Wir drei - Andrea De Carlo - E-Book

Wir drei E-Book

Andrea De Carlo

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Beschreibung

Livio ist verliebt in Misia, doch sie liebt Marco, der ihre Gefühle zwar erwidert, doch vor Bindung ebenso zurückscheut, wie er das Establishment fürchtet. Und dennoch: Trotz bewegter Zeiten reißen die Bande zwischen den dreien nicht. Nicht nur mit zwanzig hat man das Leben noch vor sich, sondern auch mit vierzig.
Das Geheimnis? Leidenschaftlich sein: In der Liebe, der Freundschaft, als Künstler..."

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Seitenzahl: 689

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Andrea De Carlo

Wir drei

Roman

Aus dem Italienischen von

Renate Heimbucher

Die Originalausgabe erschien

1997 bei Arnoldo Mondadori, Mailand,

unter dem Titel ›Di noi tre‹

Copyright © 2008 by RCS Libri S.p.A.

Die deutsche Erstausgabe erschien

1999 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Tullio Zanovello, ›Murales‹, 2012

Copyright © Tullio Zanovello

Für Eleonora

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23276 9 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60168 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] ERSTER TEIL

[7] Eins

Misia Mistrani habe ich am 12. Februar 1978 kennengelernt. Morgens hatte ich das Examen in Geschichte des Mittelalters bestanden, mit einer Arbeit über den vierten Kreuzzug, derentwegen ich mich beinahe mit dem Prüfungsausschuß in die Wolle gekriegt hätte, so polemisch und engagiert war sie mir geraten. Daraufhin war ich mit 110 Punkten sine laude abgespeist worden, obwohl ich ein ganzes Jahr daran gearbeitet und zweihundertfünfzig ziemlich gut dokumentierte Seiten voller Verve geschrieben hatte. Der Vorsitzende hatte mit seiner monochromen Stimme zu mir gesagt: »Geschichte ist Perspektive. Sie können über Ereignisse, die siebenhundert Jahre zurückliegen, doch nicht schreiben, als wären sie vorgestern passiert und als wären Sie selbst dabeigewesen. Ihnen fehlt jede Distanz und Ausgewogenheit, jede Fähigkeit, die Dinge mit kühlem Verstand zu beurteilen.« Womit er nicht unrecht hatte: Mir schien, daß ich gar nicht genug Empörung und Wut und Angst und Voreingenommenheit aufbringen konnte, wenn ich in die Vergangenheit blickte – von wegen Distanz.

Auch mein bester Freund Marco Traversi hatte erst vor ein paar Wochen wegen seiner Arbeit über Christoph Kolumbus und die Zerstörung Südamerikas Krach gehabt, er jedoch hatte, anstatt vor der Unmutswoge der Kommission zurückzuweichen, alle zum Teufel geschickt und auf den [8] Abschluß verzichtet. Es stimmte mich traurig, daß ich, als es darauf ankam, viel weniger standhaft gewesen war als er und, anstatt meine Ansichten bis zum Letzten zu verteidigen, lieber wie ein braver und naiver, wenn auch etwas impulsiver Junge mein Diplom nach Hause getragen hatte, damit meine Mutter und meine Großmutter zufrieden waren. Ich rief deshalb Marco abends auch nicht an, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, und um nicht zu Hause Trübsal zu blasen, ging ich allein in eine Kneipe, die jetzt ein pseudoenglischer Pub ist, damals aber noch eine pseudosüdamerikanische Taverne war, überheizt und voller Rauch und Musik und Körperausdünstungen, die an der niedrigen Decke kondensierten und auf die Köpfe der plaudernden und trinkenden und auf dem Betonfußboden tanzenden Leute herabtröpfelten. Ich lehnte an der Wand, neben ein paar coolen, schroffen Typen, die ich kaum kannte, und trank Bier zum monotonen Rhythmus der Salsamusik, die fast die billigen Lautsprecherboxen sprengte, und sah dieses unglaubliche blonde Mädchen hereinkommen, mit ein paar Freunden, die mit sich überlagernden Gesten und Blicken auf einen noch halb freien Tisch zusteuerten.

Sie nicht zu bemerken war so gut wie unmöglich, selbst in der extrem dicken Luft und mit dem hämmernden, kratzenden Lärm in den Ohren: Sie sah so strahlend aus, so leicht und natürlich, und hatte dieses wache, intelligente Profil, wenn sie sich zu einem ihrer Freunde drehte, um zuzuhören oder etwas zu sagen oder auf eine so unverfälschte Art zu lächeln, daß mir fast das Herz weh tat. Ihre Ausstrahlung schien sich wie ein elektrisches Phänomen auf die Leute ringsum zu übertragen, sie drang durch den überfüllten [9] Raum bis zu mir an die gegenüberliegende Wand, während ich immer wieder kurze Blicke auf sie warf; auch andere blickten im Durcheinander und Gedränge zu ihr hinüber, was mein Gefühl von Entbehrung und Verlangen, das unerträgliche Bewußtsein meiner Grenzen nur noch verschärfte.

Aber den ganzen Abend fiel mir kein vernünftiger Vorwand ein, zu ihr zu gehen und sie anzusprechen, irgendeinen Kontakt herzustellen oder ihr auch nur ein paar Meter näher zu kommen: Ich war auf meinem mentalen Schneidetisch schon Dutzende von Gesten und Sätzen durchgegangen und hatte jedesmal wieder zum Ausgangspunkt zurückgespult, ganz starr vor Verlegenheit, auch nur daran gedacht zu haben. Das einzige, wozu ich mich imstande fühlte, war, immer mehr Bier zu trinken und aus der Ferne auf jede noch so kleine Veränderung des Winkels zwischen ihr und ihren Freunden zu lauern, um herauszufinden, ob sie einem von ihnen hoffnungslos nahestand. Mir kam es nicht so vor, obwohl sie alle Blicke und Gesten der Männer in der Gruppe immer wieder auf sich zog, vor allem die eines Typs mit dichtem Haar, der bei jeder Gelegenheit nach ihrer Hand faßte und etwas in ihr Ohr flüsterte; aber sie wirkte zu frei und unbeschwert, um von einer festen Bindung eingeengt zu sein, zu sehr in Bewegung.

Gegen eins brach die ganze Clique auf, und sie ging so leichtfüßig zum Ausgang, wie sie hereingekommen war; binnen einer Sekunde verlor das ganze von Bewegungen und Worten und Klängen erfüllte Lokal für mich jeden Reiz. Ich stand immer noch, an die Wand gelehnt, da, mein Bierglas in der Hand, mit der klaren Erkenntnis, daß sich durch das bestandene Examen in Geschichte mein Leben [10] um keinen Deut gebessert hatte. Mein Mund schien mir voll dürrer Sätze, mein Herz wie eingefroren; das Lachen und die verschiedenen Timbres und die sich wiederholenden und vervielfältigenden Gesichtsausdrücke um mich herum waren mir plötzlich unerträglich, ich hielt es dort drin nicht mehr aus.

Ohne mich von irgend jemandem zu verabschieden, ging ich hinaus, so unsicher, daß mein Gang noch schiefer war als sonst, in meinem braunen peruanischen Alpacaponcho, der schwer wie eine Decke war und mit seiner Webstruktur in der bösartigen Feuchtigkeit der Stadt allzu simpel wirkte. Ich blickte mich auf der leeren Straße um, bloß um noch mehr Trostlosigkeit in mich einzusaugen, und sah, wie die Blonde aus einem etwa fünfzig Meter entfernt geparkten Auto auszusteigen versuchte, es aber nicht schaffte, weil jemand sie immer wieder hineinzog. Ich war zu weit weg, um mehr zu erkennen als ihre Haare, auf die das schwache Licht einer Straßenlaterne fiel, wenn es ihr gelang, den Kopf aus der rechten Wagentür hinauszustrecken, bevor sie wieder hineingezerrt wurde, aber ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie es war.

Einem blitzschnellen Instinkt folgend, der mein Blut zur Weißglut erhitzte und es mir wie einen grellen Strahl in den Kopf schießen ließ, rannte ich los, auf das Auto zu, mit auf dem feuchten Asphalt platschenden Sohlen und rudernden Armen. Ich hatte die Worte eines der südamerikanischen Lieder von vorhin im Kopf, aber um mehr als das Doppelte beschleunigt: Mit 78 Umdrehungen raste ich die menschenleere Straße entlang, ohne etwas zu denken.

Als ich bei dem Auto ankam, ließ mich ein Wall von [11] Zweifeln abbremsen wie in einem Trickfilm; neben der Wagentür kam ich zum Stehen und hatte plötzlich Angst, ein hitzköpfiger Idiot zu sein, der sich in den Streit eines Liebespaars einmischt. Doch die Wagentür war halb offen und die Blonde weit herausgebeugt, von der anderen Seite versuchte der Typ sie mit totaler Hartnäckigkeit an sich zu ziehen: zwei entgegengesetzte Kraftvektoren wie bei einem Ringkampf, wenn die zwei Gegner kurz vor dem entscheidenden Punkt quasi im Stillstand verharren.

Also machte ich die Autotür ganz auf und beugte mich ins Wageninnere, und das blonde Mädchen drehte sich überrascht zu mir; ich wußte nicht, ob ich das Richtige tat, aber darauf kam es mir gar nicht mehr an, mir kam es nur auf den Kerl links von ihr an, der noch vor zehn Minuten galant mit ihr am Tisch gesessen und sich jetzt in sie verkrallt hatte wie ein Raubtier, das die Beute in seine Höhle zerren will. Er sah mit wutverzerrtem Gesicht zu mir auf, mit seiner braven Ponyfrisur und der kleinen, kurzen Nase mit geweiteten Nasenlöchern.

»Ist was nicht in Ordnung?« fragte ich das blonde Mädchen, keuchend vom schnellen Laufen und vor Aufregung.

Sie gab keine Antwort, fixierte mich mit einem Blick, der nicht gerade eine Bitte um Hilfe war, aber voll offener Fragen schien.

