Wenn der Wind dreht - Andrea De Carlo - E-Book

Wenn der Wind dreht E-Book

Andrea De Carlo

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Beschreibung

Wer hat ihn nicht – den Traum von einem glücklicheren Leben, weitab von Handygeklingel, Hektik und Verkehr? Fünf Städter suchen ein Haus auf dem Land und das einfache Leben in der Natur. In den Wäldern Umbriens finden sie es – und es ist ein Alptraum.

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Seitenzahl: 415

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Andrea De Carlo

Wenn der

Wind dreht

Roman

Aus dem Italienischen von

Monika Lustig

Titel der 2004

bei Bompiani, Mailand,

erschienenen Originalausgabe: ›Giro di Vento‹

Copyright © 2004 by RCS Libri S.p.A.

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2007 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Copyright © Nina Frenkel/

Photodisc Rot/Getty Images

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23783 2 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60233 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 

[7] Alessio Cingaro sitzt in seinem Badezimmer

Alessio Cingaro sitzt in seinem Badezimmer auf einem kleinen Sessel mit extrem niedriger Rückenlehne, den er aus einer Laune heraus im angesagtesten Möbelladen in der Innenstadt gekauft hat, nicht so sehr, weil er ihn wirklich brauchte, sondern weil seine nichtfunktionelle Form ihm wie der pure Luxus erschien. Jedenfalls leistet er ihm jetzt gute Dienste, denn er sitzt kerzengerade darauf und hält sein Gesicht im Abstand von dreißig Zentimeter vor einen UV-Schirm, neuestes Modell, wie die Unmenge Aufkleber und Kürzel aktueller EU-Vorschriften bezeugen. Auf den Augen trägt er zwei gelbe Plastikschalen – ähnlich wie sie bei Zuchthühnern verwendet werden –, die sein Augenlicht schützen sollen, zugleich aber keine verräterischen, hellen Stellen auf der Haut zurücklassen. Sie vermitteln ihm außerdem das gute Gefühl, mit geschlossenen Augen unter der Sonne eines Tropenstrandes zu liegen. In Reichweite steht eine Zerstäuberflasche mit entmineralisiertem Wasser, zu der sich seine rechte Hand alle paar Minuten vortastet, um damit Gesicht und Hals zu besprühen. Gleichzeitig bewirken die Saugnäpfe eines Elektrostimulationsgeräts eine regelmäßige, angenehme Kontraktion seiner Bauchmuskeln. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob das Gerät tatsächlich etwas bewirkt. Alessio hat es erst vor [8] einer Woche per Teleshopping erworben, nachdem er in unzähligen Werbesendungen mitverfolgt hatte, wie es auf dem Bauch mit Steroiden vollgepumpter Bodybuilder und auf dem Hinterteil properer Mädels getestet wurde; und letztere schienen sich der erotischen Wirkung ihrer vibrierenden Gesäßbacken in Großaufnahme gar nicht bewußt zu sein. Aus den zwei vorverstärkten Lautsprechern seitlich der Konsole ertönt eine Musik, die Alessio letzte Nacht aus dem Internet heruntergeladen hat. Allerdings könnte er nicht sagen, wer da genau spielt, denn er führt die Downloads immer viel zu hastig durch, um sich danach noch an die Namen der Musiker zu erinnern. Es ist so etwas wie der Standardrhythmus des Lebens, zu dem er mit Kopf und Knien wippt und mit den Fingern auf den Halsansatz klopft. Dort hält er sie verschränkt, damit auch die Handrücken einheitlich gebräunt werden; das hilft ihm, nicht zu sehr zu relaxen oder sich zu verspannen. Irgendwo hat er gelesen, daß ein griechischer Milliardär, bekannt für seine dicken Brillengestelle, seinen Erfolg zwei simplen Regeln zuschrieb: um sechs Uhr morgens aufzustehen und immer eine perfekte Bräunung zu haben. Für Alessio war das ein äußerst wertvoller Tip, denn er war einfach zu befolgen und zeitigte bis jetzt auch seine Wirkung. Wichtig ist, sich nicht von der kühlen Brise täuschen zu lassen, die das Flügelrädchen einem ins Gesicht weht, und die Anwendungszeiten zu beachten, um dauerhafte Hautschäden und den daraus entstehenden Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit zu vermeiden.

Der Timer trillert, die UV-Lampe und der Ventilator stellen ihren Betrieb ein. Alessio nimmt die Endstücke des [9] Elektrostimuliergeräts ab und tupft sich, ohne zu reiben, mit einem weichen Handtuch Gesicht und Bauch ab. Für eine zweite Dusche nach der am Morgen bleibt ihm jetzt keine Zeit. Statt dessen trägt er sorgfältig eine französische Feuchtigkeitscreme auf der Basis von sibirischem Ginseng und Hyaluronsäure auf, sprüht Deo unter die Achseln und Parfum rechts und links an den Hals und auf die Innenseiten des Handgelenks. Es sind Produkte ein und derselben Pflegeserie, was ihm das Leben vereinfacht und ihm ein Gefühl von Vollkommenheit vermittelt, wenn sein Blick über die Dosen und Flakons in Reih und Glied auf der Konsole unterm Spiegel wandert. Um jede Spur von mediterraner Affenbehaarung zu tilgen, hat er sich vor ein paar Tagen die Brust mit Hilfe von Wachsstreifen enthaart: Sie ist immer noch glatt wie die der Models, die auf den Titelseiten der Lifestylemagazine, die er ab und zu kauft, still vor sich hinlächeln. Zum Schluß massiert er sich eine Lotion gegen Haarausfall in die Kopfhaut und kämmt die Haare so, daß sie ein wenig in die Höhe stehen; durch diesen Trick und dank der langen Koteletten wirkt sein Gesicht schmäler, und der kindliche Ausdruck, den er trotz seiner zweiunddreißig Jahre noch immer hat, wird abgeschwächt. Ein letzter Kontrollblick in den Spiegel, frontal und im Profil. Er bewegt die Augenbrauen, tippt sich auf die Nasenspitze und probt zwei, drei seiner Standardlächeln: Sie funktionieren.

Er geht ins angrenzende Schlafzimmer, wo im Wandfernseher mit 42-Zoll-Plasmabildschirm gerade eine Frühstücks-Show läuft, in der zweitklassige Studiogäste die Fragen eines Moderators beantworten, der sich in erster [10] Linie auf die Zeichen der Studioassistenten aus dem Off konzentriert. Das Publikum besteht aus Hausfrauen, Rentnern und Langzeitarbeitslosen, die einnicken, sobald sie nicht mehr im Aufnahmefeld sind, und hochschrecken, wenn sie das Zeichen zum Applaudieren erhalten. Die Assistentin hat das einfältige Gesicht eines braven Töchterchens, was einen eindrucksvollen Kontrast zu ihrer rotschwarzen Guêpière à la südamerikanisches Bordell bildet. Sie muß sich gewaltig anstrengen, um die drei Worte herauszubringen, die sie hin und wieder zu sagen hat. Sie weiß nie so richtig, zu welcher Kamera sie ihre Mausäuglein lenken soll. Ihre Bewegungen sind linkisch, und deshalb ist es auch kein Wunder, daß sich ihr Nacktkalender weniger gut verkauft als der ihrer Kolleginnen. Auf dem Computermonitor hingegen läuft ein Streifen, der nur aus Autos mit kreischenden Reifen, Schreien und Pistolenschüssen besteht; es handelt sich eigentlich um einen Pay-TV-Sender, den Alessio dank einer simplen Software, die er sich aus dem Netz geholt hat, gratis empfängt. Die Geräusche der beiden Programme überlagern sich und vermischen sich mit der Musik, die aus dem Bad ertönt, aber das stört ihn überhaupt nicht, und es bringt ihn auch nicht aus dem Konzept: Er ist es gewohnt, sich aus Simultaninformationen seine Häppchen herauszupicken und nur die zu speichern, die aus irgendeinem Grund seine Aufmerksamkeit erregen. Im übrigen ist das noch gar nichts verglichen mit abends, wenn auch der Fernseher in der Küche und der im Wohnzimmer laufen, und er zugleich seine E-Mails und SMS und die Anrufe auf dem Handy oder auf dem Festnetz beantworten muß. Das hat er meistens in weniger als einer [11] Stunde erledigt und geht anschließend ins Restaurant oder ins Kino. Es stört ihn nicht, daß sein Konzentrationsvermögen von Jahr zu Jahr, wenn nicht gar von Monat zu Monat abnimmt: Für ihn ist das ein Anreiz, seine Zeit noch besser zu nutzen und keine Leere entstehen zu lassen, in die sich Langeweile oder gar trübe Gedanken einschleichen könnten.

