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Die Manipulation eines Einzelnen durch die Inhaber der Macht, die sich modernster technischer Mittel und psychologisch ausgeklügelter Methoden bedienen, ist ein Thema, das Franke fasziniert. So auch in seiner Geschichte »Hiobs Stern« vom Widerstand gegen eine allmächtige Verwaltung, die im Jahr 3000 spielt. In jener fernen Zukunft wurden die Regierungsgeschäfte von den Multis übernommen, wobei sich drei große Verbände, die die Staaten abgelöst haben, Konkurrenz machen. Die Aufteilung der Welt in Handelszonen wirkt sich nun auch auf die neu entdeckten und erschlossenen Planeten der nächstgelegenen Sonnensysteme aus, die nur in jahrelangen Raumflügen erreicht werden können. Das ist der Schauplatz des Kampfes, den der von der Verwaltung beauftragte Jonas gegen seinen unerbittlichen Gegner Hiob führt. Als aber Hiob gefangen wird und Jonas den Auftrag erhält, diesen zur Gerichtsverhandlung auf die Erde zu bringen, ergibt sich zwischen beiden eine über alle Gegensätzlichkeiten hinweg reichende Verbundenheit. Doch es vergehen noch viele Jahre, bis Jonas merkt, dass sie beide nichts anderes waren als Schachfiguren im Spiel der Mächtigen. Und das setzt in Jonas alle Energien frei, um sich dagegen zur Wehr zu setzen.
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Seitenzahl: 269
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Herbert W. Franke
SF-Werkausgabe
Herbert W. Franke
Band 22
hrsg. von Hans Esselborn
und Susanne Päch
Herbert W. Franke
HIOBS STERN
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke
Band 22
hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2024 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
www.art-meets-science.io
Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de
Die Originalausgabe ist 1988 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Titelbild: Thomas Franke
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
E-Book-Erstellung: global:epropaganda
Verlag
art meets science – Stiftung Herbert W. Franke
c/o mce mediacomeurope GmbH
Bavariafilmplatz 3
82031 Grünwald
ISBN 978 3 911629 21 8
Zehn Jahre lang hatte er sich bemüht zu vergessen, und jetzt, als er merkte, dass in seinem Gedächtnis Lücken entstanden, tat er alles, um seine Erinnerungen wiederzubeleben.
Zuerst schien es nur ein unverbindliches Spiel. Wie hieß doch jener Planet …? Wen hatte er dort getroffen …? Während er auf dem Schaumstofffloß lag, eine Hand im warmen Wasser treibend, wanderten seine Gedanken zurück, in jene Bereiche, über die sich allmählich Nebel senkte und die Gestalten zu schemenhaften Schatten werden ließ. Seltsam, wie unverbindlich und gleichgültig vieles werden konnte, das einst schockierend, ja unerträglich schien! Die Ruhe, die er jetzt genoss, war der Lohn für zwei Jahrzehnte aufopfernde Arbeit.
Waren es wirklich zwanzig Jahre? Die Frage beschäftigte ihn in letzter Zeit immer mehr. »Zehn Jahre habe ich im Kälteschlaf verbracht, während der Reisen durch den leeren Raum – die zählen nicht«, hatte er zum Arzt gesagt. Und dieser hatte geantwortet: »Die zählen doppelt.«
Wie alt war er eigentlich? Vierzig oder siebzig? Nach den Auskünften, die man den Raumfahrern gab, wenn sie zu fremden Sonnensystemen starteten, sollte es auf der Fahrt kein körperliches Altern geben. Alt wurden die, die zurückblieben – so hatte es geheißen –, und jene, die sich in die unbegrenzten Weiten hinauswagten, blieben jung.
Warum fühlte er sich dann so verbraucht und so müde? Wenn er sich einen Spiegel vorhielt, sah er ein faltendurchfurchtes Gesicht, schlaffe Haut, schütteres, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar. Seine Glieder waren schwer, jede Bewegung kostete Mühe – die meiste Zeit des Tages döste er vor sich hin, ließ sich von den Wellen schaukeln, genoss die Wärme der Sonne an seiner Haut, den würzigen Duft tropischer Pflanzen. Versuchte er einmal einen Spaziergang, dann spürte er, wie seine Knie zitterten. Die Fußsohlen schleiften am Boden dahin, jede geringfügige Erhebung des Bodens brachte ihn zum Stolpern. Er verlor das Interesse an der Zukunft, lebte in den Tag hinein, suchte nur noch die Annehmlichkeiten, die ihm sein Dasein bot. War er früher ein Mensch mit Vergangenheit und Zukunft gewesen, so zogen sich nun Raum und Zeit immer enger um ihn zusammen, bis schließlich nur noch eine Kapsel übrig blieb, in der es nichts anderes gab als einen weichen Wechsel von Tag und Nacht, das Geplätscher des Wassers, das Säuseln des Windes, einen süßen Geschmack auf der Zunge, eine streichelnde Hand, ein paar beruhigende Worte und einen immer länger währenden Schlaf.
Noami: Fühlst du dich nicht wohl? Es sieht aus, als ob du Sorgen hättest.
Jonas: Es ist nichts. Ich bin nur müde.
Noami: Ich merke es gleich, wenn etwas mit dir nicht stimmt. Du weißt, dass du es mir nicht verheimlichen kannst.
Jonas: Ich weiß es.
Noami: Beschäftigst du dich wieder mit der Vergangenheit? Du sollst dich doch nicht aufregen!
