CYBER CITY SÜD - Herbert W. Franke - E-Book

CYBER CITY SÜD E-Book

Herbert W. Franke

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Beschreibung

Kybernetische Wunder, virtuelle Flüsse und Kriegsverbrecherprozesse als Publikumsspektakel – gegen Inter-Dollars war in der Cyber City Süd alles zu bekommen. Früher war diese Stadt ein Kleinod des Orients gewesen, heute kommen die Menschen aus aller Welt hierher, um sich bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu amüsieren. Doch die Tage dieser Stadt sind gezählt. Während eine junge Frau sich auf die gefahrenvolle Suche nach ihrem Vater begibt, bereitet sich in der geheimen Kommandozentrale eine gentechnisch perfektionierte Armee auf den Tag der Befreiung vor … Eine moderne Vergnügungsstadt im Orient. Zu spät merken ihre Besucher, dass unterdrückte politische und wirtschaftliche Konflikte eine Katastrophe heraufbeschwören.

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Herbert W. Franke

CYBER CITY SÜD

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 26

hrsg. von Hans Esselborn

und Susanne Päch

Herbert W. Franke

CYBER CITY SÜD

Science-Fiction-Roman

SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

Band 26

hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

www.art-meets-science.io

Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

Die Originalausgabe ist 2005 im Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) erschienen.

Titelbild: Thomas Franke

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

E-Book-Erstellung: global:epropaganda

Verlag

art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

c/o mce mediacomeurope GmbH

Bavariafilmplatz 3

82031 Grünwald

ISBN 978 3 911629 25 6

»Auf der Stadt liegt ein Fluch«, sagte der Alte. »Unzählige Male wurde sie erobert, zerstört, verlassen, wieder aufgebaut, neu gegründet und besiedelt und wieder zerstört. Alle siebzehn Jahre wiederholt sich das, so steht es geschrieben – das ist das Schicksal der Stadt, ihre Geschichte, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Und die, die in dieser Stadt leben, sind nur Figuren in einem Spiel, ob sie es merken oder nicht.«

Sie lagen im heißen Sand, am Kamm einer Düne, und blickten über deren Rand. Beide trugen weiße, lockere Kleidung aus Schafwolle wie schon Generationen vor ihnen. Der eine alt und weise, der andere jung und wissbegierig. Über ihnen breitete sich drückender Sonnenglast, und schon wenige Schritte hinter ihnen begann das Meer des weißgrauen Nebels, aus dessen Schutz sie sich herausgewagt hatten.

»Was sind das für Menschen, die jetzt in der Stadt leben?«, fragte der Junge. »Woher sind sie gekommen? Was machen sie dort?«

»Du fragst so viel«, sagte der Alte, doch sein Lächeln zeigte, dass er die Neugier des Jungen verstand. »Es sind Fremde, sie kamen von weit her. Diese Fremden haben die Stadt erobert: Ungläubige, die hier nichts zu suchen haben. Seither sind Menschen aus aller Welt in die Stadt gekommen. Nur Gott weiß, was sie dort wollen, was sie dort treiben.«

Der Junge schob sich noch ein wenig vor, um besser sehen zu können, doch der Alte mahnte ihn mit einer Handbewegung zur Vorsicht.

»Diese Stadt sieht ganz anders aus als die Städte, von denen du mir erzählt hast«, wandte der Junge ein. »Siehst du diese Türme, die bis in den Himmel reichen? Siehst du dieses Licht, das darüber schwebt? Es ist heller als der Tag. Und dieser seltsame Lärm …« Er hob die Hand ans Ohr, und tatsächlich konnte man Fetzen von Geräuschen hören, die der Wind heranwehte – waren es Stimmen, Gesänge, Geschrei? Waren es Trommeln oder Hammerwerke? Waren es Kampfgetöse und Waffenlärm?

»Das ist nur vorübergehend«, beschied der Alte. »Eine kurze Zeit. Ein paar Jahre. Bald wird sie wieder zerstört sein, diese Stadt. Derzeit ist sie von Narren besetzt. Sie leben im Überfluss, verschwenden ihre Vorräte, vergeuden das Wasser. Sie geben sich einem haltlosen Leben hin. Doch sie sind dem Untergang geweiht. Sie werden sich selbst zerstören.«

Der Junge gab sich nicht zufrieden: »Aber sie besteht doch schon länger als siebzehn Jahre!«

Der Alte blickte ihn milde lächelnd an. »Merke, mein Sohn: Du darfst die Weissagungen nicht wörtlich nehmen. Aber früher oder später gehen sie in Erfüllung.«

1

Die Flugscheibe hatte den zugewiesenen Landezylinder angepeilt und sackte nun mit sanftem Rucken abwärts – zu langsam für die ungeduldigen Fluggäste aus aller Welt, die, endlich am Ziel, die wenigen Minuten Wartezeit bis zum Bodenkontakt nicht mehr hinnehmen wollten. Der Kapitän meldete sich noch einmal aus dem Lautsprecher, doch niemand hörte ihm zu. Dann endlich das erwartete dumpfe Aufsetzen und bereits Sekunden später das Zischen der sich hydraulisch öffnenden Türen.

Aufgeregt drängten die Passagiere den Ausgängen entgegen. Noch befanden sie sich in der vertrauten Umgebung, eingebettet in das technisch gestylte Interieur, das der Passagiermaschine aus Europa den Anschein von Luxus geben sollte. Jetzt trennten sie nur noch wenige Schritte vom Abenteuer, vom Wunder, von der Erfüllung aller Träume. Doch während sich die Menschen gegenseitig vorwärts schoben, spürten sie schon den Hauch des Außergewöhnlichen, einen warmen Luftzug, einen Duft, den sie als orientalisch empfanden – weil ein solcher Duft in den Parfümgeschäften als orientalisch bezeichnet wurde. Und wenn man auch noch nichts von draußen sehen konnte, so war doch schon Musik zu hören, etwas, das exotisch klang, aber dennoch freundlich und wohltönend, ja, es mutete sogar ein wenig feierlich an, und in die Klänge mischten sich helle, immer lauter werdende Stimmen.

Majda hielt ihre Tasche fest in der Hand. Sie hatte darin ihre Dokumente aufbewahrt, die Magnetkarten, auf denen die vorausbezahlten Beträge verzeichnet waren, die Abbuchungen für die Unfall- und Krankenversicherung, für die Rückreise und für das Hotel, dazu noch ein paar persönliche Unterlagen, ein elektronischer Reiseführer, eine Liste der Aufführungen, die sie besuchen sollte, und die alten Briefe ihres Vaters, die er einst von hier aus in die Heimat geschickt hatte.

Jetzt erst, da sie sich aus ihren Liegesitzen erhoben hatten, konnte sie sich die Reisegefährten der letzten zwei Stunden zum ersten Mal in Ruhe ansehen. Sie unterschieden sich deutlich in Alter und Herkunft, waren aber alle gut gekleidet, einige eher nach der sportlichen Mode, die Generation der Mind-Surfer, andere konservativ vornehm im Italo-Stil, doch allen sah man an, dass sie in der Lage und auch dazu bereit waren, sich den Aufenthalt in Cyber City Süd etwas kosten zu lassen.

Unwillkürlich verglich Majda die anderen mit sich selbst. Gewiss, vom Anblick her unterschied sie sich kaum von ihnen, und das war auch ihre Absicht. Vielleicht war ihre Kleidung nicht ganz so erlesen, und ihr Schmuck stammte aus einem der vielen Billigmärkte, wie man sie am Rand aller großen Städte im Grenzbereich zwischen den Armen und den Reichen fand; aber einer jungen Frau von fünfundzwanzig Jahren und recht ansehnlichem Äußeren würde man das nachsehen. Und dass sie anderes vorhatte, als sich um jeden Preis zu amüsieren, war ihr nicht anzumerken.

Der mit unauffälliger Eleganz gekleidete Mann, der den Platz neben ihr gehabt hatte, drehte sich zu ihr herum und wünschte viel Vergnügen. »Vielleicht treffen wir uns einmal«, sagte er.

»Ja, vielleicht«, sagte Majda.

Sie hatten sich recht angeregt unterhalten, er war schon mehrmals hier gewesen und hatte Majda einiges über Cyber City Süd erzählt, was sie noch nicht gewusst hatte … dass es eine uralte Stadt war, die sich erst nach dem letzten arabischen Krieg für die westliche Kultur geöffnet hatte; dass man jetzt, seit das Ölgeschäft zu Ende ging, den Fremdenverkehr als Einnahmequelle entdeckt hatte; und dass diese entlegene Stadt im Südosten der arabischen Halbinsel auch im internationalen Vergleich das modernste Vergnügungsviertel weltweit besaß. Natürlich hatte Majda dem Mann auch ein wenig von sich erzählt: wie sie auf die Idee gekommen war, diese Reise zu unternehmen, und was sie sich für die folgenden Tage vorgenommen hatte.