Ich blickte auf den Kerl, der ihren Arm umklammerte, und fragte auch ihn: »He, ist was nicht in Ordnung?« Und weil sein Blick Verständnislosigkeit in Reinkultur war, beugte ich mich noch tiefer ins Auto hinein, klopfte ihm auf die Schulter und fragte erneut: »Ist vielleicht irgendwas nicht in Ordnung?«

[12] Ganz zusammengekrümmt vor Groll fragte er: »Wer zum Teufel ist das?« Ohne sie loszulassen, sah er zuerst sie und dann mich ärgerlich an und war dermaßen gereizt, daß er sich kaum noch beherrschen konnte.

Ins Auto von zwei völlig Fremden gebeugt, blickte ich auf eine Szene, die ebensogut rein privat sein konnte und mich doch wie kaum etwas anderes auf der Welt anging, inmitten von Blicken und Atemzügen und Gesichtsausdrücken, die ich nicht kannte und doch nur zu gut zu kennen glaubte. Ich schlug dem Raubtier kräftiger auf die Schultern, sagte: »Na, was ist, wolltest du sie nicht aussteigen lassen, oder was?«

»Was zum Teufel geht dich das an«, sagte der Kerl völlig verständnislos.

»Du wolltest doch aussteigen, oder?« fragte ich das Mädchen. »Du wolltest aussteigen, und er hat dich nicht gelassen.«

Sie hielt den Blick immer noch auf mich geheftet, und ich dachte, sie würde vielleicht nie antworten: Wir würden alle drei auf unbestimmte Zeit so in dem Auto verharren, er sie mit der Verbissenheit eines großen Insekts umklammernd, sie hell und bebend wie die Bewohnerin eines immer wiederkehrenden Traums von mir, ich schwankend vornübergebeugt zwischen beiden, den Kopf im Auto und die Füße draußen. Statt dessen sagte sie endlich: »Ja, ich wollte aussteigen.«

Ihre Stimme traf mich völlig unvorbereitet: ein sonderbares Timbre, wie leicht rauher Samt. Sie versetzte mir einen so heftigen Stich ins Herz, daß ich zurückwich und mit dem Kopf ans Wagendach stieß; dann tauchte ich sofort wieder runter und riß das blonde Mädchen zu mir herüber. [13] Der Kerl packte sie an der Jacke, um sie besser festhalten zu können, ich zog an der anderen Seite; es gelang ihr, einen Fuß hinauszusetzen, ich zog mit einem noch heftigeren Ruck, wir fielen fast auf das Trottoir, als der Widerstand plötzlich aufhörte.

Wir sahen uns im kranken Lichtschein der Straßenlaterne an, alle beide mit fast dem gleichen brüchigen und unangebrachten Lächeln. Mir war zum Weinen und zum Lachen, dann fiel mir ein, daß ich mich vielleicht vorstellen oder sie um Erklärungen bitten oder irgendeinen abschließenden Satz sagen, sie am Arm fassen und rasch in Sicherheit bringen sollte.

Aber ich sah sie nur stumm und unverwandt an, und ihr Umklammerer stieg aus und kam um das Auto herum, viel kräftiger, als er mir drinnen erschienen war, warf sich auf mich und packte mich mit beiden Händen an meinem peruanischen Poncho. Ich versuchte mich zu befreien, aber ich schaffte es nicht; er keuchte mir ins Gesicht, nahm meinen Hals in den Würgegriff und drückte mir im Nu die Luft ab; ich merkte, daß ich überhaupt nicht darauf eingestellt war, daß sich die Dinge in dieser Weise gegen mich wenden könnten, wo das Recht diesmal doch so eindeutig auf meiner Seite war. Vor Verblüffung blieb ich fast reglos stehen, während sich seine Hände immer fester um meinen Hals schlossen, und bis auf einen vergeblichen Versuch, seine Handgelenke nach hinten zu drücken, fiel mir kein Gegenangriffs- oder Fluchtmanöver ein.

Dann stieß er plötzlich einen Schrei aus und ließ los, ging in die Knie, als ob er etwas vom Boden aufheben wollte; und, überrascht nach Luft ringend, sah ich, wie das blonde [14] Mädchen ausholte und ihm mit einer blitzschnellen, kraftvollen, gezielten Bewegung der Fußspitze einen zweiten Tritt gegen den Knöchel versetzte. Der Typ versuchte, das Gewicht auf das andere Bein zu verlagern, aber er verlor die Balance, kippte zur Seite und traf auf die Motorhaube seines Autos auf. Ich stand immer noch bewegungslos da: beobachtete die Szene mit dem Gefühl hoffnungsloser Verspätung gegenüber den Ereignissen.

Das blonde Mädchen faßte mich am Arm. »Los, nichts wie weg.« Sie bewegte sich geschmeidig, jetzt ohne eine Spur von Zögern oder Unentschlossenheit; rannte los und zog mich mit, den Gehsteig entlang, so schnell, als würden wir fliegen. Ich sah, daß sich der Kerl wieder aufgerappelt hatte und hinter uns her war, aber er mußte verletzt sein, denn er hielt sich nicht gut auf den Beinen, trabte leicht beschädigt vorwärts. »Hast du zufällig ein Auto?« fragte das Mädchen dicht an meinem Ohr, jedenfalls kam es mir so vor: Die Vibration ihrer Stimme verursachte mir ein diffuses Kribbeln von der Schläfe die ganze linke Körperhälfte hinab. »Hej, hast du kein Auto?« fragte sie.

»Doch«, antwortete ich und zeigte auf meinen feuerroten Fiat 500, der dreißig Schritt weiter am Ende der Straße stand.

Wir rannten hin, ich wühlte in meinen Taschen nach dem Schlüssel, aber am Rand meines Gesichtsfelds war unser Verfolger schneller geworden, auch wenn sein Gleichgewicht nach wie vor labil war; mit fahrigen Händen schloß ich auf, ließ mich auf den Sitz fallen und öffnete dem blonden Mädchen; während sie einstieg, startete ich den Motor. Mit einem Ruck fuhr ich los, als der Typ gerade wie ein [15] verwundetes Rhinozeros auf das Auto losgehen wollte; ich wich ihm aus und hatte ihn im Nu zehn, zwanzig, fünfzig Meter abgehängt: Mit dem bebenden blonden Mädchen neben mir sah ich seine wütende Gestalt im dunstigen Licht der Straßenlampen immer undeutlicher werden.

Jetzt aber floß die weißglühende Wut, die der überraschende Würgegriff blockiert hatte, grell in mich zurück: ich bremste jäh, legte den Rückwärtsgang ein und setzte mit Vollgas zurück. Das blonde Mädchen rechts von mir fragte beunruhigt »Was hast du vor?«, aber mich konnte nichts aufhalten, mein Blut war voll unkontrollierbarer Rachgier, wegen all des Unrechts und all der Gewalttaten in der Geschichte: wegen des Gemetzels der Kreuzritter unter den Bewohnern von Konstantinopel und der aus dem Hippodrom geraubten und auf den Markusplatz verschleppten Bronzerosse, wegen meiner Mutter, die von ihrem Arbeitgeber belästigt worden war, als ich klein war, wegen der abstoßenden Gesichter und Namen der Politiker jeden Tag in den Zeitungen und im Fernsehen, wegen der monochromen Stimme des Vorsitzenden der Prüfungskommission an der Universität und wegen der gnadenlosen Häßlichkeit der Straße, durch die wir fuhren.

Ich fuhr im Rückwärtsgang mit bis zum Anschlag durchgetretenem Gaspedal auf den Kerl zu, kurbelte das Fenster herunter und brüllte ihn an: »Du wagst es noch, uns nachzulaufen, du mieses Weichei? Du fühlst dich wohl auch noch auf den Schwanz getreten und meinst, du mußt es uns heimzahlen, du elender, stinkender Ochsenfrosch, der nichts als Dreck und Gemeinheiten in sich hat? Dem die pure Blödheit aus den Augen trieft?«

[16] Ich brüllte aus voller Lunge mit der höchsten Lautstärke meiner Megaphonstimme, die so dröhnte, daß man es kaum glaubt, wenn man sie nicht gehört hat: Ich konnte die Druckwelle in der Luft spüren. Der Kerl wich einen halben Schritt zurück, mit einer Spur von Angst oder zumindest Bestürzung in seinem blöden Muttersöhnchengesicht. Auch das blonde Mädchen rechts von mir schien erschrocken, sie sah mich an, als ginge ihr gerade auf, daß sie neben einer nicht identifizierten Spezies saß; als Reaktion darauf erschrak ich selbst, ich hätte gern irgend etwas zu ihrer Beruhigung gesagt. Sie aber schrie: »Paß auf!«, und ich spürte das Bruttogewicht des Kerls gegen die Breitseite des Autos prallen und sah seine breitfingrige Hand durch das offene Fenster nach meiner Schulter greifen.

Aber in meinem Fiat 500 war ich damals beweglich wie ein Tier auf Rädern: Ich konnte mich zwischen fahrenden Autos hindurchschlängeln, Bürgersteige hinauf- und hinunterrollen, jedem Polizisten entwischen, bevor er dazu kam, sich mein Kennzeichen zu notieren, flinker als ein Basketballspieler vor- und zurück- und zur Seite schnellen. Es muß seltsam ausgesehen haben, wenn ich darin herumfuhr, zusammengekrümmt, wenn es kalt war, und mit oben aus dem aufklappbaren Segeltuchdach herausragendem Kopf, wenn es heiß war, denn es war ein Auto, das nur für Leute unter eins sechzig gedacht war. Im Rückwärtsgang gab ich gerade soviel Gas, wie nötig war, damit die Hand des Typs ans hintere Ende des Fensters glitt, bremste dann plötzlich und kurbelte mit der Linken blitzschnell das Fenster hoch. Als er kapierte, was ich vorhatte, versuchte er, die Hand rauszuziehen, aber zu spät, seine Finger waren [17] zwischen Fensterscheibe und Metallrahmen eingeklemmt, und ich hatte schon den ersten Gang drin, den Fuß von der Kupplung genommen und das Gaspedal voll durchgetreten. Der Typ schrie in einer Lautstärke, die der meinen erstaunlich nahe kam, ließ sich, schwerfällig und renitent wie er war, zwei, drei Meter mitschleifen, bis seine Finger auf die denkbar hautabschürfendste und knöchelbrechendste Weise herausrutschten. Das blonde Mädchen schrie entsetzt auf; ich sagte »Ist ja gut, beruhige dich«, schaltete in den zweiten Gang und fuhr mit der höchsten Umdrehungszahl bis zum Straßenende, schnitt die Kurve, wobei der kleine luftgekühlte Zweizylindermotor dröhnte wie ein Flugzeug beim Start.

