Chimären - Ute-Marion Wilkesmann - E-Book

Chimären E-Book

Ute-Marion Wilkesmann

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Beschreibung

Was ist eine Chimäre? Wo leben sie? Wo können wir sie antreffen? Wie müssen wir uns verhalten, wenn wir eine Chimäre treffen? Antworten auf diese Fragen und vieles mehr über ihre Geschichte, einzelne Gestalten und ihre Organisation findet man in diesem Buch.

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Seitenzahl: 225

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Chimäre im Wald

Die Verwandlung

Die Biologie

Die Psychologie

Die Konferenz der Chimären

Aus der Schule

Der Begriff Chimäre in der Gegenwart

Mythologie der Chimären

Das Bildungswesen

Neue neue Namensregelung

Politisches Gefüge

Kriminalität und Strafvollzug

Mitarbeiter der Justiz

Guck mal da!

Medizinische Versorgung

Die Gesellschaft

Das Liebesleben, Teil 1

Vermehrung

Das Liebesleben, Teil 2

Religion

Das Liebesleben, Teil 3

Das Wirtschaftssystem

Fest- und Feiertage

Das Liebesleben, Teil 4

Mein schönster Ferientag

Der Tod

Coaching

Kunst

Bildhauerei

Malerei

Literatur

Musik

Philosophie

Chimären und Menschen

Chimären und Gewalt

Die Schlacht mit den Dinosauriern

Auritanus

Friedensforschung

Fußball

Frauenbewegung

Chimären sind nicht nur Denker, sondern auch Dichter

Eine Chimäre kommt selten allein

Nachwort

Das Wort Logistik

Das Wort Inklusion

Chimären

Prolog

Es gibt Wörter, die mich faszinieren und deren Bedeutung ich mir nur mit Mühe einprägen kann. So zum Beispiel das Wort Chimäre. Es klingt wunderschön, es klingelt am Ohr. Warum aber entfällt mir immer wieder, was eine Chimäre ist?

Es gibt andere Wörter, die auch lange daran gearbeitet haben, bis sie mein Bewusstsein erreichten. Da ist beispielsweise die Logistik.1 Ein ähnlich schwieriges Wort für mich war, als zweites Beispiel, die Inklusion.2 Und gerade auch die Chimären3 waren immer flauschige Watte in meinem Gehirn. Dabei gibt es für alle drei sachliche Hintergründe.

Es ist an der Zeit, zum Thema zurückzukommen: Warum habe ich die Chimären zum Gegenstand dieses Buches gewählt, nicht aber Logistik oder Inklusion? Der Grund ist simpel: Die beiden Wörter rufen bei mir keine fantasievollen Folgegedanken hervor. Die Logistik ist mir zu trocken, und die Inklusion ist wegen der politischen Korrektheit mit Samtpfoten zu behandeln, so dass ich mich auf ein heikles Pflaster begäbe, schriebe ich nur einen ‚falschen‘ Satz dazu. Chimäre hat schon allein als Wort etwas Geheimnisvolles, was sicher mit daran liegt, dass es nicht normal in unseren Alltag eingegangen ist, wie dies für die Logistik oder zunehmend die Inklusion gilt.

Wenn ich mich mehrere Stunden mit diesem Begriff auseinandersetze, besteht die Hoffnung, dass ich die Bedeutung des Wortes ‚Chimäre‘ endlich für alle Zeiten in meinem Gehirn verankert habe. Schreibe ich daher das Buch nur, um einen Hafen für ein herrenlos treibendes Wort zu finden? Nein, so ist es nicht. In Folgetexten wird der Begriff Chimäre durchaus seinen Platz einnehmen. Das heißt, ich spiele so lange mit dem Wort, bis es endgültig vorbei ist mit meiner Halbherzigkeit beim Abruf der Wortbedeutung!

1 Meine Gedanken zu meiner Erkenntnisentwicklung von Logistik stehen im Nachwort.

2 Mein Erkenntnisweg zur Inklusion findet sich ebenfalls im Nachwort.

3 Siehe Nachwort. In einem Prolog halten diese Ausführungen den Leser davon ab zu lesen, was er wirklich lesen will. Das sollte nicht sein!