Jonas: Es regt mich nicht mehr auf. Es ist nur ein Spiel.
Noami: Du beschäftigst dich also mit der Vergangenheit.
Jonas: Ich habe viel vergessen. Die Zusammenhänge … Ich habe den Überblick verloren. Nur hin und wieder taucht ein Bild auf, eine Person … Es ist nichts Wichtiges.
Noami: Iss jetzt deine Trauben! Die schmecken dir doch so gut.
Jonas: Sie sind saftig und süß.
Noami: Du musst mir alles sagen, was dich bedrückt. Woran hast du gedacht – vorhin …?
Jonas: Ich weiß es nicht mehr … Die Trauben schmecken gut.
Er saß auf der Veranda seines Bungalows. Vor ihm das Wasser, in dem sich der stets blaue Himmel spiegelte. Die dunkelgrünen Polster der Meereshyazinthen, mit weißen, rot geäderten Blüten übersät, in unermüdlichem Auf und Ab der Wellen. Es schien wie ein Atem, aus tiefer Lunge heraus. Über dem Wasser silberner Dunst, das Palmengestade der Nachbarinsel nur noch erahnbar.
Noami hatte den Digicorder eingeschaltet, und die elektronische Symphonie von Barelijan ließ ihre Klangkaskaden verströmen. Es war eine einschläfernde Musik, Noami suchte sie immer heraus, wenn sie meinte, dass Jonas Beruhigung brauchte. Diesmal verfehlten die sanften metallischen Klänge ihre Wirkung. Jonas spürte, dass in ihm ein unerklärlicher Ärger aufstieg, dass sein Herz plötzlich rasend zu schlagen begann. Auf einmal war er hellwach. Diese Perioden dauerten meist nicht lange an, zwanzig Minuten vielleicht, eine Viertelstunde – und sie wurden immer kürzer. Dann hatte Jonas das dringende Bedürfnis, irgendetwas zu tun, war unzufrieden, schmiedete Pläne, stritt mit Noami – mit der man nicht streiten konnte. Sie war eine Angepasste, und wenn er sie anfuhr, füllten sich ihre großen schwarzen Augen mit Tränen. Da tat es ihm rasch wieder leid.
Auch diesmal brauchte er sie, um seine Gemütsaufwallung abzureagieren. Er beschwerte sich über die Musik, befahl ihr, den Lehnstuhl an eine andere Stelle zu rücken, und forderte schließlich roten Ananaswein, den er schon seit Jahren nicht mehr getrunken hatte. Als sie ihm mitteilte, dass nichts mehr davon da war, schickte er sie weg, um einige Flaschen zu besorgen.
Er sah ihr nach, wie sie die Holztreppe zum Fährboot hinunterging, den Turbinenaufsatz ins Wasser kippte und losfuhr. Die Luft flimmerte, als läge eine Schlierenglasscheibe dazwischen. Dann stemmte er sich aus dem Sessel auf. Wie immer in solchen Fällen merkte er, dass sein Körper nichts von jenen Impulsen mitbekommen hatte, die sein Gehirn unversehens wach, besorgt und unzufrieden machten. Er fühlte sich jung und tatkräftig, doch er konnte sich nur mühsam, über den dicken Teppich schlurfend, bewegen. Er ging zu seinem Schreibtisch, den er kaum noch benutzte, griff unter die Platte und drückte einen Knopf. Mit einem klappenden Geräusch öffnete sich ein Fach an der Seitenwand, von dem selbst Noami keine Ahnung hatte. Er griff hinein und holte einen kleinen, in Wachspapier gehüllten Gegenstand heraus. Es war eine münzgroße Plakette in Form eines siebenzackigen Sterns. Er wiegte sie einige Zeit in der Hand, drehte sie um – auf der Rückseite war eine achtstellige Zahl eingraviert. Dann wickelte er sie wieder ins Papier ein und verschloss das Fach. Er saß noch am Schreibtisch, als Noami zurückkam und den Wein brachte. Doch jetzt wollte er ihn nicht mehr.
Tom Weslec: In unserer Fernsehreihe ›Zeugen der Geschichte‹ stellen wir Ihnen heute Edmond ›Hiob‹ Donato vor. Vorhang auf für Ed Donato. Hallo, Ed – ich darf doch Ed sagen?
Edmond ›Hiob‹ Donato: Gewiss.
Tom: Zuerst das Stichwort für unsere Zuschauer. Edmond ›Hiob‹ Donato, geboren im Jahr 3012 auf dem Planeten Lever 4, drittes Kind eines Siedlerehepaares. Die Eltern gehörten zu jenen Revolutionären, die sich gegen die Verwaltung auflehnten und ein eigenes, autoritäres Staatswesen errichten wollten …
Ed: Das stimmt nicht. Meine Eltern haben sich nie an einem Aufstand beteiligt.
Tom: Für die nächsten Jahre weist die Chronik Lücken auf – vielleicht können wir in dieser Sendung einige schließen. Wie man hört, bist du untergetaucht. Wo hast du dich aufgehalten?
Ed: Es ist schon lange her … ich war auf Reisen.
Tom: Der Anfang der Ereignisse, die in die Geschichte eingegangen sind, liegt im Jahr 3038. Es war auf dem Planeten Dutch – oder irre ich mich? Es ging darum, den dort herrschenden Dschungel urbar zu machen – zur Besiedelung durch Menschen. Und da tauchten sie aus den Urwäldern auf: Söldnergruppen, die die Stationen überfielen und die Menschen niedermetzelten. Und an ihrer Spitze er: Hiob! Viele der Zuschauer werden es erst jetzt merken – ja, er ist es, der sagenhafte Hiob.