Majda hatte den Eindruck, Göran – so hatte er sich vorgestellt – hätte sie gern wiedergesehen, aber sie war nicht bereit, bereits zu Beginn ihres Aufenthalts wie auch immer geartete Verpflichtungen einzugehen.

Göran, er mochte zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt sein, kam aus Skandinavien, aus dem früheren Schweden, und er sah exakt so aus, wie man sich einen Schweden vorstellt. Aber eigentlich lagen ihr diese hellblonden Typen nicht, die auf ihre Locken so stolz waren. Und war er nicht auch ein wenig zu alt für sie? – Während eines Urlaubs wollte Majda lieber mit Leuten ihres Alters beisammen sein. So verabschiedete sie sich freundlich, aber entschieden und wünschte Göran einen schönen Aufenthalt.

Die schmalen Wege zwischen den Sitzreihen führten sternförmig nach außen, und nach den ersten Sekunden im Gedränge ging es nun zügig voran. Unversehens trat Majda hinaus auf einen ringförmigen Perron, dessen Boden stufenlos an jenen des Passagierraums anschloss. Sie versuchte, sich zu orientieren, sah sich nach Hinweisschildern um, aber schon war sie von schmächtigen, bunt gekleideten Menschen umgeben – ein braunhäutiger Menschenschlag. Halbwüchsige oder Schöpfungen aus dem Genlabor? Von der Statur her hätten es Jugendliche sein können, doch die Gesichter waren alt. Es waren aber auch junge und ausnehmend hübsche Mädchen da, die lächelten und die Ankommenden mit kühlenden Essenzen besprühten.

Außerhalb des Passagierraums war das Gedränge nicht mehr so groß, die Ankommenden standen in einer Schlange, die sich langsam, aber zügig vorwärts bewegte. Jemand steckte Majda eine Plakette an, ein anderer drückte ihr eine Transformerpuppe in die Hand – einen kleinen Soldaten in goldener Uniform –, und wieder ein anderer legte ihr einen dünnen, silberglänzenden Umhang um. Dann stand ein junger Mann in der grünen Einheitskleidung des Sicherheitsdienstes vor ihr, der ihr, ehe sie protestieren konnte, die Handtasche abnahm und ihr stattdessen eine nummerierte Marke in die Hand drückte. »Hier bitte – Ihr Weg zur Gepäckausgabe und zum Ausgang. Dort bekommen Sie auch Ihre Tasche wieder. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.« Er führte sie zwischen Gruppen von bunt gekleideten Mädchen hindurch und wies auf einen Gang.

Majda ließ das alles wie betäubt mit sich geschehen. Sie stand noch unter dem Einfluss der Inaktivierungstablette, die jeder Fluggast aus Sicherheitsgründen vor dem Start einnehmen musste. Zögernd trat sie ein, der Lärm verebbte nahezu schlagartig. Ein Schritt, und sie war in einer anderen Welt. Diffuse Beleuchtung, das Licht lag wie Staub auf den Flächen, nur die Kanten schienen mit schwarzer Tusche nachgezogen. Weit vorn sah sie noch einen Fluggast, doch der verschwand sogleich hinter einer Ecke. Sie war allein und musste zunächst einmal zur Besinnung kommen. Sie setzte sich in Bewegung, die Puppe in der Hand, der Umhang knisterte. Sie versuchte, ihn abzustreifen, doch er war um den Hals herum fest geschlossen, sie hätte ihn abreißen müssen, und so ließ sie es sein.

Majda bog um die Ecke, die sie schon aus der Entfernung gesehen hatte, von ihrem Vorgänger war nichts mehr zu bemerken. Er musste schneller gegangen sein, und unwillkürlich beschleunigte auch Majda ihre Schritte. Der Gang teilte sich, eine Treppe führte abwärts, der andere Zweig lief horizontal weiter. Ein Hinweisschild hing darüber, das ihr jedoch nichts nützte, denn es war in einer fremden Sprache abgefasst, die sie nicht verstand. Was tun? Kein Mensch zu sehen, den sie hätte fragen können. Etwas unsicher folgte sie der Horizontalabzweigung.

Es folgten zwei oder drei weitere Biegungen, Majda wurde unruhig – hatte sie einen falschen Weg erwischt? Einen Moment lang stand sie in hellem Lichtschein, so kurz, dass sie an eine Täuschung glauben mochte. Der Gang wurde enger, das Licht schien noch düsterer zu werden … oder irrte sie sich? Sie spürte einen Luftzug, der einen merkwürdigen Geruch mit sich brachte. Vanille? Sie blickte sich um, sollte sie umkehren? Dann entschloss sie sich, noch ein Stück weiterzugehen. In dem Dämmerlicht, das sie jetzt umgab, verzerrte sich die Perspektive: Das vor ihr liegende Gangstück schien unendlich weit ins Ungewisse zu führen. Dann befand sie sich plötzlich in einer Halle – ein großer, domartiger Raum, in mehrere Stockwerke unterteilt, die man über Treppen erreichen konnte.

Majda kam nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, denn nun hörte sie ein Geräusch, einen von einem Zischen angekündigte Knall, sie sah eine auf sich zulaufende Lichtspur, und dann spürte sie einen Schlag – ihr Umhang war getroffen worden.

Einen Augenblick später prasselte ein ganzer Schwarm von Geschossen auf sie ein. Sie merkte, dass der Stoff des Umhangs sie schützte – die Geschosse prallten daran ab –, und so zog sie sich die Kapuze über den Kopf. Gleichzeitig sah sie sich nach Deckung um und fand eine Nische an der Wand, in die sie sich kauerte. Draußen sah sie immer noch die Pfeile der Leuchtspuren, doch in der Nische war sie geschützt, und kurze Zeit danach war der Angriff zu Ende.

In Majdas Hand bewegte sich etwas. Jetzt merkte sie erst, dass sie noch die Transformerpuppe in der Hand hielt, doch es war keine Puppe mehr, die Arme verkürzten sich, aus dem Körper wuchs ein Lauf heraus, der Rumpf verjüngte sich zu einem Handgriff, und an den Fingern spürte Majda einen Abzugshebel.

Noch immer kam sie nicht dazu, über das Geschehene nachzudenken. Draußen bewegte sich etwas, und sie sah drei scheußlich maskierte Robotersoldaten auf sich zukommen. Sie hielten Laserpistolen im Anschlag und begannen erneut zu feuern. Doch nun änderte sich plötzlich Majdas Gemütslage, es war ihr klar, dass da irgendetwas nicht stimmte, aber gleichgültig, was es sein mochte: Jetzt war sie bereit, die Initiative zu ergreifen, sich zu wehren. Sie sprang aus der Deckung hervor, ihre Waffe in der Hand, sie hielt den Abzughebel gedrückt und jagte eine Salve von Geschossen auf die Angreifer. Deren metallene Körper glühten auf und zerfielen in Sekundenschnelle zu Staub.

Die Szene änderte sich daraufhin abrupt. Dröhnender Applaus, Menschen, die ihr zuwinkten, ein Mann in Livree überreichte ihr einen Blumenstrauß und ein Heftchen mit Reklamekarten. Ein anderer hielt ihr die Handtasche hin und nahm ihr die Pistole aus der Hand, die sich in eine Puppe zurückverwandelt hatte. Dann wurde es rasch wieder ruhig. Kaum jemand beachtete sie noch. Langsam kam Majda zur Besinnung. Sie stand in einer Empfangshalle, daran schloss der nächste Raum an, in dem offenbar das Gepäck ausgegeben wurde. Als sie sich umsah, erblickte sie eine die ganze Hinterwand umfassende Holoscreen, darauf waren zwei junge, mit silbrigen Umhängen versehene Männer zu beobachten, die zögernd in einen düsteren Gang voranschritten: jenem Gang, in dem sie sich eben selbst befunden hatte.

»Eine unerwartete Überraschung, nicht wahr? – Da haben Sie einen Vorgeschmack von Cyber City Süd bekommen.« Neben ihr stand ein schwitzender Tourist, den sie als einen ihrer Reisegefährten erkannte. Er lächelte ihr verständnisvoll, wenn auch ein wenig überlegen, zu.

