Creamtrain - Andrea De Carlo - E-Book

Creamtrain E-Book

Andrea De Carlo

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Beschreibung

Ein junger Italiener kommt durch den Zufall einer flüchtigen Ferienbekanntschaft nach Los Angeles, wo er unbekümmert in den Tag hineinlebt, sich mit Supermarktdiebstählen und Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, bis er als Italienischlehrer an einem Privatinstitut die Hollywood-Diva Marsha Mellows kennenlernt, deren Film Creamtrain er beinahe auswendig kennt

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Seitenzahl: 345

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Andrea De Carlo

Creamtrain

Roman

Aus dem Italienischen von

Burkhart Kroeber

Titel der 1981

bei Einaudi, Turin,

erschienenen Originalausgabe:

›Treno di panna‹

Copyright © 1981 by Giulio Einaudi Editore S.p.A., Torino

Die deutsche Erstausgabe erschien

1985 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von

Andrea De Carlo, ›3.15 pm‹

Für Ginetta Vittorini

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21563 2 (6.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60228 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Eins

Spätabends um elf Uhr zwanzig sah ich Los Angeles unter mir liegen: das endlose Gitternetz leuchtender Punkte. Müde wie ich war, versuchte ich, das Vibrieren der Triebwerke zu verfolgen, wie es durch das angespannte Metallgefüge zu meinem Sitz gelangte. Ich war mir sicher, einen plötzlichen Wechsel im Rhythmus zu spüren, ein Vakuum in der Frequenz. Ich versuchte auch, unten die Leuchtschriften zu entziffern, wie sie stückweise aus dem Dunkel auftauchten, und die Konturen der Freeways nahe am Meer.

Es gefiel mir nicht, so im Leeren zu kreisen, schräg geneigt und fast ohne Gleichgewicht, im Schweben gehalten durch bloße Maschinengewalt. Die gelben Sitzbezüge mit lila Blumen gefielen mir nicht, der Gesamteindruck, den sie Reihe um Reihe machten. Die Stewardessen gefielen mir nicht, die miteinander plauderten und ihre Halstücher festbanden und auf die Uhr sahen, ohne sich um die Passagiere zu kümmern.

Wir gingen ein Stückchen tiefer, beinahe senkrecht, und die Aussicht entglitt mir auf allen Seiten. Das machte mir Angst, aber mehr noch Wut. Ich hielt die Hände fest um die Lehnen geklammert, den Kopf nach hinten gedrückt und die Beine gestreckt. Mir wurde schwindlig, ich wollte woanders sein.

Neben mir saß ein Mädchen mit einem richtigen Mondgesicht: kleine und eng zusammenstehende Augen, flächige Wangen. Sie las ein Buch und warf keinen Blick aus [6] dem Fenster. Anscheinend war es für sie keine Frage, daß wir problemlos landen würden. Wir gingen runter wie im Sturzflug.

Endlich kamen wir unten an, dicht über den Häusern. Wir setzten auf und rollten über die Landebahn. Durch die dicken Scheiben sah ich die Flugplatzgebäude im Regen, Lichter anderer Flugzeuge schimmerten in der Nässe.

Ich betrachtete die Stewardessen, um zu sehen, ob sie erleichtert waren. Sie lächelten falsch, sie trugen jetzt gelbe Kamelhaarmäntel über den blaurosa Uniformen der Queen Jemina Airlines.

Die Kameratasche umgehängt ging ich durch die graue Verbindungsröhre. Bevor ich die Ankunftshalle betrat, schlüpfte ich erstmal in eine Toilette, um mir ins Gesicht zu sehen.

Das Neonlicht war entstellend und farblos, ich wirkte angespannter und müder, als ich war. Nicht mal meine Sonnenbräune kam so heraus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich zog mir den Kamm durch das dünne Haar, das für Feuchtigkeit sehr empfänglich ist, und kämmte es mir aus der Stirn, um die Geheimratsecken zu prüfen. Für meine knapp fünfundzwanzig Jahre hatte ich ziemlich viel freien Raum über der Brauenlinie.

Dafür waren die Augen unter den Brauen sehr blau, wie sie es manchmal bei mir frühmorgens werden oder nach langen, anstrengenden Reisen. Sie wirkten durchaus nicht flach oder glanzlos. Ich zog vor dem Spiegel ein paar Grimassen: geblähte Nasenflügel, abwärtsgebogene Mundwinkel, aufgeblasene Backen. Dann prüfte ich meine beiden Profile: das linke, das rechte in rascher Folge. Schließlich kam jemand hereingeplatzt, ich ging hinaus in die Halle.

Kaum war ich ziellos ein paar Schritte gegangen, kam Tracy auch schon von irgendwo aus der Halle, wo sie [7] wartend gesessen hatte, direkt auf mich zugestürzt. Ich hatte gar nicht die Zeit, sie näherkommen zu sehen, erst auf den letzten paar Zentimetern: Sie war plötzlich da, umschlang mir den Nacken, preßte mir heftig den Brustkorb zusammen, kniff mir in die Arme. Schrie laute Begrüßungen und überfiel mich mit einem Schwall von Fragen. Trat nach dem ersten überschwenglichen Ansturm zwei Schritte zurück, betrachtete mich mit schiefem Kopf und warf sich erneut mir entgegen. Schrie, daß ich prächtig aussähe und überhaupt nicht verändert wäre.

Ich stand in der grünlich erleuchteten Halle, umdrängt von eben eingetroffenen Reisenden, die voller Hast zu den Rolltreppen rannten, und betrachtete Tracy, die mich hüpfend umkreiste und mir Details von irgendwelchen Vorkommnissen erzählte. Ich dachte daran, wie feucht und regnerisch der Abend war, ganz anders als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich fragte Tracy, wo Ron sei. Sie sagte, er sei noch in einer Sitzung. Ich stellte mir Ron in der Sitzung vor: an einem langen Konferenztisch.

Wir fuhren auf einer Rolltreppe in das Untergeschoß zur Gepäckausgabe. Warteten zwanzig Meter vor dem Förderband zwischen Gruppen nervöser Reisender, die keine andere Sorge hatten, als ihre Koffer wiederzukriegen. Ich betrachtete Tracy im Neonlicht: das markante Gesicht eines kalifornischen Mädchens, die ausgeprägten Züge der Brauen, die Nase, die flinken Augen.