Alessio öffnet den Einbaukleiderschrank und läßt seine Hand über eine Reihe von Hosen-Jackett-Kombinationen gleiten, die sich in Stoffstärke und Anspruch unterscheiden. Er wählt eine aus, die im Stil irgendwo zwischen formell und casual liegt, und dazu passend Hemd und Krawatte ebenfalls Ton in Ton. Seine Sakkos sind fast alle Doppelreiher, aus demselben Grund, weshalb auch der Ministerpräsident am liebsten solche Modelle trägt: Sie vermitteln ein Gefühl von Sicherheit, wie es kein einreihiges Sakko je tun könnte, sie unterstreichen und besiegeln die Wichtigkeit ihres Trägers gleich zweifach. Den Koffer hat er bereits am Morgen gepackt und neben die Wohnungstür gestellt. Auch der macht etwas her. Er ist aus aufgerauhtem Schweinsleder, und die Messingecken glänzen wie Gold. Alessio macht sich beim Anziehen zugleich am Computer zu schaffen, verkleinert das Fenster des Spielfilms, um ein anderes über die Wetteraussichten für Mittelitalien zu öffnen (unbeständig), über den Börsengang in New York (nicht übel) und in Mailand (negativ, aber gestern ganz gut). Dann beginnt er mit dem Downloaden von acht Spielfilmen, von denen vier noch nicht in den Kinosälen zu sehen waren. Da er nun schon mal dabei ist, lädt er sich auch noch an die zwanzig Musikstücke herunter. Es verschafft ihm [12] Genugtuung zu wissen, daß der Computer selbständig arbeitet, während er auf Reisen ist, und zwar mit der Geschwindigkeit und zum Festpreis der ständig offenen ADSL-Linie aus Glasfaserkabel.

Als er sich die Krawatte bindet, geht die Zimmertür auf, und seine Mutter sieht ihn mit flehentlichem Gesicht an: »Alessio, ich bitte dich, du wirst doch einen Teller Spaghetti essen, bevor du losfährst? Mit Tomaten-Basilikumsoße, ganz leicht sind die, komm schon!«

»Mama, hab ich dir nicht gesagt, daß ich keine Zeit habe!« sagt er in äußerst ruppigem Ton; andererseits, sie versteht nur diesen Ton. Es ist zwölf Uhr, und es ist schon das dritte Mal, daß sie ihm mit diesen Spaghetti kommt.

Aber die Mutter gibt sich nicht geschlagen: »Du kannst doch nicht mit leerem Magen aufbrechen, Alessio! Wenn du willst, kann ich dir auch geschwind ein dünnes Kalbssteak und ein bißchen Salat machen, wenigstens das!«

»Mama, geh mir nicht auf den Geist!« schreit Alessio und ist der Meinung, daß ihm jetzt keiner mehr sein Benehmen übelnehmen dürfte. »Ich esse etwas in der Autobahnraststätte!«

»Dort gibt’s nur Schweinefraß«, sagt die Mutter. »Das schmeckt alles nach Plastik.«

»Laß mich in Ruhe, ich muß mich anziehen, wegen dir komme ich noch zu spät zu meinen Kunden«, sagt Alessio leiser, aber in noch entschiedenerem Ton und drängt sie aus dem Zimmer.

Während er die Schuhe anzieht, tut es ihm leid wegen der Enttäuschung, die in ihren Augen stand, als er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hat. Doch das ist ein [13] Gedanke von vielen. Er drückt auf die Fernbedienung, um den Fernseher lauter zu stellen, denn auf dem Bildschirm sind gerade einige Girls in sehr gewagten Bikinis mit Pailletten aufgetaucht; sie bewegen sich mit simplen Kindertanzschritten, die entsprechend der im Studio verteilten Gegenstände einstudiert sind und ihre anatomischen Vorzüge ins rechte Licht rücken sollen. Alessio zieht sich das Jackett über, knöpft es zu und macht einige Tanzbewegungen mit: Er schwenkt die Arme und tut so, als sänge auch er den Text des letzten Sommersongs im Playback.

[14] Der Architekt Enrico Guardi steht auf dem Gehsteig einer Straße im Zentrum

Der Architekt Enrico Guardi steht auf dem Gehsteig einer Straße im Zentrum von Mailand und beobachtet umgeben vom Lärm und Freitagsverkehr die Großstadt, die ihren vielfachen Beschäftigungen nachjagt. Seine Frau Luisa mit Schildpattbrille, die Haare elegant nach hinten gebunden, in einem Mantel aus stahlgrauem Wolltuch über dem hellgrauen Hosenanzug steht neben ihm und hängt ihren Gedanken nach. »Also, wann kommen sie denn endlich?« fragt er sie.

»Ich weiß es nicht«, sagt sie, und ihr Ton verrät, daß sie unter keinen Umständen für die Organisation oder für mögliches Fehlverhalten seitens der anderen Reiseteilnehmer verantwortlich sein will.

»Hätten wir nicht erst morgen nach Turigi fahren können?« sagt Enrico und blickt auf seine große Unterwasserarmbanduhr im Stil U-Boot-Kapitän aus dem Zweiten Weltkrieg.

»Hör doch auf«, sagt Luisa. »Du bist nicht der einzige auf der Welt, der arbeiten muß.«

Enrico deutet zur Straßenmitte und sagt: »Warum versuchst du nicht, Margherita auf dem Handy zu erreichen? Die bringt es fertig und kommt erst heute abend.«

[15] Luisa schnaubt unwillig und tippt mit fahrigen Fingern die Nummer auf ihrem Handy.

Enrico Guardi erwägt die Bedeutung, die auch geringfügige Details auf längere Sicht annehmen können: die Beruhigung oder Verärgerung, die jede einzelne Geste oder jeder Gesichtsausdruck auslösen können, wenn man sie mit Genauigkeit vorauszuberechnen vermag.

Unterdessen hat ein Taxi am Rand des Bürgersteigs angehalten, und Arturo Vannucci mit seiner blaurotgestreiften Seglertasche steigt aus. Von den dreien ist er der einzige, der passend zum Anlaß gekleidet ist: Er trägt ein irisches Tweedsakko über einem waldgrünen Rollkragenpullover, braune Flanellhosen und gelbe Schuhe mit starkem Profil. Stürmisch wie immer umarmt er Luisa und Enrico zur Begrüßung: »Und? Wie geht’s, Leute?«

»Gut!« sagt Enrico und drückt ihn seinerseits, aber weniger heftig.

Arturo macht eine fragende Geste: »Und Margherita?«

»Sie ist unterwegs«, sagt Enrico und denkt, wie beruhigend und ärgerlich zugleich Arturos vertraute, mächtige Gestalt, sein Sinn fürs Praktische, seine Ausgeglichenheit, seine konstante Neigung zum Optimismus wirken.

»Sie entschuldigt sich für die Verspätung«, sagt Luisa.

»Als wären wir das nicht gewohnt«, sagt Arturo. In seiner Stimme liegt nicht die Spur von Ungeduld, sondern eine Mischung aus Nüchternheit und Anstand, geradliniger Gedankengänge und der Gewißheit einer soliden wirtschaftlichen Polsterung.

Enrico denkt an all die Reisen, die sie schon gemeinsam unternommen haben: an die Aufteilung der Rollen, die sie [16] schon bei der ersten Reise vorgenommen hatten und die im Laufe der Jahre perfektioniert wurde.

Ein großer Multivan in Metallicsilber hält auf ihrer Höhe mit blinkenden Standlichtern, und Alessio Cingaro steigt aus. Er trägt einen königsblauen Mantel und ist braungebrannt, als käme er gerade von einem zweiwöchigen Urlaub auf Barbados zurück. Mit ausgestreckter Hand eilt er auf sie zu, während es aus ihm heraussprudelt: »Signora, guten Tag. Dottore, wie geht es Ihnen? Herr Architekt, Sie sehen blendend aus!«

»Danke«, sagt Enrico und sieht sofort zu Arturo, um seinen ironischen Blick abzufangen.

Alessio schaut um sich und fragt: »Und Signorina Novelli?«

»Die wird gleich hier sein«, sagt Luisa. Sie ist angespannt, beschwingt, elegant, offen und aufmerksam – wie immer.

Enrico will sich gerade in einem bösartigen Kommentar über Margherita und ihre ewigen Verspätungen ergehen, da klingelt das Handy in der Innentasche seines Sakkos. Er holt es heraus, drückt es gegen das Ohr, um besser zu hören und entfernt sich einige Meter. Rasch beendet er das Gespräch und kommt zu den anderen zurück, gerade als ein weiteres Taxi neben ihnen haltmacht.

Umständlich quält sich Margherita aus dem Wageninnern, sie trägt eine riesige Sonnenbrille mit Insektenaugengläsern, ein rosa Wollkäppi auf dem gebleichten Haar, eine weiße Lammfelljacke, paillettenbesetzte Stonewashed-Jeans mit ultratiefem Bund und Stiefeletten mit gefährlichen Spitzen. Sie läßt sich vom Taxifahrer ihren Trolley aus [17] lila Kunststoffgewebe herausheben und sucht hektisch nach Geld in ihren Taschen, kann aber keines finden. Hilfesuchend dreht sie sich um und lächelt halb dankbar, halb beiläufig in Arturos Richtung, und prompt kommt er auch schon mit der Brieftasche in der Hand.

