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Ein Regisseur aus Europa fliegt nach Los Angeles, um sich mit dem mexikanischen Schriftsteller zu treffen, dessen Buch er verfilmen will. Yucatan ist noch faszinierender, noch ungewöhnlicher als De Carlos bisherige Romane. Er konfrontiert in diesem Buch die amerikanische Technologie-Euphorie mit der metaphysisch und mythologisch geprägten Welt Mittelamerikas. Brillant, detailgetreu und von beißender Ironie.
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Seitenzahl: 324
Andrea De Carlo
Yucatan
Roman
Aus dem Italienischen von
Jürgen Bauer
Titel der Erstausgabe: ›Yucatan‹
Copyright © 1986 by Gruppo Editoriale Fabbri,
Bompiani, Sonzogno, Etas S.p.A., Milano
Die deutsche Erstausgabe erschien
1988 im Diogenes Verlag
Der Übersetzer dankt Stefano Matera
für seine wertvolle Mithilfe
Umschlagillustration von Anna De Carlo
Copyright © Anna De Carlo
Für G. und G.
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 21911 1 (3.Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60234 0
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] You’ve missed the point completely, Julia. There were no tigers. That was the point.
Du hast die Pointe gar nicht begriffen, Julia. Da waren keine Tiger, das war die Pointe.
[7] Inhalt
Warten ist ziemlich typisch [9]
Das Lächerliche[18]
Ich wache viel zu früh auf [20]
Verena würde wahrscheinlich sagen[32]
Anscheinend bin ich eingeschlafen [34]
Das Telefon klingelt unerbittlich [43]
Wir gleiten mit etwa der gleichen Geschwindigkeit dahin [53]
Während[69]
Ich hab Kopfschmerzen und noch immer ein Pfeifen in den Ohren [71]
Nur hin und wieder belebt ein trockener Strauch [81]
Vielleicht hatte ich[101]
Gegen sieben gehe ich zu Dru [103]
Dru sitzt in einer der beiden Bars [122]
Nesbitt fährt durch den dichten Vormittagsverkehr [134]
Bisweilen[146]
Um Viertel nach sieben ruft Elaine an [149]
Es ist schon mindestens eine Stunde dunkel [173]
Mittlerweile[192]
Es klopft an der Tür [194]
In Los Angeles ist es genau zehn Uhr [206]
Rickie zieht den Vorhang auf [220]
Ich bemühe mich, ruhig zu atmen[244]
[9] Warten ist ziemlich typisch
Warten ist ziemlich typisch für Dru Resnik. Beinahe alle seine Filme beginnen oder enden auf einem Flughafen, mit einer Szene wie der jetzt hier in Heathrow, wo wir auf ihn warten. Ich habe irgendwo gelesen, das sei eine Art Symbol für die wechselhaften Zufälle des Lebens, oder so ähnlich. Vielleicht ist es auch eine der Zutaten, die jeder Regisseur seines Niveaus verwendet, damit seine Produkte sofort als solche identifiziert werden können und die Kritiker und all die semiprofessionellen Kinosachverständigen Arbeit bekommen.
Wie dem auch sei, ich laufe jetzt hin und her, um möglichst den ganzen Eingangsbereich zu überblicken, und nach fünf Minuten kommt er, zusammen mit seiner Frau Verena und einem seiner großen Reisekoffer auf Rollen. Schon auf diese Entfernung sieht man ihm den großen Künstler von internationalem Rang an: Da ist etwas in seiner Art zu gehen, dem Schnitt und Stoff seiner Kleidung. Er wirkt jünger als zweiundvierzig mit der zerzausten Frisur und den nervösen Füßen, die in Tennisschuhen stecken, und doch ist einem sofort klar, daß er nicht jünger ist. Man sieht es ihm zu deutlich an, daß er über ein allgemein anerkanntes Talent verfügt; er ist zu offensichtlich mit den Gedanken ganz woanders und mehr als die anderen Reisenden auf sich selbst konzentriert, während er die große Halle durchquert.
Mit den Worten: »Hallo, Dave! Fein, daß du mitkommst!« drückt er mir die Hand.
[10] »Ich freue mich auch, daß es klappt«, sage ich.
Er zeigt auf meine Umhängetasche und sagt: »Du mußt mir mal erklären, wie du es fertigbringst, mit so wenig Gepäck zu reisen.« Mein Blick fällt auf seinen riesigen Koffer: Ich nehme an, daß seine Frau den für ihn packt und daß sie dabei mit mehr klimatischen Veränderungen und gesellschaftlichen Ereignissen rechnet, als selbst einem Dru Resnik unterkommen können.
Seine Frau lächelt mir zu wie einem Hausangestellten von gewissem Rang, läßt dann sofort den besorgten Blick weiterwandern. Sie ist groß, eine schöne Frau, wirkt mit ihrer Art des deutschen Ex-Fotomodells ein wenig steif. Dru läßt sie vorangehen, als beabsichtige er nicht, ihr zu folgen, und folgt ihr dann doch, ganz angespannt, wohl wegen irgendeiner Auseinandersetzung, die sie im Taxi auf dem Weg zum Flughafen hatten. Und es behagt ihm überhaupt nicht, in ein Flugzeug steigen zu müssen, er hat Angst vor dem Fliegen.
Verena beugt sich zu der Angestellten am Check-in-Schalter vor, läßt sich Informationen, die sie anderswo bekommen hat, noch einmal bestätigen. Die Angestellte antwortet mit verhaltener Höflichkeit; dann erblickt sie Dru, und es kommt Leben in ihren Gesichtsausdruck, sie ringt sich sogar ein Lächeln ab.