Dann drängte ich mich durch die Menge vor bis zum Förderband. Tracy sah mir aus der Entfernung zu, leicht auf den Fersen wippend.

Dutzende von Kartons mit Ananas aus Hawaii, die meine Mitreisenden auf dem Flugplatz von Honolulu gekauft hatten, fuhren auf dem Förderband an mir vorbei, zierlich verschnürt und mit kleinen Schildern versehen. [8] Die Leute standen wartend im Halbkreis, bereit zum unvermittelten Abbruch kleiner Gespräche, sobald sie ihre Koffer erblickten. Wer seine gefunden hatte, hob sie höher als nötig hoch, vielleicht zur Entschädigung der noch Wartenden. Nur die Kartons mit den Ananas fuhren weiter im Kreis: Sie waren einander zu gleich, um auf Anhieb erkannt zu werden.

Ich nahm meine beiden Koffer und stellte sie hinter mich. Dann sah ich einen Karton vorbeifahren und schnappte ihn mir, ohne lange zu überlegen. Ich schaute mich um, ob jemand reagierte. Aber die Reisenden waren viel zu sehr auf ihr Gepäck konzentriert, zu müde und zu bedrückt von dem Gedanken an den gerade zu Ende gehenden Urlaub.

Ich trug den Karton zu Tracy, hielt ihn ihr hin und sagte: »Für dich.« Sie nahm ihn und rief überrascht: »Giovanni!« Hielt ihn ausgestreckt in den Armen und wußte nicht, wo sie ihn hintun sollte. Ich dachte, wenn sie ihn so auffällig hielt, würde es jemand bemerken, und drängte sie rasch zum Ausgang.

Wir eilten durch die automatischen Glastüren und über die regennasse, von Taxis wimmelnde Straße. Ich fror an den Knöcheln. Wir zwängten uns zwischen den Autos auf dem Parkplatz hindurch, Tracy mit den Ananas und meiner Kameratasche, ich mit den Koffern. Ich ging zwei Schritte hinter ihr und sah sie vorangehen mit ihrem markanten Gang: sorglos und systematisch, ganz wie sie mir vom letzten Sommer auf Ibiza in Erinnerung war. Die Jeans preßten ihr den breiten Hintern zusammen, die dicken Schenkel, die Waden, die sich nach unten verjüngten, um in zierlichen Schuhchen zu enden.

Ich weiß nicht, was in den letzten zwei Jahren aus ihr geworden ist, aber damals war Tracy nicht eigentlich dick. [9] Das Problem lag in der Disposition ihrer Züge: in der Art, wie sich die Geraden und Kurven auf ihr verteilten. Ich erinnere mich, sie einmal nackt gesehen zu haben, damals am Strand, wo wir uns kennenlernten, mit Ron. Sie hatte etwas eigenartig Harmonisches an sich: ein Gewebe von Lichtern, das sie ganz undurchlässig für die Nacktheit machte. Sie war eher kompakt als dick: geformt aus einem einzigen festen elastischen Material. Ich sah sie ins Wasser steigen, und ihr Gesäß war nur eine funktionale Fortsetzung ihres Rückens. Sie hätte eine Robbe sein können, oder ein großer Seeotter.

Jedenfalls, wie auch immer, gingen wir über den Parkplatz zwischen den regenglänzenden Autos, und ich sagte zwei Schritte hinter ihr: »Du hast aber mächtig abgenommen.« Ich sah sie lächeln, während sie den Schlüssel im Schloß umdrehte.

Wir verstauten die Koffer und den Karton auf dem Rücksitz des Mustang, fuhren vom Parkplatz und glitten im Schrittempo durch das Kurvengewirr um den Terminal. Wir redeten kaum: hockten im feuchtkalten Wagen und guckten hinaus wie nasse Ratten.

Dann bog Tracy nach rechts, und wir schoben uns in einen träge fließenden Lichterstrom. Die übrige Landschaft erlosch. Wir sahen nur noch die roten Schlußlichter vor uns fahrender Wagen und weiße Scheinwerfer, die uns entgegenkamen. Ringsum eine schwarze Leere, erfüllt von Lichtern und leuchtenden Punkten, Lampenbögen und zuckenden Blinkern. Nur hin und wieder tauchten flächigere Visionen auf, umhüllt von diesigem Lichtschein, verschwommen im Dunkel und im Regen, der über die Scheiben strömte.

Ich hatte nur dünne Sandalen an und wollte sie ausziehen, um in richtige warme Schuhe zu schlüpfen. Drehte [10] mich um und kramte lange in einem der beiden Koffer, die auf dem Rücksitz lagen. Zog schließlich Baumwollsocken und ein Paar flache Lederschuhe hervor.

Tracy redete währenddessen, regulierte das Radio und lachte über meine Verrenkungen. Ich war beeindruckt von ihrer Fähigkeit, immer die richtigen Bewegungen auszuführen, das Lenkrad zu drehen, den Blinker dabei zu bedienen, die Gänge zu schalten, das Radio zu regulieren und gleichzeitig ein Gespräch zu führen, wenn auch ein ziemlich seichtes. Sie stellte mir allerlei Fragen, betrachtete sich im Rückspiegel, betrachtete Teile ihres Gesichts: ein Auge, eine Braue. Unterbrach sich immer wieder beim Reden und glitt, den Blick fest auf ein Hinweisschild oder eine Straßenmarkierung gerichtet, aus einem Lichterstrom in den anderen, folgte dem Tempo der anderen Wagen und schob sich in die passenden Lücken wie in einem Puzzlespiel. Überraschende Kurven mußten erkannt und interpretiert werden, wirr verschlungene Fahrbahnknäuel.

Nach etwa zwanzig Minuten glitten wir aus dem Nichts. Wir rollten eine langgezogene Spirale hinunter, und ich sah in der Ferne zwei bis drei schwach erleuchtete mittlere Wolkenkratzer. »Wir sind quasi in Westwood«, sagte Tracy.

Es kamen noch ein paar Kreuzungen, dann fuhr Tracy an den Bordstein und hielt. Wir befanden uns in einer Art imitiertem mediterranem Dorf: ringsum flache weiße Gebäude mit abgerundeten Kanten. Leute schlenderten auf den Gehsteigen, standen in Pulks vor den roten Ampeln.