Ed: Es wurde niemand niedergemetzelt. Und die Stationen …
Tom: Was uns heute interessiert, sind die Ereignisse auf Donalds. Die Eingeborenen waren friedlich, gutmütig. Wieso kam es zum Aufstand? Nur einer kann authentisch darüber berichten: Hiob.
Ed: Der Machtkampf der Konzerne wurde auf dem Rücken der Einwohner ausgetragen. Durch die Erklärung des gesetzlosen Zustands wurden sie praktisch vogelfrei. Ja, sie waren friedlich, doch je größer der Druck wurde, um so mehr wuchs ihre Bereitschaft, sich zu verteidigen.
Tom: Du hast an ihrer Seite gekämpft. Wie hieß doch noch der Anführer?
Ed: Es war … Ich erinnere mich nicht …
Tom: Es war ein verrückter Kampf, und er endete damit, dass sich EB&P zurückziehen musste. Ein genialer Trick, der die Aufständischen zum Ziel führte. Sein geistiger Vater war – wer könnte es anders sein? – Hiob. Kannst du uns etwas darüber sagen?
Ed: Ja … doch … Wir drangen durch das Röhrenwerk der Wasserversorgung, mit Tauchmasken ausgerüstet …
Tom: Das war auf Chevron. Aber darauf kommt es ja gar nicht an. Wesentlich ist, dass wir ihn jetzt hier bei uns haben, dreißig Jahre später, dass er seine Fehler eingesehen hat, in unsere Gesellschaftsordnung eingegliedert wurde. Wie fühlt man sich eigentlich als ehemaliger Abenteurer? Überkommt dich nicht manchmal die Sehnsucht nach dem wilden Leben?
Ed: Ich war niemals ein Abenteurer. Es ging mir um die Verteidigung von Werten, die ich für die gesamte Menschheit erhalten wollte. Was man jetzt nur noch aus den Videos kennt, hab’ ich mit eigenen Augen gesehen: die wilde Felslandschaft von Exxon, die Inselwelt von Barclays, die Blumeninseln von Ford. Ich folgte den Wanderungen der Mammuts auf Lever, und ich sah die Tänze der …
Tom: Wie Sie sehen, ist Hiob der alte Romantiker geblieben, der er immer schon war. Aber er hat eingesehen, dass sich der Fortschritt nicht aufhalten lässt. Ich bin froh, dass er hier war, als Gast der Sendereihe ›Zeugen der Geschichte‹. Unsere Zeit ist gleich vorbei, wir schließen mit dem Hit ›Woodley Doodley‹. Auf Wiedersehen nächste Woche um dieselbe Zeit.
Es war ein Zufall, dass Jonas die Holovisionssendung eingeschaltet hatte, nur selten fand er in den Programmen etwas, was ihn interessierte und die unzähligen Unterbrechungen durch Werbespots und Videoclips in Kauf nehmen ließ. Schläfrig saß er vor der Bildwand, tief in die Kissen gedrückt, und neben ihm, warm angeschmiegt, Noami. Und dann tauchte Hiob aus dem Hintergrund auf, trat – durch die Holoflexkameras aufgenommen – auf das Podium, stand für ein paar Sekunden lebensecht im Zimmer, nicht mehr als zwei Meter von Jonas entfernt. Dann setzte er sich, und das Bild rückte wieder auf Bühnendistanz.
Zuerst achtete Jonas nicht auf das Gespräch. Er starrte auf den Gegner von einst, und er stellte mit Erschütterung fest, wie alt dieser geworden war. Seine Bewegungen waren unsicher, sein Blick schien irgendwo im Unbestimmten zu hängen. Seine Stimme klang schwach, und die ausgezeichnete Wiedergabe der Stereofonie verstärkte nur das darin liegende unterdrückte Zittern. Und dann fielen die Namen jener Stätten, die auch für Jonas viel mehr bedeuteten als für die Millionen Zuschauer, an die sich die Sendung richtete. Vielleicht gab es nur einen einzigen, der sie ebenso aufwühlend empfunden hatte wie er, nämlich Hiob, und das schuf über die weite Kluft der Zeit hinweg eine unerwartete, fast bestürzende Verbindung zwischen den beiden Feinden.
Aber was bedeutete schon Feindschaft? Dieser Mann, der blass und mager, wie zusammengeschrumpft, im breiten Fernsehsessel saß, hatte stets auf verlorenem Posten gekämpft. Man hätte Mitleid mit ihm haben können, wenn seine Aktionen – fast aus dem Nichts heraus gestartet – nicht so gefährlich und wirkungsvoll gewesen wären. Viele Jahre lang hatte ihn Jonas nur von Berichten gekannt, von den offiziellen Meldungen der Funkzeitungen und der Holovision, doch auch von den internen Dossiers von Werkschutz und Miliz. Es waren Geschichten von Gräuel und Gewalt, von Folter und Verrat, von Erbarmungslosigkeit und Terror. Damals glaubte er daran, und so tat er alles, um den andern zu bekämpfen, niederzuringen, zu besiegen. Als er ihn später persönlich kennenlernte, begann er die Ereignisse mit anderen Augen zu sehen …
Vieles davon war allgemein bekannt, die jahrelangen Kämpfe zwischen Jonas und Hiob hatten Stoff für unzählige Presseberichte und Sendungen geliefert, ihre Geschichte hatte sich – ohne ihr Wissen – gewissermaßen in der Öffentlichkeit abgespielt, und selbst jetzt, als die Aktualität vorbei war, erinnerten sich die Älteren an die aufregenden Ereignisse, und die Jüngeren erfuhren davon im Unterricht. Alles war bestens dokumentiert, die Vorführungen wurden oft wiederholt und zustimmend aufgenommen, und auch jetzt führte man einige Ausschnitte vor – die Belagerung von Squirrel, die Flucht vor den Aliens auf Reuschel 2 und den Fallschirmabsprung in die Salzwüste von Suchard.