Dru sagt: »Ich muß mal telefonieren«, und verschwindet. Verena zwingt mich, sie in die VIP-Lounge zu begleiten, eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken. Dort beginnt sie, mir mit dem Ausdruck größter Besorgnis von irgendwelchen Kaminen zu erzählen, die sie in ihrem Wohnzimmer nicht einbauen oder ausbauen kann, ohne eine ganze Wand einzureißen. Ich würde ihr am liebsten sagen, daß ich für ihren Mann arbeite, um das Filmemachen zu lernen, daß mich ihre Wohnungseinrichtungsprobleme nicht [11] interessieren. Zu allem Überfluß dreht sie sich auch noch ständig nach der Glastür herum, alle paar Sätze. Sie setzt zwar immer an der Stelle wieder an, wo sie aufgehört hat, aber ich schaffe es nicht, ihr zu folgen; ich betrachte ihre eleganten Hände mit den feingliedrigen Fingern.
Dru kommt herein, läßt sich eine Tasse Kaffee geben und setzt sich. Er trinkt einen Schluck und flucht: »Scheißbrühe.« Man sieht ihm auf den ersten Blick an, daß er mit den Gedanken noch bei dem Telefongespräch ist, er bemüht sich auch gar nicht weiter, das zu verbergen. Verena kämmt sich mit den Fingern die Haare nach hinten, sinniert dabei über den Gesichtsausdruck ihres Mannes; zum Glück erzählt sie mir die Geschichte mit den Kaminen nicht zu Ende.
Eine Lautsprecherstimme fordert uns zwei oder drei Mal auf, uns an Bord zu begeben, aber Dru rührt sich nicht, sitzt reglos da, ist erstarrt in unserer Gesprächslosigkeit. Erst im allerletzten Augenblick springt er auf, und wir rennen hinaus. Verena folgt uns bis zum Metalldetektor; dort bleibt sie stehen, winkt uns ein ums andere Mal nach, bis wir endgültig um eine Ecke verschwunden sind.
Durch die Fenster rechts von mir dringen Sonnenstrahlen, die Luft der Druckkabine umstreicht mich, hinter den Vorhängen klirren Gläser. Nicht schlecht hier in der First Class, wir haben viel Platz nach vorne und hinten und nach beiden Seiten, die Stewardessen kommen im Zwei-Minuten-Takt bei uns vorbei, lächeln uns an und schenken uns Champagner nach, sooft wir wollen. Die anderen Passagiere sind alt und reich, tragen Seidentücher, teure Uhren und Maßschuhe und sitzen träge und unbeteiligt in den gepolsterten Sitzen. Die einzige relativ junge Person außer Dru und mir ist eine nuttig aufgetakelte Brünette, die neben einem widerlichen Kerl sitzt. Jedesmal, wenn ich zu ihr hinsehe, schaut er mich an, als würde ich sie anhimmeln.
[12] Dru wirkt wie immer, wenn er fliegt; jede winzige Veränderung im Klang der Motoren, jede noch so geringe Kurskorrektur läßt ihn erstarren. Aber man muß ihn kennen, um das zu bemerken; auf einen Fremden würde er wahrscheinlich geradezu gelangweilt wirken, wie er, auf einen Ellenbogen gestützt, die Augen halb geschlossen, dasitzt. Er dreht sich zu mir herum, sagt: »Du möchtest vielleicht etwas über diese Reise wissen.«
»Na, und ob«, sage ich. Es gehört zu meiner Arbeit, mich zu verstellen, anpassungsfähige Aufmerksamkeit zu zeigen, halb technisch und halb freundschaftlich, sie je nach Informationsfluß an- und abzustellen. Ich glaube, es gibt nicht viele andere Möglichkeiten, mit Dru zu kommunizieren, vor allem, wenn man sein Assistent ist.
Er sagt: »Es ist ein Film, der mir seit Jahren im Kopf herumgeht. Schon, als ich noch in Jugoslawien war.«
Ich sage »Ah« und warte. Nicht, daß ich mich bei dieser Art von Gespräch sonderlich amüsieren würde. Es ist, wie wenn man mit jemandem spazierengeht, der die Füße schleifen läßt, stehen bleibt, losrennt oder zurückläuft oder kilometerweit vor sich hingeht, ohne einem mitzuteilen, was er vorhat. Schon, als er noch in Jugoslawien war, das heißt, seit mindestens sieben Jahren. Ich war zu der Zeit sechzehn oder siebzehn und hab mir seine Filme in irgendeinem kleinen Programmkino angesehen, inmitten von Cineasten. Es waren kurze, billige Streifen, schwarzweiß oder in den häßlichen Farben osteuropäischer Filme, aber Lichtjahre von allem entfernt, was es sonst zu sehen gab. Ich glaube nicht, daß Dru damals viel ans Publikum oder an die Kritiker gedacht hat, wenn er auch außerhalb seines eigenen Landes bereits eine Art Kultobjekt geworden war. Ich glaube nicht, daß er sich jemals vorgestellt hat, irgendwann in so einer Finanz- und Organisationsmaschinerie zu [13] enden, wie sie sich jetzt um ihn gebildet hat; so uneingeschränkt anerkannt und gefeiert zu werden, was immer er machte. Aber vielleicht hat er auch seine Zeit damit verbracht, sich genau das vorzustellen; das ist schwer zu sagen.
Er meint: »Ich weiß nicht, ob dir der Name Astor Camado etwas sagt, der Schriftsteller.«
»Doch«, sage ich und versuche, schnell darauf zu kommen, wer das ist. Der Name kommt mir bekannt vor, und ich sehe vage ein paar Schutzumschläge; ich glaube nicht, daß ich schon mal was von ihm gelesen habe.
»Und du hast was von ihm gelesen?« fragt Dru in seinem einschüchternden Ton.
»Ich hab vor allem von ihm gehört«, sage ich. Mich nervt die Rolle des Ignoranten, die ich jetzt spiele, aber es stimmt, daß ich meine Freizeit nicht gerade damit verbringe, Romane zu verschlingen. Ich kann so gut wie nie irgendeinen Sinn in ihnen entdecken, so unpräzise, wie sie geschrieben sind, und angefüllt mit unnützen Beschreibungen von Gefühlen.