Wir stiegen aus, und der Regen hatte sich in eine trübe Feuchtigkeit aufgelöst. Wir gingen dicht an den weißen Mauern des imitierten Dorfes entlang, Tracy schon ganz auf unsere Begegnung mit Ron eingestellt: vorgebeugt in der Erwartung. Ein paar Autos parkten am Bordstein, [11] große Schlitten mit verchromten Auspuffrohren und Armaturenbrettern aus Hartholz.

Kurz hinter einer Ecke blieb Tracy vor einer Glastür stehen. Drückte auf den Knopf einer Sprechanlage und sagte: »Tracy hier. Sagen Sie Ron, er soll runterkommen.« Drehte den Kopf zu mir und hatte den Blick voller Vorfreude. Wir standen und warteten fünf Minuten lang, ohne uns viel zu bewegen. Schließlich wurde es mir zu dumm. Ich sagte zu Tracy, sie solle Ron erzählen, sie hätte mich auf dem Flugplatz nicht finden können, und versteckte mich hinter der Ecke, flach an die Wand gepreßt. Ron ließ immer noch auf sich warten; Tracy stand vor der Tür und bedeutete mir, in meinem Versteck zu bleiben.

Endlich kam Ron herunter und ging schnurstracks zu mir um die Ecke, ohne sich von Tracy aufhalten zu lassen. So begrüßten wir uns ohne allzuviel Überraschung; auch ohne allzuviel Wärme, denn er wirkte abgespannt und zerstreut. Er tänzelte eine Weile herum und stellte mir ein paar Fragen über den Flug. Zuckte beim Reden immerzu mit dem Kopf, vielleicht um die Kommunikation zu beschleunigen: schüttelte blondes Haar auf die breiten Schultern.

Nach dieser Begrüßung fragte ihn Tracy, wie es gegangen sei. Man sah, daß sie voller Unruhe war, sie kippte beinahe vornüber, drängte ihn an die Hauswand und packte erregt seinen Arm. »Gut ist es gegangen«, sagte er. »Spätestens in drei Tagen kriege ich eine Antwort.« Unter der Müdigkeit spürte ich die für ihn typische Euphorie, die seine Augen im Lampenlicht glänzen ließ.

»Es geht um das Treatment«, erklärte er mir. »Ich hab eben grad mit Jack Zieler gesprochen. Er sagt, er glaube, es wäre ganz gut. Er sagt, spätestens in drei Tagen hätte ich eine Antwort.«

[12] Tracy sah ihn bewundernd an, nahm gierig seinen New Yorker Akzent in sich auf, seine Art, die Wörter und Sätze so auszusprechen, daß sie irgendwie tiefsinnig klangen. Nach einer Weile riß er uns plötzlich aus unserer stummen Betrachtung seiner Person, zeigte zur anderen Straßenseite hinüber und sagte: »Na los, gehen wir, gehen wir schon!«

Wir gingen zum Wagen zurück. Ein leichter Wind hatte angefangen, die Feuchtigkeit in Schwaden zu treiben. Er drang mir durch den Pullover bis unter das Hemd.

Tracy fuhr rasch davon. Wir waren erneut auf dem Freeway. Ron saß neben ihr in der Haltung dessen, der sich bei eher mechanischen Tätigkeiten auf andere verläßt: bequem zurückgelehnt, die Füße auf dem Armaturenbrett, den großen Kopf im Polster vergraben. Alle naselang drehte er sich zu mir um, zeigte mir halb sein Profil und fragte mich »Na, wie geht’s?« oder »Wie war’s in Neuguinea?« Ließ mir aber nie genug Zeit zu antworten, und so antwortete ich sehr knapp.

Ein paarmal sagte er: »Du siehst ganz prächtig aus.« Ich antwortete: »Ihr beiden seht auch ganz prächtig aus.«

Tracy fuhr jetzt ohne zu reden. Überließ sich ganz ihrer zweiten Natur: fuhr den Freeway entlang, wie anderswo jemand läuft oder schwimmt. Ich beobachtete die Textur ihrer Gesten, ihre Blicke nach vorn und zur Seite, die Bewegungen ihrer Hände. Sie hatte auch eine Reihe von parallelen Gesten, vielleicht ganz unabhängig vom Fahren: kratzte sich an der Nase, strich mit den Fingern über Rons linken Schenkel.

Schließlich bogen wir ab und fuhren im Kreis eine weitgeschwungene Ausfahrt hinunter. Tracy passierte zwei bis drei Blocks und hielt an.

Wir stiegen aus. Ich nahm meine beiden Koffer und schleppte sie ein paar Schritte über den Gehweg. Ron [13] drehte sich um und kam zurück, um mir einen davon abzunehmen, nahm ihn mir aus der Hand und hob ihn hoch in die Luft mit seinem stämmigen Arm. Der Freeway war noch ganz in der Nähe, gleich hinter einer Zeile von niedrigen Häuschen mit winzigen aneinandergrenzenden Gärtchen.

Ron zeigte auf das Häuschen vor uns und sagte in sarkastischem Ton: »Da hast du unseren tollen Palast.« Wir gingen über den Rasen, der das Häuschen mit der Straße verband, und der Lärm wurde lauter. Als wir vor der Haustür ankamen, sah ich, daß das Häuschen in Wirklichkeit fast direkt unter dem Freeway stand: Es berührte schon fast die Stützpfeiler der Hochstraße. Die Autos brausten wenige Meter schräg über uns vorbei. Von unten sah man die Scheinwerfer huschen und lange Streifen aus der Dunkelheit schneiden.

Kaum waren wir durch die Tür getreten, bewegten sich Ron und Tracy ganz wie zu Hause: drehten sich hin und her auf der Suche nach Gegenständen, hängten Jacken an die Garderobenhaken. Ich setzte mich auf den Boden und sah ihnen zu, wie sie im Wohnzimmer und in der Küche umherliefen.

