausendundersten Nacht übernimmt Nagib Machfus von Schehrezad den Erzählfaden und spinnt ihn weiter: von Liebenden, Aufrührern, Weisen und Narren. Machfus wäre nicht Machfus, wenn er dabei nicht mit liebevollem Spott dem Menschengeschlecht einen Spiegel seiner Schwächen und Eitelkeiten vorhalten würde.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Nagib Machfus (1911–2006) gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur.

Zur Webseite von Nagib Machfus.

Doris Kilias (1942–2008) arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig.

Zur Webseite von Doris Kilias.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Nagib Machfus

Die Nacht der Tausend Nächte

Roman

Aus dem Arabischen von Doris Kilias

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel Alf Layala wa Layla in Kairo.

Originaltitel: Alf Layala wa Layla (1982)

© by Nagib Machfus 1982

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30578-6

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 30.10.2024, 12:17h

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Inhaltsverzeichnis

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Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DIE NACHT DER TAUSEND NÄCHTE

SchehrijarSchehrezadDer ScheichDas Café der EmireSanan al-GamaliGamsa al-BaltiDer LastenträgerNureddin und DunjazadDie Abenteuer von Agar dem BarbierAnis al-GalisKut al-KulubAladdin mit dem SchönheitsfleckDer SultanDie TarnkappeMaruf der SchuhmacherSindbadDie WeinendenWorterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Nagib Machfus

Nagib Machfus: Das Leben als höchstes Gut

Nagib Machfus: Rede zur Verleihung des Nobelpreises 1988

Tahar Ben Jelloun: Der Nobelpreis hat Nagib Machfus nicht verändert

Erdmute Heller: Nagib Machfus: Vater des ägyptischen Romans

Gamal al-Ghitani: Hommage für Nagib Machfus

Hartmut Fähndrich: Die Beunruhigung des Nobelpreisträgers

Über Doris Kilias

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Schehrijar

Kurz nach dem Morgengebet, als die Wolken der Finsternis dem Angriff des hereinbrechenden Lichts noch trotzten, wurde Minister Dandan zu Sultan Schehrijar gerufen. Um seine Ruhe war es geschehen, das väterliche Herz klopfte heftig. Beim Ankleiden murmelte er: »Nun ist dein Schicksal besiegelt, meine arme Schehrezad.«

Gefolgt von einem Wachtrupp, dem ein Fackelträger vorauslief, ritt er durch die von Tau erfüllte und erfrischende Kühle hinauf zum Berg. Drei Jahre waren zwischen Angst und Hoffen, zwischen Tod und Bangen vergangen. Waren dahingeflossen mit dem Erzählen von Geschichten, dank deren Schehrezads Lebensfrist sich um drei Jahre verlängert hatte. Aber wie alles im Leben finden auch Geschichten ihr Ende, und genau das war gestern Abend eingetreten. »Welches Schicksal mag deiner harren, du, meine geliebte Tochter?«

Er betrat das Schloss, das den Berg beherrschte. Der Torhüter geleitete ihn zur hinteren Terrasse, die den Blick auf den gewaltigen Garten freigab. Im Licht eines einzigen Leuchters saß Schehrijar – mit bloßem Haupt, wallendem schwarzem Haar, leuchtenden Augen im länglichen Gesicht und vom dichten Bart bedeckter Brust. Dandan warf sich nieder und küsste den Boden. Da kannten sie sich so lange, und dennoch überfiel ihn angesichts dieses Mannes, der sein Leben mit Härte, Grausamkeit und dem Vergießen unschuldigen Bluts zugebracht hatte, immer wieder Furcht. Mit einem Wink der Hand befahl der Sultan, das Licht zu löschen. Dunkelheit breitete sich aus, und die Umrisse der Bäume, die starken Duft verströmten, waren nur noch schemenhaft zu erkennen.

»Es soll dunkel sein, damit ich das Hereinbrechen des Lichts beobachten kann«, murmelte Schehrijar.

Dandan schöpfte ein wenig Hoffnung. »Möge euch Gott mit dem Schönsten, das Tag und Nacht zu bieten haben, beglücken, mein Gebieter.«

Schweigen. Dandan vermochte nicht zu erkennen, ob das Gesicht des Sultans Zufriedenheit oder Unwillen ausdrückte. Schließlich ertönte die Stimme des Herrschers, sie klang ruhig. »Es ist unser Wille, Schehrezad als Gattin bei uns zu belassen.«

Mit einem Satz sprang Dandan auf. Er beugte sich über des Sultans Hand, küsste sie und fühlte sich bis tief ins Innerste vor Dank gerührt. »Möge Gott Eure Macht auf immer und ewig erhalten«, stammelte er.

Als erinnerte er sich seiner Opfer, erklärte Sultan Schehrijar: »Gerechtigkeit bedient sich unterschiedlicher Mittel, mal ist es das Schwert, mal die Gnade. Einzig Gottes Weisheit entscheidet.«

»Gott hat euch auf den Pfad der Weisheit geführt, mein Gebieter.«

»Ihre Geschichten«, und nun wirkte der Sultan ganz entspannt, »sind wahrer Zauber. Sie eröffnen Welten, die einen nachdenklich machen.«

Der Minister, trunken vor Glück, schwieg.

»Und sie hat mir einen Sohn geboren, der das Tosen der aufgewühlten Seele zur Ruhe brachte.«

»Mögt Ihr euch immer, in dieser oder jener Welt, des Glücks erfreuen, mein Gebieter.«

»Ach, das Glück!« murmelte der Sultan und beließ es dabei. Aus unerklärlichem Grund überfiel Dandan Unruhe. Die Hähne krähten. Als spräche er mit sich selbst, fuhr der Sultan fort: »Das Sein ist das Unergründlichste des Seins.« Dann folgte, weniger verwirrt: »Schau!«

Dandan blickte gen Himmel, der sich mit geweihter Freude rötete.

Schehrezad

Dandan bat darum, seine Tochter Schehrezad sehen zu dürfen. Eine Schließerin führte ihn ins Rosenzimmer, in dem Teppich, Vorhänge, Diwane und Kissen rosafarben leuchteten.

Schehrezad und ihre Schwester Dunjazad warteten, den Vater zu begrüßen.

»Vor Glück breche ich fast zusammen!« rief er. »Danken wir Gott, dem Herrn der Welten.«

Schehrezad ließ ihn neben sich Platz nehmen, während sich Dunjazad zurückzog.

»Dank Gottes Gnade bin ich meinem blutigen Schicksal entgangen«, frohlockte Schehrezad. Während Dandan Dankesworte flüsterte, fügte sie mit Bitternis hinzu: »Möge sich Gott aller unschuldigen Jungfrauen erbarmen.«

»Wie klug du bist und wie mutig!«

»Und unglücklich, du weißt es, Vater«, sagte sie leise.

»Sieh dich vor, mein Kind, denn in Schlössern werden Gedanken leibhaftig und können sprechen.«

»Ich habe mich geopfert, um dem Blutvergießen Einhalt zu gebieten«, klagte Schehrezad.