»Haben Sie das auch schon erlebt?«, fragte Majda.

»Ja, bei meinem letzten Besuch. Diesmal war ich nicht dabei. Die Teilnehmer an diesem Spiel werden ausgelost.«

Majda antwortete nicht, sondern bemühte sich, mit der einen Hand die Blumen zu halten und mit der anderen die Reklamekarten zu verstauen. Der Mann beobachtete sie und sagte: »Heben Sie das Heftchen gut auf, es enthält Eintrittskarten für die Adventure-Tour. Dort werden Sie noch viel spannendere Abenteuer erleben.«

»Ich kann darauf verzichten«, stöhnte Majda, die sich immer noch überrumpelt fühlte. »Hat man hier nichts anderes im Sinn, als die Einreisenden auf derart unsinnige Weise zu belästigen!«

Der Fremde schüttelte den Kopf. »So unsinnig ist das allerdings nicht. Auf diese Weise wurden Sie ganz nebenbei auf Waffen und andere verbotene Dinge untersucht. Ihre Identität wurde verifiziert, der Gesundheitszustand analysiert. Und alles ohne unangenehme Wartezeiten, ohne die üblichen Belästigungen bei Einreise- und Sicherheitskontrollen, in Form eines Spiels. Eine glänzende Idee!«

Majda sah den Mann kurz an – hatte er das ernst gemeint? Sie wollte jedoch nicht weiter darauf eingehen, sondern nickte ihm flüchtig zu und wandte sich ab. Sie fühlte sich leer und müde und musste sich konzentrieren, um nach dem Ausgabeclaim für ihr Gepäck zu suchen. Nun hatte sie also eines der Wunder von Cyber City Süd kennengelernt – und die Prüfung bestanden, falls es eine solche gewesen war. Na schön – sie würde sich auf weitere Überraschungen gefasst machen, hoffentlich ist etwas Vernünftigeres dabei, so hoffte sie …

Majda hatte sich auf eine längere Wartezeit bei der Gepäckausgabe gefasst gemacht, doch kaum steckte sie ihre Flugkarte in das Lesegerät, da öffnete sich auch schon die Klappe, und sie konnte ihren Koffer von der Drehscheibe nehmen und auf einen automatisch betriebenen Gepäckwagen legen, der ihr folgte, ohne dass es dazu irgendwelcher Handgriffe bedurft hätte. Auf der Suche nach dem hoteleigenen Sammeltaxi folgte Majda der Beschilderung und fand statt des erwarteten Elektromobils ein Schwebeboot mit den Logos mehrerer Hotels, darunter auch das des ihren …

Sie beobachtete, wie ihr Gepäck von einem Bediensteten im Frachtraum verstaut wurde, stieg in das geräumige Boot und nahm in einer freien Reihe Platz. Gleich darauf setzte sich ein Mann auf den Platz neben sie – es war Göran.

»Wohnen Sie auch im ›Seymour‹?«, fragte Majda etwas erstaunt.

»Nein, aber das Boot hält bei mehreren Hotels, unter anderem auch bei meinem.«

Schon wenige Minuten später war das Schwebeboot in luftige Höhen aufgestiegen. Kurze Zeit ging es über eine leere Sandebene, die von einem merkwürdig verschlungenen Raster von Fahrspuren durchfurcht war, es folgten einige Reihen eng aneinander gebauter, niedriger brauner Häuser. Nur von Weitem war eine Ansammlung höher aufragender Gebäude auszumachen, vermutlich das Zentrum der Altstadt. Schließlich näherten sie sich einer hohen Mauer, die sich aber von der anderen Seite aus betrachtet als immaterielles Gebilde erwies: schillernde Spiegelflächen, Kaskaden von Lichtpunkten, darüberhuschende Bilder, Schriftzüge von Reklame …

Göran erklärte Majda, dass es eine Sichtschranke sei, die das Hotel- und Vergnügungsviertel gegen die übrige Welt abschirmen soll. Und das, was da zum Vorschein kam, stand in der Tat in krassem Gegensatz zu dem, was von der historisch bemerkenswerten alten Stadt noch übrig geblieben war. Natürlich hatte Majda viel von Cyber City Süd gelesen, von den fantastischen Bauten, in die auch virtuelle Elemente einbezogen waren, von Tanzpalästen und Panoramakinos, von futuristischen Anlagen für Freiluftkonzerte, von Wiesen aus bunt gefärbtem Kunstgras für Spiel und Sport, von künstlichen Stränden und Wasserflächen mit dressierten Delfinen und etlichem mehr, aber sie hatte nicht gewusst, dass es sich um einen eigenen, von den anderen Stadtteilen völlig getrennten Bereich handelte.

Der Flug zog sich in die Länge, da es Stopps bei mehreren Hotels gab und es jedes Mal eine Weile dauerte, bis die dort untergebrachten Passagiere ausgestiegen waren.

Während Majda etwas ungeduldig auf das Ende des Transports wartete, versuchte Göran sie ein wenig aufzumuntern und mit weiteren Beschreibungen der Cyberstadt zu unterhalten. Er stellte auch Fragen an Majda, ob sie sich für Sport interessiere oder für Musik, und er sprach von den Veranstaltungen, bei denen die großen Stars aus der ganzen Welt auftraten. Als Majda nur einsilbig antwortete, kam er auf das zurück, was sie ihm während des Flugs erzählt hatte.

»Sie wollten sich doch nach Ihrem verschollenen Vater erkundigen. Wissen Sie schon, wie Sie dabei vorgehen wollen?«

»Ich habe keinen Plan«, antwortete Majda. »Ich will einfach sehen, ob ich irgendwo Informationen bekommen kann über das, was damals, während der Kämpfe, geschehen ist.«

»Das liegt lange zurück«, meinte Göran, »– aber da fällt mir etwas ein: Es sind ja immer noch Kriegsverbrecherprozesse in Gang, dabei versucht man die Ereignisse während der Zeit der Auseinandersetzungen zu rekonstruieren. Und diese Veranstaltungen sind öffentlich zugänglich. Vielleicht erfahren Sie dort etwas, was Ihnen nützlich sein kann.«

Das hört sich interessant an, dachte Majda, und sie antwortete nun ein wenig freundlicher auf Görans Fragen. Er schien sich auch für die Arbeit zu interessieren, die ihr Vater damals geleistet hatte.

»Ich weiß nur wenig darüber. In seinen Briefen ging er kaum auf seinen Beruf ein. Nur im letzten teilte er mit, dass er irgendwo in der Wüste Wasser gefunden hätte … eine Quelle oder so etwas – ich weiß es auch nicht genauer.«

»Und wo soll diese Quelle sein? Gibt es denn keine Aufzeichnungen?«

Majda hatte keine Lust, auf diese Fragen näher einzugehen. »Ich weiß nichts darüber«, wiederholte sie ein wenig unaufmerksam, denn sie achtete nebenbei auf die Durchsage, die den Halt beim nächsten Hotel ankündigte: Es war das ihre. Sie wünschte Göran einen angenehmen Aufenthalt und viel Erfolg … und dabei schoss ihr kurz der Gedanke durch den Kopf, dass er ihr wenig darüber gesagt hatte, was er hier eigentlich vorhatte – er sei als freier Journalist hierher gekommen, er arbeite bei einer Nachrichten-Agentur, das war alles …

Göran drückte ihr eine Karte mit einer Hoteladresse in die Hand. »Wenn Sie mich einmal brauchen …«

Majda hatte es jetzt eilig. Sie deutete einen Gruß an und drängte sich nach vorn, um rechtzeitig zu ihrem Gepäck zu kommen.

Sie hatte eine Reservierung im »Seymour Meridian«, das sich als weitaus pompöser herausstellte, als sie erwartet hatte. Es hatte die Form eines auf der Spitze stehenden Kegels und erhielt eine besondere Note durch eine Vielzahl von den überhängenden Seitenwänden ausgehenden, senkrecht nach unten führenden glasummantelten Aufzugschächten, auf die sich das Bauwerk zu stützen schien. Dass dieses seltsame Gebäude das Ziel ihres kurzen Flugs war, merkte Majda erst, als sich das Schwebeboot zur Landefläche auf dem geräumigen flachen Dach hinabzusenken begann.

Die neuen Gäste wurden von Dienern erwartet, die sich des Gepäcks annahmen und es auf die Zimmer brachten, während auf einer ringförmigen Terrasse am Rand des Dachplateaus Drinks serviert wurden. Mädchen in blassgrünen Uniformen verteilten Informationsmaterial und erkundigten sich nach den Sonderwünschen der Gäste.