Der Boden war mit einem plüschigen roten Auslegeteppich bedeckt, der sich im Laufe der Jahre und in der Freeway-Luft zu einem trüben Lila verfärbt hatte. Gegen diese Verfärbung war mit energischen Staubsaugereinsätzen angekämpft worden, die parallele Spuren von Wand zu Wand hinterlassen hatten. An der einen Wand stand ein neubezogenes Sofa. Die übrigen Möbel waren ein Hocker und ein Tisch mit zwei Stühlen am Fenster. Auf dem Tisch stand eine IBM-Schreibmaschine, daneben lag ein Stoß weißer Blätter. Über dem Sofa hing ein James-Dean-Poster, das an mehreren Stellen mit einem rosa Filzstift [14] retuschiert worden war, so daß Farbakzente entstanden, die aus der Entfernung unbegreiflich erschienen.

Ich stand auf und ging in die Küche. Die Knie zitterten mir noch vom Flug; es schien mir noch nicht ganz wahr, daß ich auf sicherem Boden stand. Am Wandbord über dem Spülbecken hing ein Topflappen, bestickt mit einer Ente in Schweizer Tracht. Unter dem Fenster verkündete ein Porzellanschild in blauen und goldenen Buchstaben: »Mein Herz ist im Schlafzimmer, mein Magen ist in der Küche.« Durchs Fenster sah man Lichter vorbeihuschen, fast unmittelbar über dem Kopf.

Ron und Tracy bewegten sich in dieser Szenerie wie zwei Dachse in ihrem Bau. Jede ihrer Bewegungen unterstrich ihr Verhältnis zum Raum, zu den Gegenständen und allen Details. Nach einer Weile fingen sie an zu streiten: wegen irgendwelcher Ausgaben, die Tracy für nötig hielt, um den Mustang in Schuß zu halten. Sie entfernten sich streitend durch einen schmalen Flur zum Bad. Von dort drangen ihre wütend ineinander verkeilten Stimmen gedämpft an mein Ohr: wie ein wirres Fauchen.

»Hör zu, Tracy! Tracy, hör mir doch zu!« fauchte Ron. Er wiederholte dieselben Wörter wie eine Maschine. Tracys Stimme klang spitz und gewann nur sporadisch an Konsistenz, einzelne Wörter oder Wortfetzen sprangen hervor.

Nach fünf Minuten kam Ron aus dem Bad. Ging ein paarmal unschlüssig um mich herum und setzte sich schließlich ebenfalls auf den Boden, mit dem Rücken zur Wand. Wir sagten nicht viel: versteckten uns beide hinter kleinen Schutzschirmen demonstrativer Müdigkeit. Er blickte fahrig im Raum umher, schüttelte dann den Kopf und sagte: »Tut mir leid. Andauernd kommt es zwischen uns zu diesen Diskussionen. Tracy meint, ich benutze den [15] Wagen, ohne mich um die Reparaturen zu kümmern. Aber das stimmt nicht. Letzten Monat hab ich den Vergaser und eine neue Batterie bezahlt.« Sein ständiges Hin- und Herblicken nervte mich.

Er zündete sich eine Zigarette an und schob das Schiebefenster ein Stückchen hoch, um den Rauch austreten zu lassen. Dafür kamen Schwaden feuchter Nachtluft herein und dröhnender Lärm von jedem Auto, das auf dem Freeway vorbeifuhr. Wir hatten ein kurzes Gespräch, einen knappen Austausch von Daten und Informationen ohne besonderes Interesse. Ich war hundemüde und wollte schlafen gehen, wußte aber nicht, wie und wohin.

Tracy kam aus dem Bad, mit geröteten Augen. Lief zwei- oder dreimal durchs Wohnzimmer unter dem Vorwand, in die Küche zu müssen, bis wir ihr sagten, sie solle sich zu uns setzen. Sie jammerte immer noch wegen des Autos, wiederholte die Argumente, die ich schon gehört hatte, sagte ein ums andere Mal: »Ich respektiere ihn ja, aber er muß mich auch respektieren« und sah mich zustimmungsheischend an. Ron sah abwechselnd zu ihr und zu mir, mit raschem Wechsel im Ausdruck: Wenn er zu mir sah, mischte er Spuren von Ungeduld in seinen Blick; wenn er zu Tracy sah, guckte er wie beschämt.

Mit einem Mal kam es mir lächerlich vor, noch länger da rumzusitzen und ihnen zuzuhören. Ich sagte, ich würde gern schlafen gehen. »Na klar, nach der langen Reise! Na klar!« sagten sie und räumten das Zimmer. Nach einer Minute kam Tracy mit Laken und Decken zurück und richtete mir das Sofa her.

Kurz darauf lag ich ausgestreckt auf dem Rücken und sah nach oben zwischen den Falten zweier geblümter Kissen. Es mußte inzwischen so gegen vier sein; vor Müdigkeit kribbelten mir die Beine. Jeder Laster, der auf dem [16] Freeway vorbeikam, ließ die dünnen Mauern des Häuschens erbeben und das Geschirr im Küchenschrank klirren. Der Lärm schien bei jedem Mal lauter zu werden; er donnerte mit furioser Gewalt durch die Leere der Nacht. In den Pausen, wenn er nachließ, bevor ein neues Auto über den Freeway brauste, wartete ich schon auf das Getöse, das es hervorrufen würde, auf das Dröhnen in meinen Schläfen.

[17] Zwei

Das erste Mal, als ich Ron und Tracy gesehen habe, saßen sie in einem Straßencafé: lang ausgestreckt auf weißen Stühlen. Ron sprach mit einem angetrunkenen Spanier, der zwei Tische weiter saß. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sie aussahen und was sie anhatten. Sie bewegten sich mit der allergrößten Natürlichkeit, als ob sie den Ort schon immer gekannt hätten, bis in die kleinsten Nuancen.

Ron sprach ein groteskes Spanisch, das er, wie er mir später erzählte, während eines nur knapp dreiwöchigen Urlaubs in Mexiko gelernt hatte. Er kannte bloß ein paar gängige Wörter, die er schlecht aussprach, ohne zu überlegen. Der Spanier war feindselig, sprunghaft und schwankend. Er versuchte mit kleinen Tricks, die Gesprächsführung an sich zu reißen: verband die Wörter zu Zweiergruppen und betonte sie so, daß sie etwas Lächerliches bekamen; spielte mit Anklängen, um sie doppeldeutig zu machen.