Chimäre im Wald

Was mache ich, wenn ich im Wald einer Chimäre begegne? Diese Frage habe ich mir oft gestellt. Während ich dies schreibe, denke ich wieder darüber nach und stelle fest, dass ich erst einmal eine andere Frage klären muss: Warum gehe ich davon aus, dass ich diese Wesen im Wald treffe und nicht an einer anderen Stelle? So ein Halbmensch-Halbtier könnte an der Ampel neben mir stehen, mit einer Sammelbüchse in der Hand bei mir anklingeln oder ein Paket ausliefern. Warum erwarte ich nicht, dass an der Käsetheke im Supermarkt vor Ort eine freundliche Chimäre den jungen Gouda passend abschneidet? Die letzte Frage ließe sich noch einfach beantworten: Ich weiß es nicht mit Sicherheit, solange ich nicht hinter die Theke gehe. Schließlich ist eine Chimäre vom Oberkörper her ein Mensch, man denke da an die Sphinx. So ein Gouda schmeckt sicherlich besser, wenn er von einer Sphinx abgeschnitten und in Papier gewickelt würde. Ich setze einmal voraus, dass die Chimären heutzutage ihre Frisur dem modernen Geschmack anpassen.

Damit komme ich zur nächsten Frage: Wie würde eine Sphinx heute aussehen? Hätte sie eine Föhnfrisur oder schulterlange Haare? Wie wäre ihr Geschmack in Sachen Kleidung? Würde sie, eine entsprechende Sehunschärfe vorausgesetzt, eine Brille oder Kontaktlinsen tragen?

Zurück zum Wald. Alles Unheimliche und Geheimnisvolle finden wir im Wald. So und nicht anders kenne ich das aus Märchen. Moderne Horrorgeschichten verstecken die Schreckensgestalten in meiner Toilette, in der Nachbarschaft oder in mir selbst. Eine Chimäre ist aber nicht so ein dahergelaufener Jack the Ripper oder Edgar mit den Scherenhänden, sie ist klassischer und gehört deshalb in einen klassischen Hintergrund. Das wären Kathedralen oder Wälder. Da ich Kathedralen praktisch nie besuche, bleiben die Wälder.

Ja, ich habe mich selbst überzeugt: Ich darf die Frage stellen: Was mache ich, wenn ich im Wald einer Chimäre begegne?

Es gibt fünf Möglichkeiten:

1. ich laufe weg;

2. ich ignoriere sie;

3. ich sage freundlich „Hallo, schönes Wetter heute!“ (wenn das Wetter unwirtlich ist, gehe ich nicht in den Wald);

4. ich starre sie wortlos an und bleibe stehen, bis sie verschwunden ist;

5. ich packe einen lose herumliegenden Ast oder meinen Rucksack und schlage auf sie ein.

Welche dieser fünf Möglichkeiten ich wähle, hängt von der Kreatur ab, die mir begegnet. Da ich nicht zur spontanen Aggressivität neige, schließe ich die Möglichkeit 5 aus. Auch der Gedanke, sie wortlos anzustarren, erscheint mir unhöflich, es entfällt somit Möglichkeit 4. Zu 1. Weglaufen‘ könnte es kommen, wenn die Chimäre furchteinflößend ist. Wobei mir das vermutlich nicht sehr viel nützen würde, ich bin keine gute Läuferin. Ich bin eher so der Mensch, der sich auf Ausdauer konditioniert. Das heißt, ich könnte von der Chimäre wegspazieren, stundenlang, ohne dass ich ermüde, aber wenn sie sich nicht meinem Tempo anpasst, würde sie mich unweigerlich einholen. So wie ich mich einschätze, würde ich vermutlich wie in der zweiten Möglichkeit das Wesen ignorieren, um ihm nicht das Gefühl zu geben, es sei anders als ich. Was weiß denn ich, unter wie vielen Komplexen eine Chimäre leidet? Ich möchte diese Komplexe, falls sie welche hat, nicht verstärken. Die ideale Lösung wäre die des freundlichen Grußes aus (Nummer 2). Ich weiß nicht, ob ich den Mut dazu hätte, ich zähle mich eher zu den zurückhaltenden Menschen.

Aber noch findet es alles in meiner Vorstellung statt, daher entscheide ich mir für das freundliche Hallo. Wenn ich Glück habe, zerreißt mich das unbekannte Wesen dann nicht vor Wut, sondern antwortet genauso wohlmeinend.