An Dienstpersonal schien kein Mangel zu herrschen. Es waren kleinwüchsige Menschen mit freundlichen Gesichtszügen, wie sie Majda schon bei ihrer Ankunft auf dem Flugplatz aufgefallen waren. Sie sahen einander alle ähnlich, als wären es Geschwister. Offensichtlich handelte es sich um Züchtungen aus den Biolaboratorien – mäßig intelligent, verlässlich, ausdauernd und zufrieden.

Ein Angestellter in blauem Anzug mit einem goldumrahmten Namensschild am Revers trat an Majda heran und stellte sich als Mitarbeiter der Gästebetreuung vor – offenbar hatte er sie anhand eines Fotos identifiziert, das er irgendwoher hatte. Als der Mann die Mappe aufschlug, um einen Plan des Hotels mit eingezeichneten Fluchtwegen und Feuertreppen zu präsentieren, konnte sie einen Blick auf das Foto werfen – wie sie am Hintergrund erkannte, war es im Flughafen von ihr gemacht worden. Noch interessanter aber war ein roter Stempel auf einem Formular, das einige Angaben zu ihrer Person enthielt; zu ihrem Erstaunen las sie special consideration, doch schon schlug der Angestellte die Mappe zu, und sie war sich nicht sicher, ob sie richtig gelesen hatte. Majda musste auf einem Piezorahmen unterzeichnen – zur Bestätigung, dass sie über die Sicherheitsvorschriften informiert worden war. Schließlich setzte sie noch eine Unterschrift unter eine Erklärung, mit der sie auf Haftansprüche verzichtete, falls ihr bei der Benutzung der vom Hotel angebotenen Anlagen für Sport, Spiel und andere Arten der Unterhaltung ein Schaden entstünde.

Endlich winkte der Angestellte einen der in blaue Anzüge gekleideten Diener herbei und reichte ihm ein Kettchen mit einem Magnetstift. Der kleine Mann in der braunen Uniform verbeugte sich und führte Majda zu einem der Aufzüge, der sie in die mittleren Etagen des Gebäudes brachte. Er informierte sie über die Lage der verschiedenen Restaurants, Sportanlagen und Massageräume und blieb schließlich in einem langen Gang vor einer Tür stehen.

Ein kurzes Einstecken des Magnetstifts in den Sensor genügte, um die Tür zu öffnen. Im dahinter liegenden Flur bemerkte Majda ihren Koffer, doch zunächst ging sie weiter, in den Wohnraum hinein. Er war mit einem großen Aufwand an Glas und Stahl eingerichtet, die Wände in einem schillernden Blau, das Bett groß und mit Nanoschaumkissen und -decken versehen. Die besondere Attraktion des Zimmers war aber das die gesamte Vorderfront einnehmende, vertikal gekrümmte Diamantglasfenster – dessen Existenz sich lediglich durch ein paar Reflexe an den Rändern verriet, ansonsten war es praktisch unsichtbar und ermöglichte einen einzigartigen Blick in die Umgebung. Unwillkürlich trat Majda einen hastigen Schritt zurück, denn sie gewann den falschen Eindruck, ungeschützt an einem zwanzig Stockwerke tiefen Abgrund zu stehen.

Der Diener zeigte ihr unter anderem, wie man die Scheibe in verschiedenen Farben abdunkeln konnte, wie man die Bildwand aktivierte, wie sich die Tür zur Zimmerbar öffnen ließ – es handelte sich um einen mannshohen Schrank voller Leckereien –, dann überreichte er ihr die Kette mit dem Magnetschlüssel und verließ den Raum.

Die Einrichtung war ungewöhnlich – jedenfalls war Majda noch nie von derart exklusivem Luxus umgeben gewesen. Sie würde sich später all die Dinge anschauen, die da für sie bereitstanden, aber jetzt kümmerte sie sich nicht weiter darum. Wichtiger war, dass sie nach vielen Stunden endlich wieder allein war. Sie ging ins Badezimmer – und blieb vor Erstaunen stehen: Was sie dort vorfand, war ein Traum aus Glas, Porzellan und Marmor. Die Badewanne war in eine Ecke gebaut, auf einem Podest, das über zwei Stufen zu erreichen war. Darüber eine weiße Kachelwand mit zarten schwarzsilbernen Verzierungen. Sie zog sich aus, duschte und legte den flauschigen Bademantel an, der auf einem Handtuchtrockner bereit hing. Den Flakons, Döschen, Seifen und Toilettegegenständen widmete sie nur einen kurzen Blick – sie hatte ja noch genug Gelegenheit, das alles auszuprobieren. Dann kehrte sie ins Zimmer zurück.

Wo befand sich doch die Schalttafel, die ihr der Bedienstete gezeigt hatte? Sie war hinter einem Vorhang neben dem Fenster angebracht. Majda bemühte sich, die Farbe der Fensterscheibe auf ein dunkles Orange zu regeln, was ihr nicht gleich gelang, sodass der Raum zunächst in Grün, Blau und Rot getaucht wurde, bis ihre Bemühungen dann doch zum gewünschten Resultat führten. Majda war froh, als sie sich schließlich auf dem Bett ausstrecken konnte, in dem sie nahezu versank. Die elastische Unterlage schaukelte sanft hin und her. Alles war weich und angenehm kühl.

Es war, als fiele eine schwere Last von ihr ab, als löse sich die Anspannung, die sie die ganze Reise hindurch in einem unnatürlich hektischen Wachzustand gehalten hatte. Sie fühlte sich wohl, von einer unterschwelligen Angst befreit. Sie kuschelte sich in das Kissen, ihre Gedanken verschwammen, doch sie schlief nicht gleich ein und wusste nur, dass sie sich wohlfühlte. Majda hielt die Augen geschlossen, ein leiser Lufthauch strich über sie hinweg, sie atmete tief und spürte einen angenehmen Geruch. Und sie hörte Stimmen. Es war nicht zu verstehen, was sie sagten, aber sie lösten Bilder aus, Musik, tanzende Menschen, Geselligkeit, Freiheit, Lust … Sie riefen Sehnsüchte wach, ließen Wünsche entstehen … Morgen, dachte sie, morgen werde ich das alles kennenlernen …

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Leise Musik weckte Majda auf. War die Nacht schon vorbei? Die verdunkelten Scheiben wurden langsam transparent, Sonnenlicht flutete herein. Eine Stimme wünschte »Guten Morgen«. Majda hatte fest geschlafen, wie lange, müsste sie erst ausrechnen. Wann war sie angekommen? – dazu die Zeitverschiebung … Es konnten nicht mehr als vier Stunden gewesen sein. Trotzdem fühlte sie sich wunderbar beruhigt und kein bisschen müde. Jetzt aber auf, auf – wie konnte sie die wertvolle Zeit so vergeuden!

Majda rollte sich aus dem Bett, lief ins Bad und ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht fließen. Jetzt war sie zu allem bereit, sie brannte darauf, diese Wunderwelt zu erleben, in der sie zwei Wochen lang ein umsorgter Gast sein würde.

Sie öffnete den Koffer, wühlte in den Kleidern und suchte ein lavendelfarbenes Kostüm heraus. Es war aus leichtem Stoff, für heiße Tage gedacht, und draußen, im Freien, war es heiß – sie hatte es am Tag zuvor auf der offenen Dachterrasse festgestellt –, und es sah keineswegs so aus, als ob sich daran etwas ändern könnte. Sie prüfte ihr Bild im Spiegel – und war mit dem, was sie da sah, zufrieden.

Sie plante, ein kleines Frühstück einzunehmen, doch zunächst hatte sie Durst, und so öffnete sie die Tür zur Zimmerbar. Sie erschrak, denn aus dem Schrank ertönte eine Stimme, aber es war nur ein Automat, der ihr vorschlug, von den honiggesüßten Keksen, den aus gerösteten Nüssen hergestellten Riegeln und der zart gesalzenen Schokolade nach Art des Hauses zu kosten. Rasch holte sie eine Flasche mit Fruchtsaft heraus und schlug – nicht zuletzt, um die Stimme zum Verstummen zu bringen – die Tür eilig wieder zu.

Wo hatte sie ihr Täschchen gelassen? Es lag auf dem Abstelltisch neben dem ComSet-Anschluss. Hatte sie es dort abgelegt? Sie überzeugte sich davon, dass die Kreditkarte im richtigen Fach steckte, und legte noch den als Zimmerschlüssel dienenden Magnetstift hinein. Das Abenteuer konnte beginnen.