»So will es Gottes weiser Ratschluss.«

»Aber der Teufel hat seine getreuen Gehilfen …« Wut schwang in ihrer Stimme mit.

»Er liebt dich, Schehrezad.«

»Kein Herz kann Hochmut und Liebe zugleich vereinen. Er liebt einzig und allein nur sich.«

»Die Liebe bringt Wunder zustande.«

»Wann immer er sich mir nähert, steigt mir der Geruch von Blut in die Nase.«

»Ein Sultan ist nicht wie andere Menschen.«

»Aber Verbrechen bleibt Verbrechen. So viele Jungfrauen hat er getötet, und so viele fromme Diener hat er vernichtet. Nur die Heuchler sind geblieben.«

Traurig senkte Dandan den Kopf. »Mein Vertrauen auf Gott ist unerschütterlich.«

»Und ich weiß, dass ich mich in Geduld zu üben habe. So hat es mich der große Scheich gelehrt.«

Da lächelte Dandan und sagte: »Ein trefflicher Meister, und eine treffliche Schülerin.«

Der Scheich

Scheich Abdallah al-Balchi wohnte in einem einfachen Haus im alten Viertel. Sein träumerischer Blick blieb in den Herzen vieler seiner alten und neuen Schüler haften, und in den Herzen seiner Jünger war er auf ewig tief verankert. Der vollkommene Dienst an Gott stellte für ihn lediglich ein Vorspiel dar. Er war der Scheich des Pfads und hatte auf ihm den Grat von Liebe und Wohlgefallen erreicht.

Als er seine stille Kammer verließ und hinüber ins Empfangszimmer ging, lief Zubaida, seine einzige Tochter, auf ihn zu und sagte mädchenhaft lächelnd: »Die ganze Stadt ist voller Freude, Vater.«

Ohne darauf einzugehen, fragte er: »Ist der Arzt noch nicht gekommen? Abd al-Kadir al-Muhini?«

»Bestimmt ist er noch unterwegs, Vater. Die Stadt feiert, weil der Sultan Schehrezad zur Frau nehmen will und darauf verzichtet, Blut zu vergießen.«

Nichts konnte Scheich al-Balchi aus der Ruhe bringen; der Friede seines Herzens wurde weder größer noch kleiner. Nun ja, Zubaida war nicht nur seine Tochter, sondern auch seine Schülerin. Aber sie stand noch am Anfang des Pfads.

Es klopfte. Zubaida lief zur Tür. »Das wird dein Freund sein, der seinen üblichen Besuch machen will.«

Abd al-Kadir al-Muhini trat ein, und die beiden Männer umarmten sich. Der Arzt nahm auf dem Polster neben dem Scheich Platz. Im matten Schein einer Lampe, die in einer Nische stand, begannen sie zu plaudern.

»Bestimmt haben Sie schon die glückliche Nachricht gehört?«

Der Scheich lächelte. »Ich habe erfahren, was mir zu erfahren wichtig ist.«

»Alle Welt bringt Segenswünsche für Schehrezad aus, obwohl doch nur Ihnen das Verdienst zukommt.«

»Alles Verdienst kommt einzig dem Geliebten zu.«

»Nun, ich bin auch ein gläubiger Mensch, aber trotzdem überdenke ich doch Ursache und Ergebnis. Wäre Schehrezad nicht schon als Mädchen Ihre Schülerin gewesen, wäre sie nicht Schehrezad geworden. Ohne Ihre Worte hätte sie keine Geschichten erzählen können, die den Sultan abhielten, Blut zu vergießen.«

»Ach, lieber Freund, würdest du dich nicht allzu sehr deinem Verstand ausliefern, wärst du ohne Fehl und Tadel.«

»Er ist die Zierde des Menschen …«

»Dem Verstand obliegt es, dass er seine Grenzen erkennt.«

»Es gibt durchaus Gläubige, die ihn für grenzenlos halten.«

»Bei vielen misslang es mir, sie auf den Pfad zu bringen, und du stehst dabei in der vordersten Reihe.«

»Aber die Menschen sind arme Kreaturen, mein Freund, sie brauchen jemanden, der auf sie einwirkt und ihnen ihr Leben erklärt.«

»Zieh eine reine Seele auf, und du rettest ein ganzes Volk«, widersprach der Scheich unbeirrt.

Verärgert winkte der Arzt ab. »Und was ist mit Ali as-Sululi, unserem Gouverneur? Wie sollte das Viertel vor seiner Verderbtheit gerettet werden?«

»Wer sich müht, erreicht auch etwas.«

»Ich bin Arzt und mich interessiert, was der Welt nützt«, beharrte Abd al-Kadir. Der Scheich tätschelte ihm beschwichtigend die Hand, und da musste er lächeln. »Sie sind die Güte und Gnade in Person …«

»Ich danke Gott dafür, dass mich weder die Freude hinwegreißt noch die Traurigkeit lähmt.«

»Was mich betrifft, lieber Freund, so bin ich traurig. Wann immer ich an all jene denke, die, nur weil sie die Wahrheit sagten und gegen das Blutvergießen protestierten, dahingemetzelt wurden, überfällt mich tiefe Verzweiflung.«

»Ach, wie stark halten uns doch die weltlichen Dinge gefangen.«

Abd al-Kadir seufzte betrübt. »Die Edlen und Frommen wurden ermordet. Oh, du meine Stadt, über die nur noch Heuchler herrschen, dir gilt mein Bedauern. Sagen Sie mir, mein Freund, warum bleiben immer nur die bösartigsten Kühe im Stall?«

»Die, die den Unflat lieben, überwiegen.«

Aus den Gassen des Viertels scholl Lärm von Trommeln und Schalmeien herein. Die Menschen feierten das glückliche Ereignis. So entschloss sich Abd al-Kadir, ins Café der Emire zu gehen.

Das Café der Emire

Das Café befand sich auf der rechten Seite der großen Geschäftsstraße. Es war viereckig und geräumig angelegt. Die Eingangstür ging auf die Hauptstraße, während die Fenster den Blick auf Seitenstraßen freigaben. Im Innern gab es an den Seitenwänden Sofas für die Notabeln, und die Mitte füllten kreisförmig angeordnete Polster für das einfache Volk aus. Je nach Jahreszeit wurden die verschiedensten Getränke, heiß oder kalt, gereicht, und man konnte die vorzüglichsten Sorten von Haschisch und Manzul finden.

Zu den feinen Leuten, die hier ihre Nächte verbrachten, gehörten Sanan al-Gamali, sein Sohn Fadil, Hamdan Tanischa, Karam al-Asil, Sahlul, Ibrahim al-Attar, sein Sohn Hassan, Galil al-Bazzaz, Nureddin und der bucklige Schamlul. Beim einfachen Volk sah man oft den Lastenträger Ragab, seinen Kumpel Sindbad, den Barbier Agar, seinen Sohn Aladdin, den Wasserträger Ibrahim und den Schuhmacher Maruf. In dieser glückseligen Nacht herrschte bei allen ausgelassene Stimmung.