Enrico klopft mit zwei Fingern auf seine Armbanduhr und macht ein vorwurfsvolles Gesicht: »Seit einer halben Stunde warten wir schon auf dich!«

Margherita nimmt ihre Sonnenbrille ab, macht ein Gesicht wie ein kleines, mitleidheischendes Mädchen und sagt: »Es war ein Wahnsinnsverkehr.«

»Ach tatsächlich?!« sagt Arturo. »Stell dir vor, bei uns waren die Straßen menschenleer. Wie an ferragosto.«

»Also komm!« sagt sie. Sie umarmt alle drei, dreht sich einmal um sich selbst und meint, in die Hände klatschend: »Kinder, seht bloß: Die Bande ist vollständig! Ist das nicht wunderbar! Endlich haben wir es geschafft!«

Enrico denkt, daß er als Einzelkind von erzlangweiligen Eltern immer davon geträumt hat, einer richtigen Bande anzugehören. Und er denkt, daß er jetzt dankbar sein müßte, solche Freunde zu haben, anstatt genervt und verdrossen auf sie zu reagieren.

»Signorina Novelli, ich grüße Sie«, sagt Alessio Cingaro mit einem echten Televerkäuferlächeln. »Ich habe mir vorgestern nachmittag Ihre Sendung angesehen!«

»Ach«, sagt Margherita und ist mit einem Schlag wieder in der Welt der Erwachsenen.

»Meinen Glückwunsch«, sagt Alessio in einem so übertrieben schmeichlerischen Tonfall, daß es beinahe spöttisch klingt.

[18] Margherita scheint das nicht zu bemerken, jedenfalls läßt es sie ungerührt, und munter plappert sie drauflos: »Ja, ich bin bald verrückt geworden wegen der vielen Zuschaueranrufe. Ich habe rein gar nichts mehr verstehen können. Man hätte sie verklagen sollen, die Produzenten und die Telefongesellschaft.« Sie sieht ihre Freunde an, ohne von ihnen einen Kommentar zu erwarten. Sie weiß, sie gehören nicht zu ihrem Publikum. Niemals würden sie zugeben, ihr Programm gesehen zu haben, es sei denn aus purem Zufall.

Enrico sagt: »Wie wäre es, wenn wir losfahren?« Er will allen ein bißchen Dampf machen, damit sie zumindest die Startphase hinter sich bringen.

»Richtig, Herr Architekt«, sagt Alessio. »So werden wir zeitig vor Ort eintreffen und können morgen früh ausgeruht und gut gelaunt die Häuser besichtigen. Ich helfe Ihnen mit dem Gepäck.«

»Passen wir da alle hinein?« fragt Luisa und deutet auf den Multivan, und ihre Frage klingt so, als hätte sie noch weitergehende Zweifel.

»Aber gewiß doch!« sagt Alessio. »Es gibt sieben bequeme Sitzplätze, auf denen sitzt man wie im Flugzeug. Ich habe den Wagen von meiner Agentur extra für den Zweck reservieren lassen.« Er macht die Kofferraumtür auf und läßt sich die Gepäckstücke reichen. Dann öffnet er die Schiebetür an der Seite und die des Beifahrers, und mit einer feierlichen Geste bittet er die Herrschaften einzusteigen.

Alle klettern hinein, Enrico als letzter. Noch einmal läßt er einen langen Blick über das hektische Treiben der Autos und Fußgänger auf der Straße schweifen.

[19] Vor Luisas Augen zieht die Trostlosigkeit der Mailänder Peripherie vorüber

Vor Luisas Augen zieht die Trostlosigkeit der Mailänder Peripherie vorüber: Alle Gehwege und Wohnblocks verströmen nichts als die Gleichgültigkeit des Staates und die Resignation der Menschen. Unweigerlich läßt Luisa sich davon anstecken, auch wenn sie dort nur durchfährt, ohne haltzumachen. Enrico nennt das ihre »masochistische Überempfindlichkeit«. Sie braucht nur ihren Blick über die grauen Fassaden gleiten zu lassen, um sich die Geräusche und Gerüche hinter den Fenstern, das tranige Licht und die Staubwolken vorzustellen, die alle Farben filtern und sich als grünliche, gelbliche, rötliche Schattierungen auf Sofastoffe, Bettüberwürfe und die Gesichter der Menschen legen. Sie malt sich aus, wie sich das Erwachen inmitten häßlicher Furniermöbel und Tassen mit bitterem Espresso auf tristen Eßtischen anfühlt, auch wie es ist, im Fahrstuhl abwärts eingehüllt zu sein von Billigparfumfahnen; die Manöver mit smogverkrusteten Fahrzeugen oder das Warten auf total überfüllte Stadtbusse; das ermüdende Hin und Her zwischen Wohnung und Arbeitsplatz; verhaßte, hierarchisch geprägte Beziehungen, Tratschereien und Drängen und Unloyalität unter Kollegen; schnelles Essen im Stehen, mit Plastikgabeln aus Schälchentabletts, abgeholt an [20] unpersönlichen Schnellgrills; kränkliche Gesichtsausdrücke hinter fahlen Autoscheiben, neurotische Handbewegungen, Finger in der Nase, Kraftausdrücke; aufgesetztes Lächeln auf schmalen Lippen, Gehetze kurz vor Ladenschluß von einem Geschäft zum andern; Kleidung, vollgesogen mit Kohlenmonoxyd, Schwefel und Blei; dröhnende Fernseher, Talkshows, in denen Zirkusbesitzer und Puffmütter hofhalten im Beisein ihrer Narren und Nutten; miserable Abendessen, die aus Tiefkühlkost und drittklassiger Meinungsmache, Satzfragmenten und Ellbogen auf dem Tisch bestehen, aus gesenkten Blicken, die nur gehoben werden, wenn ein attraktiveres oder fesselnderes Leben zu sehen ist; Nächte in stickiger Luft, Aufwachen beim Lärm quietschender Bettfedern und mechanischen Stöhnens; sonntägliche Gehwege, bevölkert von Leuten mit schlurfendem Schritt, die Rotz und Hundekacke ausweichen und in der Hand Päckchen mit viel zu süßen Törtchen und Gebäck tragen, während ihre Gedanken um Fußballspiele oder enttäuschende, von Pornovideos und Ratgeberrubriken inspirierte sexuelle Aktivitäten kreisen. Das sind die subkulturellen Mißverständnisse und der gnadenlose Druck der freien Marktwirtschaft. Sie kann einfach nichts dafür, immer schon besaß sie diese übertriebene Empfänglichkeit für alles Trostlose auf der ganzen Welt. Der Ort, an dem sie aufgewachsen ist, hat diese Empfindlichkeit nur noch verschärft. Wenn sie als Kind zusammen mit dem Vater besonders triste Viertel ihrer grauen Stadt durchquerten, sagte er stets zu ihr: »Fang jetzt bloß nicht an, dir zu viele Einzelheiten einzuprägen«, mit einer gewissen Aggressivität, die einzig ihrem Schutz galt. Sie fragt sich, ob es die gleiche Art war, [21] die sie damals bei Enrico, als sie sich kennenlernten, unbewußt anzog, und ob die Entscheidungen, die der Mensch in seinem Leben trifft, tatsächlich frei oder vielmehr von in sich geschlossenen Ursachenverkettungen bedingt sind.

Alessio schaltet das Autoradio an, und Gedudel erfüllt das Wageninnere. Margherita dreht sich mit gequälter Miene in seine Richtung. Alessio drosselt sofort die Lautstärke.

»Machen Sie besser ganz aus«, sagt Enrico in diesem bestimmenden Ton ohne das geringste Schwanken, den Luisa, seit sie sich kennen, als so beruhigend beziehungsweise irritierend empfindet, je nach Situation.

»Aber gewiß doch, Herr Architekt«, sagt Alessio und schaltet das Radio aus.

Luisa denkt, sie wäre niemals imstande, eine so knallharte Forderung auszusprechen: Schamgefühl, Höflichkeit und Rücksichtnahme auf den Standpunkt des anderen hielten sie davon ab. Sie überlegt, daß sie schon als Kind eine Neigung hatte, alle Reaktionen zu unterdrücken, selbst wenn sie ganz konkreten Instinkten entsprangen. Immer schon war sie auf der Suche nach einem inneren Halt. Würde zum Beispiel ihr Wagen angefahren werden, gälte ihre Sorge zuallererst dem Unfallverursacher. Sie fragt sich, woher das kommt. Weil sie eine Frau ist? Oder von ihrem eigenartigen Temperament, ihrer Erziehung, dem Charakter ihrer Eltern. Sie fragt sich auch, ob sie im Laufe der Zeit gelernt hat, damit umzugehen oder ob sie das immer mehr zermürbt. Oder ob sie sich ihre Schwäche leisten kann, weil sie ihren Enrico hat, der alles wieder in Ordnung bringt.