Majda suchte einen der Schrägaufzüge, die direkt ins zentral gelegene Foyer führten, denn sie war nicht sicher, ob man sich womöglich abmelden musste, doch der Concierge schüttelte nur lächelnd den Kopf. Aber er reichte ihr ein Stirnband mit eingestickten Buchstaben CCS, wobei das äußere C das innere umfasste und dieses wieder das S – das Logo für Cyber City Süd. Das Band wies sie als neu angekommenen Besucher aus und würde ihr zu kostenlosen Dienstleistungen im Hotel verhelfen: Snacks, Massagen, Zugang zu den Fitnessräumen und zu verschiedenen internen Veranstaltungen für die Hotelgäste. Mit dem Stirnband auf dem Kopf kam sie sich zwar komisch vor, doch sie war in einer Stimmung, die sie über solche Dinge hinwegsehen ließ, und machte sich auf den Weg.

Wohin zuerst? Majda verließ den Hotelgarten mit seinen Badebecken und Minigolfplätzen und ging einfach geradeaus, die breite Straße entlang, auf einen Komplex von Gebäuden zu, deren bunte Lichttafeln Überraschungen versprachen.

Es schien sich um ein Zentrum des Geschehens zu handeln, denn von allen Seiten strömten Menschen hinzu, die immer enger aneinanderrückten, bis sie sich in einem dichten Gedränge den Weg nahezu gewaltsam bahnen mussten … und erst im letzten Augenblick kam die unerwartete Befreiung: offene Tore, Rolltreppen nach oben und unten, fahrende Fußgängerwege, die die Menschen, die sich bis hierher durchgekämpft hatten, aufnahmen, in Windeseile weiterbeförderten und rasch auf mehrere Stockwerke verteilten. Oben war die Startrampe einer zehnspurigen Achterbahn zu erkennen, aus den Öffnungen, von denen die Besucher in die Tiefe gesogen wurden, klangen Schreie – Angst oder Jubel?

Majda war auf der ebenerdigen Etage geblieben, sie wurde vorwärts geschoben, die vor ihr stehenden Menschen setzten sich auf einen schuppigen Körper, die Beine rechts und links, und Majda erkannte, dass es eine riesenhafte Schlange war, die die dicht hintereinander hockenden Menschen ins Innere des Gebäudes trug. Sie fühlte den glitschigen geschmeidig dahingleitenden Leib und wunderte sich, dass sie nicht hinunterrutschte, obwohl der Weg immer kurviger wurde. Und dann begann ein Inferno – die Touristen befanden sich im Urwald, ein Regen von Insekten fiel auf sie herunter, Schlingpflanzen streiften ihre Köpfe, Leoparden sprangen sie an, fratzenhaft bemalte schwarze Gesichter fixierten sie durch Löcher in der Blätterwand. Und dann fuhren sie geradewegs auf eine Feuerwand zu und befanden sich auch schon inmitten der Flammen, die mit ihrer blendenden Helle die Sicht unterbanden und den Atem raubten. Es war heiß, aber nach dem ersten Schrecken merkte Majda, dass sie der Hitze gegenüber unempfindlich war, und dass ihr auch der Ascheregen, der nun von oben herabprasselte, nichts anhaben konnte. Alles Illusion, beruhigte sie sich und wehrte sich doch vergeblich gegen die archaische Angst, die der Mensch gegenüber dem Feuer empfindet. Majda kämpfte verzweifelt um Selbstbeherrschung, aber ihre Bemühungen waren vergeblich, und schließlich gab sie den Widerstand auf und ließ die Dinge einfach mit sich geschehen …

Irgendwann war all das zu Ende. Sie stand inmitten einer Menge von Menschen, die offenbar ebenso mitgenommen waren wie sie selbst, aber während Majda erst langsam in die Realität zurückfand, kamen die anderen schneller zurecht, und schon begannen einige in die Hände zu klatschen, zu lachen und zu jubeln, als hätten sie ein harmlos schönes Erlebnis hinter sich. Wie schon beim ersten Abenteuer dieser Art am Flughafen war Majda darüber verärgert, dass sie sich so hatte überrumpeln lassen, aber im Grunde mehr noch über sich selbst, denn es war ihr durchaus bewusst gewesen, dass es nicht die Wirklichkeit war, die sie erlebt hatte. Die Täuschung war jedoch wieder so perfekt gewesen, dass die Abwehrmaßnahmen einem inneren Zwang gefolgt waren und durchaus echte Gefühle hervorgerufen hatten.

Majda strich mit der Hand über ihre Jacke, und obwohl es nur folgerichtig, ja, gar nicht anders denkbar war, stellte sie erstaunt fest, dass ihre Kleidung keine Spuren von Verbrennungen aufwies. Noch immer war sie in diesen Widersprüchen gefangen: das Feuer – eine Illusion, und auch der Ascheregen eine Illusion … jedoch als vermittelte Wahrnehmung real. Wie man das fertigbrachte? Es war sinnlos, darüber nachzudenken. Man musste es hinnehmen – und wurde sich nicht bewusst, dass auf diese Weise die Unterschiede zwischen Realität und Irrealität mehr und mehr verschwammen.

Durch ihre Skepsis isoliert, stand sie inmitten der kreischenden Menschenmasse und war versucht, diese Reaktion auf das Erlebte, die sie jetzt um sich herum beobachtete, als etwas Dummes und Primitives anzusehen. Aber dann merkte sie doch, dass dieser Ausdruck der Freude echter und urtümlicher war als vieles, was sie bisher bei vergleichbaren Anlässen beobachtet hatte, und sie fragte sich, warum man sich nach einem überstandenen Abenteuer, gleichgültig ob es real oder virtuell war, nicht nach Herzenslust freuen sollte. Gab es denn ein noch größeres Lustgefühl, als der Gefahr entronnen zu sein und zu leben? Sie selbst fühlte es doch auch: Sie war froh, dass es ein Scherz gewesen war und sie nun darüber lachen konnte, und dann brach dieses bisher unterdrückte Gelächter aus ihr hervor, und sie jubelte mit den anderen. Die Barriere, die sie künstlich um sich herum aufgebaut hatte, brach zusammen, und auf einmal war sie ein Teil dieser Gruppe von Menschen, die etwas Gemeinsames verband, und sie fühlte sich jedem Einzelnen von ihnen nahe.

Nachdem Majda ihre Unsicherheit abgeschüttelt hatte, konnte sie sich den Eindrücken unbeschwert hingeben. Den ganzen Tag über spazierte sie weiter in der Stadt herum und hatte auch keine Scheu mehr vor den Erlebnistheatern – schon nach kurzer Zeit fühlte sie sich dieser Art des Vergnügens gewachsen und hatte so viel Freude daran, dass sie nichts mehr schrecken konnte.

Um die Mittagszeit gönnte sie sich einen kleinen Imbiss, für den sie lediglich einen Abschnitt ihrer Coupons abgeben musste. Danach setzte sie ihren Entdeckungszug fort, bis ihre Füße zu schmerzen begannen. Aber auch für ermüdete Gäste, die ein wenig ausruhen wollten, war gesorgt, ohne dass sie aufs Vergnügen verzichten mussten: Immer wieder stieß sie auf Arenen mit der Möglichkeit, sich auf bequemen Sitzen niederzulassen und dabei etwas Interessantes zu sehen oder zu hören: Artistik, Musik, Wettbewerbe, Kabarett. Unter den Moderatoren und Künstlern waren mehrere, die man von Tourneen oder Fernsehauftritten her kannte, und Majda war beeindruckt von dieser Vielfalt von Prominenz.

Erst als sich der Himmel verdunkelte, vollzog sich ein stiller, fast unmerklicher Wechsel der Szenerie. Lag es daran, dass trotz Tausender von Lichtern, die das Tageslicht ersetzen sollten, schwarz verschaltete Nischen zurückblieben? Jedenfalls ging jetzt etwas von der Offenheit und Unbeschwertheit verloren, Empfindungen, die Majda tagsüber als angenehm empfunden hatte. Auf einmal waren es andere Arten von Lokalen, deren Reklame sich nun aufdrängte: Bars, Tanzlokale, Erotik-Shows, vor allem aber auch einschlägige Erlebnisangebote für den interessierten Touristen – virtuell oder real … das blieb offen. Und es war ein anderes Publikum, das nun die Straßen und Gassen beherrschte: genau jenes, für das diese Angebote bestimmt waren.