Der Doktor setzte sich zu Ibrahim al-Attar, Karam al-Asil und Sahlul; der Erste handelte mit Spezereien, der Zweite war einfach Millionär, und der Dritte war Auktionär und verkaufte kostbare Raritäten. In dieser Nacht erwachten alle aus einem Furcht erregenden Albtraum. Nun konnte jeder Vater einer hübschen Jungfrau zur Ruhe kommen und sich auf einen tiefen Schlaf, bar aller Schrecken, freuen. Es ging hoch her, die Stimmen schwirrten durcheinander.

»Sprechen wir die Fatiha für die armen Seelen der Opfer …«

»… für die Jungfrauen und gottesfürchtigen Männer.«

»Vorbei istʼs mit den Tränen.«

»Lob und Dank sei Gott, dem Herrn der Welten.«

»Lang möge sie leben – Schehrezad, die Perle der Frauen.«

»Hab Dank für all die schönen Geschichten.«

»Mit ihr ist Gottes Gnade eingekehrt.«

Die fröhliche Stimmung wollte nicht enden, aber plötzlich drang ein empörter Schrei vom Lastenträger Ragab durch den Raum: »Was? Bist du verrückt, Sindbad?«

Agar, der in alles seine Nase steckte, fragte: »Warum sollte er in dieser glücklichen Nacht verrückt werden?«

»Wie es aussieht, hasst er auf einmal seine Arbeit, und die Stadt hat er auch über. Er will von jetzt an kein Lastenträger mehr sein.«

»Was will er dann? Das Viertel regieren?«

»Er ist zu einem Kapitän gegangen und hat so lange auf ihn eingeredet, bis der ihn angeheuert hat.«

»Wenn er das tut«, brummte der Wasserträger Ibrahim, »wenn er wirklich sein sicheres Einkommen auf festem Boden aufgibt, um einem unsicheren Lohn auf dem Wasser nachzujagen, dann ist er wirklich verrückt.«

»Auf dem Wasser! Das sich seit jeher nur von Leichen ernährt!« empörte sich der Schuhmacher Maruf.

»Ich habe die Nase voll von Gassen und Winkeln«, verteidigte sich Sindbad herausfordernd. »Ich will keine Säcke und Möbel mehr schleppen. Hier hofft man vergeblich, etwas Neues zu entdecken. Dort auf dem Meer gibt es ein anderes Leben. Der Fluss erreicht das Meer, das Meer dringt ins Unbekannte, und das Unbekannte offenbart einem Inseln, Berge, Lebewesen, Engel und Teufel. Ich höre einen seltsamen Ruf, dem ich nicht widerstehen kann. Also sage ich mir: Versuch dein Glück, Sindbad, und wirf dich dem Verborgenen in die Arme.«

»Sich regen, bringt Segen«, meinte Nureddin, der mit Parfümessenzen handelte.

»Schön, von einem Gefährten aus der Jugendzeit so ermuntert zu werden«, erwiderte Sindbad.

»Ah, macht sich der Lastenträger jetzt an die hohen Herren heran?« spottete der Barbier Agar.

»Immerhin saßen wir«, rief Nureddin, »Seite an Seite im Gebetsraum und wurden von Scheich Abdallah al-Balchi unterrichtet.«

»Mir haben die Grundlagen von Schreiben und Religion gereicht, vielen anderen auch«, spaßte Sindbad.

Agar grinste. »Geh nur, geh. Das Land wird nicht kleiner dadurch und das Meer nicht größer.«

Abd al-Kadir al-Muhini griff ein. »Geh mit Gott«, ermunterte er ihn. »Aber schärf deine Sinne, dann kannst du, was dir an Wundersamem begegnet, festhalten. So hat es uns Gott aufgetragen. Wann geht die Reise los?«

»Morgen früh«, stammelte Sindbad aufgeregt. »Möge euch Gott der ewig Lebende beschützen.«

»Ach, Sindbad, was macht es mich traurig, dass du weggehst«, murmelte Ragab betrübt.

Sanan al-Gamali

1

Die Zeit dröhnte mit einem Schlag in seinem Innern, und er war hellwach. Sein Blick glitt hinüber zum Fenster am Bett, und durch die Ritzen der Läden konnte er erkennen, dass die Stadt in tiefer Dunkelheit lag. Der Schlaf hatte ihr alles Treiben und Lärmen genommen, sie ruhte in allumfassendem Schweigen.

Er löste sich von Umm as-Saads warmem Körper und setzte sich auf. Die Füße tauchten in den Flaum des Perserteppichs. Er tastete nach dem Leuchter, da stieß er an einen harten Klotz.

Er schreckte zurück. »Was ist das?«

Plötzlich ertönte eine Stimme, so seltsam, wie er es noch nie gehört hatte. Es war keine menschliche Stimme, auch nicht die eines Tieres. Verwüstend bemächtigte sie sich all seiner Sinne, als beherrschte sie die ganze Stadt. Wütend blaffte sie ihn an: »Das war mein Kopf, du blindes Huhn!«

Er schlotterte vor Angst; allein schon der Gedanke, den Helden zu spielen, war völlig unmöglich. Außer kaufen, verkaufen und handeln konnte er nichts.

»Du hast mir an den Kopf gehauen, du Dummkopf!«

»Wer bist du?« fragte er zitternd.

»Ich bin Kamkam.«

»Kamkam?«

»Ein Geist aus der Stadt.«

Vor Schreck glaubte er ohnmächtig zu werden, die Zunge war ihm wie gelähmt.

»Du hast mir wehgetan, also verdienst du Strafe.«

Kein Wort brachte er heraus, wie sollte er sich da verteidigen?

»Du alter Aufschneider! Gestern hast du noch erklärt, dass wir den Tod verdienen, und jetzt machst du dir vor Angst in die Hosen?«

»Erbarm dich meiner, ich habe Familie.«

»Deiner Familie passiert nichts.«

»Keinen einzigen Moment habe ich je gedacht, dir die Stirn zu bieten.«

»Was seid ihr doch für lästige Geschöpfe! Unaufhörlich trachtet ihr danach, uns für eure niedrigen Ziele als Knechte zu verdingen. Könnt ihr eure Gier nicht damit sättigen, die Schwachen unter euch Menschen auszubeuten?«

»Ich schwöre, dass …«

»In den Schwur eines Kaufmanns setze ich kein Vertrauen.«

»Ich bitte dich – hab Erbarmen und verzeih mir!«

»Warum sollte ich?«

»Du hast ein großes Herz …«

»Versuch bloß nicht, mich wie deine Kunden zu betrügen.«

»Tu es für Gottes Lohn …«

»Jedes Erbarmen hat seinen Preis, kein Verzeihen ohne Entgelt.«

Neue Hoffnung beseelte ihn. Inbrünstig drängte er: »Ich tu, was du willst.«

»Wirklich?«

»Mit all meiner Kraft …«

Mit einer Ruhe, die Entsetzen auslöste, sprach der Geist: »Töte Ali as-Sululi.«

Der unerwartete Schlag verdarb die keimende Freude. Es war wie bei einer Ware, die sich, nach all den Gefahren der Überfahrt, beim Löschen als fehlerhaft herausstellt. Verblüfft stammelte er: »Ali as-Sululi, den Gouverneur unseres Viertels?«