Dru sagt: »Na gut, er hat jedenfalls vier Bücher geschrieben, in denen er die gleiche Story von vier verschiedenen Standpunkten aus erzählt. Es geht um einen jungen New Yorker Musikwissenschaftler südamerikanischer Abstammung, der für Forschungsarbeiten nach Mexiko geht und dort einen Indio-Zauberer trifft, der ihn nach und nach in einen Strudel magischer Praktiken hineinzieht und ihn schließlich in Kontakt mit einer jenseitigen oder, wenn du willst, parallelen Welt bringt.«
Ich nicke; die Handlung des Films ist mir klar, und auch, welchem Genre er angehört.
»Ich war immer der Meinung, daß ein unglaublicher Film daraus werden könnte«, sagt Dru. »Wie der Protagonist [14] sich immer mehr vom wissenschaftlich-rationalen Denken entfernt, hinter dem er sich anfangs verschanzt, die Landschaften aus Licht und Gestein im Reinzustand und die seltsamen, so schwer wie präkolumbianische Abbildungen zu enträtselnden Personen. Es ist eine Darstellung von Gefühlszuständen, von Verschiebungen mehr als von unverrückbaren Tatsachen. Es enthält außergewöhnliche Beschreibungen der Leere, von Ängsten und Anziehungskräften.« Dann schaut er, beunruhigt von einer leichten Neigung der Tragflächen, aus dem Fenster.
Ich demonstriere weiter Aufmerksamkeit, warte. Nach dem unglaublichen Erfolg der beiden letzten Filme dürfte es nicht so einfach sein, sich etwas Neues einfallen zu lassen. Der Druck muß ziemlich groß sein, von allen Seiten.
»Schon Camados persönliche Geschichte ist recht merkwürdig«, sagt er dann. »Seine Bücher wurden zu Millionen verkauft, aber es ist bis heute niemandem gelungen, ihn zu fotografieren, ein Interview mit ihm zu machen oder herauszubekommen, wer er wirklich ist. Jedesmal, wenn ich versucht habe, wegen der Filmrechte für einen Roman mit ihm Kontakt aufzunehmen, hat man mir etwas anderes erzählt. Zuerst bekam ich zu hören, Peyotl und Mescalin hätten ihn in den Wahnsinn getrieben, und er lebe wie ein Zombie irgendwo im kolumbianischen Urwald, dann, er sei tot, dann wieder, er lebe noch, wolle aber für jedes seiner vier Bücher zehn Millionen Dollar, und schließlich, er existiere in Wirklichkeit überhaupt nicht, sei nicht mehr als ein Name, mit dem ein Verlag ein Geschäft zu machen versuche. Das hat mir die Gattin des Präsidenten von Mexiko erzählt, bei einem Essen in Paris. Selbst sein Agent hat behauptet, er wisse nichts über ihn, die Manuskripte erhalte er per Post.«
Eine hübsche dunkelhaarige Stewardess füllt mein Glas [15] nach, versucht, Drus Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hält ihm eine Flasche Champagner hin; als er, ohne auch nur hinzusehen, den Kopf schüttelt, zieht sie sich zurück.
»Vor einem Monat hat mich dann Jack Nesbitt angerufen. Es sind schon ein paar Jahre, daß er sich in den Kopf gesetzt hat, einen Film mit mir zu produzieren. Er hat von seinem Vater, einem Ölmagnaten, unglaublich viel Geld geerbt, und wenn er auch nicht viel vom Kino zu verstehen scheint, so zeigt er doch immerhin eine anhaltende Begeisterung für mich. Ich hatte ihm irgendwann von Camado erzählt, und anscheinend hat er es fertiggebracht, ihn aufzuspüren und ihn dazu zu bewegen, mir die Filmrechte zu überlassen. Und jetzt soll es also zu der historischen Begegnung mit dem großen Autor kommen, damit man miteinander sprechen und auch mal nach Mexiko rüberschauen und sich die Orte, an denen seine Bücher spielen, ansehen kann.«
Ich würde ihm noch weiter zuhören, aber er sagt nichts mehr, dreht sich zur anderen Seite und schaut aus dem Fenster. Ich stehe auf, um mir die Beine zu vertreten, und gehe auf ein Schwätzchen zu der hübschen dunkelhaarigen Stewardess. Sie lacht, fragt mich, wo ich meine Schuhe gekauft habe; ob wir nach Amerika kommen, um einen Film zu drehen, oder warum sonst. Sie zeigt nach vorne auf Dru, fragt, ob wir mal bei ihr vorbeischauen, wenn wir nach Boston kommen und sie gerade frei hat. Ich sage ihr, für Dru könne ich nichts versprechen, aber ich würde bestimmt kommen; auch wenn natürlich er derjenige ist, für den sie sich interessiert.
Schließlich schweben wir niedrig über dem nächtlichen Los Angeles; rollen über die Landebahn; verlassen zusammen mit Dutzenden von zerknitterten Passagieren, die an nichts [16] anderes denken als daran, ins Bett zu kommen, eilig das Flugzeug und hasten die Gangway hinab.
In der Halle mit den Gepäckförderbändern winkt uns ein Mann Mitte dreißig aus einer Entfernung von zwanzig Metern zu, strahlt über das ganze Gesicht, als er auf uns zukommt. Er drückt Dru kräftig die Hand, fragt ihn: »Wie war der Flug?«
»Eh«, sagt Dru. Dann stellt er mich vor: »Dave Hollis, mein Assistent; Jack Nesbitt.«
Nesbitt drückt mir die Hand, sagt: »Hi, Dave.« Er ist voller dynamischer Energie, hat einen großen Kopf auf einem dicken Hals, trägt ein blaues Kaschmir-Jackett und am Handgelenk eine Uhr mit vielen Zeigern. Er nimmt Dru den Koffer ab, sobald der ihn vom Band hebt, und zieht ihn zum Ausgang. Draußen öffnet er die Türen eines großen schwarzen Mercedes, hilft mir, die Koffer in den Kofferraum zu packen. Er setzt sich ans Steuer, vergewissert sich, daß bei Dru und mir alles klar ist und fährt in einer weiten Kurve los.