Alessio nimmt eine grüne Dokumentenmappe von der [22] Fahrzeugkonsole und reicht sie Enrico mit den Worten: »Herr Architekt, hier sind die Pläne, um die sie mich gebeten hatten.« Sein Parfum ist noch aufdringlicher als das von Margherita. Es ist eine Duftwolke aus der großen weiten Welt des Kaufhauses, die bei jeder Bewegung durchdringender wird.

Enrico nimmt die kleine Mappe mit den Worten: »Das wurde aber auch Zeit.«

»Ich habe die Unterlagen erst heute früh bekommen, Herr Architekt«, sagt Alessio. »Erst kurz bevor ich Sie abholen kam, konnte ich sie ausdrucken. Die von der Agentur in Turigi sind richtige Schlafmützen, Sie wissen ja, in der Provinz ticken die Uhren langsamer.«

»Begleiten die uns morgen zu den Häusern?« fragt Enrico und zieht die Pläne heraus.

»Nein, nein, Herr Architekt«, sagt Alessio. »Ich kümmere mich persönlich um Sie!«

»Dann braucht ihr euch die Provision nicht zu teilen, nicht wahr?« bemerkt Margherita in ihrer honigsüßen Art, die sie bei ihrer Arbeit fürs Fernsehen perfektioniert hat.

»Aber, nein, darum geht’s doch nicht, Signorina», sagt Alessio. »Wir fahren allein dorthin, so geht uns niemand auf die Nerven, und wir können uns alles in Ruhe anschauen. Sie kennen ja den Typ des penetranten, lautstarken Immobilienagenten, Sie wissen, wovon ich rede, nicht wahr, Signorina?«

»Aber gewiß doch«, sagt Margherita und wirft Luisa einen verstohlenen Blick zu.

Luisa denkt, daß Alessio mit seinem kleinen Wissensschatz über Marketing und Kommunikationstechniken ohne [23] weiteres ein Vertreter der neueren Politikergeneration sein könnte, die ausschließlich auf ihren persönlichen und sehr konkreten Profit aus ist, anstatt zukunftsweisenden, globalen Visionen nachzujagen. Man kann ihn sich ohne weiteres vorstellen, wie er über internationale Beziehungen oder Landwirtschaftspolitik oder Informationsstrategien referiert, mit seinem Doppelreiher, dem Knopfdrucklächeln und der etwas dümmlichen, aber perfekt funktionierenden Art, einem in die Augen zu schauen.

Alessio sagt: »Herr Architekt, wenn wir dort sind und Sie sind nicht über alle Maßen begeistert, habe ich meinen Beruf verfehlt! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer!«

Enrico hat sich mit einer Mischung aus Skepsis und technischem Interesse in die Zeichnungen vertieft und sagt: »Also, besonders leserlich sind sie nicht gerade. Hier beispielsweise, was steht da geschrieben, fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig?«

Plötzlich hört man eine aufgeregte Melodie, aber sie kommt nicht aus den Autolautsprechern. Alessio sagt: »Sie verzeihen, Herr Architekt«, und schon hat er den Hörerstöpsel des Handys im Ohr und sagt mit leiser Stimme: »Debby. – Nein, mit den Kunden. – Ja, sicher doch, im Wagen. – Was weiß ich denn? – Die weißen. – Kauf sie eben alle beide. – Jedenfalls, mach, was du willst. – Ich hab’s dir gesagt, Debby. – Okay. Dicken Kuß.«

Margherita dreht sich mit einem ironischen Blick zu den anderen, und auch Arturo auf der Rückbank lächelt. Luisa denkt daran, wie sie im Verlag ständig per Telefon oder E-Mail ein »Sei umarmt« oder »Eine große Umarmung« oder sogar »Kuß« oder, unglaublich, »einen [24] dicken Kuß« von Autoren oder Mitarbeitern erhält, mit denen sie eine so geringe Vertraulichkeit verbindet, daß sie in einem Gespräch unter vier Augen Mühe hätte, sie überhaupt zu duzen. Sie fragt sich, ob es sich nur um einen vorübergehenden, gesellschaftlichen Tick handelt, oder um eine unbewußte Form von Kompensation, die der fortschreitenden Verarmung des Gefühlslebens der Leute entspringt. Sie denkt an die Multiplikation liebevoller, immaterieller Gesten, die über Telefonleitungen dahinschwirren und für kurze Augenblicke bei Millionen immer einsamerer und ichbezogener lebenden Menschen etwas spürbar Körperliches, eine Temperaturveränderung, eine Berührung, einen Hauch zwischen Personen erzeugen.

Sie dreht sich zur Seite, um Enrico zu betrachten, der ganz in seine Pläne vertieft ist: Er wirkt kompetent, ernsthaft und unergründlich.

[25] Arturos Blick schweift über das flache Land, das unauffällig dahingleitet

Arturos Blick schweift über das flache Land, das unauffällig zu beiden Seiten der grauen, gradlinigen Autobahn dahingleitet. Ein Riesenlaster folgt auf den anderen. Die Sitze des Multivan bieten echten Sitzkomfort, und man läuft nicht die geringste Gefahr, mit Schultern oder Knien der anderen in Berührung zu kommen. Doch der räumliche Abstand betont gleichzeitig die geistige Distanz, zumindest kommt es ihm so vor. Die Unterhaltung verläuft brockenweise, immer wieder wird sie unterbrochen und überlagert von Anrufen auf den Handys aller Beteiligten. Arturo erinnert sich an andere, gemeinsame Fahrten, die tausendmal unbequemer und chaotischer waren: Damals hatten sie alle dieselbe Wellenlänge, waren durch Blicke, Worte und Gesten miteinander verbunden, eingebettet in einen Fluß von Bewegungen, der bis zum Horizont reichte, sie lachten viel und holten gemeinsam Luft. Würde er jetzt einen Blick von außen ins Wageninnere werfen, zeigte sich ihm das Resultat einer nicht abgeschlossenen Metamorphose, die jeden einzelnen von ihnen erfaßt hat, aber noch nicht vollständig: Trotz der Distanz, die sie trennt, klammern sie sich noch immer an das, was sie früher so fest zusammengehalten hat.

[26] Luisa sagt: »Ist das Hauptgebäude tatsächlich schon bewohnbar?«

»Gleich morgen können Sie dort einziehen, wenn Sie wollen«, erklärt Alessio.

»Hm, da hab ich so meine Zweifel«, sagt Enrico. Sein Handy klingelt, er holt es aus der Jackentasche und beugt sich leicht nach vorne: »Ja? Pronto? Pronto? Hä?« Er schaut kurz aufs Display, schüttelt den Kopf und steckt es wieder weg.

Luisa wirft ihm einen raschen Blick zu: Als sich ihre Blicke kreuzen, knistert es kaum merklich in der Luft.

»Die Grundstruktur ist unverwüstlich wie ein Felsen«, sagt Alessio. »Sie steht seit Jahrhunderten. Schon im 13. Jahrhundert war das Gebäude von Mönchen bewohnt. Die Mauern sind anderthalb Meter dick. Im Sommer ist es schön kühl und im Winter angenehm warm, besser als jede Klimaanlage.«

Arturo setzt an, um etwas zu sagen, doch jetzt klingelt sein Handy. Das bloße Lesen des Namens des Anrufers auf dem Display versetzt ihm einen leichten Stich in die Lebergegend, läßt zig flirrende Bilder entstehen, die gleich wieder erstickt werden. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist fordernd und vorwurfsvoll. Sie dringt mit einem rauhen Krächzen in sein Ohr und erfüllt ihn anfangs mit Abscheu, dann mit Wut. Er ist nahe daran, aufzulegen, statt dessen brüllt er: »Giulia, das ist dein Wochenende! Wenn du dich bis zur letzten Minute nicht meldest, gehe ich davon aus, daß du die Kinder nimmst!«

Die anderen im Wagen tun so, als bekämen sie nichts mit, reden einfach weiter oder schauen sich die Landschaft [27] an. Doch sie alle kennen Giulia, seit Arturo begonnen hat, sie zu umwerben und mit ihr auszugehen; sie haben mitbekommen, wie sie sich zum ersten Mal küßten, wie sie tanzten, Partys und Abendessen veranstalteten, zwei Häuser und zwei Kinder produzierten und immer häufiger und heftiger zankten. Sie haben allen Grund, teilnahmsvolle Zuhörer zu sein.