Ron war für diese Feinheiten ganz und gar unempfänglich, sie glitten von ihm ab wie stumpfe kleine Pfeile. Er schnappte sich aufs Geratewohl ein paar Brocken aus dem Gespräch heraus und fügte sie linear zusammen. Der Spanier sah sich zu einem banalen freundschaftlichen Geplauder gezwungen, unabhängig von dem, was er sagte und wie er es sagte. Er drehte und wendete sich vergeblich. Ron hörte ihm zu und lächelte, winkte ihm mit der Hand.

Als es dem Spanier zuviel wurde, fing er zu fluchen an, sprang auf und schrie wüste Beschimpfungen. Aber Ron [18] schaffte es, auch noch diesen Wutausbruch umzudeuten, indem er ihn als eine derbe Jovialitätsbekundung interpretierte. Er sprang ebenfalls auf, hob prostend ein Gläschen Madeira und rief aufs Geratewohl ein paar Worte.

Tracy war ganz versunken in der Betrachtung Rons; auch in der Pflege ihrer selbst angesichts des spanischen Sommers. Sie stützte den linken Ellbogen auf den Tisch und streckte die Beine weit vor: sonnengebräunt und glänzend. Sie hatte ein weißes Baumwollkleid an, so eine Art römische Tunika, um die Taille mit einem marokkanischen Gürtel zusammengehalten. Ihre sonnengebräunten Brüste schimmerten durch den Stoff, die Spitzen traten hervor.

Trotzdem war sie nicht attraktiv: ohne Eleganz und kaum sinnlich. Aber ihre Sicherheit machte mir Eindruck, ihre Art, sich umherzubewegen, als könnte sie gar nichts falsch machen. Auch sie fügte sich die Realität zusammen, wie es ihr gerade paßte, ohne sich um die Nuancen zu kümmern. Das gab ihr eine enorme Kraft. Das italienische Mädchen, das mit mir Urlaub machte, kam mir dagegen ganz unsicher vor, voller Hemmungen.

[19] Drei

Sherman Oaks, 23. Nov. 78

Lieber Giovanni,

gestern kam Dein Brief aus Haleiwa, natürlich beneiden wir Dich wie verrückt um Deinen Urlaub und was Du für tolle Gegenden siehst! Wir können nicht mal dran denken, hier wegzufahren vor nächstem Sommer, auch wenn ich weiß wie schade es ist, daß wir uns nicht dort treffen können, weil es ja stimmt, eigentlich sind wir gar nicht so weit auseinander, jedenfalls nicht so weit wie als Du in Italien warst. Das Wetter hier ist wirklich beschissen, auch gestern hat es den ganzen Tag lang geregnet und vorgestern auch und es sieht so aus als würde es immer so weitergehen, na hoffen wir’s nicht. Übrigens danke für Deinen Brief aus Neu Guinea, was für eine aufregende Reise muß das gewesen sein, es kam mir fast vor wie wenn ich den National Geographic ansehe, als ich Deinen Brief las! Ich hoffe ihr habt da unten phantastische Photos machen können, auch wenn dieser Photograph, dieser Signor Formaro, immer so blöd war, wir sind fast gestorben vor Lachen über das, was Du uns von Euren Diskussionen erzählst. Ron meint, Du solltest auch mal zu schreiben versuchen, Du hättest eine so komische Art zu erzählen, und ich muß ihm recht geben, ich habe noch nie so gelacht über einen Brief, ehrlich! Das muß ja bestimmt wahnsinnig aufregend gewesen sein, in diesen geheimnisvollen exotischen Ländern rumreisen zu können und auch noch dafür bezahlt zu werden, auch wenn ich mir vorstellen kann, daß es nicht immer nur rosig[20] war, schließlich ist es ja auch eine richtige Arbeit wie jede andere.

Wir hätten Lust noch mal nach Europa zu fahren, nachdem es letzten Sommer so herrlich da war, aber man muß ja auch sehen wie man sein Geld verdient um zu leben, wir haben uns jetzt alle beide ganz unseren Karrieren verschrieben und sind echt bemüht, unser Bestes zu geben. Ron ist gerade dabei, ein wichtiges Treatment fertigzuschreiben, er geht nur noch mal im einzelnen drüber und gibt ihm den letzten Schliff, was die schwierigste Arbeit ist, und dann muß er sehen daß es die wichtigsten Leute zu lesen kriegen, der bloße Gedanke macht ihn schon ganz nervös. Ich arbeite im Geschäft meines Vaters, als Direktionsassistentin in der Abteilung Marktforschung, da kriege ich dreihundert Dollar die Woche, das ist nicht schlecht, auch wenn wir davon bestimmt nicht reich werden. Ron ist unheimlich nervös und aufgeregt, er sagt, es wäre das Beste was er bisher geschrieben hat, und das glaube ich auch, da könnte bestimmt ein ganz großer Film draus werden, wenn er nur den Richtigen findet, der kapieren kann was da drinsteckt, na sehen wir mal. Ron hat ein paar Kurzgeschichten verkauft für eine Werbeserie der Coors, die ganz gut bezahlt. Es genügt ja so wenig, um dir das Gefühl zu geben, daß es nicht unnütz ist was du machst, oder daß es einen Sinn hat was du machst.

Versuchen wir uns einen aufgeschlossenen Geist zu bewahren und einen gesunden Körper! Wir machen beide zurzeit eine Kräuterkur, die ganz phantastisch ist, auch wenn wir sie noch nicht sehr lange machen, aber wir fühlen uns beide schon sehr viel besser. Es gibt da so eine Art Heilpraktiker, der eine Praxis in North Hollywood hat, wo er dich untersucht und dir Kräuter verschreibt und sie dir auch gleich verkauft, er hat sie in großen Glasgefäßen. Er[21] hat sofort einen Haufen Sachen kapiert über unseren Charakter, wirklich phantastisch! Er ist kein Betrüger, ich glaube er hat irgendwie besondere Gaben. Auch Ron der große New Yorker Intellektuelle ist jetzt überzeugt, daß man mehr für seinen Körper tun muß. Wenn man ihm mehr gibt, kann man auch mehr von ihm verlangen.