Die Gedanken sind frei, und so darf ich mein erstes Zusammentreffen mit der Chimäre nun nach Wunsch gestalten, nachdem ich die auftauchenden Fragen alle ausführlich beantwortet habe:

Während ich durch ein kleines Waldstück spaziere, trage ich das Smartphone in der Hand, weil ich Pokémon Go spiele. Plötzlich raschelt es vor mir, ich schaue hoch und sehe mich einem Wesen in einem hellblauen Hemd und einer kanariengelben Hose gegenüber. Das hellblaue Hemd ist so weit geöffnet, dass ich eine gut aufgebaute Muskulatur erkenne. Aha, ein Mann. Der Haarschnitt allein hätte mir das nicht verraten, denn er ist undefinierbar unisex. Mittellang fallen die Haare über die Ohren, leicht gelockt, straßenköterblond. Der Gesichtsausdruck ist müde, angestrengt und gleichzeitig gelangweilt. Das Alter kann ich schlecht schätzen, es dürfte irgendwo zwischen vierzig und vierhundert Jahren liegen. So weit ist der Mann keine besonders auffallende Erscheinung, aber wenn ich auf die Füße blicke, erkenne ich, um was es sich hier handelt: Aus den gelben Hosenbeinen schauen zwei Hufe hervor, die oben und von hinten leicht behaart sind. Außerdem sehe ich zwischen den breit aufgestellten Beinen hindurch, senkrecht sich leicht im Wind bewegend, einen felligen Schwanz mit kleinem Schweif am Ende. Ziegenfüße, Löwenschwanz: Bei der Gestalt vor mir kann es sich nur um eine Chimäre mit menschlichem Oberkörper und, soweit ersichtlich, einem zweitierigen Unterteil handeln. Faszinierend.

Ich habe mich auf diesen Tag vorbereitet und meinen Text einstudiert: „Hallo, schönes Wetter heute!“

„Hallo. Ja, das Wetter ist angenehm. Der Waldboden ist griffig und angenehm kühl, ohne dass man Lehmklumpen aufwirft.“

Ich überlege, ob ich den Herrn darüber aufklären soll, dass er seine „man“-Formulierung besser durch eine persönliche Färbung ersetzen sollte, beispielsweise: „Der Waldboden ist griffig und angenehm kühl, ohne dass meine Hufe Lehmklumpen aufwerfen.“ Ich entscheide mich dagegen, weil ich Fremde ungern direkt naseweis mit Ratschlägen überhäufe. Leider habe ich mich nicht weiter auf das Gespräch vorbereitet, wie dumm von mir. Hinterher fallen einem immer die besten Sätze ein. Ich hätte so gescheite Sachen sagen können wie: „Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?“, „Nett, Sie hier zu treffen, ich bin Ute, und wie heißen Sie?“, „Darf ich Sie/dich auf einen Kaffee einladen?“. Nichts dergleichen fällt mir ein, ich nicke daher freundlich. „Ja, dann einen schönen Tag noch.“ Der Ziegen-Löwen-Menschmann scheint ein wenig enttäuscht. Mist, ich habe das Treffen versemmelt!

„Ja, danke gleichfalls.“

Und das war’s. Wie wenig aufregend! Keine Abenteuer habe ich angestoßen, schon gar keine Romanze, ich habe ihn ziehen lassen. Und wer weiß, ob ich jemals wieder eine solche Chance bekomme.

Daher mein Rat an alle Leser und Leserinnen jedweden Alters: Bereitet euch besser als ich auf den Tag vor, an dem ihr vielleicht eine Chimäre trefft!

Die Verwandlung

Es war Lothar Aalhausens erste Stelle als Referendar. Seine Mentorin hatte ihm die Oberstufenklasse Zwölf (damals gab es noch Klassenverbände) für die gesamte Lektüre der Verwandlung von Franz Kafka anvertraut. Ohne Zweifel war dies ein eindrückliches Werk!

Es muss einer der letzten Jahrgänge gewesen sein, wo es noch reine Mädchen- und Jungenschulen gab. Aalhausen stand daher neunzehn jungen Damen gegenüber, manche waren jünger als ihre Jahre, manche deutlich reifer, und manche entsprachen ihrer Entwicklungsstufe. Seine Mentorin hatte ihn nicht vor Schwärmereien gewarnt. Ein Blick auf ihn und ihr war klar: Sie selbst fand ihn nett und sympathisch, aber das sahen Mädchen in dem Alter noch nicht. Sie suchten Glamour wie bei Dave Dee, Dozy, Beaky, Mich & Tich, den Bee Gees oder gar den Rolling Stones, da konnte so ein blasser blonder Referendar, in einen konventionellen Anzug gepresst, kein Mädchenherz zum Schwingen bringen. Die Mentorin schüttelte den Kopf, der junge Mann hatte so gar keinen Pfiff in der Kleidung. Wie sonst könnte ein Mann mit etwas farblosem Naturell in Haut- und Haarfarbe einen Anzug in einem dunklen Senfton wählen?

Ihr eigener Geschmack war exaltierter. Manche Schülerinnen erinnerten sich noch viele Jahre später an ihr graues Kostüm, das sie gern mit damals völlig unmodernen spitzen roten Schuhen kombinierte.