Arturo erhebt wieder die Stimme, was eigentlich nicht oft geschieht: »Nein, ich kann wirklich nicht! Ich bin nicht einmal mehr in Mailand! Das hättest du mir früher sagen müssen, Giulia! Ich habe die Kinder letztes Wochenende gehabt, als ich an der Reihe war!«

Die anderen sind jetzt sichtlich betreten; Luisa zwingt sich, eine weitere Frage zu den Häusern zu stellen, und Alessio gibt ein paar seiner beschwichtigenden Profiantworten, die er auf Lager hat.

Arturo jedoch flippt jetzt wegen der Scheinargumente seiner Exgattin total aus und brüllt: »Du mußt endlich mit deinen verdammten Erpressungsversuchen aufhören, Giulia! Das tust du nur, um mir das Leben zur Hölle zu machen und mich ständig auf die Folter zu spannen! Das Spielchen mach ich nicht mehr länger mit! Ich habe schon letzten Monat mit deinem Anwalt gesprochen! Ich habe alles getan, was ihr wolltet, und sogar noch mehr, das weißt du auch! Du hast in jedem Punkt recht bekommen. Jetzt aber reicht es! Basta! Laß mich endlich in Ruhe! Baaastaaa!« Er drückt auf die rote Taste, dann schaltet er das Handy ganz ab. Mit schmerzenden Stimmbändern sieht er sich um, sein Atem geht schnell, sein Herz ist voller Gift.

[28] Er sagt: »Entschuldigt, Leute.« Es wäre ihm jetzt keineswegs unrecht, wenn die anderen in Gelächter ausbrächen oder ironische Kommentare und stichelnde Bemerkungen machten, verschwörerisch und mit liebevoller Boshaftigkeit die Situation ausschlachteten. Statt dessen herrscht eine betretene Unruhe, Sitzpositionen werden verändert, flüchtige Blicke ausgetauscht, um ihm zu verstehen zu geben, daß sie eigentlich nichts gehört haben oder zumindest daß sie sich jeglichen Kommentars enthalten wollen. Tatsache ist, daß sie ihn und Giulia über Jahre als eine geschlossene Einheit gesehen haben: eine Person mit zwei Namen und zwei Gesichtern und zwei Geschlechtern und zwei Rollen, die aber ein und dasselbe Leben lebt und die gleichen Ziele verfolgt. Ihm ist bewußt, daß er sie gezwungen hat, ihre Vorstellungswelten neu zu besetzen. Er fühlt sich schuldig und verwirrt.

Luisas Mobiltelefon klingelt; hektisch wühlt sie in ihrer Handtasche, findet es sogar und drückt es ans Ohr: »Nein, mir kam es vor wie ein Soufflé, schlau aufgeblasen.«

Arturo richtet seinen Blick auf Margherita, die sich in einem doppelten Versuch der Nichteinmischung an Enrico wendet und ihn fragt: »Bist du sicher, daß dort genügend Platz für uns ist? Können wir zusammensein, ohne uns die ganze Zeit auf der Pelle zu hocken?«

»Auf dem Papier sieht es so aus«, sagt Enrico.

»Nicht nur auf dem Papier, Herr Architekt!« sagt Alessio und zu Margherita gewandt: »Signorina Novelli, Sie werden vier unabhängige Wohneinheiten von je zweihundertfünfzig Quadratmeter bekommen, so wie es Ihr Wunsch war. Eine schöner als die andere. Sie werden sich [29] wegen der Aufteilung noch streiten, Sie werden schon sehen!«

»Es tut mir leid, aber so denke ich nun einmal«, sagt Luisa in ihr Mobiltelefon. »Es ist einfach so. Er nervt mich zu Tode.«

»Ich will die Turmwohnung, das habe ich doch schon gesagt!« ruft Margherita. Ihr Ton eines kleinen, verzogenen Mädchens ist zwar nicht neu, klingt aber in letzter Zeit eine Spur übertrieben.

»Nein, den Turm will ich«, widerspricht Arturo, um sie zu reizen.

Und Enrico sagt: »Wartet ab, bis ihr ihn gesehen habt. Der Turm ist der problematischste Teil der ganzen Anlage. Pro Stockwerk ergibt sich höchstens ein Zimmer, der Rest ist Treppen.«

»Nicht alles, Herr Architekt.« Alessio will sich offenbar in technischen Erläuterungen ergehen über das, was im Immobilienwesen als problematisch bezeichnet wird. Dann aber lenkt er Margheritas Aufmerksamkeit auf den Bildschirm des Satellitennavigators und meint: »Haben Sie gesehen, Signorina Novelli? Das ist die neue 3D-Version.«

»Es sieht aus wie ein Videospiel«, sagt Margherita beiläufig und hört Luisa mit halbem Ohr zu, die weiterhin mit dem Verleger über ein Buch spricht, das ihr nicht gefällt und das trotzdem veröffentlicht werden soll.

»Das ist mir schon klar«, sagt Luisa in ihr Handy, »aber die Verkaufszahlen dürfen doch nicht das einzige Kriterium sein.«

»Ist die Gegend dort auch wirklich schön?« fragt Arturo. »Ich war schon öfters in Umbrien, aber nie in der [30] Gegend von Turigi. Ich kenne Perugia sehr gut, auch Orvieto und Gubbio und Assisi. Ich war ja glücklich und zufrieden mit meinem Haus in Greve in Chianti. Das hat sich nun aber meine werte Exfrau unter den Nagel gerissen.« Er denkt an die Jahre, die er damit zugebracht hat, die etwas zu nüchterne Restaurierung zu verbessern, die seine Eltern seinerzeit hatten machen lassen; wie er mit viel Geduld und Ausdauer nach Materialien suchte, Termine mit den Handwerkern vor Ort wahrnahm, Lösungen erst beim dritten oder vierten Anlauf fand. Das Haus verloren zu haben bedeutet, nie mehr wieder die Körbe aus Weidengeflecht unter der Pergola, die Weinfässer in der Cantina, die hellen Natursteine, die längs des Pfads durch den Garten angeordnet sind, zu Gesicht zu bekommen. Vermutlich wird Giulia am Ende alles mit widerlichem Verputz zukleistern lassen oder es an irgendeinen Blödian verkaufen, der sich nicht im Traum vorstellen kann, wieviel Mühe und Hingabe er dort investiert hat, als er noch – welch ein Mißverständnis! – dem einlullenden Bann des Familienlebens erlegen war.

»Schön?« sagt Alessio. »Dottore, es ist eine der bezauberndsten Gegenden ganz Italiens. Sie werden keinen zweiten so unberührten Fleck finden, es sei denn Sie sind bereit, unter die Wölfe irgendwo in die Abruzzen zu gehen.«

»Was genau verstehen Sie unter ›unberührt‹?« fragt Margherita mißtrauisch. »Ich hoffe, Sie meinen damit nicht wild!«

»Keineswegs, Signorina!« sagt Alessio. »Nicht im geringsten. Ich meine damit naturbelassen, genau das, wonach Sie suchen. Sie haben die Fotos gesehen, oder nicht?«

[31] »Nun, Bilder sind eine Sache, die Wirklichkeit eine andere«, sagt Margherita.

»Das weißt du am besten von allen«, sagt Arturo.

»Was?« sagt Margherita.

»Ach, das war nur ein Scherz«, sagt Arturo. »Auf alle Fälle ist die Landschaft dort wilder als in der Toskana, das steht fest. Es gibt dort weniger Landwirtschaft, auch weniger Weinberge, das Land ist dünner besiedelt, dafür gibt es mehr Wälder. Ich würde behaupten, Umbrien ist Mittelalter im Vergleich zur Toskana, die die Renaissance verkörpert.«

»Und die Preise sind nicht einmal halb so hoch wie im Chianti-Gebiet, wußten Sie das, Herr Vannucci? Aber warten Sie ab, bis die Deutschen oder die Engländer dahinterkommen; dann werden sie in die Höhe schießen, und wie! So wie die Sache heute steht, ist es die beste Immobilieninvestition, die Sie machen können.«

 »Die Häuser sollen keine Investitionsobjekte sein«, sagt Margherita. »Wir wollen sie nutzen. Wir wollen uns immer wieder dorthin zurückziehen, um uns zu erholen und es uns gutgehen zu lassen.«

»Ja«, meint Arturo. »Auch wenn uns der Gedanke, daß wir unser Geld nicht in den Sand setzen, sicher nicht unangenehm ist.« Die anderen haben ihm diese Rolle gleich zu Anbeginn ihrer Freundschaft verpaßt: Er ist der Typ, der sich nicht von Worten verführen läßt, der sich nicht nach der Mode oder dem Zeitgeist richtet, den praktische Verpflichtungen nicht abschrecken. Unbeirrt hat er diese Rolle all die Jahre erfüllt, auch wenn die anderen ihn langweilig oder doof fanden oder ihn lieber in einer anderen [32] Position gesehen hätten: Er wußte nur allzu gut, wie wichtig er für das Gleichgewicht der Gruppe war. Er hat sich immer schon als der Schlagzeuger der Band gefühlt; zu keiner Zeit hat es ihn nach dem charismatischen Ansehen des Gitarristen oder der herausragenden Position des Leadsängers verlangt. Ihm genügt zu wissen, daß ohne seinen Grundrhythmus das Ganze jeden Zusammenhalt verlieren würde.