Die Sendung war vorbei, das anschließende Musikspektakel schaltete Jonas ab. Noami hatte sich aufgerichtet, blickte ihn an – sie spürte seine Unruhe.
»Du hättest die Sendung nicht anschauen dürfen«, sagte sie und stand auf. »Ich werde dir eine Beruhigungstablette holen.«
Er hörte nicht, was sie sagte. In seinen Gedanken war viel von dem lebendig geworden, was er für alle Zeit begraben glaubte: die dämmerigen Nächte in der einsamen Station des Planeten Squirrel, die endlose Wüstenfahrt durch Barclays Land, die Drachenflüge über Hitachi … Was er sah, war nicht hell und klar, sondern verhangen, wie durch einen Vorhang hindurch notdürftig erhellt. Aber es war Wirklichkeit gewesen. So beeindruckend die Fantasielandschaften der Mystic fiction auch sein mochten, in ihrer physikalischen Unmöglichkeit weitaus bizarrer als alles, was die Natur zu bilden vermochte, so zeigten diese Bildberichte doch etwas, was sich zugetragen hatte, mit Auswirkungen auf die Umgebung, mit Folgen für die damals noch bevorstehenden Ereignisse. Es waren winzige Ausschnitte aus einem unendlichen Kontinuum, Schlaglichter, punktuell herausgegriffen, und doch hatten sie konsequent zu jener Situation geführt, die die heutige Wirklichkeit war … Und trotzdem: Irgendetwas an dieser Vorführung hatte ihn irritiert – irgendetwas stimmte nicht …
Lautlos war Noami neben Jonas aufgetaucht, ein Tablett in der Hand, darauf ein Glas Kokosmilch. Sie ließ eine Tablette hineinfallen, rührte mit einem Plastikstab um. Sie wartete, bis keine Blasen mehr aufstiegen, dann reichte sie Jonas das Gefäß. Er trank, ohne es zu merken. Die Vergangenheit hatte ihn wieder einmal eingeholt. Die Erinnerungen waren geweckt, wie in einem Gewitter von Blitzlichtern tauchten Szenen aus dem Dunkel, in rascher, ungeregelter Folge, und erzeugten ein Chaos, das kaum Zusammenhänge erkennen ließ.
Einige Zeit hindurch zeigten die aufgewühlten Gefühle noch Wirkung, dann wurden sie schwächer.
Jonas wollte nicht, dass sie schwächer wurden, obwohl sie ihn schmerzten. Er kämpfte dagegen an, doch er merkte, dass es ihn immer mehr Mühe kostete. Dann gab er es auf.
Die Gegenwart, so langweilig und belanglos sie sein mochte, war stärker. Dieses Haus aus nach Sandelholz duftender Kunststofffaser, diese dem Sisal nachempfundenen Teppiche, die in Bambustönen gefärbten Rohrmöbel, die Batikreproduktionen an den Wänden …
Irgendetwas schnürte ihn von der Vergangenheit ab, fixierte ihn in einer inhaltsleeren Gegenwart.
Warum war er plötzlich so unzufrieden? Was zwang ihn, sich in selbstquälerischer Weise um Dinge zu kümmern, die ihn nichts mehr angingen?
Diese Sendung der Holovision … der unversehens wiedererstandene Hiob … In den letzten Jahren hatte er kaum noch an ihn gedacht, doch jetzt war er wieder da. Und er verbarg sich nicht in Dunkelheit, hinter Schleiern, sondern er war so nahe und echt, wie es eben nur die Holovision vermitteln konnte …
Es war eine kurze Sendung gewesen, einer jener Wortbeiträge, die acht Minuten nicht überschreiten durften. Und es war auch nichts gesagt worden. Hiob, längst zum Helden historischer Abenteuergeschichten geworden, dem Publikum immerhin noch lebendig präsentiert … Ehrgeiz eines Redakteurs? – Element der Erziehungsstrategie? – Teil eines Plans?
Jonas merkte, wie ihn die Müdigkeit immer stärker umfing. Noami hatte sich wieder neben ihn gekauert, und es war angenehm, sie zu fühlen.
Diese Schwere in den Gliedern … Er war alt. Auch Hiob war alt geworden. Die graue Haut, die abwärtsgerichteten Falten an den Mundwinkeln … die Unsicherheit der Schritte … das Zittern der Hand …
Für einige Sekunden fiel die Müdigkeit von ihm ab. Diese Hand, die Finger schwach um das Glas gekrampft, der Versuch, es zum Mund zu führen, eine geringfügige Abweichung der Richtung, ein kurzes Zögern … Jonas sah es deutlich vor sich – wie die Hand, in der Bewegung erstarrt, ein wenig zu zittern begonnen hatte, wie das Wasser im Glas schwappte – und dann wieder zur Ruhe kam, ehe Hiob getrunken hatte. Eine Pause, eine Ablenkung durch das Gespräch? Ein Gedanke, der Aufmerksamkeit erfordert?