In den ersten Stunden, die Aalhausen unterrichtete, saß die Studienrätin hinter ihren Schülerinnen auf einem Stuhl und machte sich Notizen. Manche junge Damen beobachteten, wie sie an einigen Stellen zustimmend nickte oder den Kopf schüttelte. Ein- oder zweimal griff sie ein, um eine Frage an die Schülerinnen besser zu formulieren. Später war sie gar nicht mehr dabei und nutzte ihre freie Zeit anderweitig.

Das Werk von Kafka ist anstrengend. Manche Schülerinnen wollten die Verwandlung des Protagonisten in einen Käfer wörtlich nehmen, andere erkannten eine übertragene Bedeutung. In einer der letzten Stunden zum Werk fragte Aalhausen die Mädchen, mit welchen Gefühlen sie denn dieses Buch gelesen hätten? Distanziert, voller Mitleid, mit ein bisschen Ekel, waren die häufigsten Antworten. Eine maulige Schülerin meinte: „Ich find’s schwierig, dann eine Wohnung zu finden. Welcher Vermieter sieht schon gern eine Riesenkellerassel im Haus ein- und ausgehen?“

Aalhausen fragte zurück: „Finden Sie Käfer eklig?“

Die Schülerin zuckte die Schultern: „Nicht mehr oder weniger eklig als andere Insekten.“

Daraufhin berichtete Aalhausen, wie ihn die Geschichte nach dem ersten Lesen berührt hatte. „Das ist so gut, so stark beschrieben, ich habe jahrelang keinen Maikäfer aus Schokolade mehr essen können!“

Meine Güte, was für ein Seelchen ist der denn? Kann er nicht unterscheiden zwischen einer fantastischen Geschichte und der Realität? Manch eine schüttelte den Kopf.

Aalhausen selbst merkte, dass er mehr von sich preisgegeben hatte, als die Schülerinnen von ihm sehen wollten. Er brach diesen Gang der Diskussion ab und kehrte zur Interpretation zurück. Die war vom Lehrplan vorgegeben, in der Geschichte werde ein Vaterkomplex abgearbeitet. Andere, das hatte Aalhausen gelesen, sahen im Thema eher den Künstler im Kampf um seine Existenz, der letztendlich vom spießigen Umfeld in den Tod getrieben wird.

In der letzten Turnstunde vor den Sommerferien krakelte Heidrun laut herum: „Ich weiß jetzt auch, warum der Aalhausen so 'ne Käfermacke hat! Meine Mutter putzt die Treppe in dem Haus, in dem er wohnt, und sie hat ihn zufällig durch die offene Tür gesehen, als er morgens im Schlafanzug rumlief.“ Alle verstummten und hörten gespannt zu. Konnten sie jetzt mit einer Sexgeschichte rechnen, zum Beispiel dass die Putzfrau den jungen Referendar vernascht?Denn nur Mütter, denen sonst kein Abenteuer mehr ins Haus steht, würden sich an so einem farblosen Typen vergreifen.

„Der hat, Ihr werdet es kaum glauben, Entenbeine und Entenfüße!“

Die Klassenkameradinnen lachten. Sicher eine Erfindung von Heidrun, sowas gibt es nicht. Die stille Maike ergriff das Wort, als sich das Gelächter gelegt hatte: „Vielleicht ist er eine Chimäre? Halb Mensch, halb Ente?“ Sie meinte es durchaus ernst, aber die anderen Mädchen grölten erneut los. Halb Mensch, halb Ente, na, das wär’s ja noch!

Die Biologie

Bevor ich auf die Biologie der Chimären zu sprechen komme, möchte ich an einige wenige Kenntnisse erinnern, die die meisten von uns in der Schule gelernt haben.

Der Körper von Säugetieren, und hier sei schon erwähnt, dass die Chimären dazu zählen, setzt sich aus Organen zusammen. Da kennen wir das Herz, die Lunge, den Magen, die Haut usw. Die Bausteine der einzelnen Organe sind die Zellen.

Ob Mensch, Tier, Chimäre oder Pflanze: In jeder einzelnen Zelle eines Lebewesens ist das gesamte Erbgut enthalten. Dieses wird bei der Befruchtung festgelegt und ist für jedes Individuum einzigartig. Eine Ausnahme bilden z.B. eineiige Zwillinge.4

Im Zusammenhang mit dem Erbgut gibt es drei wichtige Begriffe: Gene, Chromosomen und die DNS (heute sagt man häufig wie im Englischen: DNA).