Margherita hat sich ebenfalls aus der Konversation mit den anderen ausgeklinkt: Sie preßt ihr Handy ans Ohr und sagt: »Nein, ich verzeihe dir nicht! Ich bin nun diejenige, die als Schwerhörige dasteht, die nicht einmal die Namen der Anrufer versteht!«

Arturo würde sich gern mit jemandem über Margheritas Ton austauschen, aber er weiß nicht mit wem, denn Enrico blickt weiterhin stur aus dem Wagenfenster, und Luisa sagt in ihr Telefon: »Aber eine Lektorin muß auch Entscheidungen treffen dürfen, zumindest von Zeit zu Zeit! Ansonsten können wir uns gleich damit begnügen, den Schwachsinn zu veröffentlichen, den die Fernsehkomiker von sich geben, und weiter nichts!«

»Genau, Signor Vannucci«, sagt Alessio, der ungestört auf seiner Schiene weitermacht. »Ich glaube nicht, daß es Ihnen leid täte, wenn man Ihnen in ein paar Jahren das Dreifache von dem bietet, was Sie jetzt bezahlen, oder?«

»Das Dreifache! Das glauben Sie ja selber nicht«, sagt Arturo.

»Dottore, tragen Sie das heutige Datum in Ihren Kalender ein, und genau in zwei Jahren rufen Sie mich wieder an, einverstanden?«

[33] Enrico taucht aus seinen Gedankengängen auf und sagt: »Man muß erst noch sehen, wie hoch die Unkosten für die Umbauarbeiten sind. Das ist eine aufwendige Angelegenheit und kein Klacks.«

»Aber nein, Herr Architekt«, sagt Alessio. »Es ist bereits alles dort, es ist einfach prächtig. Vertrauen Sie mir. Warten Sie’s ab, bis Sie es mit eigenen Augen gesehen haben.«

Enrico lächelt skeptisch; dann klingelt auch sein Handy. Mißtrauisch schaut er erst auf sein Display und sagt dann: »Aber sicher ist die Eingangshalle ockerfarben. – Ach, das geht mich doch nichts an, das ist Sache der Baufirma! – Red du doch mit denen, ich will nichts mit ihnen zu tun haben. Sag ihnen, daß du mich nicht erreichen konntest, daß ich mit dem Flugzeug unterwegs bin.«

»Das ist nun mal meine Meinung, und Punkt«, verkündet Luisa ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. »Und so lange ich für diese Reihe verantwortlich bin, will ich doch schwer hoffen, daß meine Meinung noch irgend etwas zählt, also bitte!!«

»Dann red doch mit Di Sorio!« schreit Margherita in ihr Handy. »Sprich doch mit der Telecom, knöpf dir Cuccioni vor, wen auch immer! Wenn ihr das Problem nicht bis Mittwochabend gelöst habt, gehe ich nicht auf Sendung!«

Fast gleichzeitig beenden alle drei ihre Telefonate: Sie verharren im Nachhall ihrer Stimmen, der sich im abgeschwächten Dröhnen des Turbodieselmotors verliert, reglos, ohne ihre Mienen zu verändern.

Arturo beugt sich mit einem schiefen Lächeln nach vorn und meint: »Ihr kennt doch den Begriff ›mit leichtem Gepäck reisen‹?«

[34] Enrico dreht sich zu ihm und sieht ihn an, und obwohl er verärgert ist und an anderes denkt, bricht er in Lachen aus; auch Luisa und Margherita lachen. Alessio lacht ebenfalls, und sei es nur, um nicht aus dem Rahmen zu fallen.

Arturo denkt, daß es vielleicht möglich ist, eine Freundschaft auf immer herzlich und lebendig aufrechtzuerhalten, vorausgesetzt, man läßt sich nicht in die Isolation treiben und ist schutzlos der Zeit und ihren zersetzenden Mechanismen ausgeliefert. Er lacht noch lauter als die anderen, und das Wohlgefühl, mit den anderen etwas zu teilen, erwärmt sein Herz.

[35] Margherita denkt, daß sie die anderen doch besser hätte bitten sollen, die Fahrt zu verschieben

Margherita denkt, daß sie die anderen doch besser hätte bitten sollen, die Fahrt zu verschieben. Sie wäre nämlich gern in der Stadt geblieben, bis sich die Geschichte mit den Telefonverbindungen und, viel schwerwiegender noch, die mit den Sponsoren geklärt hätte. Erfahrungsgemäß weiß sie, daß die Absichtserklärungen und mündlichen Versicherungen, die Freundschaftsbekundungen und die zur Schau gestellte Selbstsicherheit der Männer aus dem Fernsehbusiness keinen müden Heller wert sind. Zigmal hat sie das am eigenen Leib zu spüren bekommen, wenn einer von ihnen nach streng geheimen Telefonaten es sich schließlich doch anders überlegte, wenn aus heiterem Himmel Erinnerungslücken auftraten, wenn die Leute ein falsches Lächeln aufsetzten und ihr kumpelhaft auf die Schulter klopften. Sie erinnert sich an Einladungen zum Abendessen, die ein Mittelding zwischen Beischlaferpressung und Wiedergutmachungsangebot waren, an das Hervorkehren von Firmenloyalität, hinter der in Wirklichkeit die übelsten und rein privaten Interessen steckten. Ihr gehen einige ganz persönliche Sprichwörter durch den Kopf, die das Ambiente äußerst treffend beschreiben: »Der Erfolg hat viele Väter, der Mißerfolg aber ist ein Waisenkind« oder »Ein guter [36] Wachhund kennt die Absichten seines Herrn im voraus« oder »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«. Doch in diesem Augenblick zieht ganz deutlich das Leitmotiv ihrer Tante hinter ihrer Stirn vorüber: »Um alle wichtigen Dinge muß man sich selber kümmern.« Das Vertrauen in ihren Agenten verringert sich, je größer der räumliche Abstand wird, der sie von ihm trennt; sie weiß sehr wohl, daß man ihn, will man schlimme Überraschungen vermeiden, unbedingt an der kurzen Leine halten muß. Sie kontrolliert den Akkuladestand ihres Mobiltelefons: Sie spürt jetzt schon, wie ihr rechtes Ohr von all den Telefonaten glühen wird, wenn sie eine zufriedenstellende Lösung finden will.

Ein weiterer Grund für ihr tiefes Unbehagen ist das Desaster, das ihr Friseur vorgestern bei ihr angerichtet hat, als sie ihn ganz simpel bat, die Spitzen zu schneiden und die Strähnchen aufzufrischen. Sie wußte sehr wohl, daß man auch ihm gründlich auf die Finger schauen muß; doch eben weil sie den Kopf so voll hatte, schenkte sie ihm weniger Aufmerksamkeit und blätterte ein paar doofe Illustrierte durch. Das Ergebnis war ein gelbweißer Kopf, der ihr vor dem Spiegel die Wuttränen in die Augen trieb, ganz zum Ergötzen der anderen Kundinnen. Das schlimmste war, daß sie eine Stunde später heiter und vergnügt vor Millionen Zuschauern auf Sendung gehen mußte und aussah, als hätte sie sich auf eigenen Wunsch zum Halbalbino machen lassen. Sie zieht ihr Käppi so tief wie möglich ins Gesicht; sie kann’s kaum erwarten, daß es Montagmorgen ist und sie sich wieder ein authentisches Blond machen lassen kann.

Man muß aber auch sagen, daß die anderen es ihr nicht gerade leichtmachen, ihre Sorgen zu vergessen. Im Innern [37] des Multivan herrscht ein Durcheinander von vagen Gesten und Blicken, von nicht ausgesprochenen Sätzen und ununterbrochenem Handygeklingel. Sie denkt, daß sie alle mittlerweile doch eine Spur zu kompliziert geworden sind, um noch immer auf diese Art zu reisen. Ihre Sorgen und Ängste, die sie ständig verdrängen müssen, machen es ihnen unmöglich, sich auf simple und fröhliche Weise miteinander auszutauschen, wie sie es noch vor Jahren konnten. Sie hat Lust auf eine Zigarette, doch sie weiß, was für einen Aufstand die anderen machen würden; obendrein hat sie Hunger, und ihr Kopf tut weh, also wenn sie nicht bald wenigstens einen Kaffee kriegt, bahnt sich bei ihr eine Nervenkrise an.