Nach einem anerkennenden Blick auf das Armaturenbrett sagt Dru: »Wie ein echter Hollywood-Tycoon.«
Nesbitt sieht ihn an, sagt: »Nein, er ist in erster Linie sehr bequem.«
»Klar«, meint Dru. Es fällt ihm leicht, die Selbstsicherheit von anderen zu untergraben; das ist eine Art Instinkt von ihm.
Nesbitt fädelt sich in den Strom der Autos ein, die mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf dem Freeway dahinfahren. Er schaut Dru immer wieder an, sagt dann: »Ich hab heute mit Astor zu Mittag gegessen. Er kann’s gar nicht mehr erwarten, dich kennenzulernen.«
»Und wie ist er?« fragt Dru.
»Sehr sympathisch«, sagt Nesbitt. »Und auch witzig. [17] Ganz und gar kein Guru oder Eremit, wie du vielleicht erwartest. Und die Idee mit dem Film begeistert ihn. Er sagt, er hat dich schon immer bewundert, wenn er gewußt hätte, daß du dich für seine Bücher interessierst, hätte er dich aufgesucht.«
Dru scheint nicht sonderlich beeindruckt; er klopft mit den Fingern auf die Armlehne. Fragt: »Und sind wir sicher, daß er es wirklich ist, und nicht irgend jemand, der seine Rolle spielt?«
Nesbitt versucht, ihn in dem ständig wechselnden Licht zu mustern, sagt lachend: »Dru, meinst du, ich laß dich hierherkommen, um dir dann einen Betrüger vorzustellen? Ich war zehn Mal in New York und hab mit Gene Baker, seinem Agenten, gesprochen. Das ist der Originalartikel, garantiert.«
»Großartig«, meint Dru.
Nesbitt wirft ihm weiter rasche Blicke von der Seite zu, wechselt die Spur. »Ich bin sicher, er wird dir gefallen, Dru.«
Dru schaut ohne großes Interesse hinaus auf die Lichter von Westwood, trällert dabei eine Melodie vor sich hin, die in der Ankunftshalle aus den Lautsprechern klang.
[18] Das Lächerliche
Das Lächerliche ist, daß immer, wenn ich es nach langem Nachspüren und Abwarten, nach unzähligen Annäherungsversuchen und Fehlschlägen schließlich schaffe, an eine Story, die mich fasziniert, heranzukommen, mich dann plötzlich nur große Enttäuschung erfüllt. Ich habe noch gar keine genaue Vorstellung davon, wie sie aus der Nähe betrachtet wirklich aussieht, und doch scheint sie mir bereits zehnmal simpler und platter zu sein, als ich sie vorher zu sehen geglaubt hatte, ohne die geringste Spur all der Schattierungen, Tiefen und unvorhersehbaren Wendungen, die ich mir aus größerer Distanz erhofft hatte. Monate und Jahre lang versuche ich, alle davon zu überzeugen, wie außergewöhnlich sie ist, hebe Eindrücke und Empfindungen hervor, vereinfache und verstärke sie, bis mir jemand glaubt, sie nimmt, sie vor mir aufbaut und sich danebenstellt und darauf wartet, daß ich in einer Art von ihr Gebrauch mache, die zumindest dem Aufwand an Energie entspricht, mit dem er mir zu ihr verholfen hat; und anstatt zufrieden zu sein, stehe ich da und sehe sie verlegen und unbeteiligt an. Ich fühle mich wie jemand, der auf der Grundlage einer völlig oberflächlichen Beschreibung brieflich ein Haus mietet und, ohne auch nur den Fuß hineingesetzt zu haben, in den gemieteten Räumen Begegnungen, Diners, Feste und alle möglichen anderen Dinge plant, und für den sich, wenn er nach und nach weitere Einzelheiten an die Seite der Vorstellungen, die er sich gemacht hat, stellt, die [19]
[20] Ich wache viel zu früh auf
Ich wache viel zu früh auf; es dauert immer ein paar Tage, bis ich mit der Zeitverschiebung klarkomme. Ich schalte den Fernseher ein, sehe das übertrieben rosige Gesicht eines Ansagers, ohne zu hören, was er sagt. Das ist ein echtes Hilton-Zimmer, groß und phantasielos eingerichtet, alles perfekt genormt. Ich ziehe die Vorhänge und die Gardinen auf: Mitten in dem Innenhof, der von zwei weiteren Hotelflügeln und einer Mauer eingegrenzt wird, liegt ein Swimmingpool; die Sonne ist noch schwach, ihr Licht gelblichweiß. Ich rasiere mich und stelle mich eine gute Viertelstunde unter die Dusche, die Slogans der Fernsehwerbung dringen durch die Milchglasscheiben. Ich ziehe die leichten Sachen an, die ich in London vor zwei oder drei Monaten getragen habe. Es ist richtiggehend erheiternd, jetzt in Los Angeles zu sein, umgeben von all diesem Komfort.
Die schalldämpfende Verkleidung des Korridors schluckt jedes Schrittgeräusch. Ich bleibe vor Drus Tür stehen, aber es ist nichts zu hören. Wahrscheinlich rasiert er sich gerade, oder er telefoniert, spricht mit gedämpfter Stimme mit einer seiner Frauen in London, um sie zu beruhigen oder sie in einer von Zweifeln gespannten Stimmung zu halten. Oder aber er schläft. Er behauptet immer, er würde sehr früh aufwachen, doch das kann auch eine seiner vielen Methoden sein, mit denen er in anderen Schuldgefühle weckt.
Die Hotelhalle ist, verglichen mit gestern nacht, voller [21] Leben: Manager in grauen oder blauen Anzügen, cremefarben gekleidete ältere Paare und Geschäftsleute aus dem Nahen Osten, die gegen eine Wand gelehnt telefonieren oder miteinander diskutieren und dabei auf die Uhren oder die Gürtel in den Boutiquen schauen.