Der Mensch besitzt 46 Chromosomen, ein Schimpanse 48, ein Hund 78 und ein Schwein 38.5 Es ist den Forschungen von Dr. Ernst Fickel zu verdanken, dass wir die Zahl der Chromosomen der Chimären kennen: Genau 500 Chromosomen hat eine Chimäre.6 Ebenfalls wichtig zu wissen: Ein Champignon ist mit nur acht Chromosomen ausgestattet. Von den Chromosomen werden jeweils zwei als Geschlechtschromosomen bezeichnet, und zwar bei der Frau als XX, beim Mann als XY und bei der Chimäre als YY.7 Unklar ist, ob man das YY-Chromosom wirklich als Geschlechts- oder eher als Spezieschromoson bezeichnen sollte.8

Die Chromosomen bestehen aus aufgewickelter DNS. Es ist nur eine Verschwörungstheorie, dass es in manchen Handarbeitsläden in einer Geheimabteilung DNS-Knäuel im Angebot gibt, inklusive handschriftlicher Anleitung zum Stricken von Pullovern.

Ebenfalls wichtig für den Menschen ist die Blutgruppe. In ihr wird die Zusammensetzung der Oberfläche roter Blutkörperchen beschrieben.

Beim Menschen unterscheiden wir die Blutgruppen 0 (Null), A, B und AB. Fickel hat auch hier Pionierarbeit geleistet, als er feststellte, dass die Chimären nur eine Blutgruppe aufweisen: die BB. Zur Entstehung der verschiedenen Blutgruppen hat Fickel endlich gesicherte Hinweise vorgelegt: Blutgruppe 0 entstand vor ca. 5 Millionen Jahren als genetische Mutation aus Blutgruppe A, Blutgruppe BB vor ca. 4,8735 Millionen Jahren als ähnliche Mutation aus Blutgruppe AB.9

Kurz zusammengefasst: Die Chimäre besitzt 500 Chromosomen, wobei das Paar YY für sie typisch ist. Ihre Blutgruppe ist BB.

Achtung: Sollten Sie jemals eine Bluttransfusion benötigen, so achten Sie bitte darauf, dass es kein Chimärenblut ist. Dieses ist absolut unverträglich mit Menschenblut und kann bei Beimengung zur Ausformung ungewöhnlicher Körperstrukturen und Appetitlosigkeit führen.

Viele Organe sind bei Chimären und anderen Säugetieren ähnlich gestaltet. Wer mehr wissen möchte, als ich im Folgenden aufzeigen werde, findet in der Literatur das eine oder andere Buch zu diesem Thema. Laienverständlich ist dies vor allem bei Dr. Fritz Wankmut10 erläutert, dem Leiter des Instituts für Säugetierorganologie der Universität Göttingen. Ich fasse seine Erkenntnisse zusammen:

Bis etwa zur Taille verfügt die Chimäre über die menschlichen Organe. Dazu zählen Gehirn, Herz, Lunge. Das chimärische Gehirn ist auffällig, denn seine Arbeitsleistung ist enorm, muss es doch quasi zwei Organismen gleichwertig verwalten. Es wiegt daher mehr als das menschliche Gehirn. Das bedingt eine gewisse Gehirngröße und erklärt, warum manche Chimären einen verhältnismäßig großen Kopf haben.

Aufgrund der Unterschiede bei Mann und Frau ist bekannt, dass das Gehirngewicht nicht mit der Gehirngröße korreliert. Zwar sind Männerhirne schwerer, aber im Verhältnis zur Körpergröße nehmen ihre Gehirne einen kleineren Anteil ein. Männer haben mehr Gehirnzellen, die jedoch schneller absterben als bei der Frau. Ein Frauenhirn wiegt 1245 Gramm, der Mann liegt bei 1375 Gramm und die Chimäre bei 2017 Gramm. Gehirngewichte, die über diesen Durchschnittswerten liegen, lassen nicht zwangsläufig auf größere Intelligenz schließen. Viele Denker und führende Chimären hatten sogar ein relativ leichtes Gehirn.11

Ab dem Darm entsprechen die Chimärenorgane dem Tier, das sie widerspiegeln. Einzig beim Magen ist die Lage nicht eindeutig. Wankmut berichtet sogar von Fällen, wo der Magen sich nicht entscheiden wollte, zu wem er gehört: Mensch oder Tier. Dennoch ist Wankmut kein einziger Fall bekannt, in dem dieses Beieinandersein zu Konflikten und Magen-Darmstörungen geführt hat.12