Jonas wusste es besser, er hatte es oft genug erlebt. Es gehörte zur Unsicherheit des Gangs, zur Fahrigkeit der Handbewegungen … Irgendetwas entglitt der Kontrolle, irgendetwas war stärker als der Wille, wehrte sich gegen die Steuerung des Gehirns, suchte sich selbstständig zu machen … Vorderhand noch Episoden, doch diese winzigen, im stillen ausgetragenen Kämpfe wurden immer schwerer …
Die Irritation, die Jonas noch einmal wachgerüttelt hatte, verlor sich in einer leichten Unruhe, die ihn in den Schlaf hinein begleitete.
Eine Landschaft aus Braun, Weiß und Dunkelviolett …
Von fern: ein Hochplateau, im Abbau begriffen, mit tiefen Einschnitten, Verbruchzonen, Klüften. Nur noch Reste früherer Schichten – Quader, Bögen, Türme wie von einer verrückten Architektur.
Aus der Nähe wurde das Bild noch ungewöhnlicher: die Felsen ausgelaugt, wie von Säure zerfressen. Ein Netzwerk unzähliger Klüfte, Felsrippen, von Fenstern durchbrochen, unzählige Verbindungen zwischen Höhlen und Schluchten.
Grandios! Doch ich darf mich nicht ablenken lassen. Nicht auf die Schönheit der Landschaft kommt es an, sondern auf die Rolle, die sie in der Strategie spielt. Diesmal ist es der Gegner, der davon profitiert. Dieser zusammengewürfelte Haufen von Verrückten, die sich dagegen wehren, dass dieser Planet zum Lebensraum des Menschen wird. Wenn es hier Pflanzen und Tiere gegeben hätte, wäre der Widerstand vielleicht noch verständlich gewesen. Rücksicht auf fremde Lebensformen, Studienobjekte der Extrabiologen. Doch diese Welt sieht überall so ähnlich aus wie hier – ein Werk der Zerstörung. Früher vielleicht … es mochte Gebirge gegeben haben, Berge und dazwischenliegende Täler, und, dem Wärmehaushalt und der Atmosphäre angemessen, sogar Lebensformen. Doch das ist längst vorbei, die Natur hat dafür gesorgt.
Und doch ist diese Welt fruchtbar, wenn man es versteht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Es gilt, diese Hohlformen und Gerippe, die übrig geblieben sind, zu zerstampfen, einzuebnen. Dann …
Und genau das wollen jene nicht, die sich dort drüben verkrochen haben. Wir kommen immer näher heran, kletternd, springend, vom Absturz bedroht, und noch immer sehen wir nichts von ihnen. Sie erwarten uns, so ist es ausgemacht, und damit haben sie den besseren Teil des Geschehens für sich.
Doch die Landschaftsformen helfen auch uns. Während ich auf meine Männer warte, die einen von Einbruchöffnungen durchlöcherten Abhang hinaufkriechen, blicke ich zurück. Dort, rechts im Hintergrund, ist ein Felsturm übrig geblieben – er sieht wirklich wie ein Turm aus, ein menschliches Bauwerk, wie man es früher zur Verteidigung der Burgen geschaffen hat. Auch hier Löcher, an Schießscharten erinnernd, oben eine flache Platte, einem Erker gleich.
Niemand weiß, dass sich dort oben die Miliz von Nordland eingenistet hat, mit Laserstrahlern, die auf die vor uns liegende Ebene gerichtet sind. Und ebenso wenig wissen meine Männer, dass dieses Zusammentreffen eine Falle ist und der Gegner nur darauf wartet, uns gefangen zu nehmen oder zu töten. Doch wir müssen das Risiko eingehen – die Medien würden uns sonst vorwerfen, das Friedensangebot missachtet zu haben.
Wir haben einen Wall erreicht, eine Mauer, von zahlreichen Rissen durchzogen. Hier gibt es einen kleinen Aufenthalt – wir müssen erkunden, welche davon gangbar sind, uns hinaus ins freie Land führen, wo wir uns treffen sollen. Einige Minuten später sind wir uns über den Weg im Klaren, und es geht wieder weiter.
Es ist finster hier, wir benötigen das Licht unserer Handlampen. Gesteingrus knirscht unter den Sohlen der Stiefel, hin und wieder löst sich eine Felsplatte von der Wand und fällt, Staub um sich ausbreitend, zu Boden.
Von Zeit zu Zeit erweitert sich der enge Raum, wir gelangen in Hallen, in Gewölbe, deren Decken ein überraschend regelmäßiges Muster an Öffnungen zeigt. Von dort strahlt der grünblaue Himmel herab. Das Licht baut schiefstehende Säulen in den aufgewirbelten Staub, unwillkürlich weichen wir aus, obwohl es keine echten Hindernisse sind; die schattige Umgebung ist ebenso von Staub durchzogen, es fehlt nur das Sonnenlicht, das sich an den Teilchen streut.
In diesem von Lichtstelen erfüllten Dom wirkt die Finsternis der Peripherie umso bedrohlicher. Ein Überfall, Bruch des Abkommens – so wurde es gemeldet. Draußen, auf der Ebene, werden sie über uns herfallen. Doch ist diese Auskunft sicher? Ist nicht hier die Stelle, die sich für ein solches Unternehmen besser eignet? Könnte sich dieser so feierlich wirkende Dom nicht plötzlich in einen Hexenkessel verwandeln … Schüsse aus dem Hinterhalt, Strahlung und Gas … Und dann die flinken, unterernährten, in zerfetzte Klamotten gehüllten Gestalten, wie wir sie bei unzähligen kleinen Gefechten da und dort angetroffen haben?