Ich gehe noch ein Stockwerk tiefer, dort gibt es einige Kaffeebars und Restaurants, einen Friseur, ein Reisebüro. Das ist mehr als ein Hotel, eine Stadt für sich; man könnte hier sein ganzes Leben verbringen, ohne jemals die Nase ins Freie zu halten.
Ich frühstücke in einer der Bars. Ich bestelle fast alles, was auf der Speisekarte steht, einfach so, weniger aus Hunger. Die Bedienungen, alle Lateinamerikanerinnen, eilen mit den Tabletts hin und her. Luft und Licht sind künstlich und werden sorgfältig dosiert; sehr dezent im Hintergrund ertönt Unterhaltungsmusik.
Als ich fertig bin, rufe ich von einem der Telefone im Korridor aus Dru an. Er hebt nach dem ersten Klingeln ab, sagt sofort: »Ach ja, Dave; wir sehen uns um zwölf in der Halle.« Zwar kann er Stunden am Telefon verbringen, aber er mag es absolut nicht, wenn man ihn anruft, für ihn ist das jedesmal ein Einbruch in seine Privatsphäre. Ich hoffe nur, daß ich nicht mein ganzes Leben lang bei diesem Assistentenjob hängenbleibe.
Ich gehe hinaus in den Innenhof mit dem Swimmingpool, auf den Kunststoffrasen, der den Beton bedeckt. Drei oder vier Gäste liegen in Liegestühlen am Beckenrand und nehmen ein Sonnenbad. Ein häßliches Mädchen mit kleinen Augen sitzt hinter einer verglasten Verkaufstheke, in der Badeutensilien und Bräunungscremes ausgestellt sind. Ich zeige auf eine Badehose und eine kleine Schwimmbrille. Sie holt die Sachen heraus, fragt, ob ich gleich bezahle oder ob sie es auf die Rechnung setzen soll. Ich lasse es auf die [22] Rechnung setzen; Nesbitt wird das kaum etwas ausmachen. Dann schwimme ich eine gute halbe Stunde mit gleichmäßigen Zügen im warmen Wasser. Vom Wilshire Boulevard gleich hinter der Mauer dringt Abgasgeruch herüber, der durch die Luft und das Licht hier noch süßlicher als gewöhnlich riecht.
Ich gehe wieder hinauf auf unser Stockwerk und treffe auf Dru, der mit verblüfftem Gesichtsausdruck in der offenen Tür seines Zimmers steht. Er sagt zu mir: »Ich hab dich schon gesucht. Sieh dir das mal an!« und reicht mir ein Blatt Papier. Dann schaut er mich weiter an, neugierig, wie ich reagiere.
Es sind drei mit Bleistift geschriebene Zeilen, die Handschrift ist zittrig und unregelmäßig. Ich lese: Wenn die Aufmerksamkeit in die falsche Richtung zielt ist sie gefährlich denn sie fällt auf einen selbst zurück. Wir beobachten dich.
Dru fragt mich: »Was meinst du, von wem kann das kommen? Ich hab’s auf dem Fußboden gefunden.«
»Keine Ahnung«, sage ich. Es ist ein Blatt mit dem Hotelbriefkopf, das gibt’s wohl in jedem Zimmer und auch unten an der Rezeption.
Dru starrt mich mit einem mißtrauischen Funkeln in den Augen an und fragt: »Du hast das nicht zufällig geschrieben?«
Ich lache, um Abstand zu dieser Vorstellung zu gewinnen, frage dann: »Wie kommst du darauf?«
»Nur so«, sagt er, schaut dabei den Korridor entlang.
Ich gebe ihm das Blatt zurück. Eigentlich könnte er es durchaus auch selbst geschrieben haben. Er hat so einen Hang dazu, ständig die Einrichtung und die Beleuchtung zu verändern, als befinde er sich in einer Filmkulisse, in jeder Situation die Spannung zu steigern, um sie [23] interessanter zu machen und die anderen zu zwingen, weniger verhalten als gewöhnlich aufzutreten.
Jetzt faltet er das Blatt zusammen und steckt es ein; sagt dann: »Mach zu, Camado kommt bald.«
Ich gehe noch auf mein Zimmer, um die Badesachen loszuwerden, treffe ihn unten in der Halle wieder. Er sitzt mit Nesbitt in einer Ecke mit ein paar Polstersesseln, sie scheinen von irgendwelchen Verträgen zu sprechen, brechen dann aber ab. Nesbitt fragt mich: »Na, wie geht’s?« und richtet seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf Dru.
Der schaut auf die Uhr, beobachtet das Treiben in der Halle, fragt schließlich: »Ob er nicht kommt?«
Fünf Minuten lang sitzen wir wortlos und gespannt da, dann springt Nesbitt mit den Worten: »Da ist er!« auf.
Ein kleiner, weißgekleideter Mann mit einem Spazierstöckchen in der Hand kommt in flottem Schritt auf uns zu.
Nesbitt geht ihm entgegen, begrüßt ihn überaus herzlich, dirigiert ihn zu Dru hin, stellt die beiden einander vor: »Dru Resnik, Astor Camado«, macht dabei die entsprechenden Handbewegungen; er schaut erst den einen, dann den anderen an, versucht, sie noch näher aufeinander zuzuschieben.
Camado schüttelt Dru lächelnd die Hand, sagt zu ihm: »Freut mich wirklich sehr.« Als er fertig ist, begrüßt er auch mich, sagt: »Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug.« Er hat einen lateinamerikanischen Akzent, eine ziemlich scharfe, rauhe Stimme und dunkle, unstete Augen. Aufgrund der Beschreibung, die Dru im Flugzeug von ihm gegeben hat, hatte ich ihn mir irgendwie anders vorgestellt, wohl magerer und distanzierter. Doch er ist rundlich und überschwenglich, umkreist mit seinem Spazierstock Dru und Nesbitt. Mit seiner dunklen, glatten Haut, den dünnen Augenbrauen und dem rabenschwarzen Haar könnte er vierzig sein oder auch über sechzig.