»Genau den.«

»Aber er ist Gouverneur und wohnt in einem bewachten Palast! Ich bin doch nur ein Kaufmann!«

»Na gut«, schrie der Geist, »dann gibtʼs kein Erbarmen und kein Verzeihen.«

»Oh, mein Gebieter, warum tötest du ihn nicht selbst?«

Wütend schimpfte der Geist: »Er hat mich mit schwarzer Magie gezähmt und nutzt mich jetzt für Zwecke aus, die ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann.«

»Aber deine Kraft übersteigt doch alle schwarze Magie!«

»Bestimmten Gesetzen müssen wir uns beugen, und jetzt hör auf zu diskutieren. Entweder du akzeptierst, oder du lehnst ab.«

Aufgeregt fragte Sanan: »Hast du nicht andere Wünsche? Ich besitze eine Menge Geld und Waren aus Indien und China.«

»Verschwende nicht unnütz Zeit, du Tor.«

Die Versuchung, heil zu entkommen, war zu groß, und so ließ ihn die Verzweiflung sagen: »Ich folge und gehorche.«

»Wehe, du versuchst mich zu betrügen.«

»Ich überlass mich meinem Schicksal.«

»Ich hab dich in der Hand, selbst wenn du zum Berg Kaf flüchtest.«

Plötzlich verspürte Sanan einen entsetzlichen Schmerz am Arm. Er schrie so laut, dass es ihm schier die Eingeweide zerriss.

2

Er hörte eine Stimme und öffnete die Augen. »Du schläfst noch?« fragte Umm as-Saad und zündete die Kerzen an.

Verwirrt schaute er sich um. Wenn das ein Traum gewesen war, dann lastete der schwerer auf ihm als alles Wachsein. Trotzdem, er war so lebendig, dass es ihn fast mit Schrecken erfüllte. Der Nektar des Lebens machte ihm den Mund wässrig, und stille Dankbarkeit senkte sich auf ihn hernieder. Die Welt hatte die Katastrophe überlebt, und nach Höllenqualen konnte er das süße Leben wieder genießen. Er seufzte tief auf. »Bei Gott suche ich Schutz vor dem verfluchten Teufel.«

Umm as-Saad, die sich gerade mühte, ein paar widerspenstige Locken unters Tuch zu schieben, schaute zu ihm hinüber. Der Schlaf hatte über ihr hübsches Gesicht einen glänzenden Schleier gelegt. Von Freude berauscht, sagte er: »Gedankt sei Gott, der mich aus großer Bedrängnis rettete.«

»Gott wacht über uns, Abu Fadil.«

»Ich hatte einen schrecklichen Traum.«

»Gebe Gott, dass alles wieder gut ist.«

Sie ging ins Bad, zündete die Lampe in der Nische an. Als er ihr folgte, sagte er: »Die halbe Nacht habe ich mit einem Dämon verbracht.«

»Was? Du, der gottesfürchtige Mann?«

»Ich werde alles Scheich Abdallah al-Balchi erzählen. Und du geh jetzt, damit ich mich fürs Gebet waschen kann.«

Er begann sich zu waschen. Als er den linken Arm anhob, blieb er wie gelähmt stehen. Er zitterte. »Oh, mein Gott!« Er starrte auf die Wunde, die wie ein Biss aussah. Was er da sah, war keine Einbildung. Dort, wo die Zähne zugeschlagen hatten, war frisches Blut. Ihm wurde schwindlig. »Das ist unmöglich, völlig unmöglich«, murmelte er. Von panischem Schrecken erfasst, stürzte er in die Küche. Umm as-Saad machte Feuer im Ofen. »Bist du fertig mit dem Waschen?«

Er streckte ihr den Arm hin. »Sieh dir das an.«

Sie stieß einen Schrei aus. »Was hat dich da gebissen?«

»Ich weiß nicht.«

Umm as-Saad überfiel Unruhe. »Aber du hast doch gut geschlafen?«

»Ich weiß nicht, was passiert ist.«

»Vielleicht ist es tagsüber gewesen …«

»Tagsüber war nichts«, unterbrach er sie.

Sie sahen sich beklommen an; der Blick sprach von heimlicher Sorge.

»Erzähl mir deinen Traum.«

»Na ja«, meinte er gequält, »wie ich schon sagte, da war ein Dämon. Aber es war ja nur ein Traum.«

Wieder tauschten sie einen Blick aus, und dieses Mal war beiden Angst anzusehen.

»Wir sollten es für uns behalten«, schlug Umm as-Saad vor.

Er begriff, dass sie genau das Gleiche befürchtete.

Wenn sie in irgendeiner Weise den Geist erwähnten, waren die Folgen für ihn als Kaufmann nicht abzusehen. Und was wäre mit dem guten Ruf seiner Tochter Husnija und seines Sohns Fadil? Der Traum könnte den totalen Ruin bedeuten. Dabei war er seiner Sache nicht mal sicher …

»Ein Traum ist ein Traum«, entschied Umm as-Saad. »Und was die Verletzung angeht, so weiß nur Gott allein, woher die kommt.«

Er nickte verzweifelt. »So ist es, man muss sich dareinschicken.«

»Im Augenblick ist nur wichtig, dass du schleunigst behandelt wirst. Geh zu deinem Freund Ibrahim al-Attar.«

Wie konnte er die Wahrheit herausfinden? Das ständige Grübeln setzte ihm dermaßen zu, dass er wütend wurde – ja, er tobte im Innern vor Zorn. Er hatte das Gefühl, in einen Strudel gerissen zu werden. Sein ganzes Ich bestand bald nur noch aus Groll, seine Laune wurde immer schlechter. Sein Charakter schien sich geändert zu haben, von der früheren Güte und Sanftmut war nichts mehr zu spüren. Er ertrug es nicht, wenn seine Frau ihn ansah. Er hasste ihre Blicke, er verabscheute ihre Gedanken, und am liebsten hätte er alles kurz und klein geschlagen. Als er schließlich völlig die Beherrschung verlor, durchbohrte er sie mit einem dermaßen wütenden, bösen, hasserfüllten Blick, dass man hätte meinen können, sie wäre verantwortlich für all sein Unglück und Leid. Als er sich von ihr abwandte, murmelte Umm as-Saad: »Das ist nicht mehr der gleiche Sanan.«

Im Salon fand er Husnija und Fadil vor. Im matten Lichtschein, der durch die Löcher des Holzerkers drang, konnte er den verstörten Gesichtern die Angst vor einem neuerlichen Tobsuchtsanfall ansehen. Er wurde noch wütender, und was er früher nie getan hatte, machte er jetzt. Ohne jeden Grund schrie er: »Verschwindet aus meinem Blick!« Er ging in sein Zimmer, schloss hinter sich die Tür und begann, aufmerksam seinen Arm zu untersuchen.

Fadil hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen und war ihm gefolgt. Er öffnete vorsichtig die Tür und fragte besorgt: »Gehtʼs dir gut, Vater?«

»Lass mich allein«, fuhr er ihn grob an.