Es bleibt ruhig. Ich gehe wieder an die Spitze vor, bin der Erste, der hinaustritt. Das Licht blendet. Niemand zu sehen. Oder doch? Vielleicht achtzig, hundert Meter von mir entfernt, treten drei Männer hinter einem Felsen hervor, einer davon, ein wenig vor den andern, der Anführer: Hiob. Auf diese Entfernung sind die Gesichtszüge nicht zu erkennen, doch ich bin mir sicher: Er ist es.
Ich gehe vor, wie es vereinbart wurde, meine Männer in lang gezogener Reihe hinter mir. Auch die anderen haben sich in Bewegung gesetzt, kommen auf uns zu. Es bleibt bei diesen dreien – ich sehe nichts von jener Übermacht, die nötig ist, unseren gutbewaffneten Trupp zu überfallen. Rechts … und links – wo mögen sie sich versteckt haben? Diese Einebnung besteht aus jener glasartigen Masse, die die violetten Formationen bildet. Hier gibt es kaum Risse und Löcher, lediglich verkrustete Platten, Reste aus Erstarrungsprozessen.
Hier sind wir der Sonne voll ausgesetzt, an den dunklen Felsen setzt sich das Licht in Wärme um, die die Luft zum Wirbeln bringt. Ich kann es an den Händen, am Gesicht fühlen wie eine sanfte Berührung. Es ist heiß, doch ich spüre die Hitze kaum die Spannung, die fast zu greifen ist, überwiegt jeden anderen Eindruck.
Ich muss mich zusammennehmen, um nicht einen Blick nach rechts hinten, zur Befestigung auf dem Turm zu werfen. Ich bin sicher, dass die Teleskope auf uns gerichtet sind, dass man sich keine Einzelheit des Geschehens entgehen lässt. Und dass die Hände der Kanoniere auf den Abzugshebeln der Geschütze liegen – um beim geringsten Anlass die Kapsel mit Betäubungsgas abzuschießen.
Jetzt sind wir auf fünf Meter aneinander herangekommen, und ich kann den, den sie ›Hiob‹ nennen, Auge in Auge sehen. Er hat tief liegende, dunkle Augen, ein hageres Gesicht, ein Stoppelbart bedeckt die Wangen. Eine Schirmmütze hat er tief über die Stirn gezogen, er steckt in einem Anorak, die Hände in den Seitentaschen vergraben.
Jeden Moment muss der Überfall beginnen … einige Sekunden lang gerate ich in Verlegenheit … Wenn nichts geschieht … soll ich zum Schein eine Verhandlung beginnen? Worüber soll ich verhandeln – dafür bekam ich keine Instruktionen.
Und dann – war es ein Laut, der zum Zusammenbruch der angestauten Kräfte geführt hat, war es ein Lichtreflex? … Plötzlich erfüllt sich die Region um uns herum mit Leben, Krusten brechen auf, schartige Splitter fliegen, Mündungen altmodischer Maschinenpistolen richten sich auf uns. Sie sind buchstäblich aus dem Boden aufgestiegen. Im Gestein verborgen, in natürlichen Mulden, in ausgehobenen Vertiefungen, von darübergelegten Platten verborgen.
Jetzt ist der Moment gekommen – ich erwarte die pfeifenden Geräusche, das Splittern der Schrotkapseln mit dem Betäubungsgas …
Nichts geschieht.
Ich bin jener, der am längsten zögert – meine Männer haben die Situation schneller erkannt, ihre Strahlenwerfer spucken Kaskaden von Glut und Feuer aus. Doch zugleich geht von allen Seiten ein Hagel von Geschossen auf uns nieder …
Auch ich habe mich zu Boden geworfen, die Waffe gezogen, doch was soll ich damit ausrichten? Ich blicke nach hinten, hinauf zur Plattform an der Spitze des Turms, doch dort rührt sich nichts … Ein Missverständnis? Ein schreckliches Versehen?
Nur noch wenige Männer setzen sich zur Wehr, die meisten liegen regungslos auf dem Boden. Und auch die Reihe der Gegner hat sich gelichtet – nur noch wenige halten ihre Waffe in Anschlag, schicken ihre Salven aus.
Vor mir eine Bewegung, eine dunkelblaue Schirmmütze … einen Moment blicke ich in dunkle, hasserfüllte Augen. Ich hebe den Strahler … den Finger am Abzugshebel … Ich blicke in das schwarze Loch einer Mündung, die gleich Feuer speien wird …
Und jetzt erst, nur fünf Minuten und doch eine Ewigkeit zu spät, das Sausen und Knattern der Kapselgeschosse, sprühendes Splitterwerk, ekelerregender Geruch … und dann das blutleere Dunkel der Betäubung.
Jonas: Ich habe es nachgerechnet – ich bin sechsundvierzig Jahre alt.
Dr. F.: Mit welch absurden Fragen beschäftigen Sie sich?
Jonas: Fünf Jahre im Kälteschlaf. Elf Jahre Eigenzeit auf Hochgeschwindigkeitsflügen. Dazu neununddreißig Jahre ›normales‹ Leben.
Dr. F.: So einfach lässt sich das nicht berechnen.