Insgeheim hatte sich Majda schon gefragt, ob denn diese Stadt – in einem Teil der Welt, wo man es mit den guten Sitten sehr genau nahm – diese Art von Vergnügungen ignorieren konnte, und hatte das bisher bestätigt gefunden. Nun wurde sie eines Besseren belehrt. Als sie auch noch in recht eindeutiger Weise von einigen Männern angesprochen wurde, kehrte sie ins Hotel zurück. Von der Automatenbar ließ sie sich einen großen Salatteller anrichten, von dem sie sich mit Appetit bediente.

Mit Wohlbehagen nahm sie ein Bad und setzte sich dann im Bademantel in den tiefen Lehnsessel vor der Fernsehwand. Was sie da in den verschiedenen Programmen fand, war auch nicht anders als das, was sie zu Hause zu sehen bekam. Schließlich stieß sie auf den CCS-Videotext, wo unter dem Stichwort »Kultur« das Protokoll des heutigen Kriegsverbrecherprozesses veröffentlicht wurde. Diese Lektüre erinnerte sie an ihr Vorhaben, an das sie seit ihrer Ankunft im Hotel nicht mehr gedacht hatte. Wenn es sich auch um einen speziellen Fall handelte, der hier zur Debatte stand, so vermittelte ihr dieser Schriftsatz doch zum ersten Mal einen lebendigen Eindruck von den Zuständen, die damals in dieser Gegend geherrscht hatten.

Vielleicht war es nützlich, einen solchen Prozess zu besuchen?

Prozess, Aktenvermerk 3328/544

Mediator: Ich bitte um Ruhe … bitte Ruhe. Ich danke für den Applaus. Es ist wieder so weit … Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, nehmen Sie Ihre Plätze ein. Heute wird es spannend werden, aber nur, wenn wir endlich anfangen. Danke, liebe Gäste.

Der Angeklagte Abbas Borghefa, ehemals Polizei-Oberst in der Armee von Neu-Aghib, gehört zu den seit dem Ende des Krieges meistgesuchten Personen des Widerstands gegen die freiheitliche Weltordnung. Er hatte sechzehn Jahre unter falschem Namen im Armenviertel der Stadt gelebt und wurde nach einer langwierigen Suchaktion festgenommen. Diese erwies sich als ungewöhnlich schwierig, da seine Gesichtszüge durch eine plastische Operation verändert worden waren. Schließlich wurde er im Rahmen einer Reihenuntersuchung mithilfe der Olfaktor-Technik ausfindig gemacht und durch DNA-Analyse identifiziert. Die Untersuchungsprotokolle liegen dem Gericht vor. Seit vier Jahren und neun Tagen sitzt der Angeklagte in Untersuchungshaft ein. Er befindet sich in gutem gesundheitlichen Zustand und kann dem Verfahren bei geistiger Klarheit folgen. Frage an das Gericht: Hat die Voruntersuchung die von verschiedenen Seiten eingebrachten Anklagepunkte bestätigt, sodass ein Verfahren eingeleitet werden kann?

Staatsanwalt: Das bisher vorliegende Material reicht aus, um den Prozess ordnungsgemäß durchzuführen. Es geht um Massenmord, Folter und Unterschlagung bei Angehörigen seines eigenen Volkes. Dabei bleiben die während des Kriegszustands im Laufe der Befreiungsaktionen gegenüber den Besatzungstruppen begangenen Verbrechen nach den Richtlinien des Internationalen Gerichtshofs zunächst unberücksichtigt.

Mediator: Damit übergebe ich das Wort dem Vorsitzenden des Gerichts, Doktor Tassilo Corredo, unter dessen Leitung schon viele Kriegsverbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden.

Richter: Im Namen des Volkes und im Dienste der Gerechtigkeit eröffne ich das Verfahren. Ich bitte um Verlesung der Anklageschrift.

Vokomat: Offiziell waren Abbas Borghefa und sein Regiment im letzten Jahr vor Ausbruch des Krieges zum Schutz einer Gruppe von Arbeitern eingeteilt, die für ein Geheimprojekt tätig waren. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass es sich eher um eine Bewachung handelte als um einen Schutz. Ort und Nutzen des Unternehmens konnten nicht geklärt werden. Die Arbeiter, sechsunddreißig Männer im Alter zwischen achtzehn und vierzig Jahren, wurden zu einer geheimen Dienstleistung eingezogen. Ohne vorherige Ankündigung wurden sie in Lastwagen verfrachtet und mit Kapuzen über den Köpfen an einen unbekannten Ort transportiert. Keiner von ihnen wurde lebendig wiedergesehen. Erst nach Kriegsende wurde weit außerhalb der Stadt ein Massengrab entdeckt. Es enthielt die teilweise verbrannten Leichen von vierunddreißig Männern, von denen die meisten identifiziert werden konnten: Sie alle gehörten dem genannten Sonderkommando an. Als verantwortlich für diesen Mord und für die Beseitigung der Getöteten stellte sich Abbas Borghefa heraus. Dafür steht er nun unter Anklage.

Richter: Am Anfang des Verfahrens hat der Angeklagte das Recht, sich zum Verfahren zu äußern. Ich erteile ihm das Wort.

Borghefa: Ich erkenne dieses sogenannte Gericht nicht an. Es widerspricht allen Regeln des internationalen Rechtswesens. Das ist kein Gericht, das ist eine Farce. Ich rufe die Internationale Union auf, mich aus den Händen dieser Betrüger zu befreien, die sich Rechte anmaßen, die ihnen nicht zustehen. Dieses Spektakel ist Teil der Verschwörung –

Richter: Ich entziehe dem Angeklagten das Wort. Seine Äußerungen sind beleidigend und tragen nichts zur Rechtsfindung bei. Damit kommen wir zur Beweisaufnahme.

Mediator: Ich bitte darum, den ersten Zeugen hereinzuführen.

Vokomat: Die erste Zeugin ist Raika Omrani, die Mutter eines zur Zeit des Verbrechens zweiundzwanzigjährigen Mannes, dessen im Massengrab vorgefundene sterblichen Überreste eine einwandfreie Identifizierung zuließen.

Staatsanwalt: Frau Omrani, Sie waren dabei, als Ihr Sohn abgeholt wurde. Schildern Sie bitte, wie das geschah.

Zeugin Omrani: Ein Lastwagen fuhr vor. Ich sah einige junge Männer auf der Ladefläche. Ihre Augen waren verbunden. Ein Mann in Uniform stieg aus der Fahrerkabine und fragte nach Said, meinem Sohn. Er war zu Hause. Damals war er im Straßenbau beschäftigt, doch vor ein paar Tagen war er plötzlich beurlaubt worden. Das kam überraschend. Wir wussten nicht, warum. Dachten, er würde zum Militär eingezogen …

Staatsanwalt: Was geschah dann?

Zeugin Omrani: Er musste auf den Lastwagen steigen, auf die Ladefläche, zu den andern. Er durfte nichts mitnehmen. Als er sich von mir verabschieden wollte, haben sie ihn fortgezerrt. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Staatsanwalt: Aber Sie haben noch einmal mit ihm gesprochen. Berichten Sie, wie das Gespräch zustande kam.

Zeugin Omrani: Ein Telefonanruf. An einem Abend läutete es, es war Said. Er war schwer zu verstehen, leise, aufgeregt …

Staatsanwalt: Was sagte er?

Zeugin Omrani: Dass er sich ein Handy besorgt hat. Dass er vorsichtig sein muss. Ich fragte, wo er sich befindet. Doch das wusste er selbst nicht – eingesperrt. Man zwingt ihn zu arbeiten, in unterirdischen Räumen. Sie werden wie Sklaven behandelt, er und die anderen. Er hat Angst, nicht mehr zurückzukommen.

Staatsanwalt: Sagte er nichts Genaueres über seine Tätigkeit?

Zeugin Omrani: Ich wollte ihn fragen, aber er antwortete nicht … Ich rief mehrmals seinen Namen … keine Antwort. Dann hörte ich Geräusche, einen Schrei … dann war die Leitung tot. Das war sein letztes Lebenszeichen.

Staatsanwalt: Ich danke Ihnen, Frau Omrani. Bitte, bleiben Sie sitzen, der Herr Verteidiger wird Ihnen noch einige Fragen stellen.

Verteidiger: Frau Omrani, Sie stellen den Vorfall – ich meine die Abholung Ihres Sohnes – so dar, als sei ihm Unrecht geschehen. Ich gebe dem Publikum zu bedenken, dass es sich um einen Kriegseinsatz handelte, offenbar um ein streng geheimes Projekt, für dessen Abwicklung der Angeklagte vorgesehen war. Bei der Verpflichtung der Arbeitskräfte war es durchaus üblich, so vorzugehen, wie es die Zeugin geschildert hat. Ich frage diese nun, ob ihr nicht auch andere ähnliche Fälle bekannt waren.