Dann waren wir auf einer Allee, die in einem Bogen nach Südwesten führte; wir atmeten beide wieder ruhiger, obwohl mein Herz immer noch jedesmal schneller schlug, wenn ich im intermittierenden Licht der Straßenlaternen zu ihr hinübersah.

Nach einer Weile sagte sie »Danke«, lachte los, immer noch ganz aufgewühlt.

Ich lachte ebenfalls, ohne das mindeste Selbstbewußtsein: »Aber ich bitte dich. Du brauchst dich doch nicht zu bedanken. Und wenn du nicht gewesen wärst, hätte er mich erwürgt.«

»Ich hätte es, glaube ich, auch allein geschafft, aus dem Auto rauszukommen«, meinte sie.

»Wer zum Teufel war das?« fragte ich.

»Irgendein Freund von Freunden von mir. Hab ihn bloß zweimal gesehen.« Sie schüttelte den Kopf: »So was Blödes. Du denkst, du kannst dich so geben, wie du bist, ohne die [18] ganze Zeit auf der Hut zu sein, und gleich faßt es jemand als falsches Signal auf und wird so total unsensibel.«

»Scheißkerl«, sagte ich, während immer noch Spuren der grellen Wut von vorhin in mir kreisten. Aber ich war hingerissen vom Klang ihrer Stimme, von dem leichten Duft nach kandierten Orangen, den ich riechen konnte, wenn sie den Mund öffnete: von der warmen, pulsierenden Lebendigkeit ihrer Gestalt im metallenen Innenraum meines Autos.

Mit Gebärden und kurzen Sätzen dirigierte sie mich durch die um diese Zeit fast menschenleeren Straßen bis zu einem ehemals gelben Haus am Hafen, wo ich als Kind immer mit meiner Mutter hingegangen war, um die sandbeladenen Kähne anzuschauen, die über ein Kanalsystem vom Ticino kamen. »Da wären wir«, sagte sie.

Ich bog in die Einfahrt ein, schaltete unter dem Torbogen den Motor aus; als das Auto zum Stillstand kam, war auch mein schwaches Selbstwertgefühl verflogen.

Im allerfalschesten Ton sagte ich: »Also, ich heiße Livio«, und gab ihr die Hand.

Sie drückte sie lächelnd, sagte »Misia«.

Wir schwiegen zehn, fünfzehn Sekunden; dann sagte sie: »Willst du mir nicht deine Telefonnummer geben?«

Und es kam mir fast wie ein Wunder vor: Ich kritzelte meine Telefonnummer auf die Rückseite eines Strafzettels und ließ sie ihre daraufschreiben, riß das Blatt in der Mitte durch und stieg aus, um mich von ihr zu verabschieden; wir gaben uns nochmals die Hand und küßten uns auf die Wange; sie ging auf die Haustür zu, öffnete sie und verschwand mit einer raschen und endgültigen Bewegung.

[19] Zwei

Am nächsten Morgen stand ich in unwahrscheinlich elektrisiertem Zustand auf, nachdem ich mich die ganze Nacht im Bett hin und her gewälzt hatte, den Kopf voller Bilder von Misia, die ruckweise vor mir auftauchten: sie zehn Meter von mir entfernt in der Taverne mit ihren Freunden, sie dicht neben mir im Auto, sie an ihrer Haustür, hinter der sie verschwand, sie, wie sie redete und lächelte.

Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, rasierte mich viel früher als sonst, zog mich, so sorgfältig es ging, an und konnte trotzdem nicht aufhören, an sie zu denken. Die Bilder schoben sich systematisch übereinander: die Art, wie sie den Kopf drehte und dabei leicht zur Seite neigte, die Linie ihrer Lippen, wenn sie sprach, ihre hellen Augen aus nächster Nähe; der Klang ihrer Stimme, ihre umwerfend natürliche Art, die besondere Ausstrahlung, die sie hatte, das eigensinnige, intelligente Profil. Ich fühlte mich wie jemand, vor dessen Augen sich die Landschaft ringsum in Sekundenschnelle verwandelt: neue Tier- und Pflanzen- und Blumenarten, wohin der Blick sich wendet, neue Düfte in der Luft, neue Winde und Temperaturen, unerforschte Betätigungsmöglichkeiten.

Aber ich brauchte zwei Stunden, bis ich sie anzurufen wagte, denn ich fürchtete, es könnte zu früh sein, und ich wollte nicht aufdringlich oder lästig sein: Ich ging zum [20] Telefon, legte die Hand auf den Hörer, dachte mir einen Satz aus, den ich ihr sagen konnte, der mir aber gleich darauf überflüssig, falsch, kindisch, nicht witzig vorkam.

Ich holte mir ein Buch und versuchte zu lesen, verlor aber sofort wieder den Faden, setzte mich an den Tisch und versuchte zu zeichnen, aber auch darauf konnte ich mich nicht länger als einige Sekunden am Stück konzentrieren; ich ging erneut zum Telefon, legte die Hand auf den Hörer und stellte mir vor, was ich sagen würde, aber mein Herz klopfte zu schnell und zu unregelmäßig, und so gab ich es wieder auf, trank einen Schluck Kirsch aus der Flasche, die mir meine Großmutter geschenkt hatte, schaute in den Kühlschrank, der bis auf einen Becher Joghurt mit seit einem Monat abgelaufenem Verfallsdatum leer war. Mal erschien mir Misia zu schön, als daß ich sie hätte anrufen können, mal glaubte ich, ihr nichts Richtiges zu sagen zu haben, mitunter befielen mich sogar Zweifel, ob ich ihr überhaupt wirklich begegnet war und mir nicht vor Müdigkeit und Verwirrung letzte Nacht alles nur eingebildet hatte. Ich betrachtete mich im Badezimmerspiegel und versuchte herauszufinden, ob ich verstört aussah, ob ich mir überhaupt glaubwürdig erschien, ob ich lächerlich auf sie gewirkt hatte oder ob sie mich auch für voll nehmen konnte, ob jemand, mit dem ich nicht gerade eng verwandt war, irgend etwas Interessantes an mir finden konnte.

Schließlich trank ich noch einen Schluck Kirsch, ging geradewegs zum Telefon und wählte die Nummer, die Misia mir auf die Strafzettelhälfte geschrieben hatte, horchte mit viel zu spürbar seitlich am Hals schlagendem Herzen auf das Freizeichen. Ich stellte mir vor, wie Misia mit der [21] Leichtfüßigkeit, die mir gestern an ihr aufgefallen war, durch eine lichtdurchflutete Wohnung schritt; stellte mir die Handbewegung vor, mit der sie den Hörer abnahm und sich die Haare hinters Ohr strich, um besser zu hören. Ich mußte mir selbst drohen, um nicht wieder aufzulegen, bevor sie antwortete, mußte mich moralisch unter Druck setzen, mich selbst herausfordern, um möglichst ruhig und aufrecht stehenzubleiben. Ich hoffte, wenigstens den richtigen Ton zu treffen und nicht mitten im ersten Satz merken zu müssen, wie mir kläglich die Stimme versagte, nicht mit der erstbesten blöden Bemerkung herauszuplatzen, die mir einfiel; ich sagte mir immer wieder ›Ruhe Ruhe Ruhe‹ und versuchte, gleichmäßig zu atmen.

Aber es antwortete nicht Misias Stimme. Eine Männerstimme sagte »Hallo«. Aber bevor ich es realisierte, hatte ich schon gesagt: »CiaohierLiviodervongesternabend«, den Satz, den ich mir immer und immer wieder zurechtgelegt und dabei so komprimiert hatte, daß er in völlig unverständlicher Form wie von selbst herauskam.

Gleich darauf hätte ich am liebsten den Hörer auf die Gabel geknallt, aber ich war wie gelähmt und konnte keinen Finger rühren. »Hallo?« sagte die Männerstimme am anderen Ende noch einmal.

»Entschuldigen Sie, ich wollte mit Misia sprechen«, sagte ich, vor Enttäuschung stotternd.

»Sie ist nicht mehr in Mailand, sie ist heute morgen wieder weggefahren«, sagte er in schläfrigem Singsang und legte auf.

Die Stirn auf den Hörer gepreßt, stand ich, über den Tisch gebeugt, da, meine Wangen brannten, und mein Herz [22] klopfte sinnlos; ich fühlte mich unglaublich traurig und einsam und linkisch und dumm, antriebslos, ohne jede Geschmeidigkeit. Die Enttäuschung über diese Männerstimme und über Misias Abreise überflutete mich in Form einer alles erfassenden Gefühlsleere, in die sich nach und nach ein kalter Strom von Erleichterung mischte. Es schien mir fast besser, daß es so gekommen war: Mir war, als fiele eine Last schwer erträglicher Gedanken und Empfindungen von mir ab, als sei ich auf ein Terrain zurückgestoßen worden, das mir viel vertrauter war. Ich warf den Zettel mit ihrer Telefonnummer weg, legte eine Platte von den Doors auf und drehte den Ton so laut, daß die Fensterscheiben zitterten: People Are Strange

[23] Drei

Es war eine seltsame Zeit, teils verschlafen, teils chaotisch, wachsam und zerstreut und träge und unbestimmt; eine Art Nahtstelle zwischen zwei Phasen meines Lebens, auch wenn ich nicht genau hätte sagen können, welche Phase zu Ende ging und welche begann. Ich war nie besonders praktisch oder zielstrebig gewesen, jetzt aber war ich es weniger denn je; ich konnte keinen Zusammenhang zwischen einem Diplom in Geschichte und einer möglichen Aufgabe für mich in der Erwachsenenwelt sehen, nirgends ein Gleis oder einen Weg oder auch nur einen Trampelpfad erkennen, der sich deutlich genug abzeichnete, um ihn mit einem Minimum an Zuversicht einschlagen zu können. Mir schien, daß ich mit zwölf oder dreizehn klarere Vorstellungen über das gehabt hatte, was ich einmal machen wollte; daß ich mich auf dem Gymnasium und an der Universität in ein weltfremdes, unzugängliches Terrain der Worte und abstrakten Ideen verirrt hatte.