Arturo sagt: »Ich suche ganz einfach nach einem Platz, wo ich mit meinen Kindern zusammensein kann. Seit ich mich von meiner Frau getrennt habe, vergeude ich vor jedem Urlaub mehrere Tage damit, Reiseführer und Landkarten zu studieren und mit Reisebüros zu telefonieren, um dann an immer fernere Orte zu fahren, und am Ende ist es doch meistens ein Reinfall.«

»Ich kann dir versichern, auch ohne Kinder ist das so«, sagt Margherita und versucht vergeblich, all ihre anderen Gedanken in den Hintergrund zu drängen. »Mittlerweile kannst du auch noch so ferne Reiseziele ansteuern, du findest überall haargenau dieselben Sachen.«

»Nicht haargenau, also bitte!« sagt Luisa, wie immer bemüht, eine wohlausgewogene Mischung subjektiver und objektiver Daten zu schaffen – typisch für das Sternzeichen Waage.

»Haargenau dieselben«, bekräftigt Margherita ihre [38] Aussage. Ihre Arbeit fürs Fernsehen hat ihr insbesondere zu einer Erkenntnis verholfen: Es ist sinnlos, sich in Feinabwägungen zu ergehen, die Maxime lautet: kein Blatt vor den Mund nehmen, seine Meinung unmißverständlich und mit Nachdruck auf den Tisch bringen, gleichgültig ob sie banal oder gar falsch ist. Nur so findest du Konsens oder Mißbilligung, und nur so kannst du wissen, ob die anderen für oder gegen dich sind, ohne dich in subtilen, wirkungslosen Nuancierungen zu verzetteln. Sie sagt: »Es sind dieselben Hotelzimmer, dasselbe CNN und MTV im Fernsehen, es gibt denselben Food, dieselben Drinks, man sieht dieselbe Werbung, hört dieselben Songs, benutzt dieselben Sonnencremes. Das einzige, worin sich die einzelnen Orte unterscheiden, ist die Szenerie und die Luftfeuchtigkeit, und dafür nimmst du zwölf Stunden Flug in Kauf und möglicherweise auch noch Bauchschmerzen.«

Arturo lacht und sagt: »Mein Gott, was für eine Horrorvision!«

Margherita kann daran gar nichts lustig finden. Für sie ist die Erinnerung an ihren letzten Urlaub noch viel zu frisch: Monatelang hatte sie sich darauf gefreut, und innerhalb weniger Stunden war die Freude aufgrund von Magen-Darm-Problemen im Badeort auf der letzten kleinen Insel Thailands, der sich zu Recht das Prädikat ›exklusiv‹ verdiente, endgültig dahin: grelles Sonnenlicht, das durchs ungeschützte Fenster fällt, Spinnen an den Wänden, feuchte Bettücher, Arzneischachteln, Reiseprospekte, Sonnenbrillen, elektronischer Krimskrams, Badeanzüge, die zwecklos im Bungalow herumliegen. Voller Bitterkeit sagt sie: »Nur Schwachsinnige fahren heute noch in ferne Länder.«

[39] »Hm, das kommt ganz darauf an«, sagt Arturo. »In meinen Augen ist es genauso schwachsinnig, nicht zu verreisen.«

»Wir sprechen hier von gut drei Stunden Fahrt, meine Herrschaften«, sagt Alessio, voller Entschlossenheit, negative Gedankengänge gleich im Keim zu ersticken, bevor sie sich ausbreiten und ihnen die Idee, einen Weiler auf dem Land zu kaufen, madig machen könnten. »Heutzutage kann man so etwas nicht einmal mehr eine Reise nennen.«

»Wie denn sonst?« fragt Arturo.

»Einen Ortswechsel«, sagt Alessio. »Sie, Signor Vannucci, wissen das doch besser als ich.«

Luisa sieht hinaus und sagt: »Ich könnte auch fest auf dem Land leben; ich könnte dort hinziehen, wenn ich mich beispielsweise entschließen würde, den Verlag aufzugeben.«

»Warum um Himmels willen solltest du das tun?« fragt Enrico alarmiert.

»Weil man an einem bestimmten Punkt einfach alles satt hat«, sagt Luisa mit undurchdringlicher Miene.

»Fang jetzt bloß nicht an, das Sensibelchen zu spielen«, sagt Enrico. »Nur wegen dieses Buchs von Castruccetto, das dir nicht gefällt.«

Und Luisa: »Es ist nicht nur wegen des Buchs von Castruccetto.« Wieder richtet sie ihren Blick nach draußen, und ihr Profil zeigt eine gewisse Härte.

Margherita überlegt, mit welchem Satz sie das Gespräch auf ihr Tagesthema zurückbringen könnte: Das geschieht aus einer Art erlerntem Instinkt heraus, einem Verantwortungsgefühl, das sie von ihrer Arbeit mitbringt. Doch da setzt schon wieder der aufgeregte Klingelmarsch ihres [40] Handys ein. Seufzend zieht sie es aus der Handtasche und sagt: »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst nicht mehr anrufen.«

In Arturos Augen blitzt es ironisch, als er sich Enrico zuwendet in der Meinung, ihm als altem Freund gewisse Reaktionen schuldig zu sein. Zum Glück hängt Enrico seinen eigenen Gedanken nach und nimmt ihn nicht einmal wahr.

Margherita möchte das Gespräch so schnell wie möglich beenden, Schluß, aus, fertig. Sie sagt: »Das geht dich gar nichts an, Ugo. Danke, jetzt habe ich zu tun, basta. Ciao, ciao, ciao!« Und damit drückt sie die Schlußtaste und blickt in die Runde, doch die anderen zeigen nicht die mindeste Reaktion. Dennoch ist sie sich hundertprozentig sicher, daß sie allesamt Ugos Bild vor Augen haben, wie er auf ihrer Geburtstagsparty vor einem halben Jahr ausgesehen hat: mit seiner künstlichen Bräunung, wie auch Alessio sie hat, dem weißen, im Möwenflügelstil offenstehenden Hemdkragen, seinem grundlosen Auflachen, mit dem er immer wieder die Gesprächspausen ausfüllte. In Wahrheit ist er ein Mann, der durchaus auch seine guten Eigenschaften hat, beispielsweise im Bett oder was seine Beziehung zum Geld angeht oder sein verzweifeltes Ansinnen, sich kulturell weiterzubilden. Aber nichts an ihm, überhaupt nichts könnte jemals das grauenvolle Gefühl öffentlicher Bloßstellung wiedergutmachen, das sie überkam, als sie sah, wie er sich über eine drittklassige Soubrette auf einem Motorboot vor Capri hermachen wollte. Sie denkt, daß auch die anderen diese Fotos gesehen oder zumindest davon gehört haben, obwohl sie viel zu snobistisch sind, das jemals zuzugeben.

[41] Erneut hat die Klingelmusik ihres Handys eingesetzt, sie läßt es klingeln. Doch dann sieht sie auf dem Display, daß es nicht noch mal Ugo ist. Hastig drückt sie auf die Antworttaste und hört die aufgeregte Stimme ihres Agenten, der sich in endlosen Wortkaskaden ergeht, um sich zu rechtfertigen. Ihre Geduld ist bald erschöpft: Sie schneidet ihm das Wort ab, um zum Kern des Problems vorzudringen, und sagt: »Und wer außer Menguzzi und Tornante war noch da? Politanò? Aber war Politanò bis heute früh nicht auf unserer Seite?«

Neben ihr sitzt Alessio und macht weiter mit seinen TV-Verkäuferslogans: »Auf alle Fälle ist das eine Traumlösung, für jegliche Art von Nutzung. Dort auf dem Land werden Sie nicht einmal im August merken, was für ein Chaos im Rest Italiens herrscht. Und wenn Sie sich auf Dauer niederlassen wollen, ist es heute doch so, daß man via Handy und Internet viele Arbeiten auf dem Land wesentlich besser zustande bringt als in der Stadt. Man schaltet sich in eine Videokonferenz ein, und es ist, wie wenn man einen Kunden in New York besucht.«

»Ja, das ist ein wenig so wie die Geschichte mit den Jahreszeiten, die es bald nicht mehr gibt«, meint Enrico trokken. Dann antwortet auch er an seinem Mobiltelefon: »Nein, Akiro. Zwei Komma fünfundvierzig für das ganze Stockwerk, das ist doch klar. – Selbstverständlich sind die Korridore bereits mitberechnet.«

Margherita kommt nicht umhin, ihnen zuzuhören, obwohl sie sich krampfhaft bemüht, sich auf ihr eigenes Telefongespräch zu konzentrieren; ihre Stimme wird lauter: »Und wer soll mir das garantieren? Wenn Sie mir das [42] schwarz auf weiß geben, dann glaube ich es, andernfalls ist es für mich nur heiße Luft! Ich weiß, was das Wort von Tornante wert ist! Ich hab ihn doch gesehen, letztes Jahr, dieses Weichei!«

»Stufen von zwölf Zentimeter, die gibt es vielleicht bei euch in Japan! Ich aber will sie zwanzig hoch haben!« schreit Enrico, als ginge es darum, wer lauter schreit. »Ja, Akiro, zwanzig Zentimeter. – Was hat das mit dem Geländer zu tun? Die Kinder müssen eben die Beinchen heben, das tut ihnen gut!«

Luisa deutet nach draußen: Auf dem Schild steht, daß in fünfzehnhundert Meter eine Autobahnraststätte kommt. Sie sagt: »Könnten wir vielleicht anhalten und ein Sandwich essen?«

»Aber gewiß doch, Signora«, erwidert Alessio und wirft einen prüfenden Blick auf die anderen, ob auch sie einverstanden sind.