[24] Hinter ihm stehen zwei junge Frauen um die dreißig; er dreht sich zu ihnen herum und stellt sie vor: »Kate, Maribel.« Sie sind blaß und plump, wie zwei Betschwestern, weichen einander nicht von der Seite. Maribel sagt mit unsicherer Stimme zu Dru: »Wir haben alle Ihre Filme zweimal gesehen.«
Doch Dru achtet nur auf Camado. Er mustert ihn aus geringer Entfernung, berührt ihn am Arm und sagt: »Du bist langsam schon zu einer Art Phantom geworden.« In Situationen wie dieser macht sich durch die angelsächsische Hülle hindurch, die er sich zugelegt hat, seine jugoslawische Natur bemerkbar, zeigt sie sich in Form einer anhaltenden, körperlichen, offener zur Schau gestellten Herzlichkeit.
Nesbitt verfolgt den Wortwechsel zwischen Dru und Camado wie ein Vater, der eine Begegnung zwischen seinem Sohn und dem der Nachbarn arrangiert hat. Er greift nicht ein, läßt sie reden und einander mustern; erst, als das einleitende Wortgeplänkel zu versiegen droht, fragt er: »Wollen wir nicht essen gehen? Ich hab bei Kurini’s einen Tisch reservieren lassen.«
Wir gehen alle hinaus unter das Vordach, Camado macht, an Dru gewandt, einige Bemerkungen über das Londoner Klima im Vergleich zu dem hier. Zwei Hotelangestellte bringen das Auto von Nesbitt und das von Camado: einen kleinen weißlichen Toyota. Merkwürdig, daß er sich bei den Millionen von Büchern, die er verkauft hat, nicht was Besseres leisten kann; aber vielleicht ist er von Natur aus sehr anspruchslos, oder er kann, weil er nicht an die Öffentlichkeit treten will, keine besonders guten Verträge aushandeln; oder er macht es, um nicht aufzufallen. Auch seine Kleidung wirkt bescheiden, wie aus der Teenagerabteilung eines Kaufhauses.
[25] Dru steigt zu Camado in den Toyota, mich und Camados Verehrerinnen schickt er mit den Worten: »Wir folgen euch« in Nesbitts Wagen.
Nesbitt fährt betont langsam, alle paar Sekunden schaut er – aus Angst, sie zu verlieren – in den Rückspiegel. Vor einer roten Ampel fragt er Maribel: »Wo lebt Astor gewöhnlich?«
»Weiß ich nicht«, sagt die.
Nesbitt fragt weiter: »Aber wenn er in L.A. ist, wohnt er bei euch?«
»Nur tagsüber«, sagt Kate. »In unserer Wohnung können wir keine Männer übernachten lassen.« Auch ihre Stimme klingt wie die einer Betschwester, matt und kraftlos.
Nesbitt vergewissert sich, daß der Toyota noch hinter uns ist, fragt dann: »Und wer macht euch solche Vorschriften? Wer entscheidet das?«
»Niemand«, sagt Kate.
»Das sind keine Vorschriften«, erklärt Maribel. Wir halten zwischen einer Reihe von Mercedes, Porsches und Ferraris unter einer von Weinranken überwachsenen Pergola. Der Parkwächter scheint etwas unangenehm berührt, als er Camados Wagen sieht, und bringt ihn an einer sichtgeschützten Stelle unter.
Drinnen ist alles in blassen Farben gehalten, an den niedrigen Tischen sitzen ein paar Männer, die Marketingmanager, Anwälte oder Schallplattenproduzenten sein könnten, neben Frauen, die wie Fernsehstars, Galeristinnen oder Werbefilmproduzentinnen wirken. Sie essen in erster Linie Salate.
Dru bestimmt wie immer die Sitzordnung, läßt uns ein paar Mal Platz nehmen und wieder aufstehen, bis er den Eindruck hat, daß alle in bezug auf ihn optimal verteilt sind. [26] Er beordert Nesbitt etwas weiter weg, neben sich plaziert er Camado und Maribel, die weniger häßliche der beiden Frauen, der anderen weist er einen Platz an meiner Seite zu.
Ein Ober trägt uns in affektiertem Tonfall vor, was auf der Speisekarte steht, und beschreibt uns die Zusammensetzung der einzelnen Saucen. Camado sagt sofort ungeniert: »Für mich Languste.« Er schaut Nesbitt an und lacht, stellt ihm irgendwelche detaillierten Fragen zu einem anderen Restaurant, wo sie zusammen gewesen sind, sagt dann zu Dru: »Du mußt es dir von ihm zeigen lassen.«
Dru sagt mit einem Lächeln: »Ja.« Es kommt nicht oft vor, daß er sich so brennend für jemanden interessiert; für gewöhnlich sind in solchen Situationen die Interessen völlig ungleich verteilt, ist das Gleichgewicht von vornherein zu ihm hin verschoben, ehe er überhaupt noch den Mund aufgemacht hat. Heute hingegen schaut er ununterbrochen Camado an, bittet ihn um Erläuterungen zum Titel eines seiner Bücher, hört zu, ohne sich abzuwenden oder mitten im Satz dazwischenzureden, wie er es sonst immer tut. Camado ergeht sich in verschlüsselt wirkenden Ausführungen, fuchtelt dabei mit seinen kurzen Armen herum. Gleich darauf wechselt er das Thema, fragt Dru, welche Personen in seinem letzten Film wirklichen Menschen entsprächen. Dru sagt: »Sie sind alle aus wirklichen Menschen zusammengemixt, aus drei oder vier verschiedenen, und zu diesem Gemisch kommt dann noch die eine oder andere uneingestehbare Projektion und hin und wieder ein mißlungener Diebstahl.«
Kate zu meiner Linken ist eine richtige Schülerin Camados, sie konzentriert sich voll auf das, was am anderen Ende des Tisches abläuft, mich beachtet sie so gut wie [27] überhaupt nicht. Nur einmal wendet sie sich mir mit einem schwachen Lächeln zu: »Es ist sicher interessant, der Sekretär von Mr.Resnik zu sein.«
Ich liefere ihr keine Erklärungen, sage nur: »Äußerst interessant.«
Der Ober kommt mit dem Essen; Camado und seine zwei Fans scheinen fasziniert; Dru dreht sich nach drei Blondinen an einem Nebentisch um. Nesbitt bemüht sich sofort, das Gespräch am Laufen zu halten, sagt zu Camado: »Ich weiß noch, als Begegnung mit dem Nichts erschienen ist und sofort die Bestseller-Listen gestürmt hat, hat praktisch jede wichtige Zeitung oder Zeitschrift einen Journalisten auf deine Spur gesetzt.« Er wendet sich Dru zu und sagt: »Du kannst dir das nicht vorstellen, es hat sie wahnsinnig gemacht, nicht zu wissen, wie er aussieht, das war unerträglich für sie.«
»Kann ich mir denken«, sagt Dru.