Ich lebte in dem Zweiundvierzig-Quadratmeter-Appartement, das mir mein Vater geschenkt hatte, als ich achtzehn wurde – so wie er es mit meiner Mutter bei der Scheidung vereinbart hatte. Es war eher eine Art Korridor, mit Regalen voller Schallplatten von den Rolling Stones, von Bob Dylan, den Doors, John Mayall, Eric Clapton und Mike Bloomfield, Geschichtsatlanten, Fotos von meiner Reise [24] nach Indien und Afghanistan, den beiden dicken Wälzern von Steven Runciman über die Kreuzzüge und Biographien von Gottfried von Bouillon und Bohemund von Tarent und Richard Löwenherz und Saladin und Balduin von Flandern und wer sich sonst zwischen 1096 und 1291 intensiv genug in jener Gegend im Mittleren Orient herumgetrieben hat, um in die Geschichte einzugehen. Ich las englische Gedichte aus dem neunzehnten und amerikanische Romane aus dem zwanzigsten Jahrhundert, fuhr auf einem alten holländischen Fahrrad in der Stadt herum und ernährte mich fast ausschließlich von der gefüllten Schweizer Schokolade, die mir meine Großmutter immer schenkte, ging spät schlafen, stand spät auf. Ein paar Stunden täglich zeichnete ich mit Tusche kleine Figuren, teils abstrakt, teils tier- oder menschenähnlich, oder auch Landschaften, die mir fast automatisch aus der Feder flossen, getragen von einem inneren Summen, das so obsessiv wie eine Melodie war. Ich sah darin eigentlich gar keine richtige Tätigkeit, eher eine Art Manie, ein unschädliches Laster.

Ich kannte und sah jede Menge Leute, denn ich hatte diese ultrakommunikative Art; es war, glaube ich, amüsant und auch komisch, mit mir zusammenzusein, ich neigte dazu, Nachbarn und Geschäftsleute und sogar wildfremde Menschen auf der Straße sofort in ein freundliches Gespräch zu verwickeln, vielleicht um die kalte und trostlose Einsamkeit meiner Kindheit und Jugendzeit zu kompensieren. So etwas war zumal in Mailand und in der damaligen Zeit ziemlich ungewöhnlich, und ich löste damit so gut wie nie normale Reaktionen aus: Die Leute fanden mich entweder höchst sympathisch oder völlig übergeschnappt oder [25] leicht bescheuert, jeder steckte mich auf seine Weise in eine bestimmte Schublade.

Mein einziger richtiger Freund war Marco Traversi. Er war es seit Jahren, seit ich auf dem Gymnasium in den Pausen immer zu seinem Flur hinaufgegangen war und mit ihm über Gott und die Welt und über Geschichte und alles mögliche redete, bis sich so viele unaufhaltsame Gedanken aneinanderrieben, daß mir der Kopf glühte. Das einzige, was wir damals hatten, war eine scheinbar unbegrenzte Menge Zeit und eine geballte Abneigung gegen so gut wie alles um uns herum; wir konnten uns weder mit unserer Rolle als Söhne noch mit der als Schüler oder als Bewohner unserer Stadt und unseres Landes identifizieren. So waren wir Freunde geworden: Jeder sah beim anderen die gleiche Art von Nichtzugehörigkeit, den gleichen Blick des Exilanten in der eigenen Heimat.

Marco kam mir verständiger vor als ich selbst, und in gewisser Hinsicht war er es auch, jedenfalls was seine Fähigkeit betraf, die Dinge zu sehen und zu beurteilen; und ganz bestimmt war er attraktiver als ich, mit seinen langen Haaren und seinen Rockmusikerklamotten und seiner coolen Art, mit den Erwachsenen und mit der Welt im allgemeinen umzugehen. Dies hatte in unserer Beziehung von Anfang an ein leichtes Ungleichgewicht zu seinen Gunsten erzeugt: Ich bewunderte ihn ein wenig, und das brachte mich dazu, mich, ohne daß man es merkte, in seinem Kielwasser zu halten, mich von ihm mitziehen zu lassen. Auch er hatte eine beängstigende Distanz zur Welt und innere Abgründe, die sich beim geringsten Anlaß auftun konnten. Er wohnte noch bei seinen Eltern, was bei einem wie ihm seltsam schien; aber [26] in Mailand war es immer schwer gewesen, eine Mietwohnung zu finden, außer man hatte viel Geld, und er hatte überhaupt keins. Ich hatte ihm schon öfters angeboten, zu mir in meine Korridorwohnung zu ziehen, aber er sagte, dort sei es ihm zu laut und er wolle sich nicht bei mir breitmachen; ich glaube, daß es ihm sogar gefiel, sich möglichst in der Schwebe und möglichst unzufrieden zu fühlen, ich glaube, er brauchte das. Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß es ihm im Gegensatz zu mir gelang, glorios er selbst zu sein; seine Klarsichtigkeit und die Art, wie er seine Impulse und Gefühle scheinbar völlig beherrschte, ermutigten mich. Er spornte mich ständig an, machte mir Lust, etwas zu unternehmen; daß ich mit dreiundzwanzig den Abschluß an der Universität geschafft hatte, verdankte ich ihm, seiner so oft wiederholten Aufforderung »Laß uns bloß von diesem Abstellgleis runterkommen. Wir werden alt«.

Marco wiederum brauchte meine Überschwenglichkeit und Kontaktfreudigkeit, sogar meine Unfähigkeit, so rasche, eindeutige Urteile zu fällen wie er. Unsere Freundschaft gab ihm die Möglichkeit, seine Fähigkeiten zu messen und zu entwickeln und mit der Welt in Verbindung zu treten, sie kompensierte seine lähmende Schüchternheit. Manchmal drängte er mich, irgendein Mädchen anzusprechen, das ihn interessierte, er selbst näherte sich erst, wenn das Gespräch in Gang war und er seine anziehenden Seiten ins Spiel bringen, lächeln und reden konnte, wie es bei den Frauen so gut ankam. Manchmal, wenn wir unterwegs oder in der Wohnung von irgendwelchen entfernten Bekannten waren, griff er irgendein Reizthema auf und stachelte mich dann so lange an, bis ich mich hemmungslos und lautstark [27] darüber ausließ und mich in eine allgemeine Wut hineinsteigerte. Er sah mir dabei aber nie distanziert zu, er beobachtete mich und hörte gespannt zu, gab mir notfalls Schützenhilfe; hinterher sagte er mit glänzenden Augen: »Du bist unglaublich, Livio. Unglaublich.« Aber auch ich war für ihn kein gewöhnliches Publikum: Wenn er anfing, die Welt zu analysieren oder sich Geschichten auszudenken, kannten meine Aufmerksamkeit und meine Reaktionsbereitschaft keine Grenzen, ich fing Feuer vor Begeisterung.

Aber zur Zeit meiner Abschlußprüfung in Geschichte steckten wir alle beide fest wie in einem Sumpf, und es kostete uns fürchterliche Mühe, uns daraus zu befreien, trotz all unserer Diskussionen und der Bücher, die wir lasen, und der Energie, die wir aufwendeten, um interessanter zu scheinen, als wir waren. Wir hatten keine Arbeit und keine Aussicht, bald eine zu finden; es gab nichts, wofür wir uns wirklich leidenschaftlich interessierten, wir hatten kein Geld, Marco hatte nicht einmal eine eigene Wohnung; unsere Vorstellungen und unsere tatsächliche Lage klafften heillos auseinander. Manchmal verabredeten wir uns nicht mehr, weil es uns unerträglich war, wenn der andere sah, daß wir immer noch mehr oder weniger am selben Punkt waren; wir mußten wenigstens eine Zeitlücke entstehen lassen, in der sich genügend Erzähl- und Diskutierstoff und noch nicht bis ins letzte durchgesprochene Pläne ansammeln konnten.

In solchen Zeiten ohne Marco konnte ich mir erst recht nicht vorstellen, was für mögliche Auswege es aus diesem Sumpf geben könnte; manchmal glaubte ich, Veränderungen in der Luft zu spüren, eine Art plötzliche [28] Beschleunigung, die mich erschreckte und berauschte; dann wieder schien mir, alles könnte auf unbestimmte Zeit stillstehen. Nach Signalen ausschauend, schlug ich mal diese, mal jene Richtung ein, drehte mich im Kreis und hielt die Ohren offen, zwischen Trägheit und Angst und Gefühllosigkeit, Aufgekratztheit und Scharfsichtigkeit und Hellhörigkeit und Langerweile, falschen Hoffnungen, dem Gefühl zu ersticken, dem Gefühl reinster Panik.

In diesem Zustand befand ich mich, als ich Misia Mistrani kennenlernte, die innerhalb von Stunden mein prekäres Gleichgewicht zerstörte und wieder verschwand, und so stand ich plötzlich, ohne es zu merken, außerhalb des Sumpfs, auf einem viel schwierigeren und unbequemeren Gelände und hatte keine Ahnung, wie ich mich darauf bewegen sollte.

[29] Vier

Ich rief Marco an, weil ich unbedingt mit jemandem reden mußte und er der einzige Mensch war, der dafür in Frage kam, aber als wir uns dann auf halbem Weg zwischen meiner und seiner Wohnung trafen, brachte ich es schon nicht mehr über mich.

Die Geschichte meiner Begegnung mit Misia schien mir zu sehr von der gleichen impressionistischen und unerwiderten Art zu sein wie alle meine Beziehungen zur Welt; ich versuchte mir auszumalen, wie sie auf Marco wirken mußte: sentimental, nichtig.