»Dich hat ein Hund gebissen?«

»Wer sagt das?«

»Mutter.«

Eine kluge Erklärung, er war zufrieden. Doch deshalb besserte sich seine Stimmung noch lange nicht. »Eine kleine Schramme, ich bin in Ordnung. Aber nun lass mich allein.«

»Du musst zu Ibrahim al-Attar gehen.«

»Ich brauch keinen, der mich daran erinnert.«

Draußen stieß Fadil auf Husnija. »Wie hat sich unser Vater nur verändert!«

3

Zum ersten Mal seit der Kindheit verließ Sanan al-Gamali das Haus, ohne zu beten. Schnurstracks machte er sich auf den Weg zu seinem alten Freund Ibrahim al-Attar, dessen Laden neben seinem lag. Kaum hatte al-Attar die Wunde gesehen, rief er überrascht: »Was für ein Hund war das? Aber es streunen ja genug herum.«

Er suchte eifrig ein paar Kräuter aus, sprach Sanan al-Gamali Mut zu mit den Worten: »Ich kenne ein gutes Rezept«, und dann ging er daran, die Kräuter zu kochen, bis sich eine klebrige Masse absetzte. Er wusch die Wunde mit Rosenwasser, tat einen Klacks von dem Sud darauf und strich ihn mit einem Holzlöffel glatt. Als alles getan war, verband er den Arm mit Damaszener Musselin und murmelte: »So Gott will, wirdʼs nun heilen.«

»Oder der Teufel hat was anderes vor«, entfuhr es Sanan, ohne dass er es wollte.

Al-Attar sah den Freund aufmerksam an: Das Gesicht war gerötet und sah merkwürdig verändert aus. »Lass dir von solch einer Schramme nicht die Laune verderben«, versuchte er ihn aufzumuntern.

Doch Sanans Miene blieb düster, und beim Hinausgehen sagte er: »Setz kein Vertrauen in diese Welt, Ibrahim.«

Ach, wie elend ihm zumute war, gerade so, als hätte er in zu heißem Wasser gebadet. Die Sonne brannte unerträglich, die Leute sahen bedrückt aus. Einzig Fadil, der zum Laden vorausgelaufen war, stand mit strahlendem Gesicht auf der Schwelle. Das verdarb ihm vollends die Laune. Was war nur mit ihm los? Er, der mit jeder Temperatur leben konnte, verfluchte das Wetter. Niemand war ihm willkommen, er freute sich weder an einem netten Wort noch freundlichen Gesicht, er lachte über keinen Spaß, nahm kein Begräbnis als ernste Mahnung, kein hübsches Weibsbild brachte ihn in Wallung. Was war nur los?

Fadil mühte sich ab. Wo immer es zwischen dem Vater und einem Kunden etwas zu vermitteln gab, sprang er ein. Mehr als einer flüsterte besorgt: »Was hat dein Vater?«

»Ach, ihm ist nur ein wenig unwohl«, stieß Fadil dann unwillig hervor. »Möge Gott Sie vor Unheil schützen.«

4

Natürlich blieb sein Zustand den Kunden im Café der Emire nicht verborgen. Mit finsterem Gesicht kam er herein, schweigend setzte er sich hin, warf geistesabwesend ein flüchtiges Wort ins Gespräch. Auf seine lustigen Kommentare mussten die Freunde verzichten. Schnell wurde er es überdrüssig, länger herumzusitzen, und ging hinaus.

»Ein streunender Hund hat ihn gebissen«, entschuldigte ihn Ibrahim al-Attar.

»Vielleicht haben wir ihn für immer verloren!« rief Galil al-Bazzaz.

Karam al-Asil, der mit den Millionen und dem Affengesicht, meinte: »Aber sein Geschäft läuft bestens.«

»Ist man krank, nützt das Geld gar nichts«, warf Doktor al-Muhini ein.

Agar der Barbier gehörte zwar zu denen, die auf dem Boden hockten, aber er mischte sich trotzdem manchmal ins Gespräch der Herren ein. Das tat er auch jetzt, als er laut vor sich hin philosophierte: »Was ist schon der Mensch? Ein Hundebiss, ein Mückenstich …«

»Was wollt ihr, mein Vater ist in Ordnung!« schrie Fadil. »Ihm gehtʼs momentan nicht gut, aber noch vor Sonnenaufgang ist das vorbei.«

Aber ach, er geriet immer tiefer in einen Zustand, in dem er sich nicht mehr in der Kontrolle hatte. Eines Nachts, als er im Café eine geradezu verrückte Menge Manzul verschlungen hatte, überfiel ihn beim Herauskommen die Lust, sich auf ein unbekanntes Abenteuer einzulassen. Der Gedanke, nach Hause zu gehen, widerte ihn an, und so tappte er durchs Dunkel – wirr der Verstand, und der Wille getrieben von wilden Fantasien. Dabei sehnte er sich danach, dass die angespannte Erregung sich legen und er von seinen Qualen befreit sein möge. Frauen aus der Familie tauchten in seiner Erinnerung auf, alle längst gestorben. Er stellte sie sich nackt vor, in verführerischen, lüsternen Stellungen, und es tat ihm leid, sich mit keiner von ihnen Befriedigung verschafft zu haben. Er kam am Haus von Scheich Abdallah al-Balchi vorbei, und für einen Moment war er versucht, hineinzugehen und ihm alles zu gestehen. Doch er beschleunigte den Schritt, hastete weiter. Im Schein einer Laterne, die in einem Toreingang hing, sah er ein kleines, etwa zehnjähriges Mädchen laufen. In den Händen trug es eine Schüssel. Er eilte zu ihm hin, stellte sich in den Weg. »Wohin gehst du, meine Hübsche?«

»Heim, zu meiner Mutter.«

Er trat tiefer ins Dunkel, um nicht gesehen zu werden. »Komm her, ich zeig dir was Tolles.« Er nahm sie auf den Arm, trug sie – vom Essiggemüse in der Schüssel tropfte es feucht auf seine seidene Gubba – unter die Treppe der Koranschule. Verwirrt über die eigentümliche Zuwendung, bei der dem Mädchen nicht wohl war, klagte es leise: »Meine Mutter wartet …« Aber das Kind war ebenso neugierig wie ängstlich. Das Alter des Mannes erinnerte es an seinen Vater, und flößte ihm das auch Zutrauen ein, blieben doch eine seltsame, unbekannte Angst und das Gefühl, einen merkwürdigen Traum zu erleben. Das Mädchen stieß einen weinerlichen Schrei aus. Sanan al-Gamali ging der Schrei durch Mark und Bein, seine getrübte Vorstellungskraft gaukelte ihm Schreckensvisionen vor. Blitzschnell legte er seine zitternde Hand auf den Mund des Mädchens. Es war ein jähes Erwachen, er kehrte auf den Boden der Tatsachen zurück. »Wein nicht, hab keine Angst«, flüsterte er flehentlich.