Grobbiologisch ist die Körpermitte der Chimären interessant: Wie gestaltet sich der Übergang vom Menschenoberteil zum tierischen Unterteil? Berichte aus der Bevölkerung, die Chimären beim Nacktschwimmen in öffentlichen Seen beobachtet haben, geben Hinweise, dass die Behaarung in der Körpermitte zunimmt, teilweise sogar dermaßen stark, dass diese Problemzone praktisch verdeckt ist.13 Ähnlich vage sind die Angaben zum Ansatz von Schwänzen und Schweifen. Da wir in heutiger Zeit eher bekleidete Chimären antreffen, sind wir auf geheime Beobachtungen und Arztberichte angewiesen. Ärzte zeigen sich hier nicht sehr offen im Gespräch, weil sie sich zur Abwechslung einmal an ihre ärztliche Schweigepflicht halten. Vielversprechend ist daher die Ankündigung des Demont-Verlags bei der letzten Buchmesse, dass sie 2023 einen Bildband zu „Problemzonen der Chimären: Einmalige Aufnahmen und Bilder“ planen.14 Der Fotograf Johannes Leierwinkel konnte hierfür gewonnen werden. Er ist für seine zahlreichen imposanten Naturbildbände bekannt und liegt vermutlich, während Sie hier lesen, bereits auf der Lauer!

4 [https://www.netdoktor.de/magazin/erbgut-gene-chromosomen/

5https://www.frustfrei-lernen.de/biologie/chromosomen-gene-dns.html

6 Fickel, Ernst: Die Chimäre als biologische Einheit, 1946.

7 Siehe Fußnote 2

8 Fickel, ebd.

9 Fickel, ebd.

10 Wankmut, Fritz: „Der Körper: Eine Transaktionsanalyse interaktiver Peripheriemechanismen bei Säugetieren, 2002.

11https://www.bild.de/10um10/2013/10-um-10/zehn-irrtuemer-gehirn-33309964.bild.html

12 Wankmut, ebd.

13 Fritz Leinert, „Beobachtungen an FKK-Stränden und verbotenen Nacktbadeseen“, 1968.

14 Artikel in „Das Neuste von überall“, 21/2018, Seite 3.

Die Psychologie

„Wer eine Biologie hat, hat auch eine Psychologie“ sei der Leitsatz für das vorliegende Kapitel.

Die Psychologie der Chimären ist mitreißend. Man braucht sich nur einmal vorzustellen, wie das ist, wenn man morgens aufwacht und plötzlich das eigene Unterteil ausgetauscht ist gegen das Unterteil von Schnucki, dem hauseigenen Pudel. Das würde zweifelsfrei zu großen Belastungen der Psyche und Identitätskrisen führen. Denn die Frage für mich bleibt: Wo ist des Pudels Kern?

Ich vernachlässige hier einmal die Frage, ob der Pudel nun zu einem Dämon mit Pudeloberteil und einem menschlichen Untergestell geworden ist. Bei diesem Dämon ist ebenfalls mit einer Psychokrise zu rechnen. Da der Mensch psychisch labiler ist als ein Pudel und Thema dieses Artikels die Chimären, nicht die Dämonen sind, beschäftige ich mich im Folgenden ausschließlich mit der Frage, wie eine solche Erkenntnis die ehemals menschliche Psyche beschäftigen würde. Daran anschließend wäre zu klären, ob Chimären ähnliche Probleme haben. Für sie ist die Situation vermutlich weniger belastend, da sie sich gar nicht anders kennen als in der Gestalt der Chimäre.

Ob ein Mensch sich nach der – rein fiktiven – Umgestaltung zur Chimäre neutral, belastet oder belebt fühlt, hängt von zweierlei ab: (1) Was für ein Mensch war der Mensch vorher? (2) Welches Unterteil wird von nun ab geführt?

Ein Mensch, der mit seinem Äußeren zuvor absolut unzufrieden war, kann ein besseres Selbstbewusstsein gewinnen. Denken wir an eine extrem üppige Dame, deren Hüftumfang allenfalls durch zwei Sessel gestützt werden kann. Da artgerecht aufgewachsene Tiere kein Übergewicht haben, wird sie hinzugewinnen. Je nach Hüftumfang wird sie die untere Verschlankung als „leicht besser als vorher“, „besser als vorher“, „sehr viel besser als vorher“ oder „unvergleichlich besser als vorher“ auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten. Ja, vielleicht bietet ihr das propere Untergestell nun genügend Motivation, auch das Oberteil durch gemäßigte Kost zu verschlanken.