Dafür sprudelte er von Ideen und Plänen über, nachdem wir uns zehn Tage nicht gesehen hatten; er war ganz wild darauf, das Gespräch wiederaufzunehmen. Schon seit dem Gymnasium hatten wir die Gewohnheit, stundenlang umherzulaufen: Wir trafen uns irgendwo und begannen sofort zu reden und kilometerweit durch die Straßen zu laufen, in einer der am wenigsten fußgängerfreundlichen Städte der Welt. Wir liefen ohne bestimmtes Ziel, sahen uns kaum etwas von der Umgebung an, nur ab und zu irgendein Gesicht; es war fast wie das endlose Rundendrehen auf einem Gefängnishof und hatte auf uns die gleiche manische und monotone Wirkung, schürte immer neue Fluchtpläne in uns.

Marcos neuester Plan war, einen Film zu drehen. Der [30] Einfall war ihm schon vor Monaten gekommen; eines Abends rief er mich an: »Ich hab eine Idee, wir müssen uns sofort sehen.«

Auch damals liefen wir mitten im Verkehr durch die Stadt, und Marco erzählte mir von dem Film, den er im Kopf hatte. Anfangs hielt ich es für eine genauso vage Idee wie die vielen anderen, die wir bei unseren ständigen Versuchen, uns aus der zermürbenden Bewegungslosigkeit zu befreien, schon so oft gehabt hatten, um sie dann nach Stunden oder Tagen, sobald die ersten praktischen Schwierigkeiten auftauchten und die erste Begeisterung verpufft war, sich erste Anzeichen von Langeweile zeigten, wieder aufzugeben. Aber die Sache mit dem Film wurde nicht aufgegeben, Marco sprach auch noch nach Tagen und Wochen davon, und je mehr er davon sprach, desto mehr nahm sie Gestalt an, füllte sich mit Klängen und Bildern, inneren Rhythmen, Lichteffekten. Marco redete, als sähe er den fertigen Film vor sich und schildere ihn mir so, wie er vor seinen Augen ablief, wobei er die Vorführung immer wieder unterbrach und zu einzelnen Details zurückspulte, die zu schnell vorbeigeglitten waren, um sie mir in Echtzeit zu beschreiben. Er redete mit höchster Eindringlichkeit, wie immer, wenn er sich keine Mühe gab, gelassen zu wirken: unterstrich bestimmte Worte, gestikulierte, blieb stehen, um mich mit seinen lebhaften dunklen Augen anzusehen, als fürchte er, die Geschichte könne sich jeden Augenblick in nichts auflösen oder, sobald er nicht aufpaßte, eine Form annehmen, die ihm nicht gefiel, ihn plötzlich enttäuschen.

Es war eine sonderbare Geschichte: Beim Zuhören war mir, als sähe ich ihn eine unglaubliche Menge von [31] Gegenständen in den erstaunlichsten Farben und Formen aus einem scheinbar leeren Koffer ziehen, die sich nach wenigen Sekunden wieder verflüchtigten. Ich machte in meiner ihm gegenüber nicht ganz unvoreingenommenen Weise mit und begann allmählich, selber einzelne Details hinzuzufügen. Wir verstanden uns fast immer auf Anhieb, ohne viel erläutern oder erklären oder übersetzen zu müssen: Marco brauchte nur mit irgendeiner neuen Idee herauszurücken, und sofort strömten auch bei mir die Ideen nur so hervor, so rasch, daß ich mich manchmal wie berauscht fühlte. Unsere Phantasie war so geballt und bereit, sich in Gang zu setzen, unsere Beziehungen zur Wirklichkeit so spärlich, unsere Energien so angetrieben von der Verzweiflung, es mit einer unbeweglichen Welt zu tun zu haben, die kein Verständnis für unsere vagen, fieberhaften Wünsche hatte.

Marco und ich hatten seit mindestens zwei Monaten jedesmal, wenn wir uns sahen, über den Film geredet; als wir uns jetzt trafen, legten wir sofort wieder los; die Bilder von Misia rückten in mein Hinterhirn, ich dachte kaum noch an sie. Marco hatte angefangen, alles, was ihm zu seinem Film einfiel, in ein Spiralheft zu schreiben, das er in seiner sehr schrägen Handschrift mit Sätzen gefüllt hatte, die mit Nummern und Pfeilen und Sternchen versehen waren. Er redete drauflos und zog dabei immer wieder das Heft aus der Tasche, um mir mitten auf dem Trottoir daraus vorzulesen, während die Leute vorbeigingen und sich verständnislos nach uns umdrehten.

»Große leere Wohnung«, sagte er. »Sehr bürgerlich, im Stadtzentrum. Parkettfußboden und große Fenster, aber völlig leer. Er kommt zufällig hin. Vielleicht muß er [32] irgendwas abgeben. Vielleicht hat er auch eine Zeitungsannonce gelesen, eine Stellenanzeige, oder?«

»Für was für eine Stelle?« fragte ich und kam mir im Vergleich zu ihm langsam und ein bißchen schwerfällig vor, aber im Grunde war dies meine Rolle, eine gewisse Gereiztheit in der Art, wie er mit mir redete, gehörte einfach dazu.

»Weiß ich noch nicht«, sagte er: kurz angebunden, gereizt. »Irgendwas. Sie suchen einen Gärtner oder was. Ja, er ist Gärtner.«

»Gärtner? In Mailand?« fragte ich. Mein Tonfall gefiel mir nicht, er war nicht klar und entschieden wie seiner, vor allem in den Zwischentönen.

»Es muß doch nichts Realistisches sein. Wir wollen ja keinen Dokumentarfilm machen, in dem alles plausibel und überprüfbar und perfekt und geordnet ist.«

»Schon gut, schon gut«, sagte ich. Als er in der zweiten Klasse Gymnasium und ich in der ersten war, hatten wir einmal mit dem Zelt eine Reise entlang der italienischen Westküste gemacht, waren aber überhaupt nicht auf die Idee gekommen, Decken oder Schlafsäcke mitzunehmen. In der ersten Nacht lagen wir bis vier Uhr morgens starr auf dem nackten Zeltboden, bis wir schließlich ins Freie krochen, um mit vor Kälte und Feuchtigkeit steifen Gelenken wie sterbende Grillen auf der Wiese herumzuhüpfen, beide gleich fassungslos über die Auswirkung eines so rein praktischen Problems. Dies nur, damit man eine Vorstellung davon hat, wie wenig realistisch unsere Beziehung zu den Dingen war.

Auch der Film war ein abstraktes Projekt, dem nur [33] unsere Kompetenz als Kinogänger und Vollzeitphantasten zugrunde lag; wir wußten nicht einmal, wo wir anfangen sollten. Ich war fast sicher, daß es so ausgehen würde wie damals, als wir immerzu davon redeten, nach Amerika auszuwandern oder ein leerstehendes Haus an einem stillgelegten Kanal instandzusetzen oder eine Wäscherei mit Abholservice zu gründen; ich war fast sicher, daß wir auch diesmal gegen eine Mauer rein praktischer Probleme stoßen und total enttäuscht auf dem Hintern landen würden. Der einzige Unterschied war die Hartnäckigkeit, mit der Marco immer wieder auf den Plan zurückkam: als könne er nicht mehr anders, als sei die Idee mit dem Film für ihn zu einer echten Überlebensfrage geworden.

Marco ging mit wilden Schritten weiter. »Nein, noch mal ganz von vorn. Er erhält einen Brief mit der Post, und im Kuvert ist ein Schlüssel und ein Zettel mit einer Adresse. Er geht zu dieser Adresse, ohne etwas zu wissen.«

»Aus reiner Neugier«, sagte ich. »Ohne die leiseste Ahnung, was ihn erwartet. Er geht einfach hin.«

»Er ist eben so«, sagte Marco. »Einer, der nach jedem Köder schnappt, den der Zufall ihm schickt. Er sieht darin einen Wink des Schicksals, er hat diese Art Fatalismus.«

»Genau wie du«, sagte ich, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war.

»Weiß nicht«, antwortete er und ließ seinen Blick die schmutzige Bürgersteigkante entlang wandern. »Merkwürdiger, glaube ich. Gespaltener. Mit weniger innerem Halt, oder?«

Marco Traversi und ich liefen immer weiter durch die Straßen von Mailand, unaufhörlich redend und [34] gestikulierend, ohne Blick für die Dinge um uns herum. Zu flache Sohlen auf dem harten Asphalt, schlecht bemessene Schritte, schlecht bemessene Atemzüge, Worte über Worte, aber sie sind der einzige Reichtum, den wir haben; das Kohlenoxid dringt uns ins Blut und steigert noch die krankhafte Intensität, mit der wir unsere Phantasien voranzutreiben suchen.

[35] Fünf

Samstag nachmittag lag ich schräg auf dem Sofa, rauchte einen Joint aus dem rotbraunen Haschisch, das mir ein Freund aus dem Libanon mitgebracht hatte, und las eine der Südsee-Erzählungen von Stevenson, da klingelte das Telefon; ich ließ es sieben- oder achtmal klingeln, bevor ich abnahm. Als ich endlich antwortete, war es Misia, sie fragte »Wie geht es dir?« im natürlichsten und freundlichsten Ton der Welt.

Ich erkannte ihre Stimme sofort wieder und war mir doch nicht sicher, ob ich sie wiedererkannte, ich war von der Rolle wie selten im Leben. Ich hatte geglaubt, die Möglichkeit, sie wiederzusehen, endgültig ad acta gelegt zu haben; sie so unverhofft zu hören stürzte mich in totale Aufregung. »Äh-ähh gut«, sagte ich und klang dabei wirklich wie ein Schaf; der Hörer glitt mir aus der Hand und fiel auf den Tisch.