Verzweiflung packte ihn, hielt ihn gefangen, bis die Grundfesten der Welt zusammenbrachen. Und aus der Tiefe der allumfassenden Trümmerstätte drang das Geräusch von Schritten. Da umklammerten Hände, die ihm fremd vorkamen, den zarten Hals, und wie ein reißendes Tier, das ins Straucheln kommt, stürzte er hinab in den Abgrund. Er wusste, dass es mit ihm aus war.

Die Stimme kam näher. »Bassima! Töchterchen!«

Niedergeschmettert sagte er sich, dass es kein Entrinnen gab. Die Schritte näherten sich seinem Versteck, das Licht einer Laterne hüpfte auf und ab. Es überfiel ihn der Wunsch, mit dem Leichnam auf dem Arm hervorzutreten. Aber genau in diesem Augenblick bemächtigte sich seines zerstörten Seins eine schwere Kraft; die Erinnerung an den Traum zwang sich ihm auf.

Ja, und da war auch die Stimme, die er vor zwei Tagen gehört hatte: »Ist es das, worauf wir uns geeinigt hatten?«

Kraftlos flüsterte er: »Dann gibtʼs dich also wirklich, und du bist kein Traum.«

»Du musst verrückt sein.«

»Stimmt, aber der Grund dafür bist du.«

Wütend blaffte ihn die Stimme an: »Ich habe nie von dir verlangt, dass du Böses tust.«

»Zum Streiten ist keine Zeit. Wenn du willst, dass ich tue, worauf wir uns geeinigt haben, dann rette mich!«

»Genau deshalb bin ich gekommen, nur leider verstehst du nichts.«

Auf einmal hatte er das Gefühl, sich in einer Leere, einer absolut stillen Welt zu bewegen. Doch dann konnte er wieder die Stimme vernehmen: »Niemand wird von dir eine Spur entdecken. Öffne die Augen, und du wirst sehen, dass du vor deiner Haustür stehst. Tritt ein, in Frieden. Ich warte.«

5

Mit übermächtiger Anstrengung war Sanan bemüht, sich zu beherrschen. Umm as-Saad merkte nicht, dass es ihm noch viel schlechter als vorher ging.

Er verbarg sich im Dunkel der geschlossenen Lider und erinnerte sich dessen, was er getan hatte. Er war ein anderer geworden. Der Vergewaltiger, der Mörder – das war ein anderer Mensch. Seine Seele gebar Ungeheuer, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Jetzt galt es, Schluss mit der Vergangenheit zu machen, alle Hoffnung zu begraben und sich ins Unbekannte zu stürzen.

Er fand keinen Schlaf, aber er verriet auch mit keinem einzigen Seufzer, dass er wach lag. Am frühen Morgen scholl von draußen das Klagen um einen Toten herein.

Umm as-Saad verließ das Haus, und als sie nach einer Stunde wiederkam, seufzte sie: »Möge Gott dir beistehen, Umm Bassima!«

Er sah zu Boden. »Was ist passiert?«

»Was ist bloß mit den Menschen los, Abu Fadil! Die kleine Bassima ist unter der Treppe der Koranschule vergewaltigt und ermordet worden. O mein Gott, sie war doch noch ein Kind! Aber so ist es nun mal, unter der menschlichen Haut verbergen manche das wilde Tier.«

Er senkte den Kopf so tief, dass sich die Barthaare auf der Brust kräuselten. »Bewahr uns Gott vor dem verfluchten Satan«, murmelte er.

»Solche Ungeheuer kennen weder Gott noch Propheten«, und fassungslos brach Umm as-Saad in Tränen aus.

Fragen türmten sich vor ihm auf. War das der Dämon gewesen? Oder das Manzul? Oder er – Sanan al-Gamali?

6

Das Viertel stand in heller Aufregung, und in der Geschäftsstraße war nur von dem Verbrechen die Rede. Al-Attar, der auf Sanans Wunde die Kräuterpackung erneuerte, sagte: »Noch ist es nicht verheilt, aber wenigstens ist es nicht mehr gefährlich.« Behutsam bandagierte er den Arm. »Hast du von dem Mord gehört?«

Unwillig verzog Sanan den Mund. »Behüt uns Gott …«

»Wer das getan hat, ist kein Mensch. Von unseren Söhnen kann es keiner gewesen sein, sie heiraten ja, sobald sie Mannesreife haben.«

»Das war bestimmt ein Verrückter.«

»Oder einer von diesen Habenichtsen, die kein Geld fürs Heiraten haben. Sie strolchen durch die Gassen wie streunende Hunde.«

»So ist es, das denken viele.«

Al-Attar lächelte spöttisch. »Was treibt eigentlich Ali as-Sululi? Müsste er nicht für Ordnung sorgen?«

Kaum war dieser Name gefallen, überlief Sanan al-Gamali ein Schauder. Er musste an den Vertrag denken, der wie ein Schwert über seinem Haupt schwebte. Er gab sich einen Ruck. »Na, er wird mit seinen persönlichen Dingen beschäftigt sein, wird Geschenke und Schmiergelder zählen.«

»Dass er sich den Kaufleuten gegenüber anständig verhält, kann man nicht leugnen. Aber wenn er im Amt bleiben will, sollte er sich um seine eigentlichen Pflichten kümmern …«

Abrupt stand Sanan auf. »Setz kein Vertrauen in diese Welt, Ibrahim«, und hastig zog er von dannen.

7

Der Gouverneur Ali as-Sululi wusste, was im Viertel über die Sicherheit geredet wurde; dafür hatte er seinen Sekretär Batischa Margan. Der Gedanke, dass erst Minister Dandan und von diesem dann der Sultan von den Vorwürfen erfahren könnten, machte ihn nervös. Er ließ den Polizeichef kommen. Kaum war Gamsa al-Balti eingetreten, herrschte er ihn an: »Weißt du, was die Leute über die Zustände reden?«

Da der Polizeichef mit den Geheimnissen und Launen seines Vorgesetzten bestens vertraut war, nahm er die Frage gelassen auf. »Verzeihung, Herr Gouverneur, ich habe bei den Informanten weder Kosten noch Mühe gescheut, aber der Täter hat keine Spur hinterlassen. Wir haben bisher keinen einzigen Zeugen gefunden, ich selbst habe Dutzende und Aberdutzende von Vagabunden und Bettlern vernommen. Wir haben es mit einem sehr rätselhaften Verbrechen zu tun, und ich muss sagen, dass mir etwas Ähnliches noch nicht vorgekommen ist.«

»Was für ein Dummkopf du bist!« schrie der Gouverneur. »Sperr alle Strolche und Bettler ein, dann kannst du sie richtig verhören. Darin bist du doch Experte.«

»Dafür haben wir nicht genug Zellen«, warf Gamsa vorsichtig ein.

»Was für Zellen?« blaffte der Gouverneuer ihn wütend an. »Willst du den Fiskus etwa damit belasten, sie zu ernähren? Führ das Pack hinaus in die Einöde, lass es von Soldaten bewachen, und bevor es Nacht wird, bringst du mir den Verbrecher.«

8

Polizisten durchkämmten die Elendsquartiere und verhafteten jeden, der obdachlos war oder bettelte. Gruppenweise wurden sie in die Einöde gebracht. Da half kein Klagen und Schwören, und selbst die Greise fanden kein Erbarmen. Die Männer wurden so brutal angepackt, dass sie zu Gott, seinem Propheten und der Familie des Propheten flehten.