Frau Omrani: Ja, ich hatte davon gehört.

Verteidiger: Somit hat sich das, was mit Ihrem Sohn passiert ist, durchaus im Rahmen des Üblichen abgespielt, oder nicht?

Frau Omrani: Ja, das kann schon sein –

Verteidiger: Dieses Vorkommnis ist also typisch für die damalige Zeit und kann meinem Mandanten nicht zur Last gelegt werden. Ich möchte daher lieber auf ein Detail zurückkommen, das kurz erwähnt und nicht weiter beachtet wurde. Doch es hat besondere Bedeutung für den verhandelten Fall – ich meine den Anruf mit dem Mobiltelefon. Es ist doch verständlich, dass an einem Geheimprojekt mitwirkende Arbeiter aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen dürfen und dass ihnen aus diesem Grund die Benutzung von Telefonen verboten ist. Über dieses Verbot hat sich Ihr Sohn offenbar hinweggesetzt. Ja, es deutete sich sogar an, dass er das Mobiltelefon gestohlen hat –

Staatsanwalt: Einspruch, der Herr Verteidiger versucht, die Rechtschaffenheit eines Opfers des Regimes infrage zu stellen.

Richter: Einspruch abgelehnt.

Verteidiger: Der Kollege hat gar nicht so unrecht: Ich will zeigen, dass Said Omrani die Vorschriften verletzt und dadurch ein kriegswichtiges Projekt gefährdet hat. Aus der Sicht der damaligen Verhältnisse ist das ein schwerwiegendes Vergehen, eines jener Art, das strenge Bestrafung nach sich zieht. Wenn Said dazu neigte, sich über die Vorschriften hinwegzusetzen, dann könnte sich das auch im Laufe seines weiteren Einsatzes wiederholt und schließlich zur Verhängung der Todesstrafe geführt haben. Aus diesem Fall kann also keine Schuld meines Mandanten konstruiert werden …

Staatsanwalt: Das sind Vermutungen – ich bitte, die letzten Sätze des Herrn Verteidigers aus dem Protokoll zu streichen.

Richter: Dem Einspruch wird stattgegeben. Ich bitte den Herrn Verteidiger, sich an die Tatsachen zu halten. Bitte setzen Sie die Zeugenbefragung fort.

Verteidiger: Danke, Herr Richter, mit dieser Zeugin bin ich fertig.

Richter: Dann bietet sich hier die Gelegenheit für eine Werbepause an. Das Gericht tritt in zwanzig Minuten erneut zusammen.

(Auszug aus dem Protokoll)

Diese Stadt ist wie ein Rausch, dachte sie. Ich kann es verstehen, dass ihr manche verfallen. Drei Tage war sie nun schon in Cyber City Süd, und es kam ihr vor, als würden auch keine drei Monate reichen, um all das kennenzulernen, was den Besuchern hier geboten wurde.

In diesen ersten Tagen war Majda den auf sie einstürzenden Eindrücken nahezu wehrlos ausgesetzt gewesen. Natürlich waren ihr manche der hier verwendeten Attraktionen gut bekannt, beispielsweise die virtuellen Szenerien, in denen man sich nahezu beliebig bewegen konnte. Das gab es bei den weltweit verbreiteten Computerspielen auch, aber nicht so perfekt wie in dieser Stadt. Manchmal waren es nur Kleinigkeiten, die hier ergänzend hinzukamen, aber gerade diese scheinbar geringfügigen Verbesserungen führten zu einer unglaublichen Steigerung des Realitätseindrucks. Fahrten in Rennautos, Flüge mit Gleitscheiben, Wettläufe mit Wasserskiern, bei all dem wurde durch mechanische Tricks der dazugehörige Eindruck rasanter Bewegung erzeugt. Selbst das Wissen, dass das alles nur Illusion war, vermochte die vorgetäuschte Echtheit der Vorgänge nicht zu mindern. Enge Kurven, mit atemberaubender Geschwindigkeit durchlaufen, minutenlanger freier Fall, Dreh-und Schüttelbewegungen: Für die meisten waren es völlig neue Erlebnisqualitäten, denen sie sich mit einem merkwürdigen Gemisch aus Vergnügen und Angst hingaben. Dazu kam aber noch eine besondere Variante im Design dieser Anlagen, die Majda geradezu unfair vorkam: In einer merkwürdigen Umdrehung der Täuschungsstrategie wurden die Besucher da und dort mit Situationen konfrontiert, die sie für Illusionen halten mussten – und die sich dann unversehens als real erwiesen.

Bisher hatte sich Majda für immun gegenüber dieser Art von Vergnügung gehalten, aber mit der Zeit verlor sie sich doch mehr und mehr in dieser faszinierenden Traumwelt, in der man die gefährlichsten Abenteuer ohne leibliche Gefährdung und stets als Sieger bestehen konnte. Zunächst hatte sie sich jene Angebote herausgesucht, die einen harmlosen Eindruck machten – »für Jugendliche zugelassen« –, doch allmählich traute sie sich auch an die gewagteren Attraktionen heran und stellte bei sich – ein wenig stolz – einen deutlichen Abhärtungseffekt fest. Dabei achtete sie kaum noch auf ihre finanziellen Mittel, die, wie sie in lichten Augenblicken ernüchtert feststellte, unangenehm rasch dahinschwanden. Sie hatte ja vorgehabt, sich auch nach kulturellen Zeugnissen der Vergangenheit umzusehen, doch am nächsten Tag war der Wunsch nach weiteren, vorher nie mit vergleichbarer Intensität empfundenen Gefühlsqualitäten so überwältigend, dass sie ihrem eigenen Drängen nachgab und sich erneut ins Abenteuer stürzte.

Ja, sie hatte Verständnis für die Menschen, die diesen Attraktionen verfielen, sodass sie alle Beherrschung verloren, bis der letzte Dollar verbraucht, der letzte Kredit erschöpft war. Auch hier, wie an allen anderen vergleichbaren Stätten der Welt, waren es die Spielsäle, in die jene Besucher flüchteten, denen das Geld auszugehen drohte. Und wie nicht anders zu erwarten, verloren sie hier die letzten Reserven. Manche versuchten verzweifelt, dem beschämenden Hinauswurf aus dem Spielsaal zu entgehen, doch das gelang kaum jemandem. Und damit war natürlich auch das vorzeitige Ende des Aufenthaltes in Cyber City Süd erreicht.

Durch Zufall hatte Majda einmal beobachtet, wie einige dieser finanziell ausgebluteten Verlierer abgeschoben wurden. Es geschah diskret, man verweigerte ihnen die Rückkehr in ihre Hotelzimmer, brachte sie in geschlossenen Transportautos zum Flughafen, wo sie ihr Gepäck aus einem Container heraussuchen mussten, und schickte sie dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Es gab keine gewaltsame Eintreibung von Schulden, keine Strafanzeigen wegen Betrugs – das wäre eine schlechte Werbung für die Stadt gewesen und hätte vielleicht einige Besonnene von Besuchen abgehalten. Doch die Finanzverwaltung der Stadt schien genaue Kenntnis darüber zu haben, über welche Reserven die Besucher verfügten, und sie griff rechtzeitig ein: nicht bevor der letzte Dollar ausgegeben war, dann aber unverzüglich und ohne Mitleid.

Majda bekam diese Informationen von einem der Bediensteten, den sie mit ihren Fragen überrumpelt hatte. Er schien eine Art Aufsichtsfunktion für das Dienstpersonal gehabt zu haben, er sprach das in allen zivilisierten Ländern verbreitete Basic-Englisch und hatte Majda schon mehrfach Auskunft gegeben. Diesmal zögerte er, sie musste ihm jedes Wort entlocken. Es fiel ihr auf, dass sie ihn von dieser Stunde an nie mehr gesehen hatte. Hatte er zu viel geredet?

Majda war nüchtern und beherrscht genug, um aus dieser Phase des Erlebnishungers von selbst wieder herauszufinden. Sie zählte ihr Geld – bei äußerster Sparsamkeit konnte sie noch eine Woche bleiben. Und sie erinnerte sich etwas beschämt daran, dass sie ja schließlich noch etwas anderes vorgehabt hatte: sich nach dem Schicksal ihres Vaters zu erkundigen.