Vielleicht ziehen wir bald um, aber wir bleiben auf jeden Fall weiter in Sherman Oaks, weil was anderes können wir uns gar nicht leisten, die Mieten sind einfach lächerlich, wo du auch hinsiehst. Was gibt es sonst noch zu berichten? Ach ja, stell Dir vor, ich habe Al Pacino gesehen gestern abend auf einer Party, wo ich mit meinem Vater hingegangen bin und wir haben mit ihm gesprochen und mit einem Produzenten, das war vielleicht ein komischer Typ, den müßtest Du sehen! Den Produzenten meine ich, weil Al Pacino ist sehr sympathisch und macht überhaupt kein Getue um sich, er ist wie ein völlig normaler Mensch und dabei wahnsinnig nett. Ron sagt, der Held in seiner Geschichte ist Al Pacino nachgestaltet, ist das nicht ein toller Zufall? Letzte Woche sind wir nach L.A. reingefahren und haben die Eagles gehört und Samstag Gino Vanelli im Roxy, ein phantastischer Typ, sag ich Dir! Und ein toller Saxophonist war auch da.

Also sei herzlich gegrüßt, ich muß aufhören, weil der Platz gleich zu Ende geht. Ich soll Dir auch herzliche Grüße von Ron bestellen (er ist grad weggefahren, um mit Leuten wegen dem Treatm. zu sprechen, in Pasadena).

Bleib gesund und schreib mal wieder. Bis bald.

[22] Vier

Los Angeles, 9.1.79

hi giovanni die autos brausen mir über den kopf in endloser kette & lassen das haus erbeben & kreisen es ein mit ringen von energie die sich fortpflanzen von den wänden in meinen rücken & meinen arm entlang bis in die hand & die finger die jetzt diese feder halten mit der ich dir schreibe, ich habe das treatment für den phantastischsten film der geschichte des kinos so gut wie fertig & der gedanke erfüllt mich mit sonderbaren gefühlen & vielleicht mit einem anflug von panik & wir werden sehen ob der weg zum ruhm glatt ist & leicht zu begehen oder eher gespickt mit hindernissen & Schwierigkeiten, du verrückter italienischer träumer liegst faul in der sonne & im absurden blau von oahu um dich mit lieblichen hulatänzerinnen zu vergnügen während wir eingeschlossen sind unter dieser neurosenkuppel in diesem talentgehege hoffend daß einer mit einem lasso kommt um uns aus der herde herauszuholen & uns endlich zu jener totalen exhibitionsshow zu führen die wir suchen & gleichzeitig insgeheim fürchten, ich wäre gern so entspannt wie du & fast schon asketisch in der Verachtung des geldes & des erfolgs & hätte gern jene unergründliche tiefe des geheimnisvollen alten europa die dir womöglich andere motivationen gibt & dir erlaubt dein leben in hawaii zu genießen während wir das unsere jeden tag neu vergiften im haschen nach einem augenblick ruhm den wir dann mit zähnen & klauen verteidigen müssen & nach dem es[23] dann unmöglich sein wird sich mit anderem & geringerem zu begnügen & es wird wahrlich sein als hätten wir von der verbotenen frucht der konsum- & verschwendungszivilisation gegessen die uns versucherisch lockt durch millionen mattscheiben & die uns bombardiert mit der radioaktiven kraft der zahllosen neonlichter die das leben in unseren Straßen ersticken lassen während es sich noch mühsam weiterzuschleppen versucht auf seinen pathetischen rädern rostiger second-hand-cadillacs. (geschrieben vor dem küchenfenster morgens um fünf uhr dreißig noch zu sehr voller coca & kalifornischem riesling um schlafen zu können & andererseits zu müde um letzte hand an meine geschichte zu legen & was gibt es besseres als in der nacht mit der feder zu schreiben um keinen lärm mit der Schreibmaschine zu machen & tracy nicht aufzuwecken die vielleicht besser schläft als ich jemals imstande sein werde zu schreiben), ron.

Lieber Giovanni, ich schicke Dir dieses Elaborat, das Ron vor ein paar Wochen geschrieben hat, weil es wohl eine Art Brief an Dich werden sollte, und es kommt selten vor daß Ron sich aufrafft einen Brief fertigzuschreiben, besonders jetzt wo er so aufgeregt ist wegen dem Treatment. Deine »halbe Idee« uns hier eventuell zu besuchen ist wirklich ganz toll! Das wäre phantastisch, wir könnten uns weiter so schön unterhalten wie damals in Ibiza und würden Dir eine Menge hier zeigen und Dich mit einem Haufen hochinteressanter Leute bekannt machen, das wäre echt prima, ich würde mich wahnsinnig freuen. Wenn Du bisher bloß New York gesehen hast, kannst Du Dir keine Vorstellung machen, wie es hier ist, ich kann Dir versichern, es ist viel mehr Amerika als was Du bisher gesehen hast. Das neue[24] Haus in dem wir jetzt wohnen ist süß, wenn auch ein bißchen alt und sehr nahe am Freeway und manchmal deswegen sehr laut, aber man gewöhnt sich dran, zum Ausgleich haben wir jetzt ein eigenes Gärtchen. Vorn ist ein kleiner Rasen, der im Moment sehr grün ist, weil es hier immer noch andauernd regnet, es reicht uns allmählich, für dies Jahr haben wir wirklich genug vom Regen, man könnte fast meinen man wäre gar nicht in Kalifornien!

Wir haben uns einen Mustang gekauft, ein 67er Kabrio für 2000 $ aber es ist ein Klassiker in sehr gutem Zustand, ein toller Schlitten, wir haben ihn ganz zufällig aufgetrieben. Kein Achtzylinder, er hat bloß sechs Zylinder und verbraucht Gott sei Dank nicht sehr viel, weil nämlich seit der Geschichte mit den Benzinrationierungen gibt es hier vor den Tankstellen Schlangen, die bis zu zehn Blocks lang sind und du mußt stundenlang warten bis du volltanken kannst. Ich glaube Dir gern wenn Du schreibst daß man sich in Hawaii ganz schön langweilt, weil’s da nicht viel zu tun gibt außer in der Sonne zu liegen oder zu surfen, was ja sicherlich Spaß macht, aber man muß vielleicht auch an die Zukunft denken, vor allem in dieser Phase unseres Lebens. Wenn Du nach L.A.

[25] Fünf

Am Vormittag gegen elf verließ ich mit Ron das Haus. Tracy war schon vor ein paar Stunden zur Arbeit gegangen; ich hatte sie durch das Zimmer gehen hören, mich aber schlafend gestellt.