Jonas: Während des Kälteschlafs ist der Metabolismus herabgesetzt – die Alterungsprozesse sind auf einige Prozent reduziert. Siebenundvierzig Jahre und kein Jahr länger.
Dr. F.: Sie verstehen nichts davon.
Jonas: Fachliteratur kann man von der Datenbank abrufen. Es ist nichts Geheimes dabei.
Dr. F.: Ihre Rechnung ist falsch. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?
Jonas: Mit siebenundvierzig Jahren ist man noch voll auf der Höhe, physisch und psychisch. Sehen Sie mich an, wie ich aussehe. Ich sehe aus wie ein alter Mann. Ich fühle mich wie ein alter Mann!
Dr. F.: Sie regen sich zu sehr auf. Haben Sie Ihre Pillen nicht genommen?
Jonas: Ich will mich aufregen. Ich habe auch Grund dazu.
Dr. F.: Sie vergessen Ihr schwaches Herz. Sie tragen einen Herzschrittmacher. Gewiss – er passt sich Ihrer Erregung an, doch es gibt Grenzen. Man soll das Schicksal nicht auf die Probe stellen.
Jonas: Ich kenne Leute, die schon fünfzig Jahre mit einem Herzschrittmacher leben – es sind Sportler darunter, die ihren Beruf ausüben.
Dr. F.: Denken Sie an Ihre Vergangenheit! Das alles ist nicht ohne Wirkung geblieben. Fremde Atmosphäre. Strahlung. Falsche Ernährung. Unbekannte Keime, die in die Blutbahn eindringen …
Jonas: Wollen Sie damit sagen, dass ich infiziert bin?
Dr. F.: Ich glaube, ich sollte Sie nicht länger wie ein Kind behandeln. Manchmal ist es richtig, dem Patienten seine Situation zu verheimlichen, manchmal ist es richtig, sie ihm offenzulegen. In der Tat: Sie sind krank.
Jonas: Was für eine Krankheit?
Dr. F.: In der Medizin nennen wir es Alzheimer-Syndrom. Vorzeitige Altersschwäche. Tut mir leid.
Jonas: Sie meinen … unbekannte Bakterien oder Viren?
Dr. F.: Leider nein – da bestünde noch Hoffnung. Es handelt sich um eine genetische Veranlagung.
Jonas: Meine Eltern, meine Großeltern … ich wüsste nicht …
Dr. F.: Die Krankheit kommt nicht immer zum Ausbruch.
Jonas: Ich habe alle Gesundheitstests bestanden!
Dr. F.: Unsere Analysemethoden sind nicht vollkommen.
Jonas: … selbst die genetische Untersuchung …
Dr. F.: Muskelschwund, Abbau des Nervensystems, Verkalkung des Gehirns. Immer größere Gedächtnislücken. Lethargie. Später Halluzinationen, Geistesverwirrung …
Inmitten der Konsultation wurde der Arzt hinausgerufen. Jonas horchte – hinter der Tür hörte er Stimmen, die er nicht verstand. Er erhob sich vom Stuhl, ging um den Schreibtisch herum. Dort stand der Monitor. Eine Kartei war aufgerufen. Daten zu seiner Person, Messwerte, Fachausdrücke, die ihm nichts sagten. Der Text war in ein Bildfenster eingetragen, und er ging ins Auswahlmenü zurück. Da war seine Krankengeschichte, da eine Zusammenstellung der Medikamente … Er ließ sich die Liste der Medikamente ausgeben.
Auch diese Ausdrücke sagten ihm nichts.
Wieder horchte er – das Gespräch draußen schien sich hinzuziehen.
Konnte er es wagen? Rasch drückte er auf die Xeron-Ausgabetaste. Ein leises Summen, dann hielt er das Blatt in der Hand. Er riss es ab, legte es zusammen, steckte es ein. Er vergaß auch nicht, wieder zum Menü zurückzugehen und das ursprünglich aufgerufene Fenster einzustellen. Dann schlich er zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Es dauerte noch zwei Minuten, dann kam der Arzt zurück. Er kramte in einem Arzneimittelschrank, holte eine Ampulle heraus. Er brach den Verschluss ab und zog die glasklare Flüssigkeit mit der Spritze auf. Er verabreichte die Injektion subkutan. Während er sich umdrehte, um die Nadel auszuwechseln, drückte Jonas die noch unter der Haut gestaute Flüssigkeit durch die Einstichöffnung hinaus. Er streifte den Ärmel hoch und zog die Jacke an.
Keiner der beiden hatte Lust, das Gespräch fortzusetzen. Jonas bedankte sich und drückte dem Arzt zum Abschied die Hand.
Noami: Was tust da da?
Jonas: Ich hol’ mir einige Informationen aus der Datenbank.
Noami: Um diese Zeit hältst du immer deinen Mittagsschlaf.
Jonas: Heute brauche ich keinen Mittagsschlaf.
Noami: In den letzten Tagen kommst du mir ein wenig verändert vor.
Jonas: Mach dir keine Gedanken, Noami! Ich fühle mich gut. Besser als zuvor.
Noami: Du hast deine Pillen nicht genommen.
Jonas: Sie machen mich müd. Ich möchte nicht immer schlafen.
Noami: Aber du brauchst deinen Schlaf. Doktor Filser hat es gesagt.
Jonas: Ich werde morgen einen Spaziergang machen.
Noami: Wohin? In den Palmengarten? In die Galerie? In den Erlebnisraum?
Jonas: Ich gehe in die Stadt.