Nehmen wir dasselbe Beispiel, dieselbe Frau. Gewinnt sie das Unterteil eines Elefanten hinzu, wird sie das weniger begeistern als das Unterteil einer Gazelle. Sicher hat sie schon viele Nächte davon geträumt, wie eine Gazelle über die Wiesen zu springen, und nicht, wie ein Elefant durch den Porzellanladen zu stampfen (wobei Letzteres ein Vorurteil ist, die Unfälle mit Elefanten in Porzellanläden tendieren weltweit gegen null).

Die Psyche dieser Mensch-Gazellen-Frau wird einen deutlichen Aufschwung nehmen, ihre depressiven Phasen werden weichen oder gewissen manischen Episoden Platz machen.

Wie ist das mit einer Chimäre, die als halb übergewichtiger Mensch, halbe schlanke Gazelle / halber Elefant seit ewigen Zeiten über die Erde schreitet? Sie wird ausgeglichen und ruhig dem Schicksal ins Auge sehen, denn Chimären haben die prämienverdächtige Eigenschaft, sich mit ihren Merkmalen zufriedenzugeben. Sie streben nicht nach einer bestimmten Augenfarbe, einem abgezirkelten Gewicht. Sie nehmen, was das Schicksal ihnen gibt, und finden sich hinein. Wobei, wie weiter unten ausgeführt, Übergewicht bei Chimären unbekannt ist. Es sind andere Dinge, die Chimären zur Verzweiflung bringen, aber auch dazu weiter unten mehr.

Ein Mensch, dem zuvor sein Aussehen gleichgültig war, wird auch jetzt nicht aus heiterem Himmel ein Problem mit seinem veränderten Aussehen bekommen. Er wird das Neue in sich fraglos akzeptieren, solange es nicht seine Funktionstüchtigkeit einschränkt. Wir haben von Meerjungfrauen gehört, die zuvor Menschen waren, die zwar das Schwimmen genießen, aber das Robben am Strand oder Rollstuhlfahren in der Stadt unangenehm finden.

Kommen wir zu den Schönheiten dieser Welt. Nehmen wir einen Mann, der seine strammen wohlgeformten Beine gern im Fitnesscenter zur Schau stellt. Wird er mit einem Löwenunterteil glücklich werden, auch wenn man ihn anschließend als männliche Sphinx bezeichnet? Wird er weiter an der Beinpresse trainieren, um die Löwenunterschenkel in bessere Form zu bringen? Braucht er Stimmungsaufheller, um mit der Situation fertig zu werden? Dies alles sind Fragen, die wir nur im direkten Einzelgespräch klären können.

Eine Frau, der auf der Straße 99 % aller Männer nachblicken, weil sie lange, wohlgeformte Beine mit aufregenden Fesseln ihr eigen nennt, ist möglicherweise sogar glücklich, wenn sie ein Schweineunterteil bekommt. Der Grund ist, dass sie endlich wegen ihres Charakters bemerkt wird, nicht mehr nur aufgrund ihres blendenden Aussehens. Bei eitlen Menschen, die nur an ihr Äußeres denken, kann jedes neue Unterteil, selbst das eines putzigen Kätzchens, zu einer Verzweiflungsorgie mit vielerlei Drogen führen.

Chimären sind in der Regel mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden, denn sie wissen: Ändern wird sich nichts, egal wie unglücklich sie sind. Experimente mit Stimmungsaufhellern oder Beruhigungsmitteln triggerten hier keinerlei atypische Verhaltensmuster.

Diese Wesen haben andere psychologische Probleme: ihre Akzeptanz in der Tier- und Menschenwelt. Sie fühlen sich häufig unverstanden. Gern würden sie Kontakt zu Menschen aufnehmen, die ihnen im Regelfall neutral oder abweisend entgegentreten. Nur in Griechenland ist die Stimmung den Chimären gegenüber, allein aus Tradition, offener. Psychisch belasteten Chimären wird daher häufig ein Kuraufenthalt im Land ihrer Urururururururururgroßahnen empfohlen.

Chimären haben den Drang zur Freikörperkultur, weil viele es lieben, stolz ihre beiden wohlgeformten Körperhälften vorzuführen. Originalchimären sind niemals über- oder untergewichtig, wie Bilder aus allen Zeiten dokumentieren. Heutzutage wird das nicht so gern gesehen, was neue Stresssituationen auslöst. „Warum darf ich nicht sein, der ich bin?“ Diese Frage hören viele Psychiater und Psychologen im Therapiegespräch.

In der Tierwelt finden sie noch weniger Akzeptanz. Ein freilebender Löwe kann in seinem Leben bis zu zwanzig Chimären reißen. Das deprimiert Chimären, die in sich glücklich sind, ebenfalls.