Wir folgten der Straße, die parallel zum Freeway verlief; gingen den schmalen Fußweg entlang, dicht neben den Autos, die uns pausenlos überholten. Die Luft war noch schwer vom Regen der vergangenen Nacht, es nieselte leicht. Alle Farben tendierten zu Grau. Ron ging entspannt, die Hände tief in den Taschen, wie einer, der zeigen will, daß er keine Verantwortung für die Gegend hat. Immer wieder deutete er im Vorbeigehen auf ein Haus und sah mich an, um meine Reaktion zu beobachten.

Wir gingen zügig ein längeres Stück, und die Gegend blieb unverändert. Es schien, als wären wir keinem Punkt nähergekommen und hätten uns von keinem entfernt; nur an den Häuschen zwischen der Landstraße und dem Freeway gab es kleine Veränderungen: Details an den Türen und in der Gestaltung der Gärtchen, gerade noch eben erkennbar. Das einzige, was am Horizont auftauchte, war das Markenzeichen von einer Tankstelle; je länger wir gingen, desto größer erschien es, aber auch ferner. Nach zwanzig Minuten war es riesig, immer noch einige Kilometer entfernt. Das zerdehnte den Raum und drückte ihn platt, verödete ihn am späten Vormittag gegen halb zwölf. Wir sagten die ganze Zeit fast nichts, summten höchstens mal vor uns hin.

[26] Schließlich gelangten wir zu einem großen Parkplatz voller Autos und langer Schlangen von lose ineinandergeschobenen Einkaufswagen. Ein blondes Mädchen in rosa Hosen und rosa Kittel schob eine der Schlangen durch die Glastüren in den Supermarkt. Dutzende anderer Einkaufswagen wurden von Kunden, die herausströmten, zwischen den Autos verstreut.

Vor den Schaufenstern standen ein paar dieser trostlosen Spielgeräte, die mechanisch wippen und schaukeln, um Bewegung zu simulieren: eine Lokomotive und eine Postkutsche, beide sehr primitiv. Zwei mexikanische Kinder saßen still in der Postkutsche, ohne Geld in den Schlitz zu stecken: saßen einfach nur da und rührten sich nicht, auf den runden Köpfen Segeltuchmützen mit hochgebogenem Schirm.

Der Supermarkt war eine grenzenlos weite Halle, aufgeteilt in Sektoren, zu denen große gelbe Wegweiser führten. Wir fingen an, zwischen Wänden von Flaschen und Dosen und Schachteln umherzugehen; ich schob einen Einkaufswagen, Ron ging voran. Kaum waren wir aus dem Blickfeld der Kassen, begann er umherzuspähen, sah um die Ecken, ob jemand von der anderen Seite kam, und sagte leise: »Komm mit dem Wagen näher. Deck mich nach dieser Seite.«

Wir standen vor einer großen Tiefkühltruhe, in der die Fleischwaren ausgelegt waren, geordnet nach Sorten und Preisen, abgepackt in Portionen mit roten Aufklebern, auf denen »Sonderangebot« oder »Familienpackung« oder »Feinschmeckerhappen« stand. Ron nahm zwei Filetstücke und ließ sie blitzschnell unter dem Gürtel verschwinden. Ich sah ihn mit den Filets in der Hand, er schien noch zu überlegen, ob er sie kaufen sollte, und plötzlich waren sie nicht mehr da. Wenn man es nicht [27] schon erwartet hatte, konnte man kaum begreifen, was mit ihnen geschehen war, zumal Ron dabei völlig entspannt aussah, fast gelangweilt. Unter der Jacke trug er ein Kordhemd, das er offen über die Hose hängen ließ, um jede verräterische Ausbuchtung zu verhüllen.

Wir gingen weiter mit dem Wagen umher, versunken in der eigenartig abstrakten Ruhe, die annähernd leere Supermärkte ausströmen. Man hörte das leise Summen der Tiefkühltruhen und Neonröhren. Ron stopfte sich weiter Delikatessen, Thunfischdosen, Schinken- und Käsepackungen in die Hose.

Er mußte lange geübt haben, um so geschickt und sicher zu werden. Seine Bewegungen liefen so fließend ab, daß sie den Eindruck einer natürlichen Handlung erweckten, oder auch gar keinen Eindruck. Irgendwann blieb er stehen, beugte sich über eine Packung, nahm sie heraus und hielt sie hoch, wie um sie prüfend zu mustern; drückte sie plötzlich in einer einzigen raschen Bewegung an sich und ließ sie blitzschnell unter dem Gürtel verschwinden. Als vorne kein Platz mehr war, schob er sich einige auch in die Hüften. Dann sah er sich um, trat unauffällig zur Seite, wenn Frauen mit Einkaufswagen vorbeikamen, und zog sich die Ärmel der Jacke glatt.

An einem bestimmten Punkt zeigte er mir an der Decke hoch oben zwei oder drei Spiegel, durch die das Verhalten der Kunden womöglich beobachtet wurde, und murmelte: »Hoffen wir, daß sie von da nichts gesehen haben.« Aber es klang eher wie ein magischer Bannspruch gegen das Unglück.

Ich legte zwei Milchkartons und eine Riesenpackung Cornflakes in den Wagen, schob ihn zur Kasse und bemühte mich, so natürlich zu wirken, wie ich konnte. Die Kassiererin lächelte breit und fragte mich, wie es mir [28] gehe. Ich sagte »Gut, danke«, bevor mir klar wurde, daß es bloß eine automatische Höflichkeitsfloskel gewesen war.

Wir gingen durch einsame Nebenstraßen nach Hause, vorbei an kleinbürgerlichen Vorstadthäusern mit Hecken um die Gärten, mit imitierten Taubenschlägen und holzverzierten Fassaden. Ron wies mich immer wieder auf Einzelheiten hin und sagte andauernd: »Nun sieh dir bloß das mal an!« Er sprühte vor demonstrativer Ironie. Vielleicht fühlte er sich verpflichtet, die kitschigsten Züge der Gegend hervorzuheben, ehe ich sie bemerken und ihm die Schuld daran geben könnte.

Vor einem Haus im Stil eines Kornspeichers blieb er stehen und sagte: »Merkst du, wie ausgestorben das alles ist? Nirgendwo gibt es hier Leben, bis nachmittags um fünf. Nur ein paar verängstigte Hausfrauen, die vor dem Fernseher hocken und trinken.« Er deutete vage die leere Straße hinunter, die sich am Horizont zwischen immergleichen Gärten verlor.