Arturo nickt; auch Margherita gibt hastig nickend ihr Einverständnis, ohne davon abzulassen, im schärfsten, allerentschiedensten Ton in ihr Handy zu sprechen.

Alessio setzt den Blinker, wechselt auf die rechte Fahrspur und nimmt den Fuß vom Gaspedal.

Margherita denkt, daß sie in der Tat nicht hätte abreisen sollen mit all den ungelösten Problemen im Hintergrund. Wieder erhebt sie die Stimme, während der Multivan mit seiner Ladung aufeinandergeschichteter Sorgen und Kümmernisse in den Parkingfreiraum hineingleitet.

[43] Alessio ißt eine Focaccia Riviera, aus der die Mayonnaise tropft

Alessio ißt eine Focaccia Riviera, aus der die Mayonnaise tropft. Er lehnt gegen das Auto und hat das Handy gegen das Ohr gepreßt. Für gewöhnlich achtet er bei seiner Ernährung auf ein ausgewogenes Verhältnis von Eiweiß, Fett und Kohlehydraten. Autobahnraststätten jedoch lösen in ihm meistens eine ungezügelte Freßlust aus, denn sie erscheinen ihm wie Weltraumstationen außerhalb aller irdischen Gesetzmäßigkeiten. Um sich seinen Mantel nicht zu bekleckern, beugt er sich bei jedem Biß mit dem Oberkörper leicht nach vorn. Trotzdem landen einige gelbliche Tropfen auf seinen Mokassins. Er läßt die Kundin am andern Ende der Leitung reden, macht alle paar Sekunden mit vollem Mund »aha!«, um ihr zu versichern, daß er noch immer, wenn auch widerwillig, zuhört. Sie ist eine von jenen Kundinnen mit übertrieben hoher Erwartungshaltung ohne die geringste Flexibilität, die ständig versucht, die Verkaufscourtage herunterzuhandeln. Als er endlich das Gespräch beendet hat, zischt er: »Du alte, mehrfachgeliftete Schlampe!« und bückt sich, um mit einer Papierserviette die Mayonnaise von seinen Schuhen zu wischen.

Rund dreißig Meter von ihm entfernt treten in diesem Moment die Guardi und die Novelli aus der großen [44] Glastür der Raststätte und steigen die Stufen der Rampe hinunter. Die Guardi geht voraus, den Blick gesenkt, in der einen Hand eine kleine Flasche Mineralwasser, in der anderen das Handy. Sie sieht nicht übel aus, aber sie ge-hört zu den Frauen, die immer nervös und kompliziert sind und ihm nur angst machen, so wie seine Englischlehrerin in der kaufmännischen Berufsschule. Nicht einmal als Kundin vermittelt sie ihm ein gutes Gefühl, denn von recht naiven Begeisterungsausbrüchen schwenkt sie schlagartig über in düstere Gemütslagen, die schwer vorauszusehen sind. Es ist offensichtlich, daß sie sich emotional schon sehr auf dieses Projekt Haus-auf-dem-Land eingelassen hat, sie könnte aber jetzt, da es um die konkrete Umsetzung dieses Projekts geht, auch einen Rückzieher machen.

Die Novelli geht, das Handy ans Ohr gepreßt, hinter ihr und fuchtelt beim Reden herum. Sie ist recht attraktiv, natürlich nicht so wie im Fernsehen, im wahren Leben ist sie kleiner, hat flachere Titten, tiefe Ringe unter den Augen, und ihre Haare sind dermaßen gebleicht, daß sie fast weiß aussehen. Auch von ihrem Charakter hat er sich bereits bei den Gelegenheiten, wenn sie mit den anderen zu ihm in die Agentur kam, ein Bild machen können. Sie ist eine, die zehnmal pro Woche ihre Meinung ändert und überzeugt ist, die anderen müßten ihr hinterherrennen, nur weil sie berühmt ist. Wenn es ihr in den Kram paßt, macht sie einen auf zerbrechlich oder auf Schmusekatze, oder sie gibt sich ganz als Femme fatale. Doch vorausgesetzt, er behält die Nerven, ist sie eine Art von Kundin, die große Genugtuung verschaffen kann, denn sie neigt zu [45] impulsiven Handlungen und versteht es, ihren Willen durchzusetzen. Alles hängt davon ab, bei ihr zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Impuls auszulösen und sie glauben zu machen, sämtliche Entscheidungen seien auf ihrem Mist gewachsen.

Jetzt hört sie auf zu telefonieren, zündet sich eine Zigarette an und macht einige tiefe Züge. Sie sagt etwas zur Guardi, die den Kopf schüttelt. Wahrscheinlich reden sie über Arbeit oder persönliche Dinge, aber das muß nicht sein. Alessio beobachtet sie noch einige Minuten, dann gesellt er sich zu ihnen. Kurz vor einem wichtigen Kaufabschluß ist es nämlich ratsam, die Kunden so wenig wie möglich sich selbst zu überlassen.

Er weiß nur allzugut, daß der winzigste Zweifel sich wie ein superschneller Holzwurm durch das solideste Überzeugungsfundament hindurchfrißt, gerade dann, wenn der Kunde sich anschickt, die sichere Phase des ›Wir-überlegen-es-uns-noch‹ hinter sich zu lassen, um den entscheidenden Schritt zu tun und seine Unterschrift unter den Kaufvertrag zu setzen. Für dieses Wissen hat er viel Lehrgeld bezahlen müssen! Je näher der Kaufabschluß rückt, um so mehr muß der zukünftige Käufer betreut und mit Daten gefüttert und schrittweise überzeugt werden. Denn wie bei jedem Glücksspiel weiß man auch beim Immobilienverkauf bis zum letzten Schachzug nicht, wer das Spiel gewonnen oder verloren hat.

Alessio nähert sich also den zwei Frauen, setzt ein Allerweltsgesicht auf und blickt einem schwarzen Mercedes SL nach, einem Modell, für das er immer schon ein Faible hatte, dessen neuer Version aber vielleicht am Heck etwas [46] abgeht, vielleicht aber auch nicht. Die Novelli benimmt sich jetzt der Guardi gegenüber, als wäre sie ihre besonnene und wohlmeinende Vertraute. Dieselbe Haltung zeigt sie auch in ihrer Sendung, wenn sie nicht gerade dabei ist, aus jemandem Hackfleisch zu machen.

»Logisch weiß ich das«, sagt sie, und ihre Gesichtszüge drücken vor allem eines aus, nämlich wie präsent und engagiert sie ist. Unmöglich aber kann man die Gesten und Mienen, die sie jetzt gegenüber ihrer Freundin an den Tag legt, als von Herzen kommend bezeichnen, denn unzählige Male hat sie die schon in ihrer Show eingesetzt. Alessio denkt, daß seine Arbeit und die der Novelli im Grunde einiges gemein haben, einschließlich des Mißtrauens, das sie mit ihren Bemühungen, sich aufmerksam und teilnahmsvoll zu zeigen, hervorrufen können.

Jedenfalls wirkt die Guardi mit ihrer Brille à la intellektuelles Tantchen viel zu nervös, um wirklich zuhören zu können. Sie dreht sich um und hat ihren Ehemann und Vannucci im Blick, die gerade durch die Glastür der Raststätte kommen. Der Architekt hat sein Handy in der Hand, steckt es aber sofort wieder weg, als er seine Frau sieht, und lächelt ihr beim Näherkommen zu.

In der Zwischenzeit hat sich ein Typ mit Glatze und schmalem Oberlippenbart der Novelli genähert. Sein Gebaren ist nicht eindeutig zu definieren, es liegt irgendwo zwischen Bewunderung und Provokation. »Entschuldigung, sind Sie Margherita Novelli?« fragt er.

»Ja«, sagt die Novelli zurückhaltend. Sie wirft die halbgerauchte Zigarette auf den Boden und zerquetscht sie unter ihren krallenspitzen Stiefeletten.

[47] Wie ein Bodyguard tritt Alessio mit eiserner Miene hinzu, denn auch mit solchen Gesten gewinnt man das Vertrauen der Kunden.

Der Glatzentyp nimmt ihn nicht einmal wahr, so sehr ist er von der Novelli hingerissen, und sagt: »Ich wußte es doch. Kompliment für Ihre Sendung!«

»Danke«, sagt die Novelli ganz steif, als erwarte sie sich jeden Augenblick einen Schwall von Unflätigkeiten oder Tritte gegen das Schienbein.