Sanan al-Gamali verfolgte unruhig und besorgt die Nachrichten. Der Verbrecher war er, da gabʼs keinen Zweifel. Aber er lief frei und geachtet herum, während Hunderte von Unschuldigen wegen seiner verruchten Tat gepeinigt wurden. Wie hatte er der Grund von so viel Unglück werden können?

Und nicht genug damit – Unbekanntes lauerte auf ihn, und im Vergleich damit war alles bisher Geschehene fast gering zu schätzen. Er war verloren und musste sich bedingungslos in alles fügen. Der alte Sanan war tot und vergessen; nichts war von ihm geblieben als ein ratloses Gedächtnis, das unaufhaltsam Erinnerungen wiederkäute, die reine Selbsttäuschung waren.

Draußen, auf der Geschäftsstraße, setzte Lärm ein. Er sah auf. Der Gouverneur Ali as-Sululi ritt an der Spitze eines Trupps durch die Menge. Er demonstrierte nicht nur Macht und Wachsamkeit, sondern auch seine Entschlossenheit, jedem Aufruhr Einhalt zu gebieten. Grüßend winkte er den Kaufleuten nach rechts und links zu.

Das also war der Mann, den zu töten er sich verpflichtet hatte. Angst und Hass beherrschten sein Herz. Dieser Mann war das Geheimnis seiner Pein. Auf ihn, Sanan, war die Wahl gefallen, um den Dämon von der schwarzen Magie zu erlösen. Den Dämon, und keinen anderen! Wollte er, Sanan, gerettet werden, musste er töten.

Seine Augen starrten gebannt auf das satte, glänzende Gesicht, den spitzen Bart und den gedrungenen Körper. Ah, jetzt kam er an Ibrahim al-Attars Laden vorbei, und natürlich schoß der heraus und begrüßte ihn überschwänglich. Nun erreichte er seinen, Sanans, Laden. Der Gouverneur blickte zu ihm hinüber und lächelte. Was konnte er anderes tun, als heranzutreten und die Hand zu reichen?

Als er vor ihm stand, hörte er ihn sagen: »So Gott will, sehen wir uns bald.«

Sanan al-Gamali ging in den Laden zurück. Was hatte der Gouverneur damit gemeint? Wollte er ihn einladen? Aber warum? Sollte sich unverhofft eine günstige Gelegenheit bieten? Ein Schauder ließ ihn von Kopf bis Fuß erbeben, und leise murmelte er: »So Gott will, sehen wir uns bald.«

9

Eines Nachts, als Sanan al-Gamali gerade ein wenig Schlaf vergönnt war und er in andere Gefilde schlüpfte, hörte er die Stimme. »Ah, du isst, trinkst, schläfst, und ich muss mich in Geduld üben«, spottete sie.

»Die Sache ist nicht so einfach«, klagte er. »Wer so stark ist wie du, ahnt nicht, wie schwierig das Unterfangen ist.«

»Immer noch leichter, als ein kleines Mädchen umzubringen.«

Er stöhnte. »Was für eine Schmach! Wo ich doch so lange zur Elite zählte.«

»Von Äußerlichkeiten lass ich mich nicht täuschen.«

»Das waren nicht nur Äußerlichkeiten.«

»Du vergisst ein paar Dinge, die einen vor Scham erröten lassen.«

»Nur Gott ist vollkommen«, murmelte er verlegen.

»Ich leugne keineswegs, dass du ein paar gute Eigenschaften hast. Deshalb habe ich dich für die Rettung erwählt.«

»Wärst du nicht in mein Leben getreten, hätte ich mich nicht in ein solches Verbrechen verstrickt«, beklagte sich Sanan.

»Lüg nicht! Für dieses Verbrechen bist einzig du verantwortlich!«

»Also wirklich, ich versteh dich nicht …«

»Tatsache ist, dass ich dich überschätzt habe.«

»Hättest du mich bloß in Ruhe gelassen!«

»Ich bin ein gläubiger Geist, und so habe ich mir gesagt, dieser Mann hat mehr Gutes an sich als Schlechtes. Gewiss, er unterhält zweifelhafte Beziehungen zum Polizeichef, und er hat sich auch nicht gescheut, die Zeit der großen Teuerung für sich auszunutzen. Aber er ist der nobelste der Kaufleute – er spendet Almosen, kommt seinen religiösen Pflichten nach, ist barmherzig zu den Armen. Deshalb habe ich dich allen anderen vorgezogen, als es um die Befreiung des Viertels und deiner selbst ging. Das Viertel soll vom Kopf der Fäulnis befreit werden und du von deiner sündhaften Seele. Aber anstatt dieses Ziel zu begreifen, brichst du in deinen Grundfesten zusammen und verübst diesen abscheulichen Mord.«

Sanan seufzte schwer, schwieg.

»Noch bietet sich dir die Gelegenheit.«

»Und das Verbrechen?«

»Das Leben bietet genügend Zeit für Reue und Buße.«

»Aber der Mann ist gut bewacht und beschützt!« Schon schwang in seiner Stimme neue Hoffnung mit.

»Er wird dich einladen.«

»Wie das?«

»Er wird. Sorg dich nicht darum, sondern halte dich bereit.«

Sanan überlegte ein Weilchen, dann fragte er: »Versprichst du mir, dass ich gerettet werde?«

»Nur wegen deiner Errettung habe ich dich erwählt.«

Erschöpft sank Sanan in die Kissen und überließ sich einem tiefen Schlaf.

10

Gerade machte sich Sanan al-Gamali für den Gang ins Café fertig, da rief Umm as-Saad: »Ein Bote des Gouverneurs wartet im Empfangszimmer auf dich.«

Es war der Sekretär, Batischa Margan. Er trug einen kurzen Bart, und seine Augen funkelten. »Der Gouverneur möchte Sie sprechen«, erklärte er.

Sein Herz machte einen Satz. Er begriff auf Anhieb, dass er kurz davor stand, das schwer wiegendste Verbrechen, das je im Viertel verübt worden war, zu begehen. Ob Batischa Margan eingeweiht war? Der Gedanke quälte ihn, doch warum sollte er nicht dem Versprechen vertrauen, das der Dämon Kamkam ihm gegeben hatte. »Warten Sie bitte, ich ziehe mich an.«

»Ich würde lieber vorausgehen, um nicht unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.«

Ah, der Gouverneur wollte also die Begegnung geheim halten, das erleichterte ihm seine Mission. Während er sich mit Moschus einrieb, ließ ihn Umm as-Saad nicht aus den Augen. Seit der Nacht, als er ihr von seinem Traum erzählt hatte, ließ die Unruhe sie nicht los. Der alte Sanan hatte sich in Dunkelheit aufgelöst, sie lebte mit einem anderen Mann zusammen.

In einem unbeobachteten Augenblick steckte Sanan einen indischen Dolch mit Silbergriff, den er einst geschenkt bekommen hatte, flink in die Tasche.