Kaum hatten wir dann die Hauptstraße parallel zum Freeway erreicht, war das Leben wieder voll da: brüllend laut und mechanisch, schwer zu entziffern. Die Autos kamen in Wellen heran und brausten mit wildem Getöse auf unterschiedlich hohen Frequenzen an uns vorbei. Wenn die Ampel an der nahen Kreuzung auf Rot sprang, staute die Welle sich auf, zerfaserte an den Rändern und verebbte mit den langsamsten Fahrzeugen. Wir standen ein paar Minuten am Straßenrand, um uns das Schauspiel anzusehen und die Lungen mit Abgas zu füllen.

In den nächsten Tagen schrieb ich ein paar Briefe, saß vor dem Fernseher oder ging auf Nebenstraßen in der Nähe des Hauses spazieren, während Tracy arbeitete und Ron [29] am Tisch vor dem Fenster sitzend die Schreibmaschine ansah.

Jack Zieler hatte noch nichts von sich hören lassen wegen des Treatments, und so verbrachte Ron die Tage in einem Zustand dauernder Spannung: hockte da, sah auf die Schreibmaschine oder aus dem Fenster und sprang alle naselang auf, um eine Telefonnummer zu wählen. Ich hörte ihn einige Male telefonieren auf der Suche nach Informationen; er kroch fast in den Hörer hinein und stellte erregte Fragen, kabbelte sich mit Sekretärinnen, kriegte aber nie die gewünschte Person an die Strippe und wurde immer wieder vertröstet.

Nach ein paar Tagen bekam er das Treatment zurück. Zieler hatte ihn nicht einmal vorher angerufen, es kam ohne Vorankündigung mit der Post. Ron las mir den kurzen Begleitbrief vor, der die Story als »brillant, aber leider unverkäuflich« definierte, und wurde fast hysterisch vor Wut. Er feuerte das Manuskript durchs Zimmer, schrie, daß Zieler ein Schwein sei, rannte auf dem plüschigen Teppichboden umher und ruderte wild mit den Armen. Sagte verbittert: »Was für ein Hurensohn!« und rief mindestens fünf verschiedene Leute an, um ihnen den Fall zu erzählen.

Danach verfiel er in einen Zustand selbstgefälliger Depression. Schüttelte den Kopf und erklärte, seine Story sei eben »zu sehr der Zeit voraus«, um verstanden zu werden.

Tracy, als sie am Abend davon erfuhr, war fassungslos; das machte die Sache nur noch schlimmer.

Ron gab mir sein Treatment zu lesen, nach einer langen einführenden Erklärung aller Bezugnahmen und Zusammenhänge. Es war die Geschichte eines Rockgitarristen, der in Los Angeles hochzukommen versucht und es am [30] Ende trotz einer Reihe von Schwierigkeiten auch schafft: Er wird reich und berühmt.

Ich saß auf dem Sofa und las die Seiten, bewacht von Tracy, die neben mir saß. Die Geschichte war so konventionell und albern, daß ich nicht verstand, wie Zieler sie hatte »brillant« nennen oder auch nur einen Augenblick lang erwägen können, sie irgendwo anzubieten.

Um nicht uninteressiert zu erscheinen, blickte ich weiter auf die Seiten, wenn ich sie gelesen hatte, ließ die Augen noch mal über einzelne Stellen gleiten und sagte alle naselang »schön« oder auch »phantastisch«. Tracy hielt sich bereit, meine Kommentare durch Präzisierungen oder Erklärungen zu bekräftigen. Ron sah lauernd vom anderen Ende des Raumes herüber und horchte auf unsere Worte. Jedesmal, wenn ich oder Tracy irgendwas sagten, beugte er sich vor, um Bemerkungen einzuwerfen wie »Ja, das ist nicht schlecht« oder »Amüsant, was?«

Tracy hatte ihren ganzen Enthusiasmus für mich gleich am ersten Abend voll ausgeschöpft, als sie mich vom Flugplatz abholen kam und behauptete, sie hätte mir tausend Dinge zu erzählen. Sie wurde jeden Tag abweisender, bis zur Feindseligkeit.

Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, so gegen halb sechs, sah sie gewöhnlich erstmal fern: auf dem Boden sitzend in ihrem Zimmer, mit dem Rücken an die Bettkante gelehnt. Mich sah sie mit einer Miene an, als wollte sie sagen, daß der Platz für uns drei nicht reichte. Es war, als merkte sie das jeden Abend zum ersten Mal.

Kaum eingetreten begann sie, mit Gesten der Wiederaneignung um sich zu werfen: schob Gegenstände umher, machte Schranktüren auf und stellte gereizte Fragen. Ich kam mir vor wie jemand, der auf einem Stuhl sitzt, [31] während der Boden darunter gekehrt wird, so daß er dauernd vor- und zurückkippeln muß und so tun, als ob nichts wäre, bis der Besen vorbei ist.

Anschließend machte sich Tracy dann eine Stunde lang in der Küche zu schaffen, meistens mit einem chinesischen Dampfkochtopf, in den sie Gemüse schnitzelte, das sie mit Sojasoße begoß. Ich bemühte mich immer, vor den beiden zu essen, weil mir der Gedanke, mit ihnen am Tisch zu sitzen und Konversation zu machen, unerträglich erschien. In diesen Momenten drangvoller Enge taten wir so, als ob wir einander nicht sahen: traten uns zwar auf die Füße, aber gingen getrennte Wege. Ich suchte mir etwas direkt aus dem Kühlschrank und machte mir rasch ein Sandwich, damit ich fertig war, bevor sich die beiden zu Tisch setzten.

Den restlichen Abend verbrachten dann Tracy und ich vor dem Fernseher, bäuchlings ausgestreckt auf dem Bett. Das Bett hatte eine viel bessere Konsistenz als das Sofa, das mir zum Schlafen diente und in Wirklichkeit fast schon auseinanderfiel. Jeden Abend gelangte ich an den Punkt, an dem es mir unnatürlich vorkam, das weiche Bett zu verlassen, um auf dem harten Sofa zu schlafen. Ich begann, Ron und Tracy zu hassen vor Neid auf ihre Federkernmatratze.