Als ich ihn voller Angst, er könnte kaputtgegangen sein, wieder in der Hand hielt, meinte Misia lachend: »Ich störe wohl gerade, oder?«

»Nein, nein, nein, überhaupt nicht«, sagte ich, den Kopf voller sich übereinanderschiebender und dann in alle Richtungen auseinanderfallender Gedanken. »Ich hab letzte Woche versucht, dich zu erreichen, aber jemand hat mir gesagt, daß du weggefahren bist.«

[36] »Mein Bruder«, sagte Misia; ein Strom purer Erleichterung fuhr durch mein rechtes Ohr. »Ich bin gestern spätabends zurückgekommen.«

»Meinst du, wir könnten uns vielleicht sehen?« fragte ich.

Ich war überzeugt, daß es gar nicht möglich sein konnte, aber der Satz entfuhr mir schneller, als ich denken konnte.

»Ja, klar«, sagte Misia sofort so spontan und aufrichtig, daß sie mir damit einen noch heftigeren Ungläubigkeitsschock versetzte als vorhin ihre Stimme am Telefon.

»Wo?« fragte ich, alle Gedanken wie platt gewalzt, so wenig war ich darauf eingestellt.

»Wo du willst«, sagte Misia, als wären ihre Pläne so wunderbar offen und flexibel, daß alles hineinpaßte, egal, was mir einfallen mochte.

»Am See im Park«, schlug ich vor, bloß weil es der einzige Ort in der Stadt war, den ich mir bildlich vorstellen konnte.

»Ist gut«, sagte sie.

»Wann?« fragte ich und hatte plötzlich das Gefühl, zu langsam zu sein für die Entfernung, die ich überwinden mußte.

»Weiß nicht, um drei, wenn es dir recht ist.« Ihre Stimme war schon voll bewegter Bilder.

Ich legte den Hörer auf und rannte wie wild durch meine Korridorwohnung, vom Fenster zur Tür und wieder zurück, stieß dabei heftig gegen zwei, drei Kanten, ohne etwas zu spüren.

[37] Als ich dann mit dem Fahrrad zu der Stelle fuhr, wo wir uns verabredet hatten, sahen die Gesichter der Leute, die auf den Gehsteigen und in den Autos an mir vorbeiglitten, für die Jahreszeit und für Mailand ungewöhnlich freundlich aus. Die Farbe der Verkehrsampeln nahm ich nicht einmal wahr, ich trat wie verrückt in die Pedale, in meiner ganz zerknitterten afghanischen Jacke, die mir zu dünn und zu weit war, so mager, wie ich mich in diesem Augenblick fühlte.

Ich kam mindestens zehn Minuten zu früh am See in der Parkanlage an und lief, das Fahrrad neben mir herschiebend, auf und ab, in einem ständig zwischen Wohlgefühl und Ungeduld und Mißtrauen schwankenden Zustand, mit vorweggenommenen Bildern von mir, wie ich nach vergeblichem Warten beinahe erleichtert allein nach Hause zurückkehrte.

Aber schon nach wenigen Minuten sah ich Misia kommen, auch sie auf dem Fahrrad, im langen Rock und in einer dunkelblauen Steppjacke mit Stehkragen: noch schöner und strahlender, als ich sie in Erinnerung hatte. Der Gedanke, daß sie sich ausgerechnet mit mir traf, bei allem, was sie in der Stadt hätte tun können, erschreckte mich plötzlich, so wie es jemandem gehen mochte, der leichtsinnig einen Waldbrand verursacht hat und dann merkt, daß er nicht die geringste Chance hat, ihn unter Kontrolle zu bringen.

Ich begrüßte sie allzu überschwenglich, sobald sie abgestiegen war: zuviel lächelnd und mit zu starken Tonschwankungen, zu vielem Herumgestikulieren. Sie aber war so natürlich und fröhlich, daß ich gar nicht dazu kam, mir deshalb Gedanken zu machen; ihr heller Blick, der warme Ton, [38] in dem sie »Freut mich, dich wiederzusehen« sagte, nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Mich auch«, sagte ich. Wir gingen fast nie auf gleicher Höhe: überholten einander seitlich oder blieben ein Stück zurück, wie zwei Boote, die sich begegnen, mit teils beabsichtigten, teils durch die Strömung verursachten Bewegungen. Die Fahrräder schoben wir neben uns her, so daß eine unserer zwei Seiten versperrt war und uns gleichzeitig Halt bot; wir glitten auf die sonderbarste Weise aufeinander zu und umeinander herum und erzeugten dabei Wellen von Interesse, Ströme von Neugier.

Dann folgten wir mit den Fahrrädern neben uns den tiefer in den Park hineinführenden Wegen, wo keine Gefahr bestand, plötzlich auf eine der großen Verkehrsstraßen zu stoßen, die den Park von allen Seiten umlagerten. Misia erzählte mir, daß sie seit zwei Jahren in einer Restaurierungswerkstatt in Florenz arbeitete; Freitag nachts kam sie nach Mailand zurück, um Sonntag abends oder Montag früh wieder zurückzufahren; deshalb hatte ich sie in der Wohnung, in der sie mit ihrem Bruder wohnte und vor der ich sie an dem Abend, als wir uns kennenlernten, abgesetzt hatte, nicht erreicht. Mir war nicht ganz klar, weshalb sie jede Woche so hin- und herfuhr: vielleicht vor allem, um ein Auge auf ihren Bruder zu haben, der ziemlich schwierig war, und um aus dem Spannungsfeld der Werkstatt herauszukommen. »Eine wunderbare Arbeit«, sagte sie. »Es gibt nichts Faszinierenderes für mich, aber du weißt ja, wie das ist, in so einer in sich geschlossenen Welt. In jeder in sich geschlossenen Welt. Wenn du dich eine Zeitlang darin aufhältst, fängst du an zu denken, du bist im Mittelpunkt der [39] Welt. Ab und zu muß man einfach raus und sich in Erinnerung rufen, daß es auch noch was anderes gibt.«

»Stimmt«, sagte ich, elektrisiert von dem vibrierenden Wissensdrang, den sie mit jedem Blick und jedem Atemzug auf mich übertrug.

»Aber es ist auch immer schön, wieder zurückzukommen. Mit so vielen Leuten zusammenzusein, die sich für das gleiche begeistern«, sagte Misia. »Diese unglaubliche Bündelung von Energien, während man arbeitet. Ein erhebendes Gefühl.«

Als ich sie so reden hörte, ging mir immer mehr auf, wie weit ich hinter ihr zurück war: eingekapselt in mein Außenseitertum, das mir als Vorwand für alles diente, ohne den Mut und die Entschlußkraft, etwas zu tun, was mich wirklich interessierte, ja ohne überhaupt zu wissen, was mich interessierte. Ich hätte meine Seele hingegeben, wenn ich auch von irgend etwas hätte erzählen können, dem ich mich mit Leidenschaft widmete, aber mir fiel nichts ein, ich hatte mich nie auch nur phasenweise oder episodenhaft für irgend etwas begeistert, das mehr als infantile und haltlose Phantasterei gewesen wäre. Ich hörte Misia zu und saugte mit allen verfügbaren Sinnen ihre ungestüme und lebendige Energie in mich auf, mit ruckhaft wechselnden Gefühlen; ich schwitzte trotz der Kälte und schaffte es nicht, mich gleichmäßig zu bewegen.

Vielleicht um mich zu rechtfertigen, erzählte ich ihr unvermittelt, wie es zu meiner körperlichen Asymmetrie gekommen war: die ganze Geschichte, wie mein Vater mich auf dem alten Familienbesitz in Venetien zur Welt kommen lassen wollte und meine Großmutter, die Gynäkologin war, [40] auf einer Klinik bestand, mein Vater aber unbedingt eine Hausgeburt wollte und meine Mutter ihm recht gab, um meiner Großmutter, mit der sie immer auf Kriegsfuß stand, eins auszuwischen, und wie ich schließlich von der Geburtszange halb ruiniert auf die Welt kam, auf der ganzen rechten Körperhälfte steif wie ein Stockfisch.

»Richtig gelähmt?« fragte Misia, mit der Eindringlichkeit von jemandem, der es wirklich ganz genau wissen will.

»Halbseitig«, antwortete ich und strich mir mit der Handkante von der Stirn hinab zur Brust.

»Und dann?« fragte Misia. Sie musterte mich, als wolle sie sehen, welche Spuren die ganze Sache hinterlassen hatte, aber sie tat es mit einer Art herzlicher Neugier, ohne im geringsten in Mitleid zu verfallen.

»Meine Großmutter hatte einen wütenden Streit mit meinem Vater. Sie hat schon immer ihren eigenen Kopf gehabt. Sie war eine der ersten Frauen in Italien, die sich auf Gynäkologie spezialisierten. Ein bißchen verrückt ist sie auch. Du solltest sie sehen.«

»Sie würde mir gefallen«, sagte Misia; und ich spürte, daß es stimmte. Ihr Interesse versetzte mein Herz und meine Gedanken in Aufruhr; ich war froh, ihr etwas zu erzählen zu haben.

»Jedenfalls hat sie mich und meine Mutter gepackt und nach Mailand gebracht. Meinem Vater hat sie erklärt, daß sie ihre ganze Kraft darauf verwenden würde, ihn fertigzumachen, falls er es wagte, ihr irgendwelche Hindernisse in den Weg zu legen.«

»Und dann?« wollte Misia wissen (– wie sie sich dabei [41] bewegte, wie sie gekleidet war, wie wach ihr lebendiger Blick).

»Sie verwendete ihre ganze Kraft darauf, mich wiederherzustellen, was bestimmt nicht leicht war. Sie hat sich für ein Jahr beurlauben lassen und ist mit mir durch die halbe Welt zu allen Spezialisten gereist, die sie ausfindig machen konnte, und hat mich alle möglichen unkonventionellen Therapien machen lassen, bis ich die rechte Hand und das rechte Bein bewegte und das rechte Auge öffnete.«

»Das war großartig von ihr«, sagte Misia mit einem Blick, der mir Schauer von den Fersen bis in die Haarspitzen aufsteigen ließ. »Jetzt geht es dir ausgezeichnet, oder?«

»Ja«, sagte ich und war mir nicht mehr sicher, ob ich gut daran getan hatte, ihr davon zu erzählen. »Nur bin ich mit der linken Hand viel geschickter als mit der rechten, und wie du siehst, bin ich auch ziemlich asymmetrisch und habe verschiedenfarbige Augen.«

»Zeig mal«, sagte Misia, plötzlich aufgeregt wie ein kleines Mädchen.