Camado löst ein Stück weißes Fleisch von seiner Languste und schiebt es sich mit der Gabel hastig in den Mund. Dann sagt er: »Einmal bin ich damals mit Freunden in San Francisco auf eine Party gegangen, und der Gastgeber, der nicht die geringste Ahnung hatte, wer ich war, hat mir einen Typen vorgestellt, der sich überall als Astor Camado ausgegeben hat.« Er greift nach der Mayonnaise, dann nach der Zitrone und macht sich auf seinem Teller zu schaffen.
»Und was hast du dann gemacht?« fragt Nesbitt, nachdem er mit einem Blick festgestellt hat, daß Dru noch immer interessiert zu sein scheint.
»Ich hab ihm die Hand geschüttelt«, sagt Camado. »Er war groß und blond, sah nicht schlecht aus, aber er hatte einen etwas dümmlichen Gesichtsausdruck. Du hättest sehen sollen, wie ihn die Frauen umschwärmt haben.«
[28] »Und dann hast du ihn bloßgestellt?« fragt Nesbitt.
»Machst du Witze?« sagt Camado mit vollem Mund. »Wie oft passiert es dir schon, daß einer all die negativen Reaktionen, die eigentlich für dich bestimmt sind, auf sich zieht?«
Lachend meint Dru: »Stimmt.« Auch Nesbitt lacht, und, wie zwei Schafe, auch Kate und Maribel.
Noch ehe das Lachen verebbt ist, fragt Nesbitt weiter: »Und wie war das nochmal mit dieser Dame, von der du mir gestern erzählt hast?«
»Ah, ja«, meint Camado. Er hat eine professionell wirkende Art, stets wie selbstverständlich im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen; ich glaube, er bemüht sich sogar, sie nicht vollständig auf sich zu ziehen. Er sagt: »Das war damals in New York, da ruft mich doch Gene Baker an, mein Agent und so ziemlich die einzige Person, die mich offiziell kennt, und sagt zu mir, komm bitte mal her, ich hab hier ein Problem. Gut, ich geh zu ihm, und was seh ich da? Eine gutaussehende Frau um die dreißig, sehr elegant und nervös. Gene stellt mich vor, sagt zu ihr, gnädige Frau, ich weiß nicht, von wem Sie ein Kind erwarten, aber dies hier ist der einzige Schriftsteller Astor Camado, den ich kenne.« Er lacht einen Augenblick lang hektisch, wirft seinen kleinen runden Kopf nach hinten.
Dru sagt: »Etwas, worum ich die Schriftsteller immer beneidet habe, ist, daß sie unter Ausschluß der Öffentlichkeit arbeiten können. Sie können sich unsichtbar machen, brauchen gar nicht da zu sein.«
»Aber doch nicht nur die Schriftsteller«, meint Camado. »Niemand braucht zu sein.« Bei diesen Worten verändert sich sein Aussehen ein wenig: Sein Gesicht verfinstert sich, er wird ernster, richtet sich im Sitzen auf. Er schaut Dru entschlossen ins Gesicht, sagt aber nichts mehr.
[29] Einen Augenblick lang gabeln alle wortlos vor sich hin. Nesbitt wirkt unsicher. Dann sagt Maribel: »Die Musik von Lines ist einfach toll. Ich hab eine Cassette von ihnen, die hör ich mir jeden Abend an.«
Dru meint achtlos: »Ja?«
Kate sagt: »Weißt du, daß Maribel vor fünf Jahren drauf und dran war, blind zu werden, und daß Acambon sie in den Dschungel gebracht und mit Macaulinonüssen geheilt hat?« Nach der Art, wie sie es erzählt, zu urteilen, ist Acambon wohl eine Figur aus einem von Camados Büchern; vielleicht sollte ich sie doch mal lesen, allmählich komme ich mir etwas aus der Unterhaltung ausgeschlossen vor.
Maribel lächelt, ihre Augen sind etwas glasig. Nesbitt meint: »Unglaublich.« Der Ober bringt Fruchtsorbets.
Dann hat Dru plötzlich genug von dem Ganzen und sagt: »Jetzt sitzen wir schon eine Stunde hier.«
»Stimmt«, meint Nesbitt und deutet sofort dem Ober an, daß er zahlen möchte.
Dru sieht Camado an und fragt: »Wann nimmst du uns mit nach Mexiko?« Sein Ton ist jetzt wieder ungeduldig, enthält nur noch Spuren des herzlichen Interesses von vorhin.
»Wann ihr wollt«, sagt Camado. »Von mir aus sofort.«
»Wie wär’s mit morgen?« fragt Dru.