Noami: Du weißt doch, du darfst das Gebäude nicht verlassen. Doktor Filser hat es angeordnet.
Jonas: Doktor Filser kann anordnen, was er will, doch ich muss ihm nicht folgen.
Noami: Es wird dir schaden! Wie kommt es nur, dass du so verändert bist – ich mache mir Sorgen.
Jonas: Mach dir keine Sorgen! Ich glaube, ich habe in der letzten Zeit viel zu viel geschlafen. Weißt du eigentlich, wie alt ich bin? Erst siebenundvierzig. Es sind diese Tabletten, die mich so müde machen. Ich habe in der Arzneimittelliste nachgesehen – das Mittel gehört zu den Psychopharmaka, die nur auf besondere Anforderungen hin ausgegeben werden. Es stellt nicht nur den Körper ruhig, sondern auch den Geist. Man verwendet es für psychisch Kranke, die durch Aggressivität auffallen. Hältst du mich für aggressiv?
Noami: Was verstehst du schon davon? Wenn dir Doktor Filser diese Pillen verschreibt, dann gibt es sicher einen Grund.
Jonas: Das meine ich auch. Und das ist genau der Grund, der mich dazu bringt, morgen in die Stadt zu gehen.
Jahrelang hatte Jonas das Gebäude nicht mehr verlassen, und so erinnerte er sich nur noch dunkel an die Umgebung. Es gab nichts, was ihn daran hinderte, sein Wohngebiet zu verlassen. Und er konnte auch jederzeit wiederkehren, was nicht so selbstverständlich war. Doch er gehörte zu jenen Privilegierten, die das Vorrecht besaßen, ein sorgenfreies Dasein in idyllischer Umgebung zu führen.
Als er die Grenze überschritt, begann die Spiegelung zu schwanken, zu zerfallen. Das helle Licht erlosch, die Farben verblassten, eine Weile spürte er noch den Geruch der Duftgeneratoren, hörte das Meeresrauschen aus den großen Lautsprechern jenseits der Grenze – dann stand er inmitten eines Chaos aus Bewegung und Lärm.
Er ging langsam und vorsichtig; wenn sich etwas an ihm verändert hatte, dann war es die psychische Einstellung, nicht aber sein körperliches Befinden. Jeder Schritt kostete ihn Mühe, sein Atem beschleunigte sich mehr und mehr, und bald musste er Pausen einlegen. Trotz dieser Beschwerden aber merkte er, dass seine Willenskraft wieder erwacht war. Trotz der steigenden Mattigkeit fühlte er sich zufrieden. Auf den Willen kam es an. Mit diesem Willen setzte er den Körper in Bewegung, so schwach dieser auch sein mochte.
An der nächsten Ecke besann er sich eines Besseren. Er winkte ein Gyrocar herbei und gab dem Lenker die Adresse an. Dann lehnte er sich im Fond zurück und hatte etwas Zeit gewonnen, um sich der Umgebung zu widmen.
Das typische Treiben der Verkaufszone eins im Norddistrikt. Die Häuser sechs- bis achtstöckig, auf den Dächern grün bepflanzt. Ein halbes Dutzend Verkehrsebenen, drei für den Taxiverkehr, Fahrwege und -treppen für die Fußgänger, Aufzüge zur Hoch- und Tiefbahn. Hier herrschten die Farben Weiß, Schwarz und Silber vor –, das Viertel der Anwälte und Banken. Umso bunter dagegen die Kleider der Massen, die sich auf allen Wegen drängten, vorwärtsschoben und -stießen. Nur die unterste Terrasse war halb leer, den Menschen vorbehalten, die an Rollschuhe, Fahrstühle, Bewegungsverstärker und dergleichen gebunden waren. Dort unten trieb sich aber auch allerlei lichtscheues Gesindel herum, illegale Händler, abgewiesene Asylanten, untergetauchte Kranke. Jonas wies den Lenker des Gyrocars an, zur obersten Ebene überzuwechseln, wo die Durchschnittsgeschwindigkeit des Verkehrs am höchsten war.
»Lohnt sich nicht«, sagte der Mann, der vor sich hin dösend am Pult saß. Die Bewegung erfolgte ferngelenkt, die Anwesenheit des Lenkers war gesetzlich vorgeschrieben, angeblich als Vorsichtsmaßnahme gegen den Ausfall der Elektronik. In Wirklichkeit ging es natürlich darum, möglichst viele Menschen in den Arbeitsprozess einzubeziehen.
»Hier ist es schon«, erklärte der Lenker, während das Gyrocar auf die Standspur einschwenkte. »Das historische Museum – da ist immer eine Menge los.«
Jonas ließ den Fahrpreis und das Trinkgeld von seiner P-Karte abbuchen und stieg aus. Er blickte die Fassade empor, die nichts anderes war als ein riesiger Fluidschirm. In ständigem Wechsel liefen Szenen aus der Geschichte ab. Man sah Ritter in Rüstungen, Könige auf dem Thron, Segelschiffe auf Entdeckungsfahrt, Kampfflieger während einer Luftschlacht, Atombombenexplosionen vor der Kulisse von Bohrtürmen, Raumfähren und dahinstapfende Astronauten, den Vulkanausbruch von Saarlouis, den Einsturz der Brücke zwischen Australien und Neuseeland, das Generationenschiff der ›Endeavour‹, die Zerstörung der AlienStadt auf Reuschel 2 und vieles andere von der Prähistorie bis zur Gegenwart.