Ich zeigte ihr also meine verschiedenfarbigen Augen, und als sie sich zu mir herüberbeugte, sah ich ihre hellen Augen aus nächster Nähe und sog ihren warmen Atem ein, und mir war, als würde ich im nächsten Augenblick das Gleichgewicht verlieren und mitsamt dem Fahrrad hintenüberfallen.

Dann gingen wir Seite an Seite weiter, und Misia erzählte mir von ihrer Familie oder von den einzelnen Bestandteilen, aus denen sie sich zusammensetzte: von ihrer schönen und fragilen Mutter, die Glasbläserin war, und ihrem Vater, der die Familie im Stich gelassen hatte und mit einer anderen nach Südafrika gegangen war, als Misia elf Jahre alt war, [42] und der, als er zurückkam, das ganze Geld ihrer Mutter mit kopflosen Unternehmungen verpulverte und sich wie der verwöhnte Bruder seiner Kinder aufführte, um dann neuerlich zu verschwinden. Sie erzählte mir von ihrem jüngeren Bruder, der bei ihr wohnte und ein guter Fotograf sein könnte, wenn er keinen so labilen Charakter hätte; von ihrer Schwester, deren totale Beschränktheit sie schon seit ihrer Kindheit rasend machte. Sie hatte eine phantastische Art zu erzählen, schuf mit wenigen Sätzen lebendige, klare Bilder, aus denen in raschem Wechsel Staunen, Neugier, Nachdenklichkeit und Unruhe sprachen. Wenn sie über eine bestimmte Person oder einen Ort sprach, schien sie die Bedeutung und den Klang der Wörter für ihre Beschreibung aus dem Augenblick heraus zu erfinden, so daß man nie im voraus wußte, was kommen würde. Und sie war ungeheuer fix. Sie schien den Kern eines Problems im Nu zu erfassen, ging es durch bis in seine entlegensten Verzweigungen. Von allen, die ich kannte, war nur Marco so fix wie sie; aber ihn durchströmte die Ungeduld manchmal wie ein Gift, sie verband sich nicht wie bei Misia so harmonisch und natürlich mit seinen anderen Fähigkeiten. Ich war noch nie einer Frau begegnet, die so interessant, so unvorhersehbar und so schwer einzuordnen und noch dazu so schön war wie sie.

Bei einer kleinen Eisenbrücke erzählte sie wieder von ihrer Arbeit in der Restaurierungswerkstatt. »Man entdeckt immer irgend etwas Neues, auch wenn man genau zu wissen glaubt, was einen erwartet. Man hat ein Gemälde vor sich und muß es mit sehr viel Feingefühl behandeln, sonst wirkt es nachher flach oder hoffnungslos grell oder dumm oder ordinär. Man muß fast so behutsam vorgehen wie ein [43] Minenentschärfer. Und während man allmählich die schützende Patina und den Schmutz entfernt, merkt man, daß es darunter lebendig ist. Wie ein Fisch, der in einen Eisblock eingefroren ist. Du taust das Eis nach und nach auf, es schmilzt, und auf einmal beginnt der Fisch, zu zucken und sich mit silbrig glänzenden Schuppen zu bewegen. Es ist wie ein Zauber.«

Auch an ihr entdeckte ich immer wieder etwas Neues, sie überraschte mich noch viel mehr, als ich es je erwartet hätte; ich hatte das Gefühl, völlig die Sprache verloren zu haben, während wir mit unseren Fahrrädern durch den Park gingen, ich hörte ihr nur noch schweigend zu. Als sie wissen wollte, was ich so machte, gelang es mir nicht, die Tatsache, daß ich Geschichte studiert und eine Arbeit über den vierten Kreuzzug geschrieben hatte, irgendwie herauszustreichen.

»Ist das interessant?« fragte sie, den Kopf zur Seite geneigt, mit einem komischen, neugierig-perplexen Blick.

»Ziemlich«, sagte ich. »Die Kreuzzüge waren der Beginn einer Menge entsetzlicher Dinge, die bis heute andauern. Und der Zusammenprall zwischen zwei schrecklich weit voneinander entfernten Welten. Aber so ist die ganze Geschichte, wenn du versuchst, mehr als die Daten und Namen zu sehen, die du in der Schule auswendig lernen mußt. Nichts als Raubzüge und versuchte Raubzüge und Gewalt gegen Menschen, Raffgier und Verdächtigungen und Mißverständnisse und Unverständnis.«

Sie sah mich sehr interessiert an, aber ihr Interesse hatte zur Folge, daß ich mich rettungslos von dem, was ich sagte, [44] entfernte und mir alles abstrakt erschien. Es wäre mir viel lieber gewesen, ich hätte ihr von Feldforschungen in der Türkei, im Libanon, in Syrien oder Israel erzählen können anstatt von dem, was ich mir in vielen Jahren in der muffigen Bibliotheksluft angelesen hatte; ich hätte ihr gern Informationen aus erster Hand geliefert, anstatt die Arbeit anderer zu interpretieren, wäre gern bei jedem Atemzug suggestiv und gewandt und voller Überraschungen gewesen. So wechselte ich unvermittelt den Ton: »Aber jetzt mache ich einen Film mit meinem Freund Marco.«

»Einen Film worüber?« fragte Misia, anstatt von dem Gedanken als solchem beeindruckt zu sein. Es war einfach ihre Art: Sie ließ sich nicht von Worten blenden, sie fragte immer gleich nach, was dahintersteckte.

Und so brachte sie mich erneut in Verlegenheit. »Es ist eine komplizierte Geschichte. Oder eigentlich gar keine Geschichte, eher so was wie eine freie Verkettung von Ereignissen.« Ich schwitzte vor Anstrengung und hätte ihr plötzlich lieber von meiner Indienreise vor zwei Jahren erzählt.

»Was heißt freie Verkettung?« fragte sie und wirkte fast verletzlich, so unverfälscht war die Neugier in ihrem Blick.

»Bisher existiert fast alles nur im Kopf meines Freundes«, erklärte ich. »Er ist mein bester Freund, ein toller Typ.« Bei ihr gelang es mir nicht, mich aufzuspielen, sie ließ sich einfach nichts vormachen. Ich erzählte ihr von Marco Traversi und von seiner Idee, einen Film zu drehen, und wie er auch mich angesteckt hatte, so daß wir immer wieder darüber redeten und uns jedesmal, wenn wir uns sahen, neue Einzelheiten erdachten, und während ich redete, saugte ich ihr [45] Interesse in mich ein wie die berauschendste Substanz, es machte mich schwindlig und erweiterte alle meine Wahrnehmungen.

Ich und Misia vor einem der Gittertore des Parks an einer Straße voll schnellem Verkehr: tosender Lärm, bewegte Luft. Misia, wie sie mir zuhört, ich laut redend und mit der freien Hand herumgestikulierend. Ich wäre gern das schwere metallene Fahrrad los, das neben mir hergleitet, und die Wogen mechanischer Geräusche in meinen Ohren.

Ich und Misia, wie wir in die Pedale treten, ohne aufzuhören zu reden, wir schreien, um gegen den Motorenlärm anzukommen. Misia radelt genauso natürlich und konzentriert, wie sie alles andere tut, trotzdem kommt es mir vor, als bewege sie sich mit einem gewissen Leichtsinn durch den Verkehr; an jeder Kurve, Kreuzung, Ampel überkommt mich das Bedürfnis, sie zu beschützen.

Ich und Misia in einer Bar nahe ihrer Wohnung, eiskalten Wodka trinkend. Misia lacht über meine Art, so laut zu reden: Sie sagt, sie sieht darin Großzügigkeit, ein Zeichen für Offenheit gegenüber dem Leben.

Ich und Misia auf unseren Fahrrädern, kurz bevor wir uns an einer Kreuzung trennen. Ich bestehe darauf, sie nach Hause zu begleiten, sie lehnt ab, schüttelt lächelnd den Kopf. Mir scheint, wir haben alle Zeit der Welt, uns wiederzusehen; mir scheint, wir haben keine Zeit; mir scheint, wir können uns nicht mehr aus den Augen verlieren; mir scheint, der Kontakt zwischen uns ist nicht mehr als ein dünner Lichtstrahl.

Misia, wie sie davonradelt; als sie fünfzig Meter weit weg ist, kommt es mir schon seltsam vor, je mit ihr verabredet [46] gewesen und mit ihr herumgelaufen zu sein, drei Stunden lang mit ihr geredet zu haben. Misia, wie sie sich umdreht und mir von weitem nochmals zuwinkt, mit einer Geste, die so leicht ist wie ihr Lächeln.

Ich, wie ich mit rasch klopfendem Herzen davonfahre und denke ›morgen morgen morgen‹; denke ›vor fünf Minuten‹.

[47] Sechs

Marco war immer mehr von der Idee mit dem Film gepackt; es war fast zur Obsession geworden, er konnte an nichts anderes mehr denken. Er hatte begonnen, aus den Notizen in seinem Spiralheft und aus dem, was wir besprochen hatten, während wir in der Stadt herumstreiften, ein richtiges Drehbuch zu machen, hatte sich von einer Freundin eine alte Schreibmaschine geliehen und tippte jeden Tag Seite um Seite. Mit dichtbeschriebenen, schon ganz zerknitterten Blättern kam er zu mir, lief, während ich las, zwischen Fenster und Tür auf und ab, und dabei kamen ihm neue Ideen; er riß mir die Blätter aus der Hand, rief »Halt, warte«, strich durch, stellte Wörter und ganze Sätze um und fügte mit hektischer Schrift neue hinzu.