»Wann ihr wollt«, meint Camado noch einmal. Er gibt sich, zumindest vorerst, damit zufrieden, neben Dru die zweite Geige zu spielen; er breitet als Zeichen seiner uneingeschränkten Bereitschaft die Arme aus.
Dru meint: »Bestens.« Dann steht er auf und schüttelt die Beine, als hätte er den ganzen Tag sitzend verbracht.
Nesbitt reicht dem Ober eine seiner vielen Kreditkarten und sagt: »Dann lasse ich also Plätze im Flugzeug reservieren.«
[30] »Es ist besser, wenn wir mit dem Auto fahren«, meint Camado. »Wir müssen ohnehin im Norden bleiben.«
Nesbitt scheint zu überschlagen, was wir dafür an Zeit, Geld und Energie brauchen, dann sagt er: »Das ist ein gutes Stück mit dem Auto.«
»Aber es ist besser«, meint Camado. Vielleicht hat auch er Angst vor dem Fliegen, oder er macht eine Prinzipienfrage daraus, um sich nicht völlig unbedeutend vorzukommen.
»Machen wir’s so, wie es Astor lieber ist«, sagt Dru und geht in Richtung Ausgang.
Nesbitt sagt: »Okay«, läßt sich die Kreditkarte zurückgeben.
Draußen laufen wir einen Augenblick lang ziellos zwischen den parkenden Autos umher. Dru nimmt Camado beiseite und zeigt ihm die Botschaft, die er in seinem Zimmer gefunden hat. Camado wirft nur einen flüchtigen Blick darauf; lächelnd schüttelt er den Kopf und sagt: »Die krieg ich zu Dutzenden. Ich nehme sie gar nicht mehr zur Kenntnis.« Er sagt das, als würde die Sache nur ihn angehen, meint dann: »Hier treibt sich jede Menge Irre herum, die halten sich für Camado-Jünger, nur weil sie ein paar von meinen Büchern gelesen haben, folgen mir auf Schritt und Tritt und versuchen, sich in alles einzumischen.«
Der Parkplatzwächter holt den weißen Toyota wieder aus der Ecke, in der er ihn versteckt hat; Maribel und Kate schlüpfen hinein, verabschieden sich mit angedeuteten Handbewegungen. Camado sagt, er werde uns um acht im Hotel aufsuchen, dann könnten wir noch im einzelnen über unsere Reise sprechen. Er schüttelt uns allen die Hand, kaum weniger herzlich als bei der Begrüßung; dann fährt er davon.
Nesbitt bringt uns zurück nach Beverly Hills. Wir sind [31] auf das kaum wahrnehmbare Vibrieren des Motors konzentriert, als er uns fragt: »Na, er ist doch sympathisch, oder?«
»Sehr«, sagt Dru.
[32] Verena würde wahrscheinlich sagen
Verena würde wahrscheinlich sagen, das Ganze sei im Grunde ein Versuch, der Verantwortung auszuweichen, und mich dadurch wie immer in Wut versetzen, und wie immer hätte sie teilweise recht, aber nur teilweise. Ich kann mich noch so sehr bemühen, ein Gleichgewicht zwischen den Menschen, die mich interessieren, und den verschiedenen Komponenten meiner Arbeit und den Orten und Zeiten und Dingen herzustellen, es kommt niemals mehr als ein trügerisches Scheingleichgewicht dabei heraus; ein Scheingleichgewicht, das sich seinerseits aus Ungleichgewichten zusammensetzt, die so angeordnet sind, daß sie sich mit Hilfe winziger Hebel und versteckter Gegengewichte ausgleichen. Es ist eher ein Gleichgewicht von Schuldgefühlen und Wunschträumen, von Versprechungen und wertlosen Garantien als eines von Tatsachen, und niemand würde es als brauchbaren Ausgangspunkt für irgend etwas Weiterreichendes ansehen. Im übrigen ist es eine komplizierte, heikle, ja unbrauchbare Angelegenheit, weil es, sobald ich mich entferne, Risse bekommt und zu zerfallen beginnt und ich jedesmal, wenn ich zurückkomme, ganz von vorne anfangen muß, nachdem ich mich eben von dem anderen Scheingleichgewicht abgewandt habe, das ich in der Zwischenzeit mit den zur Verfügung stehenden Elementen errichtet hatte. Und davon scheint es nicht zu viele zu geben, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wo Dave so sehr an seiner Rolle klebt, Jack erfüllt ist von mechanischer [33] Begeisterung und alle, mit denen man reden könnte, drüben sind, auf der anderen Seite des Ozeans und an Gleichgewichte gebunden, bei denen gewiß auch schon ein rascher Zerfallsprozeß eingesetzt hat.
[34] Anscheinend bin ich eingeschlafen
Anscheinend bin ich eingeschlafen, denn es ist bereits sieben und dunkel draußen, und der Fernseher läuft vor sich hin. Es klopft an der Tür. Wenn ich am Tag schlafe, kriege ich hinterher meinen Verstand nicht mehr richtig zusammen, deshalb tu ich’s nach Möglichkeit nie. Ich stehe auf, öffne die Tür.
Dru kommt herein, macht den Fernseher aus, reicht mir ein Blatt Papier. Die Schrift ist die gleiche wie bei der letzten Mitteilung: Bleistiftgekrakel, das ungeordnet auf dem Blatt hin und her wogt. Wer nicht zu verstehen sucht sondern sich nur bestätigen lassen will was er zu wissen glaubt geht das größte Risiko ein. Wir beobachten dich.
Dru greift wieder nach dem Blatt und sagt: »Wer immer das sein mag, allmählich geht er mir auf die Nerven.«
Ich schlüpfe in die Schuhe, bemühe mich, einen klaren Kopf zu kriegen. Frage: »Und wo hast du’s gefunden?«
»In meinem Zimmer, auf dem Fußboden, genau wie das andere«, sagt Dru und steckt das Blatt wieder in den Umschlag, auf dem falsch, mit ck geschrieben, sein Name steht.