Am nächsten Tag stellte Majda fest, dass sie gegenüber den verlockenden Angeboten um sie herum abgestumpft war. Auf die Dauer war es doch eintönig, in dieser Umgebung völlig allein zu sein. Wenigstens eine ihrer Freundinnen hätte sie gern bei sich gehabt.

In dieser Stimmung befand sie sich gerade, als vor ihr der Reisegefährte Göran auftauchte, ihr Sitznachbar aus der Flugscheibe, und als er ihre Hände ergriff und schüttelte, erwiderte sie seinen Händedruck. Er sah sie mit sichtlicher Freude an, und sie verlor alle Scheu und lachte zurück.

Majda hatte jetzt nichts mehr dagegen, ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen, und so vertraute sie sich seiner Führung an – und ihre gute Stimmung hielt an. Es war ganz angenehm, zu den vielen Dingen, die da zu sehen waren, ein paar Erklärungen zu kriegen, und vielleicht auch eine Warnung, falls es wieder einmal extremer werden sollte.

Man konnte in mehrere Richtungen weitergehen, und sie folgten einfach einer Gruppe von Leuten, die sich von einem Rollweg tragen ließen. Er bestand aus mehreren nebeneinander angeordneten Bahnen, eine immer ein wenig schneller als die andere, sodass man während der Fahrt auf die nächste wechseln und sich so das Tempo aussuchen konnte. Dazu war ein wenig Geschicklichkeit erforderlich, und gelegentlich kam jemand ins Straucheln, aber das gab auch immer wieder Anlass zu Heiterkeit.

Ein eiförmiges Gebäude, um dessen blausilberne Oberfläche sich Lichtergirlanden schlangen, schien ein beliebtes Ziel zu sein. »Hier geht es um einen Kampf zwischen Raumschiffen«, erläuterte Göran. »Die Besucher sitzen in Kampfraketen und versuchen, ihre Gegner zu rammen. Es wirkt sehr realistisch.«

Majda verzog das Gesicht. »Muss es unbedingt ein Kampf sein? Auf die Dauer ist das nichts für mich. Gibt es nichts Friedliches?«

Göran überlegte kurz und deutete dann in eine Seitengasse, in der es viel ruhiger war als auf den freien Plätzen. »Dort ist ein Psychotheater, das Erlebnis ist sehr eindrucksvoll. Wollen wir es versuchen?«

Als Majda zögerte, versicherte er, dass keine schlimmen Überraschungen zu erwarten seien, sich diese Vorführung aber unbedingt lohnen würde. »Etwas ganz Besonderes.«

Kurz darauf traten sie ein und nahmen in dem länglichen zweisitzigen Wägelchen Platz. Es begann wie ein Autorennen, eine Fahrt bei Dunkelheit, doch dann hatten die beiden Insassen den seltsamen Eindruck, dass sich der Raum um sie herum vergrößerte – oder auch, dass sie selbst sich verkleinerten. Bald tauchten rechts und links Figuren auf, diffuse schwebende Massen, die sich verformten, sobald sich das Gefährt näherte, zudem Netze, die sich über ihnen zu schließen versuchten und denen sie nur mit Mühe ausweichen konnten. Dabei war unklar, auf welche Weise das geschah, denn es gab keine Lenkräder oder Steuerhebel. Und dann wurden sie doch von einem Netz eingefangen und befanden sich plötzlich in einer zeitlosen Dämmerung. Sie brauchten keine Erklärung für das, was geschehen war – sie wussten es: dass sie den physischen Raum verlassen hatten und in eine Psyche hineingelangt waren. Sie sahen Dinge von ungewöhnlicher Bedeutung, Gegenstände, wie sie auch im täglichen Leben vorkommen, aber sie sahen sie gewissermaßen von der anderen Seite. Die Dinge hatten Formen und Farben und weitere bekannte Eigenschaften, aber auf die kam es nicht an, das Wichtige waren die Bedeutungen, die mit ihnen verbunden waren. Ein Musikinstrument – und sie konnten es ergreifen und damit eine Melodie ertönen lassen, die die schönste war, die sie je gehört hatten. Sie sahen einen Kristall – und dieser versetzte sie auf einen Berggipfel, auf dem sie die ganze Welt überblicken konnten. Sie sahen ein Buch, und sie entnahmen ihm unerhörtes Wissen: die Lösung aller Rätsel, die das Leben stellt.

Als es wieder hell wurde und die Fahrt zu Ende war, brauchten sie geraume Zeit, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden. Sie waren auf einem großen, mit Blumenständern geschmückten Platz herausgekommen.

»Unglaublich, wie stark diese Eindrücke auf mich gewirkt haben«, sagte Majda. »Bei dieser Fahrt habe ich plötzlich Dinge begriffen, die ich mir vorher niemals erklären konnte. Aber jetzt ist alles wieder fort – schade.«

»Das liegt daran, dass mit den Eindrücken, die da vermittelt wurden, keine Inhalte verbunden waren – es sind Emotionen pur.«

»Und wie sind sie zustande gekommen?«

Mit dieser Frage hatte sich Göran ebenfalls schon beschäftigt. »Das hätte mich auch interessiert, aber man verrät hier die Methoden nicht. Ich vermute, dass es chemische Einflüsse sind, die aufs Gehirn wirken. Einige der Effekte, die man hier einsetzt, lassen sich nicht mit Elektronik allein erreichen, ich bin sicher, dass auch psychisch wirkende Drogen eingesetzt werden. Aber wie gesagt – Genaueres ist mir nicht bekannt.«

»Ich fand dieses Erlebnis überaus bemerkenswert – ich hätte nicht gedacht, dass hier etwas in dieser Art geboten wird.«

»Es ist auch eine Ausnahme. Bei den meisten Attraktionen geht es um Abenteuer- oder Gewinnspiele, und das ist es, was die Massen hierher zieht.«

Es war beachtenswert ruhig hier, die Musik unterschied sich auffällig von dem, was an anderen Plätzen zu hören war – es klang leise, fast feierlich, und Majda glaubte sogar Orgeltöne zu hören. Auch die anderen Besucher, die mit ihnen herausgekommen waren, schienen noch ganz unter dem Eindruck der Vorführung zu stehen, sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen, das Lachen und Schreien der Jugendlichen und Kinder, sonst überall zu hören, war verstummt.

Mehrere ältere Männer und Frauen, in lange, wallende Gewänder aus blauem Samt gekleidet, beobachteten Majda und sprachen sie schließlich an.

»Um was geht es?«, fragte Majda. Diese Leute unterschieden sich auffällig von den anderen Bediensteten des Parks, die meist jung waren und in bunten Verkleidungen herumliefen.

Göran zeigte zu einem breit geschwungenen Tor, über dem sich ein mit blinkenden Sternen verzierter Bogen wölbte. »Sie gehören zum G & T-Zentrum, G wie Gott und T wie Teufel. Sie nutzen die Stimmung der Leute aus und versuchen, sie zu einem Besuch zu überreden. Nach einer kurzen Abfrage an den Automaten wird einem dort die individuell passende Glaubensrichtung angeboten – man kann dann gleich beitreten. Es gibt eine Auswahl an über hundert Religionen und Sekten. Sind Sie interessiert?«

Majda hob abwehrend die Hände – sie hatte von Besinnlichkeit und Tiefgang genug. Als sie einen würdigen alten Herrn bemerkte, der wie ein blau gekleideter Weihnachtsmann aussah und sie und Göran offensichtlich aufs Korn genommen hatte, ergriff sie ihren Begleiter am Arm und zog ihn auf ein Laufband, auf dem sie den Schauplatz rasch verlassen konnten.

Es ging zwischen überdimensionierten Holoscreens hindurch, auf denen verschiedene Attraktionen angepriesen wurden, bald waren sie wieder vom gewohnten Trubel umgeben. Sie wurden in eine große Halle ohne Seitenwände gebracht, eigentlich nur ein auf Säulen gestütztes, geschwungenes Sonnendach. Hier drängten sich viele Menschen vor den Ständen: ein Marktplatz mit einem vielfältigen Angebot an Andenken, Scherzartikeln, Snacks und Erfrischungen, etwas erhöht angeordnet eine mit exotischen Stachelpflanzen geschmückte Terrasse, die zu einem Restaurant gehörte. Sie setzten sich in zwei Sessel aus schwarz eloxiertem Aluminium und studierten die Getränkekarte. Auf Görans Vorschlag hin bestellten sie Cocktails mit der Bezeichnung Tropic Mix, die der Aufschrift nach in Kanada abgefüllt worden waren.