Es war immer mehr sein Film, obwohl er mich weiterhin nach meinen Ansichten und Ideen fragte und ich ihm weiterhin Tips gab: Er konnte mir seine Geistesblitze, die Sprünge seiner Phantasie und den Grundentwurf, der in seinem Kopf entstand, immer weniger klarmachen. Trotzdem hatte er das Bedürfnis, mit mir zu reden und mich die ganze Zeit mit einzubeziehen, wollte Antworten und Anregungen von mir haben, sah mich an, um herauszufinden, was ich wirklich dachte, ob ich ihm nur aus Freundschaft beipflichtete oder weil ich überzeugt war. Ich war überzeugt, obwohl ich nicht bis ins letzte verstand, was er [48] erzählen wollte: Die Gedanken an Misia versetzten mich in einen so fieberhaften Zustand, daß ich alles getan hätte, nur um nicht wieder in die dumpfe Untätigkeit von früher zu verfallen, bevor ich sie kennengelernt hatte.

Wir nahmen unsere Streifzüge durch die Stadt wieder auf, suchten nach Schauplätzen für die Außen- und Innenaufnahmen, obwohl das Drehbuch noch gar nicht fertig war und weder er noch ich genau wußte, wie man überhaupt eins schreibt. Wir sahen uns Innenhöfe und Treppen an, stritten mit Hausmeisterinnen herum, riskierten, überfahren zu werden, wenn wir mitten im Straßenverkehr Hausecken und Fassaden begutachteten. Wir beobachteten die Passanten auf der Straße und wiesen uns gegenseitig auf die hin, die Ähnlichkeit mit einer unserer Filmgestalten hatten oder uns auf Ideen bringen konnten, wie wir sie verändern konnten. Manchmal liefen wir hinter jemandem her, um herauszufinden, ob unsere Ansichten über ihn übereinstimmten, bis er es merkte und sich wie ein gehetztes Tier jäh umwandte.

»Wir suchen Leute für einen Film«, sagte Marco dann so gelassen, wie er konnte; die Reaktionen waren nie sehr positiv, vielleicht weil weder er noch ich wie jemand vom Film aussahen. Als wir uns über die Physiognomie der einzelnen Figuren mehr oder minder einig waren, versuchten wir, ehemalige Mitschüler oder Kommilitonen, Freunde und Exfreundinnen ausfindig zu machen, wer uns für eine bestimmte Rolle gerade einfiel. Wir riefen von meiner Wohnung aus an, vor uns die Blätter, auf die Marco die zu vergebenden Rollen und die mit Kreuzchen und Fragezeichen markierten Namen der dafür vorgesehenen Interpreten getippt hatte.

[49] Dabei hatten wir keine Ahnung, wie wir an eine Filmkamera kommen sollten, an Scheinwerfer, Filmmaterial und was man selbst als absolute Dilettanten sonst noch braucht, um einen Film zu drehen. Sobald ich das Thema anschnitt, winkte Marco ab, sagte »Das sehen wir dann, Livio«, so daß ich mir jedesmal kleinlich wie ein Buchhalter vorkam. Aber ich konnte nicht umhin, daran zu denken, sosehr ich mich auch bemühte; ich war mir zu sehr der Mauer aus praktischen Gründen bewußt, gegen die wir irgendwann prallen würden; ich hatte unser Campingerlebnis ohne Schlafsack und ohne Decken noch zu deutlich in Erinnerung. Als ich ihn deswegen wieder einmal bedrängte, sagte er: »Hör zu, wir klauen das ganze Zeug, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.«

»Klauen?« fragte ich teils befremdet, teils erregt: mit mentalen Bildern von uns, wie wir verhaftet werden, wie wir im Gefängnis sitzen.

»Wir klauen das Zeug«, wiederholte Marco, auch wenn er mir, glaube ich, nie hätte sagen können, wie und wo. Auch das war typisch für unser damaliges Verhalten, das zum Teil von den Büchern herrührte, die wir lasen, von der Musik, die wir hörten, von den Filmen, die wir sahen, und von der Stimmung, die in der Luft lag: Wir kamen uns wie Gesetzlose vor, obwohl unser Leben dicht unter der Oberfläche unserer Worte und unseres Verhaltens jämmerlich harmlos war.

Dann aber haben wir das Zeug für den Film tatsächlich geklaut, wenn auch nicht Marco und ich eigenhändig. Eines Samstagnachmittags traf ich auf der Straße vor meiner [50] Wohnung, als ich gerade sehr heftig an Misia dachte, die aus beruflichen Gründen nicht nach Mailand hatte kommen können, einen Typen, den ich von einer Reise nach Umbrien vor drei Jahren kannte. Er hieß Settimio Archi, war klein und mager, mit langen Haaren und einem Spitzbart, durchströmt von einer Art intensiver, verstohlener nervöser Energie. Er hatte diesen Blick eines rastlosen, ziemlich häßlichen, aber sehr überlebensfähigen Waldtiers. Jahrelang war er zwischen Italien und dem Orient und Marokko hin und her gereist und hatte Haschisch geschmuggelt, das er in Figuren und Tischchen aus Holz stopfte und in Mailand verkaufte. Ich glaube, er lebte hauptsächlich davon, aber er war nicht bloß ein Dealer, sondern auch ein ziemlich komischer Vogel mit Anfällen von Großzügigkeit und einer wahren Leidenschaft für Rockmusik; seine Sammlung von Hunderten schwer aufzutreibender Platten füllte fast seine ganze Wohnung am Westrand von Mailand. Das Problem mit ihm war, daß er an einer Art krankhafter Lügensucht litt, die sich auf alles erstreckte, was er sagte, so daß man nie wußte, was wahr war und was nicht, und einem immer ein leiser Zweifel blieb. Als ich zum Beispiel einmal mit dem Fahrrad unterwegs war, erschien er plötzlich auf einem schweren japanischen Motorrad mit extrem tief liegendem Lenker neben mir, redete auf mich ein »Gefällt dir die Maschine?« und »100 PS« und »Hab ich mir gerade gekauft« und ließ immer wieder den Motor aufheulen; als ich ihn dann das nächste Mal sah, sagte er, es sei ihm gestohlen worden, aber mit so unbeteiligter Miene, daß mir der Verdacht kam, es sei gar nicht sein eigenes gewesen; wahrscheinlich hatte er es sich von jemandem geliehen, um eine Runde zu fahren.

[51] Ein andermal erzählte er mir tief bekümmert, seine Mutter sei gestorben, und kassierte von mir Dutzende bestürzter Sätze und teilnahmsvoller Worte; ein paar Tage darauf sah ich ihn zufällig mit ihr aus einem Supermarkt kommen, beide beladen mit Einkaufstüten. Dann wieder erzählte er Dinge, die ich automatisch als falsch einstufte und die sich dann als wahr herausstellten; man wußte nie, woran man war, auch sein Blick half einem überhaupt nicht.

Als ich ihm nun vor meiner Wohnung wieder begegnete, begrüßte er mich mit überschwenglicher Herzlichkeit und wollte mich unbedingt in die Bar-Tabaccheria an der Ecke schleppen. Um ihm nicht allzuviel Zeit für seine Flunkereien zu lassen, redete ich selbst soviel wie möglich, erzählte von dem Film, den Marco und ich machen wollten, und daß wir noch kein Filmmaterial und keine Kamera hatten und auch kein Geld, um eine zu kaufen oder zu mieten. Er hörte mir zu und trank in kleinen Schlucken seinen Martini-Cocktail, nickte immer wieder, blickte hierhin und dorthin; sagte schließlich »Kein Problem«.

»Wie meinst du das?« fragte ich. Mir fiel ein, daß ich ihn Marco für eine Filmrolle vorschlagen könnte, mit diesen Augen eines Raubtiers, das auf der Beuteskala zwar benachteiligt, aber fest entschlossen ist, nicht zu verhungern.

»Kein Problem«, wiederholte Settimio Archi. Er bewegte ständig die Knie, bewegte die Schultern und den schmächtigen Oberkörper und den Kopf und den Blick; mir war nicht ganz klar, ob aus angeborener Unruhe oder um sich einem endgültigen Urteil zu entziehen. (Auch Marco war immer in Bewegung, drinnen oder draußen, aber auf eine [52] ganz andere Art, so als wäre er immer auf der Suche nach irgend etwas und könne es nicht finden.)

»Wie meinst du das?« fragte ich erneut, mit einem Gefühl der Erschöpfung beim Gedanken, so ins Leere zu reden; einem Anflug von Verzweiflung beim Gedanken an Misia, die in Florenz geblieben war.

»Ich besorge dir das Zeug«, sagte Settimio Archi und schaute dabei einem jungen Mädchen, das sich den Mantel anzog und die Bar verließ, auf den Hintern. »Ihr müßt mir dafür nur eine Rolle in eurem Film geben. Ich hab schon immer davon geträumt, Filmschauspieler zu werden, porca puttana.« Er machte eine doppelte Handbewegung, als lade er eine Pistole, lachte schallend los, wie es seine Art war.

Ein paar Stunden später hatte ich die Begegnung mit ihm schon wieder vergessen, redete mit Marco schon wieder völlig unkonkret über das, was wir mit unserem Film bewirken und entdecken und beweisen wollten. Wir hatten uns schon wieder in tausend abstrakte, nebensächliche Details verloren, auf dem besten Weg, gegen unsere alte Barriere der Tatsachen zu prallen.

Aber Settimio Archi hatte es keineswegs vergessen: Fünf Tage nach unserem Gespräch klingelte er an der Gegensprechanlage meiner Wohnung, sagte: »Livio, komm mal runter, los, beeil dich.«

Ziemlich verärgert über seinen Ton ging ich die Treppen hinunter; er ließ mich in einen klapprigen VW-Käfer einsteigen und deutete auf den Rücksitz, und da lagen, in zwei Müllsäcke verpackt, Dutzende von Kodak-Farbfilmdosen und eine alte 16-mm-Beaulieu-Kamera mit Kassetten und [53] Sonnenblende und diversem Zubehör und ein professionelles Nagra-Aufnahmegerät. »Na?« fragte Settimio. Er sah mich spitz und voller Genugtuung an, sagte: »Gut so?«

»Gut so«, sagte ich. Wir schleppten alles in meine Wohnung hinauf, und ich rief sofort Marco an, erzählte ihm aber nichts, sagte nur: »Komm schnell zu mir. Ich hab eine Überraschung.«