11

Ali as-Sululi erwartete ihn im Gartenhaus des Palastes. Bekleidet mit einem weißen Gilbab und barhäuptig, verbreitete er nicht den Schrecken, der von Macht sonst ausgeht. Auf dem Tisch standen etliche Flaschen, Gläser und Schalen mit Süßigkeiten, die der Begegnung einen geselligen Charakter gaben. Der Gouverneur bedeutete ihm, auf einem Polster neben ihm Platz zu nehmen, und begrüßte ihn überschwänglich mit den Worten: »Ein herzliches Willkommen, euch, dem ehrenwerten Kaufmann und hochherzigen Menschen.«

Sanan versuchte, seine Verwirrung hinter einem Lächeln zu verbergen. »Danke, Herr Stellvertreter des Sultans.«

Batischa Margan schenkte ein, und Sanan fragte sich besorgt, ob der Sekretär die ganze Zeit über dableiben würde. Eine so günstige Gelegenheit wie dieser Besuch würde sich nicht wieder bieten, was sollte er tun?

»Ein schöner Abend«, meinte der Gouverneur. »Mögt Ihr auch den Sommer?«

»Ich habe alle Jahreszeiten gern.«

»Meister Sanan, Ihr gehört zu denen, auf denen Gottes Wohlgefallen ruht. Um gänzliche Zufriedenheit zu erlangen, sollte jeder ein neues, nutzbringendes Leben beginnen.«

Sanan schaute neugierig auf. »Ich bete zu Gott, dass er uns seiner Gnade teilhaftig werden lässt.«

Sie hoben die Gläser, tranken. Der Wein war erfrischend, versetzte die Männer in wohl tuenden Rausch.

»Wir haben euer Viertel vom Pöbel befreit«, begann Ali as-Sululi das Gespräch.

»Nichts geht über solch treffliche Entschlossenheit«, murmelte Sanan bedrückt.

»Von Raub und Mord hört man kaum noch was«, fügte stolz Batischa Margan hinzu.

»Habt Ihr den Mörder gefasst?«

As-Sululi lachte. »Mehr als fünfzig Schurken haben den Mord gestanden!«

Margan stimmte ins Gelächter ein. »Einer von den fünfzig ist bestimmt der Mörder.«

»Das ist jetzt das Problem von Gamsa al-Balti«, meinte as-Sululi lässig, und Margan erklärte eifrig: »Wir müssen dafür sorgen, dass in den Moscheen und heiligen Stätten mehr gepredigt und ermahnt wird.«

Sanan war fast schon am Verzweifeln, aber da machte der Gouverneur ein Zeichen, und Batischa Margan verschwand. Nur leider wimmelte es im Park von Wachen, und nirgendwo zeichnete sich ein Fluchtweg ab. Trotzdem, er musste sein Versprechen halten.

In völlig verändertem Ton sagte as-Sululi plötzlich: »Schluss damit, kein Wort mehr über Mord und Mörder.«

Sanan lächelte. »Möge es ein angenehmer Abend werden, euer Ehren.«

»Um ehrlich zu sein, gibt es für die Einladung mehrere Gründe.«

»Ich stehe voll und ganz zu Eurer Verfügung.«

»Ich möchte Eure Tochter heiraten!«

Sanan zuckte verblüfft zusammen. Schade, dass die Idee, kaum geboren, schon zum Scheitern verurteilt war. Trotzdem beteuerte er: »Das ist eine gewaltige Ehre und ein großes Glück.«

»Und meine Tochter wäre doch ein schönes Geschenk für deinen Sohn Fadil?«

»Er ist ein viel versprechender junger Mann.«

Für einen Moment schwieg as-Sululi, bevor er fortfuhr: »Was letzteren Vorschlag betrifft, so liegt der im allgemeinen öffentlichen Interesse.«

Sanan al-Gamali sah ihn neugierig an.

»Nun ja, ist nicht der Bauunternehmer Hamdan Tanischa ein Verwandter von euch?«

»Gewiss, euer Ehren.«

»Ich habe nämlich beschlossen, am Rande der Wüste und entlang des Viertels eine Straße bauen zu lassen.«

»Großartig.«

»Wann könnt Ihr mir Euren Verwandten herbringen?« fragte as-Sululi lauernd.

Sanan überkam etwas wie Spott. »Morgen Abend, euer Ehren.«

Der Gouverneur sah ihn durchdringend an, doch schließlich lächelte er. »Wie wird er reagieren?«

»Ganz wie Ihr es erwartet, euer Ehren.«

Da lachte as-Sululi herzhaft. »Ihr seid ein schlauer Mann, Sanan. Vergesst nicht, dass wir praktisch eine Familie sind.«

Was, wenn der Gouverneur wieder Batischa Margan rief? Entweder tust du es jetzt, oder die Gelegenheit ist für immer vorbei, sagte er sich.

In diesem Moment streckte der Mann die Beine aus und legte sich auf den Rücken. Mehr noch, er schloss, wohl um sich auszuruhen, die Augen. Das war mehr Hilfe, als Sanan erwarten konnte. Besessen von der Idee, töten zu müssen, warf er sich seinem Schicksal in die Arme. Er zog den Dolch aus der Tasche, richtete ihn auf das Herz und stieß, getrieben von Verzweiflung und dem inständigen Wunsch nach Rettung, mit aller Kraft zu. Der Körper des Gouverneurs wurde von einem heftigen Beben erfasst, als kämpfte er gegen eine unbekannte Macht. Das Gesicht verkrampfte sich, die Augen stierten wie im Wahnsinn. Er fuchtelte mit den Armen, wollte nach dem Dolch greifen, doch er schaffte es nicht. Der entsetzte Blick wollte etwas sagen, aber da erlosch er für immer.

12

Zitternd starrte er auf den blutüberströmten Dolch, der noch in der Wunde steckte, und nur mit Mühe gelang es ihm, den Blick loszureißen. Ängstlich schaute er zur Tür; sie war geschlossen. Das Blut in den Schläfen pochte, zerriss die Stille. Erst jetzt bemerkte er, dass in den Ecken Laternen hingen und auf einem perlmuttverzierten Holzpult ein großer Koran lag. Aus tiefster Seelenqual flehte er zu Kamkam, seinem Dämon und Schicksal.

Er fiel ins verborgene Sein, und plötzlich schallte die ersehnte Stimme: »Gut gemacht …« Noch ehe Sanan etwas sagen konnte, tönte sie fröhlich weiter: »Endlich ist Kamkam von der schwarzen Magie befreit.«

»Rette mich, ich ertrage diesen Ort und den Anblick nicht mehr.«

»Jetzt, da ich meine Willensfreiheit wiedergewonnen habe, verbietet es mir mein Glaube, mich einzumischen«, erwiderte Kamkam, und es klang fast mitleidig.

»Ich verstehe nicht, was du sagst.«

»Siehst du, das ist dein Fehler, Sanan. Du denkst nicht wie ein Mensch.«

»Großer Gott, das ist nicht die Zeit zum Streiten. Hast du dich etwa entschlossen, mich meinem Schicksal allein zu überlassen?«