Es mag wie ein Widerspruch klingen, aber Chimären haben große Freude an den Kleidungsstücken der Moderne. Sie laufen nicht gern bekleidet herum, aber wenn sie sich anziehen und ihre Nacktheit bedecken, bevorzugen sie grelle Farben und mutige Schnitte.

Der Anteil der Chimären, die eine stationäre Psychotherapie benötigen, ist deutlich geringer als die entsprechende Zahl beim Menschen. In den Jahren 2005 bis 2009 haben dreizehn Chimären einen psychosozialen Dienst aufgesucht, in den folgenden sieben Jahren waren es zwei. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Inwieweit Psychotherapien bei privat niedergelassenen Therapeuten in Anspruch genommen werden, liegt eher im Dunkeln, da die Chimären-Krankenkassen nur stationäre Aufenthalte bezahlen. Im Gespräch mit Vertretern der Berufsgruppen ‚Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater‘ wurde unlängst bekannt, dass der Anteil während der Jugendjahre deutlich höher ist als im Erwachsenenalter, wenn auch die letzte Chimäre glücklich damit ist, wie sie ist. Diese geringe Beanspruchung psychologischer und psychiatrischer Hilfe hat zu einer gewissen Arroganz bei ihnen geführt, was solche Behandlungen betrifft. Es ist kein Einzelfall, dass Chimären fast vor Lachen ersticken, wenn sie einem Menschen begegnen, der ihnen ernsthaft erläutert, dass sein Leben ohne Therapie an einem Baumpfahl geendet wäre.

Die Konferenz der Chimären

Als die erste Konferenz der Chimären im 20. Jahrhundert abgehalten wurde, hatten viele Teilnehmer wegen der Klangähnlichkeit das Buch Die Konferenz der Tiere von Erich Kästner gelesen. So ein bahnbrechendes Werk, das humorvoll und ernsthaft zugleich die Friedensproblematik aufgreift! Deshalb stand auf der ersten Tagesordnung als einziger Punkt „Wir und die Konferenz der Tiere“. Niemand nahm Anstoß an der unhöflichen Art, den Satz mit „Wir“ einzuleiten. Aus Protokollen dieser ersten Konferenz, die sich über fünf Tage erstreckte, lässt sich leicht erkennen, dass es dort hoch herging. Teils amüsierten sich die Chimären über die Probleme der Tiere, wie z.B. die Schwierigkeit, ein passendes Bett für eine Giraffe zu finden. Teils fanden sie die tierischen Maßnahmen wie Nagetier- und Mottenüberfälle und als negativen Höhepunkt die Kindstötung zu drastisch. Man war sich einig, dass man von solchen Eingriffen absehen wollte, auch „wenn das Tier in uns etwas anderes verlangt“, so der Konferenzvorsitzende.

Auf der zweiten Sitzung des vergangenen Jahrhunderts wurden in Gruppenarbeit Berichte und Protokolle der Konferenzen aus der Urzeit diskutiert. Alle waren begeistert von der hohen Qualität dieser Dokumente, die teils Hunderttausende von Jahren vor der neuen Zeitrechnung verfasst worden waren. Die Beschaffung der Steinplatten war etwas mühsam gewesen, da herrschte Einigkeit.

Die Konferenzen aus der grauen Anfangszeit waren nur in mündlicher Form überliefert worden. „Bei den Menschen nennt man das Sagen und Fabeln, die haben keine Ahnung, wie sie mit ihrer eigenen Geschichtsschreibung umgehen sollten.“ Solche arroganten Einstellungen den Menschen gegenüber hörte man während dieser Konferenzen häufig. Obwohl die Alten gern den Zeigefinger anhoben: „Arroganz kommt vor den Fall!“ „Nein“, rief ein junger Heißsporn aus dem Zuhörerbereich, „Es heißt, Hochmut kommt vor den Fall!“. Daraufhin war es still in der Halle, denn die Alten bekamen in der Regel Respekt und keinen direkten Widerspruch. „Mein lieber junger Freund“, antwortete dem Heißsporn der Konferenzvorsitzende, der diesen Posten schon seit einigen Jahrhunderten innehatte, „Hast du noch nie etwas von Wortspielen gehört? Oder glaubst du, ich wüsste nicht, wie die Redewendung tatsächlich heißt?“ „Ja, schon gut“ murmelte der junge Mensch-Stier und dachte: „Mein Tag wird noch kommen, Alter!“ Woran man sieht: Auch bei den Chimären ist nicht alles vorbildlich.

Es gibt zwei Arten von Konferenzen: die turnusmäßig gepflegten und die angesichts eines Notstands spontan einberufenen. Vor einhundertvierundzwanzig Jahren wurde die letzte Notstandssitzung abgehalten.